Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di... Nietzsche, Friedrich - Di...
Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts−Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimirt − durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, − aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabricanten−Vulgarität mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und Glück hier den Einen über den Andern erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! − und der Socialismus beginnt. 41. Gegen die Reue. − Der Denker sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst Antworten. Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue empfinden − das überlässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist. 42. Nietzsche Arbeit und Langeweile. − Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen − darin sind sich in den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme "Windstille" der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten: − das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer 41. 44
längeren, tieferen Ruhe fähig sind, als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols. 43. Was die Gesetze verrathen. − Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die härtesten Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei Todsünden: einen anderen Gott haben als den Wahabiten−Gott und − rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als "die schmachvolle Art des Trinkens"). "Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?" − fragte erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr. "Nun, Gott ist gnädig und barmherzig!" − sagte der alte Häuptling. − So gab es bei den alten Römern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödtlich versündigen könne: einmal durch Ehebruch, sodann − durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Controle zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein−Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes. 44. Die geglaubten Motive. − So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden, − nicht aber durch Das, was wirklich Motiv war! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten Ranges. 45. Nietzsche Epikur.− Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur's anders zu empfinden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: − ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines 43. 45
- Seite 1 und 2: Die fröhliche Wissenschaft. ("la g
- Seite 3 und 4: Geistes heissen, welche in gesunden
- Seite 5 und 6: "Gebildeten", unsre Reichen und Reg
- Seite 7 und 8: 5. An die Tugendsamen. Unseren Tuge
- Seite 9 und 10: Für Tänzer. Glattes Eis Ein Parad
- Seite 11 und 12: Folg mir, mein Freund! Entschliess
- Seite 13 und 14: Der Unfreie. Er steht und horcht: w
- Seite 15 und 16: 40. Ohne Neid. Ja, neidlos blickt e
- Seite 17 und 18: Beim Tiktak von Gesetz und Uhr. 49.
- Seite 19 und 20: 58. Die krumme Nase. Die Nase schau
- Seite 21 und 22: Erstes Buch 1. Nietzsche Die Lehrer
- Seite 23 und 24: Vernunft im Leben! Und immer wieder
- Seite 25 und 26: 4. Das Arterhaltende. − Die stär
- Seite 27 und 28: giebt schon zu viel der Arbeit für
- Seite 29 und 30: sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, U
- Seite 31 und 32: Nietzsche Nächstenliebe − ist si
- Seite 33 und 34: Niedrigkeit solche ungeheure Zwisch
- Seite 35 und 36: wahrscheinlich irgend eine geistig
- Seite 37 und 38: Nietzsche pflegt man, gleichsam zur
- Seite 39 und 40: üblichen Meinung über die Dinge w
- Seite 41 und 42: Zustände der Gesellschaft denkbar,
- Seite 43: Irrthümern. 38. Die Explosiven.
- Seite 47 und 48: nicht nur eine Wildheit und Ungebä
- Seite 49 und 50: 53. Wo das Gute beginnt. − Wo die
- Seite 51 und 52: Zweites Buch 57. An die Realisten.
- Seite 53 und 54: hier eingeschifft? Sitzt mein Glüc
- Seite 55 und 56: Grade: wer könnte für sie des Oel
- Seite 57 und 58: 74. Die Erfolglosen. − Jenen arme
- Seite 59 und 60: Vielleicht giebt es ein Verdienst
- Seite 61 und 62: von diesem Geschmacke gewesen sein?
- Seite 63 und 64: Gottheit auf Ein Mal entladen und z
- Seite 65 und 66: 87. Von der Eitelkeit der Künstler
- Seite 67 und 68: das Wort aus dem Munde genommen und
- Seite 69 und 70: Kraft, wenn er dem andringenden Stu
- Seite 71 und 72: Nietzsche ermöglichten Durchbrechu
- Seite 73 und 74: Besten allmählich aufgehäuft word
- Seite 75 und 76: ich, dass jetzt wieder unter den eh
- Seite 77 und 78: Nietzsche Narren entdecken, der in
- Seite 79 und 80: zu sagen, dass Tod dem Leben entgeg
- Seite 81 und 82: Vorsicht im Schliessen, jeder skept
- Seite 83 und 84: 117. Heerden−Gewissensbiss. − I
- Seite 85 und 86: voller geheimer Einblicke und Ueber
- Seite 87 und 88: noch nicht bis zu den Ohren der Men
- Seite 89 und 90: 131. Christenthum und Selbstmord.
- Seite 91 und 92: Gewitterwolke des zürnenden Jehova
- Seite 93 und 94: Religionskriege. − Der grösste F
Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der<br />
höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die<br />
Vornehmheit des Geburts−Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen<br />
Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art,<br />
vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen<br />
geboren legitimirt − durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, dass die<br />
Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren<br />
hat, − aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabricanten−Vulgarität<br />
mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und Glück hier<br />
den Einen über den Andern erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen wir<br />
einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! − und der Socialismus<br />
beginnt.<br />
41.<br />
Gegen die Reue. − Der Denker sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen,<br />
irgend worüber Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst<br />
Antworten. Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue empfinden − das<br />
überlässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu<br />
erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist.<br />
42.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Arbeit und Langeweile. − Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen − darin sind sich in<br />
den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein<br />
Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind,<br />
vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere<br />
Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten:<br />
jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht<br />
gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser<br />
seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber<br />
auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in<br />
Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie<br />
mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber<br />
sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr<br />
der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die<br />
Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig,<br />
wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist<br />
Langeweile jene unangenehme "Windstille" der Seele, welche der glücklichen Fahrt und<br />
den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich<br />
abwarten: − das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen<br />
können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust<br />
gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer<br />
41. 44