Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di... Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, − nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in's Bewusstsein kommen − wenigstens ein Theil derselben −, das ist die Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden "Muss": er brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines−Gleichen, er musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen − und zu dem Allen hatte er zuerst "Bewusstsein" nöthig, also selbst zu "wissen" was ihm fehlt, zu "wissen", wie es ihm zu Muthe ist, zu "wissen", was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil: − denn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sichbewusst−werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu übermitteln. Der Zeichen−erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, − er thut es noch, er thut es immer mehr. − Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual−Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts− und Heerden−Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts− und Heerden−Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, "sich selbst zu kennen", doch immer nur gerade das Nicht−Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein "Durchschnittliches", − dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins − durch den in ihm gebietenden "Genius der Gattung" − gleichsam majorisirt und in die Heerden−Perspektive zurück−übersetzt wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt−individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr... Diess ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen− und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, − dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ−dumm, generell, Zeichen, Heerden−Merkzeichen wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, 354. 156
dass es eine Krankheit ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks−Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von "Ding an sich" und Erscheinung: denn wir "erkennen" bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die "Wahrheit": wir "wissen" (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen−Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier "Nützlichkeit" genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn. 355. Nietzsche Der Ursprung unsres Begriffs "Erkenntniss". − Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen "er hat mich erkannt" −: dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es "Erkenntniss" will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. Und wir Philosophen − haben wir unter Erkenntniss eigentlich mehr verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: − wie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?... Dieser Philosoph wähnte die Welt "erkannt", als er sie auf die "Idee" zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die "Idee" so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der "Idee" fürchtete? − Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch ihre Principien und Welträthsel−Lösungen darauf an! Wenn sie Etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn was bekannt ist, ist "erkannt": darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leicht ererkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der "inneren Welt", von den "Thatsachen des Bewusstseins" auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu "erkennen", das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als "ausser uns" zu sehn... Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins−Elemente − unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte − ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht−Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen... 355. 157
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<strong>Nietzsche</strong><br />
zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit)<br />
nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich<br />
entwickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und<br />
Mensch, − nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische und<br />
raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns unsre Handlungen, Gedanken,<br />
Gefühle, Bewegungen selbst in's Bewusstsein kommen − wenigstens ein Theil derselben −,<br />
das ist die Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden "Muss": er<br />
brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines−Gleichen, er musste<br />
seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen − und zu dem Allen hatte er<br />
zuerst "Bewusstsein" nöthig, also selbst zu "wissen" was ihm fehlt, zu "wissen", wie es ihm<br />
zu Muthe ist, zu "wissen", was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes<br />
lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist<br />
nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil: − denn<br />
allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen,<br />
womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung<br />
der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des<br />
Sichbewusst−werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, dass nicht<br />
nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick,<br />
der Druck, die Gebärde; das Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die<br />
Kraft, sie fixiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse<br />
zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu übermitteln. Der<br />
Zeichen−erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste<br />
Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, − er thut es<br />
noch, er thut es immer mehr. − Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein<br />
nicht eigentlich zur Individual−Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an<br />
ihm Gemeinschafts− und Heerden−Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug<br />
auf Gemeinschafts− und Heerden−Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder<br />
von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, "sich<br />
selbst zu kennen", doch immer nur gerade das Nicht−Individuelle an sich zum Bewusstsein<br />
bringen wird, sein "Durchschnittliches", − dass unser Gedanke selbst fortwährend durch<br />
den Charakter des Bewusstseins − durch den in ihm gebietenden "Genius der Gattung" −<br />
gleichsam majorisirt und in die Heerden−Perspektive zurück−übersetzt wird. Unsre<br />
Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig,<br />
unbegrenzt−individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein<br />
übersetzen, scheinen sie es nicht mehr... <strong>Di</strong>ess ist der eigentliche Phänomenalismus und<br />
Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit<br />
sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen− und<br />
Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, − dass Alles, was bewusst<br />
wird, ebendamit flach, dünn, relativ−dumm, generell, Zeichen, Heerden−Merkzeichen<br />
wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung,<br />
Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende<br />
Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar,<br />
354. 156