Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
erlauben möchte, gefährlich−gesund, immer wieder gesund, − will es uns scheinen, als ob<br />
wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch<br />
Niemand abgesehn hat, ein jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine<br />
Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem,<br />
dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich gerathen sind − ach,<br />
dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach<br />
solchen Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Gewissen und Wissen, noch am<br />
gegenwärtigen Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, dass<br />
wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen<br />
Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor uns her,<br />
ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden<br />
überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal<br />
eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit<br />
mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste,<br />
woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall,<br />
Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen<br />
bedeuten würde; das Ideal eines menschlich−übermenschlichen Wohlseins und<br />
Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich<br />
neben den ganzen bisherigen Erden−Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort,<br />
Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt −<br />
und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche<br />
Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die<br />
Tragödie beginnt...<br />
383.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Epilog. − Aber indem ich zum Schluss dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam<br />
hinmale und eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten Lesens − oh<br />
was für vergessene und unbekannte Tugenden! − in's Gedächtniss zu rufen, begegnet mir's,<br />
dass um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister meines<br />
Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung.<br />
"Wir halten es nicht mehr aus − rufen sie mir zu −; fort, fort mit dieser rabenschwarzen<br />
Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und Rasen,<br />
das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer singt<br />
uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen nicht<br />
verscheucht, − dass es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und<br />
lieber noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnissvolle Laute,<br />
solche Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfiffe, mit denen Sie uns in Ihrer<br />
Wildniss bisher regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht<br />
solche Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!" − Gefällt es<br />
euch so, meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre euch nicht gern zu Willen?<br />
Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch − sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt<br />
383. 182