Nietzsche, Friedrich - Di...
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und die Gefahr,− wir bedürfen ewig der Vertheidigung! − Nun, es lässt sich wirklich etwas<br />
zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.<br />
77.<br />
Das Thier mit gutem Gewissen. − Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa's gefällt<br />
− sei diess nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini's und Bellini's) oder der<br />
spanische Abenteuer−Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am<br />
besten zugänglich) − bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig<br />
als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst<br />
beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt diess? Ist es, dass hier die<br />
Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas<br />
Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman? "Das Thier<br />
hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber<br />
Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!" − das scheint mir die Moral der<br />
Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack<br />
hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss,<br />
die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt<br />
verständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte Geschmack hat dagegen immer<br />
etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, − er ist und war<br />
niemals volksthümlich! Volksthümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess<br />
Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des<br />
Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem,<br />
wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht!<br />
Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: − und vielleicht war diess Bad den<br />
seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. −<br />
Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in<br />
deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber<br />
hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns<br />
mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen<br />
zu müssen.<br />
78.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Wofür wir dankbar sein sollen. − Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben<br />
den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und<br />
zu sehen, was jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schätzung<br />
des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst<br />
gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt<br />
ansehen könne, − die Kunst, sich vor sich selber "in Scene zu setzen". So allein kommen<br />
wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als<br />
Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und<br />
Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. −<br />
77. 58