Nietzsche, Friedrich - Di...
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muss, − und, im gegebenen Falle, jedenfalls ein Jenseits von unsre in Gut und Böse, eine<br />
Freiheit von allem "Europa", letzteres als eine Summe von kommandirenden<br />
Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man<br />
gerade dorthinaus, dorthinauf will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches<br />
unvernünftiges "du musst" − denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des<br />
"unfreien Willens" −: die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf kann. <strong>Di</strong>es mag an<br />
vielfachen Bedingungen hängen, in der Hauptsache ist es die Frage darnach, wie leicht<br />
oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer "spezifischen Schwere". Man muss sehr<br />
leicht sein, um seinen Willen zur Erkenntniss bis in eine solche Ferne und gleichsam über<br />
seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu schaffen<br />
und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muss sich von Vielem losgebunden<br />
haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. Der<br />
Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht<br />
bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst zu "überwinden" − es ist<br />
die Probe seiner Kraft − und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen<br />
Widerwillen und Widerspruch gegen diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine<br />
Zeit−Ungemässheit, seine Romantik...<br />
381.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Zur Frage der Verständlichkeit. − Man will nicht nur verstanden werden, wenn man<br />
schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar<br />
kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht<br />
gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, − er wollte nicht von "irgend Jemand"<br />
verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich<br />
mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen "die<br />
Anderen" seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie<br />
halten zugleich ferne, sie schaffen <strong>Di</strong>stanz, sie verbieten "den Eingang", das Verständniss,<br />
wie gesagt, − während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt<br />
sind. Und dass ich es unter uns sage und in meinem Falle, − ich will mich weder durch<br />
meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen,<br />
euch verständlich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch<br />
mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn<br />
ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten Bade − schnell hinein, schnell<br />
hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter komme, ist der<br />
Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung.<br />
Oh! die grosse Kälte macht geschwind! − Und nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache<br />
dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt,<br />
angeblickt, angeblitzt wird? Muss man durchaus erst auf ihr fest sitzen? auf ihr wie auf<br />
einem Ei gebrütet haben? <strong>Di</strong>u noctuque incubando, wie Newton von sich selbst sagte?<br />
Zum Mindesten giebt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren<br />
man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, − die man überraschen oder lassen muss...<br />
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