Nietzsche, Friedrich - Di...
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versteht: das begreift man, wenn man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern aus<br />
der Nähe zugesehn hat, − als welche Alle, fast ausnahmslos, sich durch eine listige<br />
Erfindsamkeit von Manieren, von Nothbehelfen, selbst von Principien künstlich und<br />
nachträglich den Anschein jener Probität, jener Solidität von Schulung und Cultur<br />
anzueignen wissen, freilich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit ihr eignes<br />
schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. Denn, ihr wisst es doch? alle grossen<br />
modernen Künstler leiden am schlechten Gewissen... )<br />
367.<br />
Wie man zuerst bei Kunstwerken zu unterscheiden hat. − Alles, was gedacht, gedichtet,<br />
gemalt, componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur monologischen<br />
Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist auch noch jene scheinbare<br />
Monolog−Kunst einzurechnen, welche den Glauben an Gott in sich schliesst, die ganze<br />
Lyrik des Gebets: denn für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, − diese<br />
Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen tieferen Unterschied<br />
der gesammten Optik eines Künstlers als diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach<br />
seinem werdenden Kunstwerke (nach "sich" −) hinblickt oder aber "die Welt vergessen<br />
hat": wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, − sie ruht auf dem Vergessen,<br />
sie ist die Musik des Vergessens.<br />
368.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Der Cyniker redet. − Meine Einwände gegen die Musik Wagner's sind physiologische<br />
Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Meine<br />
"Thatsache" ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt;<br />
dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt − er hat das Bedürfniss nach Takt,<br />
Tanz, Marsch, er verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem<br />
Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen liegen. − Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein<br />
Herz? mein Blutlauf? mein Eingeweide? Werde ich nicht unvermerkt heiser dabei? − Und<br />
so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? Ich<br />
glaube, seine Erleichterung: wie als ob alle animalischen Funktionen durch leichte kühne<br />
ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne,<br />
das bleierne Leben durch goldene gute zärtliche Harmonien vergoldet werden sollte. Meine<br />
Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn: dazu<br />
brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was die Krämpfe seiner sittlichen<br />
Ekstasen, an denen das "Volk" seine Genugthuung hat! Was der ganze<br />
Gebärden−Hokuspokus des Schauspielers!... Man erräth, ich bin wesentlich<br />
antitheatralisch geartet, − aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und<br />
Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als Musiker!..<br />
Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist "das Drama ist der Zweck,<br />
die Musik ist immer nur dessen Mittel", − seine Praxis dagegen war, von Anfang bis zu<br />
Ende, "die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr Mittel".<br />
367. 170