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Nietzsche, Friedrich - Di...

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59.<br />

Wir Künstler! − Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur,<br />

aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne<br />

denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese <strong>Di</strong>nge streift, so<br />

zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin: − wir sind<br />

beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit den ungeweihtesten<br />

Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich<br />

insgeheim "ich will davon, dass der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser Seele und<br />

Form, Nichts hören!" "Der Mensch unter der Haut" ist allen Liebenden ein Greuel und<br />

Ungedanke, eine Gottes− und Liebeslästerung. − Nun, so wie jetzt noch der Liebende<br />

empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer<br />

Gottes und seiner "heiligen Allmacht": bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch<br />

Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten<br />

Besitz und folglich einen Angriff, − und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden!<br />

Das "Naturgesetz" klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar<br />

zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens− und Willküracte zurückgeführt gesehn: −<br />

aber weil ihm Niemand diesen <strong>Di</strong>enst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und<br />

Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von ehedem haben<br />

verstanden zu träumen und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! − und auch wir<br />

Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unseren guten Willen zum<br />

Wachsein und zum Tage! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu<br />

empfinden, − sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen<br />

offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf<br />

die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum<br />

Klettern − wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit!<br />

Wir Mond− und Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die<br />

wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!<br />

60.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

<strong>Di</strong>e Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. − Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr<br />

und Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse<br />

Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln: − von allen Seiten heult, droht, schreit,<br />

schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie<br />

singt, dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen<br />

Erderschütterer−Tact, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden hier das Herz darüber<br />

im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, erscheint vor dem Thore<br />

dieses höllischen Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt, − ein grosses Segelschiff,<br />

schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit! Mit<br />

welchem Zauber fasst sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich<br />

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