Nietzsche, Friedrich - Di...
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<strong>Nietzsche</strong><br />
Unser Fragezeichen. − Aber ihr versteht das nicht? In der That, man wird Mühe haben, uns<br />
zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach Ohren. Wer sind wir<br />
doch? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdruck Gottlose oder Ungläubige oder<br />
auch Immoralisten nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir<br />
sind alles Dreies in einem zu späten Stadium, als dass man begriffe, als dass ihr begreifen<br />
könntet, meine Herren Neugierigen, wie es Einem dabei zu Muthe ist. Nein! nicht mehr mit<br />
der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch<br />
einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muss! Wir sind<br />
abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, dass es in der Welt durchaus<br />
nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach menschlichem Maasse vernünftig,<br />
barmherzig oder gerecht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist ungöttlich,<br />
unmoralisch, "unmenschlich", − wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch, aber<br />
nach Wunsch und Willen unsrer Verehrung, das heisst nach einem Bedürfnisse ausgelegt.<br />
Denn der Mensch ist ein verehrendes Thier! Aber er ist auch ein misstrauisches: und dass<br />
die Welt nicht das werth ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefähr das Sicherste, dessen<br />
unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist. So viel Misstrauen, so viel Philosophie.<br />
Wir hüten uns wohl zu sagen, dass sie weniger werth ist: es erscheint uns heute selbst zum<br />
Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werthe zu erfinden, welche den<br />
Werth der wirklichen Welt überragen sollten, − gerade davon sind wir zurückgekommen<br />
als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und Unvernunft, die<br />
lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat ihren letzten Ausdruck im modernen<br />
Pessimismus gehabt, einen älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das<br />
Christenthum enthält sie, zweifelhafter freilich und zweideutiger, aber darum nicht weniger<br />
verführerisch. <strong>Di</strong>e ganze Attitüde "Mensch gegen Welt", der Mensch als<br />
"Welt−verneinendes" Princip, der Mensch als Werthmaass der <strong>Di</strong>nge, als Welten−Richter,<br />
der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet − die<br />
ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein<br />
gekommen und verleidet, − wir lachen schon, wenn wir "Mensch und Welt" nebeneinander<br />
gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens "und"! Wie aber?<br />
Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des<br />
Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns<br />
erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes<br />
verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause<br />
waren um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten und einer andren Welt, die wir<br />
selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns<br />
Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden<br />
Geschlechter vor das furchtbare Entweder−Oder stellen könnte: "entweder schafft eure<br />
Verehrungen ab oder − euch selbst!" Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht<br />
auch das Erstere − der Nihilismus? − <strong>Di</strong>es ist unser Fragezeichen.<br />
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