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adecap - Welthaus Bielefeld

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1. Quartalsbericht<br />

Liebe SpenderInnen, FreundInnen, Verwandte und Interessierte, liebes <strong>Welthaus</strong><br />

<strong>Bielefeld</strong>,<br />

ein Vierteljahr ist schon (oder erst?) vergangen, seit ich in den Flieger nach Peru gestiegen<br />

bin, und es wird Zeit, euch in meinem ersten Quartalsbericht meine Arbeit, meine Erlebnisse<br />

und dieses Land – soweit das in Worten und Bildern geht – näher zu bringen.<br />

Geschichte ADECAPs<br />

ADECAP („Asociación de Defensa y Desarrollo en las Comunidades Andinas del Perú” –<br />

„Vereinigung zur Verteidigung und Entwicklung der andinen Dorfgemeinschaften Perus“,<br />

http://<strong>adecap</strong>peru.com/?lang=de) entstand 1984 während des peruanischen Bürgerkrieges.<br />

Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad“), eine maoistische Terrororganisation, und das<br />

peruanische Militär bekämpften sich in den hauptsächlich von Quechua-Indigenen besiedelten<br />

Anden und verlangten beide deren Zusammenarbeit. So richtete Sendero als regierungstreu<br />

Verurteilte hin, während das wenig später aufkreuzende Militär wiederum nach Sendero-<br />

Anhängern suchte und weitere unschuldige Menschen tötete.<br />

Vier Indigene wollten ihre Dorfgemeinschaften zusammenführen, um sich sowohl vor<br />

Sendero als auch vor dem Militär zu schützen, und machten sich dadurch beide Seiten zum<br />

Feind. Drei der vier Männer wurden getötet, bevor ADECAP überhaupt offiziell gegründet<br />

wurde, der vierte, Carlos Taipe Campos, konnte mithilfe einer Luxemburgerin nach Europa<br />

fliehen.<br />

1992 wurde Abimael Guzmán, der Anführer der Gruppe, festgenommen und Sendero<br />

Luminoso langsam zurückgedrängt. Carlos konnte zurückkehren und ADECAP arbeitet nun<br />

für die Entwicklung der comunidades (Bauerndörfer).<br />

Derzeit besteht ADECAP aus 92 dieser comunidades, deren Vertreter regelmäßig in den<br />

Vollversammlungen zusammen kommen, ihren Präsidenten, Vizepräsidenten etc. wählen,<br />

sich gegenseitig von ihrer Arbeit berichten und Ziele für die Zukunft festlegen. Im Moment<br />

hat ADECAP drei große Projekte mit jeweils ca. fünf Mitarbeitern, die die Familien, mit<br />

denen ADECAP arbeitet (diese werden von den comunidades selbst ausgesucht), besuchen.<br />

Seit August 2008 arbeiten vom <strong>Welthaus</strong> <strong>Bielefeld</strong> (http://www.welthaus.de) vorbereitete und<br />

entsendete Freiwillige bei ADECAP.<br />

Carlos Taipe Campos bei der<br />

Vollversammlung im August<br />

2012


Projekte<br />

Bildungsprojekt – Proyecto Educación Bilingüe Intercultural<br />

A wie avión (Flugzeug), E wie elefante… Ist doch richtig? Sind doch gute Beispiele? Für<br />

Kinder, die von klein auf Zugang zu Bilderbüchern und Fernsehen haben, mag das durchaus<br />

zutreffen. Aber da man in den Anden vergeblich nach Flugzeugen sucht, die auf den<br />

Berggipfeln landen, und nach Elefanten, die zusammen mit den Kühen und Schafen grasen,<br />

kann ein Quechua-Kind wohl kaum etwas damit anfangen. Das Problem ist nicht nur, dass die<br />

meist von der Küste stammenden Lehrer Spanisch als Muttersprache haben, sondern auch<br />

einen völlig anderen kulturellen Hintergrund. Und da nun mal der Lehrer den Unterricht<br />

macht, sind es die Kinder, die unter dieser Differenz leiden.<br />

Deshalb versucht das Bildungsteam von ADECAP in Zusammenarbeit mit ProHumanus<br />

