Nietzsche, Friedrich - Di...
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schweigsamen Mund. Mit dieser "Strenge der Wissenschaft" steht es nun wie mit der Form<br />
und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft: − sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer<br />
aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben, als in dieser hellen, durchsichtigen,<br />
kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser männlichen Luft. Ueberall sonst ist es ihm nicht<br />
reinlich und luftig genug: er argwöhnt, dass dort seine beste Kunst Niemandem recht von<br />
Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, dass unter Missverständnissen ihm<br />
sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe, dass fortwährend viel Vorsicht, viel<br />
Verbergen und Ansichhalten noth thue, − lauter grosse und unnütze Einbussen an Kraft! In<br />
diesem strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier kann er fliegen!<br />
Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muss<br />
und seine Flügel missfarbig macht! − Nein! Da ist es zu schwer für uns, zu leben: was<br />
können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des<br />
Lichtstrahls, und dass wir am liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und<br />
nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht: − so<br />
wollen wir denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, "das Licht der Erde"<br />
sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um<br />
dessenthalben sind wir männlich und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen <strong>Di</strong>e uns<br />
fürchten, welche sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen!<br />
294.<br />
Gegen die Verleumder der Natur. − Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen jeder<br />
natürliche Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder gar<br />
Schmählichem, − diese haben uns zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des<br />
Menschen seien böse; sie sind die Ursache unserer grossen Ungerechtigkeit gegen unsere<br />
Natur, gegen alle Natur! Es giebt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmuth und<br />
Sorglosigkeit überlassen dürfen: aber sie thun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten<br />
"bösen Wesen" der Natur! Daher ist es gekommen, dass so wenig Vornehmheit unter den<br />
Menschen zu finden ist: deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine Furcht zu<br />
haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns<br />
treibt − uns freigeborene Vögel! Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei und<br />
sonnenlicht um uns sein.<br />
295.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Kurze Gewohnheiten. − Ich liebe die kurzen Gewohnheiten und halte sie für das<br />
unschätzbare Mittel, viele Sachen und Zustände kennen zu lernen und hinab bis auf den<br />
Grund ihrer Süssen und Bitterkeiten; meine Natur ist ganz für kurze Gewohnheiten<br />
eingerichtet, selbst in den Bedürfnissen ihrer leiblichen Gesundheit und überhaupt soweit<br />
ich nur sehen kann: vom Niedrigen bis zum Höchsten. Immer glaube ich, diess werde mich<br />
nun dauernd befriedigen − auch die kurze Gewohnheit hat jenen Glauben der Leidenschaft,<br />
den Glauben an die Ewigkeit − und ich sei zu beneiden, es gefunden und erkannt zu haben:<br />
− und nun nährt es mich am Mittage und am Abende und verbreitet eine tiefe<br />
294. 122