Nietzsche, Friedrich - Di...

Nietzsche, Friedrich - Di... Nietzsche, Friedrich - Di...

26.06.2013 Aufrufe

347. Nietzsche Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben. − Wie viel einer Glauben nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel "Festes", an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält, − ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die Meisten nöthig: desshalb findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, − gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für "wahr" halten, − gemäss jenem berühmten "Beweise der Kraft", von dem die Bibel redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich−positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Begründung der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber − conservirt. In der That dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung − oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs−Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland "deutsch" nennt) oder in ästhetische Winkel−Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht − man heisst diesen Theil heute gern la verité vraie −) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heisst in den Glauben an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das Bedürfniss nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt... Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei−Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um−sich−greifen zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen fanden ein durch Willens−Erkrankung in's Unsinnige aufgethürmtes, bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem "du sollst" vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens−Erschlaffung und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige Willensstärken, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art Hypnotisirung des ganzen sinnlich−intellektuellen Systems zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) 347. 150

eines einzelnen Gesichts− und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt − der Christ heisst ihn seinen Glauben. Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er "gläubig"; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence. 348. Nietzsche Von der Herkunft der Gelehrten. − Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines spezifischen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesentlich und unfreiwillig, zu den Trägem des demokratischen Gedankens. Aber diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen Abhandlung die intellektuelle Idiosynkrasie des Gelehrten − jeder Gelehrte hat eine solche − herauszuerkennen und auf der That zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr die "Vorgeschichte" des Gelehrten, seine Familie, in Sonderheit deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht bekommen. Wo das Gefühl zum Ausdruck kommt "das ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich fertig", da ist es gemeinhin der Vorfahr im Blute und Instinkte des Gelehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die "gemachte Arbeit" gutheisst, − der Glaube an den Beweis ist nur ein Symptom davon, was in einem arbeitsamen Geschlechte von Alters her als "gute Arbeit" angesehn worden ist. Ein Beispiel: die Söhne von Registratoren und Büreauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben. Es giebt Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind − ihnen ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden. Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln verräth Etwas; man ist nicht ungestraft das Kind seiner Eltern. Der Sohn eines Advokaten wird auch als Forscher ein Advokat sein müssen: er will mit seiner Sache in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter, vielleicht, Recht haben. Die Söhne von protestantischen Geistlichen und Schullehrern erkennt man an der naiven Sicherheit, mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen, wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme vorgebracht worden ist: sie sind eben gründlich daran gewöhnt, dass man ihnen glaubt,− das gehörte bei ihren Vätern zum, "Handwerk"! Ein Jude umgekehrt ist, gemäss dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volks, gerade daran − dass man ihm glaubt − am wenigsten gewöhnt: man sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, − sie Alle halten grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, dass sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen− und Classen−Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und nimmt auch die krummen Nasen für 348. 151

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<strong>Nietzsche</strong><br />

<strong>Di</strong>e Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben. − Wie viel einer Glauben nöthig hat, um<br />

zu gedeihen, wie viel "Festes", an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran hält,<br />

− ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche).<br />

Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute noch die Meisten nöthig:<br />

desshalb findet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz<br />

könnte ihm tausendfach widerlegt sein, − gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch<br />

immer wieder für "wahr" halten, − gemäss jenem berühmten "Beweise der Kraft", von dem<br />

die Bibel redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme<br />

Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten Massen<br />

wissenschaftlich−positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu<br />

wollen (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Begründung der<br />

Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): auch das ist noch das Verlangen nach Halt,<br />

Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken,<br />

Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber − conservirt. In der That dampft um alle<br />

diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung,<br />

Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung − oder<br />

aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs−Anarchismus und was<br />

es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die Heftigkeit,<br />

mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren,<br />

zum Beispiel in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich chauvinisme,<br />

in Deutschland "deutsch" nennt) oder in ästhetische Winkel−Bekenntnisse nach Art des<br />

Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher<br />

Ekel zugleich und Erstaunen macht − man heisst diesen Theil heute gern la verité vraie −)<br />

oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heisst in den Glauben an den Unglauben,<br />

bis zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das Bedürfniss nach Glauben, Halt,<br />

Rückgrat, Rückhalt... Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten<br />

nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende<br />

Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss,<br />

um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott,<br />

Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei−Gewissen. Woraus vielleicht<br />

abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christenthum<br />

ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um−sich−greifen zumal, in einer ungeheuren<br />

Erkrankung des Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide<br />

Religionen fanden ein durch Willens−Erkrankung in's Unsinnige aufgethürmtes, bis zur<br />

Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem "du sollst" vor, beide Religionen waren<br />

Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens−Erschlaffung und boten damit<br />

Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der<br />

Fanatismus ist nämlich die einzige Willensstärken, zu der auch die Schwachen und<br />

Unsicheren gebracht werden können, als eine Art Hypnotisirung des ganzen<br />

sinnlich−intellektuellen Systems zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie)<br />

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