(http://www.prohumanus.org/), den Unterricht in sog. „Pilotzentren“ (Versuchsschulen)<br />

inhaltlich und methodisch zu verbessern. Beispiele und Geschichten basieren nun immer mehr<br />

auf der Lebenswelt der Kinder, der Tag startet mit einem „Guten Tag, Mutter Erde, guten<br />

Tag, Vater Sonne, guten Tag, Tiere und Pflanzen und Steine“ und Lieder haben Texte wie<br />

„Mutter, ich spüre dich unter meinen Füßen, Mutter, ich spüre dich in mir drin“. Elemente der<br />

Waldorfpädagogik werden mit eingebracht und es wird versucht, die Lehrer von ihrem<br />

oftmals autoritären Unterrichtsstil wegzubewegen.<br />

Profesora Sonya beim Unterricht in Jabonillo – S wie serpiente (Schlange)


Neben den Lehrern arbeiten die Teams auch mit den Eltern und vermitteln ihnen im<br />

„Elternunterricht“ zum Beispiel, auch die künstlerischen Seiten ihrer Kinder wertzuschätzen<br />

und sich für deren Bildung zu interessieren. Viele der Eltern malen in diesem<br />

„Elternunterricht“ zum ersten Mal in ihrem Leben.<br />

Stolze Eltern mit ihren Bildern<br />

Valles und meine Aufgabe bestand in diesem Projekt darin, den Unterricht, den<br />

„Elternunterricht“ und die Unterrichtsbesprechungen zu filmen, um die Arbeit des<br />

Bildungsteams zu dokumentieren. Das gesammelte Material wartet noch auf seine<br />

Verarbeitung; dies werden wir wohl in den nächsten Monaten tun, wenn in den Anden die<br />

Regenzeit ihren Höhepunkt erreicht.<br />

Gesundheitsprojekt – Proyecto Salud<br />

Das Gesundheitsteam versucht, die Lebensumstände der Familien in den comunidades zu<br />

verbessern. So werden Latrinen gebaut, Waschbecken, Duschen und sog. „verbesserte<br />

Küchen“ (herdähnliche Kochstellen) mit Rauchabzug, um Gesundheitsproblemen durch<br />

Rauch in der Küche vorzubeugen. Außerdem führen die ADECAP-Mitarbeiter<br />

Infoveranstaltungen durch, in denen sie die Familien über ihre Rechte, Krankheitssymptome,<br />

richtiges Händewaschen, Gesundheitsgefahren durch Haustiere in der Küche und vieles<br />

Weitere aufklären.<br />

Ein großes Problem in Huancavelica, der Region, in der Pampas liegt, ist die Unter- bzw.<br />

Mangelernährung (im Jahr 2010 waren 44,7% aller Kinder unter fünf Jahren in Huancavelica<br />

chronisch unterernährt – mit Abstand der höchste Prozentsatz in Peru). Grund dafür ist wohl


hauptsächlich ein Kultur- und Wissensverlust, durch den die Bauern nicht mehr vielseitige<br />

und mehrere Produkte gleichzeitig auf einem Feld anbauen, keine Fruchtwechselwirtschaft<br />

betreiben, keinen ökologischen Dünger herstellen etc. Um der daraus resultierenden<br />

einseitigen Ernährung vorzubeugen, legt das Gesundheitsteam mit den Familien<br />

Gemüsegärten an und zeigt in Infoveranstaltungen, welche Bestandteile eine ausgewogene<br />

Mahlzeit enthalten muss.<br />

Außerdem helfen sie Leuten, die keinen Ausweis besitzen, einen zu bekommen, weil man<br />

ohne Ausweis für den peruanischen Staat nicht existiert und damit auch keine Rechte geltend<br />

machen und z.B. im Krankenhaus nicht behandelt werden kann.<br />

Vor kurzem haben wir bei der End-Evaluation des Gesundheitsprojekts geholfen, das ebenso<br />

wie die anderen beiden Projekte im Dezember nach drei Jahren ausläuft. Wir haben uns in die<br />

Fragenbögen eingearbeitet, gelernt, wie sie digitalisiert werden, und Pamela und ich haben<br />

mithilfe der Beschreibungen anderer ADECAP-Mitarbeiter Pläne der comunidades gemalt,<br />

damit die Interviewer die richtigen Familien finden (wobei ich gelernt habe, wie hier bei<br />

