Nietzsche, Friedrich - Di...
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und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus<br />
Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent,<br />
beinahe bedürfnisslos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit<br />
Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der<br />
die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu<br />
verhüten verspricht, − dies "Verstehen" war sein Genie. Zum Religionsstifter gehört<br />
psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um eine bestimmte Durchschnitts−Art von<br />
Seelen, die sich noch nicht als zusammengehörig erkannt haben. Er ist es, der sie<br />
zusammenbringt; die Gründung einer Religion wird insofern immer zu einem langen<br />
Erkennungs−Feste. −<br />
354.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Vom "Genius der Gattung". − Das Problem des Bewusstseins (richtiger: des<br />
Sich−Bewusst−Werdens) tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen,<br />
inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns<br />
jetzt Physiologie und Tiergeschichte (welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben,<br />
um den vorausfliegenden Argwohn Leibnitzens einzuholen). Wir könnten nämlich denken,<br />
fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls "handeln" in jedem Sinne des Wortes:<br />
und trotzdem brauchte das Alles nicht uns "in's Bewusstsein zu treten" (wie man im Bilde<br />
sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja<br />
thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich<br />
ohne diese Spiegelung abspielt −, und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden<br />
Lebens, so beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. Wozu überhaupt<br />
Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache überflüssig ist? − Nun scheint mir, wenn man<br />
meiner Antwort auf diese Frage und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehör<br />
geben will, die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur<br />
Mittheilungs−Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs−Fähigkeit<br />
wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs−Bedürftigkeit: letzteres nicht so verstanden, als<br />
ob gerade der einzelne Mensch selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und<br />
Verständlichmachung seiner Bedürfnisse ist, zugleich auch mit seinen Bedürfnissen am<br />
meisten auf die Andern angewiesen sein müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf<br />
ganze Rassen und Geschlechter−Ketten zu stehn: wo das Bedürfniss, die Noth die<br />
Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu<br />
verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung da,<br />
gleichsam ein Vermögen, das sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet,<br />
der es verschwenderisch ausgiebt (− die sogenannten Künstler sind diese Erben,<br />
insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles Menschen, welche immer am Ende<br />
einer langen Kette kommen, "Spätgeborne" jedes Mal, im besten Verstande des Wortes,<br />
und, wie gesagt, ihrem Wesen nach Verschwender). Gesetzt, diese Beobachtung ist richtig,<br />
so darf ich zu der Vermuthung weitergehn, dass Bewusstsein überhaupt sich nur unter dem<br />
Druck des Mittheilungs−Bedürfnisses entwickelt hat, − dass es von vornherein nur<br />
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