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Nietzsche, Friedrich - Di...

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352.<br />

Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist. − Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein<br />

schändlicher Anblick − ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den<br />

Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die<br />

Tücke eines Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn<br />

dahin und der stärkste Appetit entmuthigt wäre, − es scheint, wir Europäer können jener<br />

Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. Sollte aber die Verkleidung der<br />

"moralischen Menschen", ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe,<br />

das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht,<br />

Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe<br />

haben? Nicht dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und<br />

Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns vermummt werden; mein<br />

Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als zahme Thiere ein schändlicher Anblick sind<br />

und die Moral−Verkleidung brauchen, − dass der "inwendige Mensch" in Europa eben<br />

lange nicht schlimm genug ist, um sich damit "sehen lassen" zu können (um damit schön<br />

zu sein −). Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches,<br />

krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat, "zahm" zu sein, weil er beinahe<br />

eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches, Linkisches ist.... Nicht die Furchtbarkeit des<br />

Raubthiers findet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner<br />

tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer<br />

auf − gestehen wir es ein! − in's Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in's<br />

"Göttliche" −<br />

353.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

Vom Ursprung der Religionen. − <strong>Di</strong>e eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal:<br />

eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als disciplina voluntatis<br />

wirkt und zugleich die Langeweile wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine<br />

Interpretation zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint, so<br />

dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Umständen, sein<br />

Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei Erfindungen die zweite die wesentlichere: die<br />

erste, die Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten und ohne<br />

Bewusstsein davon, was für ein Werth ihr innewohne. <strong>Di</strong>e Bedeutung, die Originalität des<br />

Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie sieht, dass er sie auswählt,<br />

dass er zum ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus<br />

(oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor,<br />

ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten<br />

Sinn und Werth hinein − und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten, den<br />

stillen Herrenhuter−Fanatismus, das heimliche unterirdische Selbstvertrauen, welches<br />

wächst und wächst und endlich bereit ist, "die Welt zu überwinden" (das heisst Rom und<br />

die höheren Stände im ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor,<br />

352. 154

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