Buntstiften die Farbe heißt, die man im Deutschen rassistischer Weise als „Hautfarbe“<br />

bezeichnet).<br />

Pamela beim Malen der Pläne<br />

Dann wurden drei Tage lang Fragebögen ausgefüllt und abgetippt. Das Ergebnis: ein klarer<br />

Erfolg! Die chronische Unterernährungsrate von Kindern unter fünf Jahren wurde in den<br />

comunidades, in denen das Gesundheitsprojekt arbeitet, auf 26,5% gesenkt, der Prozentsatz<br />

der Familien, die agrarökologische Anbaumethoden nutzen, stieg von 50% auf 95%, derer,<br />

die sich regelmäßig die Hände waschen, von 76% auf 99% und derer, die eine Wohnung ohne<br />

Gesundheitsrisiken haben (Latrine, Waschbecken, verbesserte Kochstelle, keine Tiere in der<br />

Küche) von 25% auf 75%, um nur einige Beispiele zu nennen. Einen Ausweis hatten<br />

mittlerweile sogar alle der befragten Personen. Dieser Erfolg ist zwar nicht nur ADECAP<br />

zuzuschreiben, da der Staat und andere Organisationen wie z.B. Caritas ebenfalls an diesen<br />

Problemen arbeiten, doch hat ADECAP sicherlich einen großen Beitrag dazu geleistet.<br />

Natürlich bleibt trotzdem noch viel zu tun und das Gesundheitsprojekt wird, soweit ich weiß,<br />

ab Januar in eine neue Phase starten.


Ernährungssicherheitsprojekt – Proyecto Seguridad Alimentaria<br />

Mit dem Ernährungssicherheitsteam war ich bisher am wenigsten unterwegs. Zudem<br />

überschneidet sich dieses Projekt großteils mit dem Gesundheitsprojekt. Anfangs lag der<br />

Schwerpunkt wohl hauptsächlich auf dem Anlegen von Gemüsegärten und dem Erstellen von<br />

ökologischem Dünger aufgrund oben genannter Probleme, dies weitete sich dann allerdings<br />

auf den Bau von Waschbecken, Latrinen etc. aus, sodass kaum noch ein Unterschied zum<br />

Gesundheitsprojekt festzustellen ist.<br />

Hausbesuch mit Flavio vom Ernährungssicherheitsteam<br />

Müllprojekt<br />

ADECAP gibt uns die Freiheit, eigene Projekte durchzuführen. Nach einer<br />

Orientierungsphase, die etwas länger gedauert hat als ursprünglich geplant und in der wir<br />

ADECAPs Projekte kennen gelernt haben, hat Valle sich entschieden, etwas für die<br />

Trinkwasserreinigung zu tun, während ich mich dem Müll annehmen will. Denn leider sieht<br />

man immer wieder am Straßenrand, in Bächen, auf Feldern und vor den Häusern Müll, der<br />

herumliegt oder verbrannt wird, während daneben die Kinder spielen, die Hühner vor sich hin<br />

picken und die Schafe grasen.


Auf der Suche nach einer Lösung für die Müllbeseitigung habe ich mich an die<br />

Stadtverwaltung von Pampas gewandt, nachdem ich erfahren habe, dass der Müll in Pampas<br />

selbst von einem Müllauto abgeholt wird. Von der Umweltbeauftragten wurde mir gesagt,<br />

dass das Müllauto wegen der schlechten Straßen nicht in die comunidades fahre und ihm<br />

außerdem nur eine begrenzte Menge Sprit zur Verfügung gestellt werde, der für die Wege<br />

nicht reiche. Das könne man zwar ändern, aber dann müsse das ja erst in den Haushaltsplan<br />

eingearbeitet werden… Und außerdem gehöre Atocc, die comunidad, in der ich das Projekt<br />

voraussichtlich durchführen werde, ja gar nicht zu Pampas, sondern zum Nachbarort Daniel<br />

Hernández und ich solle doch dort nachfragen.<br />

Immerhin bekam ich die Auskunft, dass der Müll aus Pampas zur „Planta de tratamiento de<br />

residuos sólidos“ gebracht wird und ich dem Müllauto folgen kann, wenn ich die sehen will.<br />

