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Nietzsche, Friedrich - Di...

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erlauben möchte, gefährlich−gesund, immer wieder gesund, − will es uns scheinen, als ob<br />

wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch<br />

Niemand abgesehn hat, ein jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine<br />

Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem,<br />

dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich gerathen sind − ach,<br />

dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach<br />

solchen Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Gewissen und Wissen, noch am<br />

gegenwärtigen Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, dass<br />

wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen<br />

Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor uns her,<br />

ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden<br />

überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal<br />

eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit<br />

mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste,<br />

woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall,<br />

Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen<br />

bedeuten würde; das Ideal eines menschlich−übermenschlichen Wohlseins und<br />

Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich<br />

neben den ganzen bisherigen Erden−Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort,<br />

Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt −<br />

und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche<br />

Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die<br />

Tragödie beginnt...<br />

383.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

Epilog. − Aber indem ich zum Schluss dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam<br />

hinmale und eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten Lesens − oh<br />

was für vergessene und unbekannte Tugenden! − in's Gedächtniss zu rufen, begegnet mir's,<br />

dass um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister meines<br />

Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung.<br />

"Wir halten es nicht mehr aus − rufen sie mir zu −; fort, fort mit dieser rabenschwarzen<br />

Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und Rasen,<br />

das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer singt<br />

uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen nicht<br />

verscheucht, − dass es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und<br />

lieber noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnissvolle Laute,<br />

solche Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfiffe, mit denen Sie uns in Ihrer<br />

Wildniss bisher regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht<br />

solche Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!" − Gefällt es<br />

euch so, meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre euch nicht gern zu Willen?<br />

Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch − sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt<br />

383. 182

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