Nietzsche, Friedrich - Di...
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Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige Tiere<br />
unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern<br />
macht...<br />
376.<br />
Unsre langsamen Zeiten. − So empfinden alle Künstler und Menschen der "Werke", die<br />
mütterliche Art Mensch: immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens − den ein<br />
Werk jedes Mal abschneidet −, schon am Ziele selbst zu sein, immer würden sie den Tod<br />
geduldig entgegen nehmen, mit dem Gefühl: "dazu sind wir reif". <strong>Di</strong>es ist nicht der<br />
Ausdruck der Ermüdung, − vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit und<br />
Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reifgewordensein eines Werks, bei seinem<br />
Urheber hinterlässt. Da verlangsamt sich das tempo des Lebens und wird dick und<br />
honigflüssig − bis zu langen Fermaten, bis zum Glauben an die lange Fermate...<br />
377.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Wir Heimatlosen. − Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht<br />
haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen, ihnen gerade<br />
sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich an's Herz gelegt! Denn ihr<br />
Loos ist hart, ihre Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden<br />
− aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu<br />
Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin Einer sich sogar in dieser<br />
zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren<br />
"Realitäten" betrifft, so glauben wir nicht daran, dass sie Dauer haben. Das Eis, das heute<br />
noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen,<br />
sind Etwas, das Eis und andre allzudünne "Realitäten" aufbricht... Wir "conserviren"<br />
Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht "liberal",<br />
wir arbeiten nicht für den "Fortschritt", wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die<br />
Zukunfts−Sirenen des Marktes zu verstopfen − das, was sie singen, gleiche Rechte", "freie<br />
Gesellschaft", "keine Herrn mehr und keine Knechte", das lockt uns nicht! − wir halten es<br />
schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht<br />
auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten<br />
Vermittelmässigung und Chineserei sein würde), wir freuen uns an Allen, die gleich uns<br />
die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen<br />
und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die<br />
Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei − denn zu jeder<br />
Verstärkung und Erhöhung des Typus "Mensch" gehört auch eine neue Art Versklavung<br />
hinzu − nicht wahr? mit Alle dem müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein,<br />
welches die Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, rechtlichste<br />
Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen hat? Schlimm genug, dass wir gerade<br />
bei diesen schönen Worten um so hässlichere Hintergedanken haben! Dass wir darin nur<br />
den Ausdruck − auch die Maskerade − der tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters,<br />
376. 177