Gesagt, getan. Das Erste, was ins Auge stach, war die Rauchwolke, die ungehindert in den<br />

Himmel stieg. Doch wir erfuhren schon bald, dass da nur Papier und Karton verbrannt<br />

werden, während das Plastik vergraben und der organische Müll (=Schweinefutter),<br />

Plastikflaschen, Dosen und Kautschuk gesammelt und verkauft werden. Das Einzige, was<br />

schon getrennt geliefert wird, ist der organische Müll, der Rest wird erst vor Ort sortiert. Doch<br />

die „Planta“ ist mehr als das. Keine hundert Meter von den Müllbergen entfernt wurden<br />

Gemüsebeete und ein kleiner Teich angelegt und Gewächshäuser wurden gebaut, denn die<br />

„Planta“ soll bald ein touristisches Ziel sein.


In der Stadtverwaltung von Daniel Hernández wurde mir gesagt, dass es durchaus möglich<br />

sei, das Müllauto nach Atocc zu schicken, und ich solle dem Bürgermeister ein Dokument mit<br />

meinem Projektplan vorlegen, damit der entscheide, den Müll abholen zu lassen oder nicht.<br />

Da sowohl Don Armando, Präsident von ADECAP und Kommunalpräsident (ähnlich<br />

Bürgermeister) von Atocc, als auch die Lehrerin des Kindergartens von Atocc die Idee gut<br />

finden und gerne unterstützen, werde ich mich nun also weiter in die Materie einarbeiten,<br />

besagtes Dokument erstellen und eine Infoveranstaltung für Kinder und Eltern vorbereiten, da<br />

es wohl sehr an Wissen mangelt.<br />

Momentane Gefühlslage<br />

Von einem schönen, kleinen Dorf ab in die acht Millionen Hauptstadt Perus – ohne Wald,<br />

ohne Weinberge, ohne Felder. Auch wenn mich nach einem allzu langen Aufenthalt in Lima<br />

manchmal noch der „Großstadt-Koller“ trifft, habe ich mich mittlerweile doch recht gut<br />

eingelebt, kann den Taxifahrern zumindest grob den Weg zu unserem Haus erklären, die<br />

Straße überqueren, ohne fast überfahren zu werden (zumindest meistens), komme mit dem<br />

Bus-Chaos einigermaßen klar und bei den Erdbeben steigen Adrenalinspiegel und Puls nicht<br />

mehr ins Unermessliche. Die oficina (Büro), in der wir wohnen, entspricht fast schon<br />

europäischen Standards und wurde schnell zum „Zuhause“. Edison, der Hausmeister, leistet<br />

uns beim Essen Gesellschaft, mit seiner Schwester Luz, die ebenfalls bei uns im Haus wohnt,<br />

verstehe ich mich prima, eine streunende Katze, die es sich in unserem Garten heimisch<br />

gemacht hat, hat vor kurzem Nachwuchs bekommen und ich habe gelernt, wann man besser<br />

einen Schritt zur Seite gehen sollte, bevor unsere Schildkröte Pinkfloyd ausprobiert, wie wohl<br />

heute die Hose schmeckt.<br />

In Pampas wohnen wir ebenfalls in der oficina, allerdings in einfacheren Verhältnissen. Die<br />

Zimmer sind schlecht isoliert, Heizungen gibt es hier generell nicht, Küche und Bad liegen<br />

außerhalb des Hauses, es gibt nicht immer Wasser, keinen Supermarkt, kein Internet in der<br />

oficina und die Verlängerungskabel- und Mehrfachstecker-Ketten von unserer einzigen<br />

Steckdose haben gerne einen Wackelkontakt oder schmoren bei längerem Föhn-Gebrauch<br />

auch mal durch. Dennoch liegen wir mit unserer warmen Dusche, dem Gaskocher, einem<br />

eigenen Zimmer und Bett für jeden von uns und einem Klo weit über dem hier üblichen<br />

Standard.


