Nietzsche, Friedrich - Di...
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288.<br />
Hohe Stimmungen. − Mir scheint es, dass die meisten Menschen an hohe Stimmungen<br />
überhaupt nicht glauben, es sei denn für Augenblicke, höchstens Viertelstunden, − jene<br />
Wenigen ausgenommen, welche eine längere Dauer des hohen Gefühls aus Erfahrung<br />
kennen. Aber gar der Mensch Eines hohen Gefühls, die Verkörperung einer einzigen<br />
grossen Stimmung sein − das ist bisher nur ein Traum und eine entzückende Möglichkeit<br />
gewesen: die Geschichte giebt uns noch kein sicheres Beispiel davon. Trotzdem könnte sie<br />
einmal auch solche Menschen gebären − dann, wenn eine Menge günstige<br />
Vorbedingungen geschaffen und festgestellt worden sind, die jetzt auch der glücklichste<br />
Zufall nicht zusammenzuwürfeln vermag. Vielleicht wäre diesen zukünftigen Seelen eben<br />
Das der gewöhnliche Zustand, was bisher als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier<br />
und da einmal in unseren Seelen eintrat: eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und<br />
tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie−auf−Treppensteigen und<br />
zugleich Wie−auf−Wolken−ruhen.<br />
289.<br />
Auf die Schiffe! − Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische<br />
Gesammt−Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt − nämlich gleich einer<br />
wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig<br />
von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie<br />
sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden<br />
bringt und das kleine und grosse Unkraut des Grams und der Verdriesslichkeit gar nicht<br />
aufkommen lässt: − so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neue<br />
Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der<br />
Ausnahme−Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!<br />
Nicht Mitleiden mit ihnen thut noth! − diesen Einfall des Hochmuths müssen wir<br />
verlernen, so lange auch bisher die Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat −<br />
keine Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben wir für sie aufzustellen!<br />
Sondern eine neue Gerechtigkeit thut noth! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen!<br />
Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch<br />
die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken −<br />
und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!<br />
290.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Eins ist Noth. − Seinem Charakter "Stil geben" − eine grosse und seltene Kunst! Sie übt<br />
Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es<br />
dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint<br />
und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur<br />
hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: − beidemal mit langer<br />
Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen<br />
288. 119