Nietzsche, Friedrich - Di...
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der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts<br />
von dem, was eigentlich an ihr "Musik" ist!...<br />
374.<br />
Unser neues "Unendliches". − Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht<br />
oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne<br />
Auslegung, ohne "Sinn" eben zum "Unsinn" wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein<br />
essentiell ein auslegendes Dasein ist − das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und<br />
peinlich−gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht<br />
werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst<br />
unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht<br />
um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch<br />
für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte: zum Beispiel, ob irgend welche<br />
Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können<br />
(womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung<br />
gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen<br />
Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus<br />
Perspektiven haben dürfe. <strong>Di</strong>e Welt ist uns vielmehr noch einmal "unendlich" geworden:<br />
insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen<br />
in sich schliesst. Noch einmal fasst uns der grosse Schauder − aber wer hätte wohl Lust,<br />
dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?<br />
Und etwa das Unbekannte fürderhin als, den "Unbekannten" anzubeten? Ach, es sind zu<br />
viele ungöttliche Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet,<br />
zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, − unsre eigne menschliche,<br />
allzumenschliche selbst, die wir kennen...<br />
375.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Warum wir Epikureer scheinen. − Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen<br />
letzte Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und<br />
Gewissens−Ueberlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und<br />
Nein liegen: wie erklärt sich das? Vielleicht, dass man darin zu einem guten Theil die<br />
Behutsamkeit des "gebrannten Kindes", des enttäuschten Idealisten sehn darf, zu einem<br />
andern und bessern Theile aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen<br />
Eckenstehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im<br />
Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im "Freien an sich". Damit<br />
bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntniss−Hang aus, welcher den<br />
Fragezeichen−Charakter der <strong>Di</strong>nge nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein<br />
Widerwille gegen die grossen Moral−Worte und −Gebärden, ein Geschmack, der alle<br />
plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Uebung in Vorbehalten mit<br />
Stolz bewusst ist. Denn Das macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel−Straffziehn bei<br />
unsrem vorwärts stürmenden Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des<br />
374. 176