Wenn man längere Zeit hier wohnt, fallen einem so viele Luxusgüter auf, die man erst als<br />

solche wahrnimmt, wenn man sie nicht mehr hat. Wer denkt schon in Deutschland beim<br />

Rasenmähen daran, wie es wohl wäre, das Ganze ohne Rasenmäher, sondern stattdessen mit<br />

Machete und Gartenschere zu tun? Wenn ich mich zurückerinnere, wie ich mich bis vor vier<br />

Monaten selbst vor dem Ausräumen der Waschmaschine gedrückt habe, wenn es möglich<br />

war… Wieso mir damals nicht aufgefallen ist, welch ein Luxus es ist, die einfach<br />

anzuschalten, zwei Stunden zu warten und saubere Wäsche rauszuholen, egal bei welchem<br />

Wetter, zu welcher Tages- und Jahreszeit und ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass nach<br />

der Hälfte kein Wasser mehr kommt? Ich weiß es nicht. Man sollte meinen, dass mich meine<br />

bisherigen Reisen in andere Länder so was gelehrt hätten, aber ein ganzes Jahr in einem zu<br />

leben, ist eben doch was anderes. Ich frage mich auch, wie lange es nach meiner Rückkehr<br />

wohl dauern wird, bis ich wieder genauso „blind“ durch meinen Alltag laufe, wie ich das<br />

bisher getan habe.<br />

Ich muss die Leute bewundern, die ihr ganzes Leben hier meistern, auf 4000m Höhe<br />

Kartoffeln anpflanzen, die Kühe hüten, auf die Kinder aufpassen, die Familie ernähren. Ich<br />

habe die Möglichkeit, jederzeit in die oficina in Lima fahren, in der man sich nach einem<br />

Pampasaufenthalt fühlt wie in einem Märchenschloss, wenn nach dem Betätigen der<br />

Klospülung tatsächlich immer noch Wasser aus dem Wasserhahn kommt und man WLAN am<br />

eigenen Laptop nutzen kann, bei dessen Tastatur alle Tasten gleich gut funktionieren. Die<br />

Leute in Pampas und den comunidades haben diese Möglichkeit nicht, ebenso wenig wie die,<br />

nach einem Jahr in den gewohnten deutschen Luxus zurückzukehren.<br />

Wir können uns in Deutschland glücklich schätzen, Zugang zu guter Bildung und<br />

ausgezeichneter medizinischer Versorgung zu haben, trinkbares Wasser aus dem Wasserhahn,<br />

obwohl es kaum jemand zum Trinken nutzt, ein flohfreies Bett, in dem man sich nicht im<br />

Schlaf die Beine blutig kratzt, eine Heizung, dank der man selbst abends im Haus nicht<br />

mindestens zwei Jacken anziehen muss, und von klein auf als freies, selbst denkendes und<br />

fühlendes und sein Leben selbst bestimmendes Individuum behandelt zu werden. Wenn man<br />

dann in den Nachrichten ließt, dass mehr als die Hälfte aller Deutschen unzufrieden ist, fehlen<br />

einem Worte.<br />

Zudem habe ich das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Man muss wohl hier gewesen sein,<br />

um wirklich zu verstehen, wovon ich rede, denn wenn ich dieses Thema bei meinen Freunden<br />

in Deutschland anspreche, kriege ich oftmals nur ein „das Leben ist nun mal unfair“ zur<br />

Antwort. Was man sonst antworten sollte? Ich weiß es nicht.<br />

Andere Länder, andere Sitten<br />

Wie Valle fast innerhalb von zwei Stunden seinen Führerschein bekommen hätte…<br />

„… und dann haben Sie innerhalb von 24 Stunden Ihren Führerschein!“ Es war<br />

Donnerstagnachmittag, 15:30 Uhr. Valle schaute vom Verkehrsbeauftragten der<br />

Stadtverwaltung hilfesuchend zu Milagros, einer Freundin aus Pampas. „Das geht nicht, ich<br />

will morgen früh mit dem Motorrad nach Cobriza fahren.“ Milagros kannte zum Glück den<br />

Verkehrsbeauftragten, der kurzerhand beschloss, die Theorie- und Fahrprüfung einfach<br />

wegzulassen. „Aber die Passfotos, den Antrag und das ärztliche Attest brauchen wir!“ Kein<br />

