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Was heißt hier arm? (pdf) - Bildung trifft Entwicklung

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<strong>Was</strong> <strong>heißt</strong> <strong>hier</strong> <strong>arm</strong>? | Anregungen zur entwicklungspolitischen <strong>Bildung</strong>sarbeit des DED mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern<br />

Reste der Welt<br />

Die Haut des wissend lächelnden Mannes ist vom Alter und von der<br />

Tropensonne gegerbt. Er trägt einen an der Krempe eingerissenen,<br />

fleckigen Strohhut. Seine schon etwas müden Augen blinzeln in eine<br />

Mischung aus grellem Äquatorlicht und beißendem Qualm, der aus<br />

unkontrollierbaren Schwelbränden aufsteigt. Ein fettes, verdrecktes<br />

Schwein tritt mit seinem Vorderlauf auf eine Plastiktüte. Das Tier ist<br />

geschickt. Es öffnet den ausgedienten Türkenkoffer mit seiner Steckdosenschnauze,<br />

schafft sich Zugang zu verdorbenen Essensresten,<br />

wühlt im Tagesmenü. Eingeübte Bewegungen eines flexiblen Allesfressers.<br />

Das Schwein grunzt. Der Alte lacht in sich hinein und verpasst<br />

dem schwerfälligen Tier einen kräftigen Klaps mit seinem verbogenen<br />

Rohrstock. Er nuschelt durch seine braun geränderten<br />

Zahnreste:<br />

„Morgen bist Du dran, fette Sau, 150 Kilo mal einen Dollar!“<br />

Das Schwein prescht hektisch von dannen, als hätte es den<br />

Alten verstanden. Staub und angekohlte Plastikfetzen wirbeln in die<br />

Luft. Zwei Geier flattern auf. Die schwarz gefiederten Aasfresser fühlen<br />

sich gestört, doch nur für einen kurzen Augenblick. Ein Stück<br />

weiter landen sie auf einem frisch aufgekippten Haufen von Resten<br />

der Zivilisation. Es ist ein Teil jener 120 Tonnen Abfall, die jeden Tag,<br />

den Gott erschaffen hat, dazukommen.<br />

Menschen und Schweine konnten sich anpassen; für die<br />

Geier ist die Müllhalde ein Geschenk des Herrn, ein Garten Eden auf<br />

der Schattenseite menschlicher <strong>Entwicklung</strong>. Die dunklen Vögel lebten<br />

schon immer vom Tod, doch so einfach wie <strong>hier</strong> war es noch<br />

nie. Das matt glänzende, gesunde Gefieder gibt den Geiern ein fast<br />

gepflegtes Äußeres, verunziert nur durch ihre ewig verzerrten Aasfresservisagen.<br />

Der Sohn des Alten trägt ein verblichenes, rotes T-Shirt mit<br />

der blass-grauen Aufschrift „RESTOS DEL MUNDO“.Auf dem Kopf<br />

hat er eine Baseballkappe der University of Mem-phis Tennessee. Da<br />

wollte er mal studieren. Seitdem ist er einen weiten Weg gegangen,<br />

in die andere Richtung.Vom städtischen Angestellten über die Thunfischfabrik,<br />

Gelegenheitsjobs bis hin zum brotlosen Verkauf von<br />

Holzkohle in den Armenvierteln der ecuadorianischen Hafenstadt<br />

Manta. Der letzte Schritt, der auf die Müllkippe, der ging an die Ehre;<br />

Joaquim musste unbeschreiblichen Ekel überwinden, vor sich selbst,<br />

vor der Gesellschaft, vor dem bestialischen Gestank dessen, was an-<br />

Übung C 15. „Reste der Welt“ Seite 80<br />

dere Menschen produzieren, damit es ihnen besser geht als ihm.<br />

Doch dieser letzte Schritt war vergleichsweise lukrativ.Auf dem Müll<br />

kann er Geld machen, genug Geld, um die Familie durchzubringen.<br />

Seine 30 Schweine kosten Joaquim fast gar nichts. Sie fressen alles<br />

und werden fett dabei. Manchmal stirbt eins an Vergiftung. Die Tiere<br />

haben zu wenig Instinkt gegen Schwermetalle, Batterierückstände<br />

und Chemikalien. Doch die meisten sind zäh, kommen bis zur<br />

Schlachtbank durch.<br />

Ein Kilo des vergifteten Fleisches bringt einen Dollar auf<br />

dem Markt. Per Stadtverordnung dürfen die Tiere zuvor drei Monate<br />

lang nicht mehr auf der Müllhalde gewesen sein, damit die angefressenen<br />

Gifte sich abbauen können.Veterinärkontrollen finden nicht<br />

statt, Schutzbehauptungen reichen. Nur wenn er einmal ein Schwein<br />

für seine Familie schlachtet, hält er die Dreimonatsfrist ein; Selbstschutz.<br />

Joaquim übersieht schicksalsergeben die in die verpestete<br />

Hügellandschaft ziehenden Schwaden des Schwelbrandes. Der Wind<br />

steht günstig, schont die verätzten Lungen.<br />

Joaquim's Frau Maria ist schon längst wieder schwanger.<br />

Auch sie ist Partnerin der University of Memphis,Tennessee; so<br />

steht's wenigstens auf dem schmuddeligen T-Shirt, das sich über ihren<br />

weit vorstehenden Kugelbauch spannt. Siebter Monat, noch<br />

kann sie gut auf dem Müll arbeiten. Maria inspiziert zwei Sonnenbrillen,<br />

denen jeweils ein Bügel fehlt, und gibt sie an ihre zehnjährige<br />

Tochter weiter. Das Kind testet die ausgedienten Gläser. Es betrachtet<br />

seinen alltäglichen Abenteuerspielplatz abwechselnd in<br />

sanften Brauntönen und jenem Ray-Ban-typischen grün, das die wirklichen<br />

Farben unnatürlich verzerrt. Jetzt sehen die Geier erst richtig<br />

widerlich aus. Das kleine Mädchen macht sch...sch, fuchtelt mit seinen<br />

schmuddeligen Puppenhänden in der Luft herum und trampelt<br />

mit den Füßchen in einem raschelnden Haufen aus verkohltem Papier<br />

und zerrissenem Plastik. Die Geier werden nervös. Ein gutes<br />

Dutzend der befrackten Aasfresser hebt ab und sucht sich einen ruhigeren<br />

Ort in der fast bis zum Horizont reichenden Müll-Landschaft.<br />

Das Mädchen nimmt die dunkelgrüne Brille ab; die Multi-color-Show<br />

ist beendet. Dann lässt das Kind die ramponierten Sonnengläser<br />

in der Schatztruhe des Tages verschwinden. In der verdreckten,<br />

ausgerissenen Plastiktüte des SUPERMAXI liegen schon halbaufgebrauchte,<br />

bunte Lidschatten, fleckige Textilblumen und eine emaillierte,<br />

geschmacklose Blumenvase mit einem kaum sichtbaren<br />

Sprung.<br />

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