Nietzsche, Friedrich - Di...
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der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, − und<br />
mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des<br />
Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden − des Rückschlusses vom Werk<br />
auf den Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es nöthig hat, von<br />
jeder Denk− und Werthungsweise auf das dahinter kommandirende Bedürfniss. − In<br />
Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung:<br />
ich frage, in jedem einzelnen Falle, "ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schöpferisch<br />
geworden?" Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen<br />
scheinen − sie ist bei weitem augenscheinlicher − nämlich das Augenmerk darauf, ob das<br />
Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist, oder<br />
aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach<br />
Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als<br />
zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich<br />
dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der<br />
Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie<br />
man weiss, das Wort "dionysisch"), aber es kann auch der Hass des Missrathenen,<br />
Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das<br />
Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt − man sehe sich, um<br />
diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen<br />
bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit und<br />
Liebe kommen: − eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein,<br />
dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig−spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe,<br />
und einen homerischen Licht− und Glorienschein über alle <strong>Di</strong>nge breitend. Er kann aber<br />
auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein,<br />
welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens<br />
noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen <strong>Di</strong>ngen<br />
gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur,<br />
aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner<br />
ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer'sche Willens−Philosophie, sei es als<br />
Wagner'sche Musik: − der romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereigniss im<br />
Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne,<br />
einen klassischen − diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als<br />
mein proprium und ipsissimum: nur dass meinen Ohren das Wort "klassisch" widersteht, es<br />
ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen<br />
Pessimismus der Zukunft denn er kommt! ich sehe ihn kommen! − den dionysschen<br />
Pessimismus.)<br />
371.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Wir Unverständlichen. − Haben wir uns je darüber beklagt, missverstanden, verkannt,<br />
verwechselt, verleumdet, verhört und überhört zu werden? Eben das ist unser Loos − oh für<br />
lange noch! sagen wir, um bescheiden zu sein, bis 1901 −, es ist auch unsre Auszeichnung;<br />
371. 173