Problem – schnell in den nächsten Fotoladen, in einem Kopiershop einen Antrag ausdrucken<br />

lassen und unterschreiben, dann ab ins Krankenhaus. Hätte die betroffene Abteilung noch<br />

offen gehabt, hätte Valle vielleicht tatsächlich bis zum Schließen der Stadtverwaltung um<br />

17:30 Uhr seinen Führerschein in Händen gehalten, doch so musste er am nächsten Morgen<br />

zurückkommen. Nach einer durchfeierten Nacht (Milagros hatte Geburtstag) also ein


Gleichgewichtstest und eine Blutabnahme für Valle, bevor es mit einem (mehr oder weniger<br />

überzeugenden) ärztlichen Attest zurück zur Stadtverwaltung ging. Dort sind wir wie Asterix<br />

und Obelix im Haus, das Verrückte macht, durch das Gebäude gehetzt, um den Antrag in<br />

einem Büro abzugeben, mit einem Zettel zur Kasse zu gehen, 25 Soles zu bezahlen, mit der<br />

Quittung in ein Büro, um einen anderen Zettel zu unterschreiben, mit diesem Zettel weiter in<br />

jenes Büro… Dem Verkehrsbeauftragten beim Abtippen der Personalien mal lieber über die<br />

Schulter schauen, damit der Name ausnahmsweise richtig geschrieben wird („Ja, nur ein<br />

Nachname, das ist in Deutschland normal“), die Adresse – verdammt! Wie war noch mal<br />

unsere Hausnummer? Ach egal, steht eben „Jr. Sucre ohne Nr.“ da – das Ganze ausdrucken,<br />

ausschneiden, Foto aufkleben, laminieren und fertig! Dass Valle mit dem Motorrad zur<br />

Stadtverwaltung gefahren ist, um seinen Führerschein abzuholen, hat dabei niemanden<br />

interessiert…<br />

Der ADECAP-Geburtstag<br />

Am Samstag, den 24. November, feierte ADECAP Geburtstag. Sieben andere Freiwillige<br />

haben uns dafür besucht. ADECAP und seine Projekte wurden vorgestellt und zur Feier des<br />

Tages gab es Meerschweinchenbraten. Als wir uns schon gefreut hatten, dass dieses Jahr beim<br />

Fußballturnier niemand aus Sauerstoffmangel das Bewusstsein verloren hat, kam es noch viel<br />

schlimmer – Francisco, einer der ADECAP-Mitarbeiter aus dem Gesundheitsprojekt, hatte<br />

kurz vor unserem Haus einen Motorradunfall. Während er mit unübersehbar gebrochenem<br />

Schienbein auf der Straße lag und sich von deutscher Seite naive „ruft doch einen<br />

Krankenwagen!“-Rufe häuften, stellte sich bald heraus, dass niemand eine Notruf- oder die<br />

Telefonnummer des Krankenhauses hatte. Also fuhr Valle mit dem Motorrad zum<br />

Krankenhaus von Pampas, kam jedoch mit leeren Händen und der Nachricht zurück, dass der<br />

einzige Krankenwagen kaputt sei. „Schicken sie denn wenigstens einen Arzt mit einer Trage<br />

her?“ – „Nein, es ist Wochenende… Sie haben gemeint, wir sollen ihn in einem Mototaxi<br />

hinfahren.“ Mit gebrochenem Bein in einem der kleinen, langsamen, wackeligen Dreiräder?!<br />

Unmöglich! Pamela, ADECAP-Mitarbeiterin und Ärztin, improvisierte mit mehreren Erste-<br />

Hilfe-Sets und einer von Valles Bettlatten, um das Bein zu stabilisieren, und als zwei Militärs<br />

nach ca. einer Stunde eine Trage und ein Taxi aufgetrieben hatten, wurde Francisco nach<br />

Huancayo gefahren, zwei Stunden auf holprigen, ungeteerten Straßen entfernt. Die Fragen,<br />

wieso am Wochenende niemand in der Notaufnahme arbeitet und was man überhaupt<br />

unternehmen kann, sollte mal jemand in Lebensgefahr schweben, blieben unbeantwortet.<br />

Machismo<br />

Obwohl Peruaner ausgesprochen hilfsbereit und freundlich sind (es kann schon mal<br />

vorkommen, dass man jemanden nach dem Weg fragt und als Antwort „das weiß ich leider<br />

nicht – aber warte einen Moment, ich ruf schnell jemanden an, der das wissen müsste“<br />

bekommt) und ich ihre Ruhe und Stress-Unkenntnis zu lieben gelernt habe („Es gibt zwar viel<br />

zu tun, aber keinen Stress, machen wir erst mal ’ne Stunde Mittagspause…“), habe ich ein<br />

Problem. Und zwar das Problem, dass ich eine Frau bin. Obwohl ADECAP den Machismo als<br />

Problem erkennt, ein Frauenprojekt hat, weibliche Mitarbeiter hat und vor dem jetzigen<br />

Präsidenten Don Armando eine Frau an die Spitze wählte, kriegt man als Europäerin, die<br />

Machismo nicht gewohnt ist, die Diskriminierung durchaus zu spüren. Nicht nur, dass Valle<br />

grundsätzlich zuerst begrüßt und genannt wird, wenn Valle da ist, reden die meisten auch nur<br />

oder zumindest hauptsächlich mit ihm, und wenn er nicht da ist, fragen sie nach ihm. Wenn<br />

wir zusammen durch Pampas laufen und einem ADECAP-Mitarbeiter begegnen, ist ein „Hola


Valentin! Wo gehst du denn hin?“ keine Seltenheit, obwohl es im Spanischen nur einen<br />

Buchstaben Unterschied und somit keinen größeren Aufwand macht, „wo geht ihr denn hin?“<br />

zu fragen. Anfangs machte ich mir ernsthafte Gedanken, ob Valle ein besserer Freiwilliger<br />

oder einfach gesellschaftsfähiger sein könnte als ich, doch meine Vorgängerin Lea bestätigte<br />

mir, dass sie die gleichen Probleme hatte. Da mir geraten wurde, bei dem Thema vorsichtig zu<br />

sein und mich am besten „einfach“ daran zu gewöhnen, hat sich an der Situation leider noch<br />

nicht viel geändert. Ich weiß allerdings nicht, wie lange das noch so bleiben wird, denn das<br />

Fass wird voller und voller und irgendwann ist es wohl mal ein Tropfen zu viel.<br />

Trotzdem bin ich sehr froh, dass ich Valle habe, denn wir verstehen uns sehr gut und schon<br />

nach vier Tagen ohne ihn wurden mir die Einsamkeit in Pampas und das Gedankenchaos in<br />

meinem Kopf, das ich mit niemandem teilen konnte, zu viel. Außerdem habe ich ihm wohl<br />

den Mangel an Pfiffen und dummen Kommentaren auf der Straße zu verdanken, denn mit<br />

meinem 1,80m großen und nicht wenig muskulösen „Ehemann“ (denn dafür halten ihn die<br />

meisten) will sich so schnell kein Peruaner anlegen.<br />

Dass ich all das lernen und erleben darf, die schönen Momente und Erfahrungen ebenso wie<br />

die weniger schönen, habe ich euch zu verdanken. Ohne eure Unterstützung wäre das nicht<br />

möglich, sei es organisatorische, finanzielle, mentale, emotionale oder die Bekämpfung des<br />

Schokoladen-Entzuges durch eure Pakete. Danke!<br />

Wenn noch jemand meinem Spenderkreis beitreten will, der/die das noch nicht getan hat,<br />

kann er/sie sich gerne bei mir oder meinen Eltern melden.<br />

Ich wünsche euch frohe Weihnachten und einen guten Start ins neue Jahr!<br />

Eure Judith<br />

Bilder<br />

Die „Planta“ von oben


Verbesserte Küche<br />

Abendlicher Frucht-Alarm in Lima


Fertiges Waschbecken<br />

Teófilo beim Bau eines Waschbeckens


Latrine<br />

Klein zu sein ist manchmal von Vorteil


Pampas von oben<br />

Autoreifen – ein beliebter Futternapf


Flavio, Hidelia und Valle beim Rasenmähen<br />

Rollstuhl im Krankenhaus von Pampas


Derzeitiger Präsident Don Armando beim ADECAP-Geburtstag<br />

Fußballturnier beim ADECAP-Geburtstag

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