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Was heißt hier arm? (pdf) - Bildung trifft Entwicklung

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<strong>Was</strong> <strong>heißt</strong> <strong>hier</strong> <strong>arm</strong>? | Anregungen zur entwicklungspolitischen <strong>Bildung</strong>sarbeit des DED mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern<br />

Und Allah sprach aus<br />

dem Krautsalat<br />

Als Nawid in die große Stadt kam, hatte er bereits ein Dutzend mal<br />

gesehen, wie der Schnee fiel und wieder schmolz, die Mandelbäume<br />

blühten und wieder verwelkten und der Reis wuchs und wieder<br />

gedroschen wurde.Als Nawid in die große Stadt kam, sprach seine<br />

Mutter zu ihm: „Allah hat es so gefügt, dass Dein Vater nicht mehr<br />

bei uns ist. Du musst für uns sorgen, Deine Schwestern und mich!“<br />

Sie sagte: „Geh auf den großen Platz am Ende der Straße, dorthin<br />

kommen die Reichen. Und wenn Du ihnen gefällst, dann geben sie<br />

Dir Arbeit.“ Nawid stand auf und ging.<br />

Er war jetzt ein Mann, d e r Mann in der Familie. Das erfüllte<br />

ihn mit mehr Stolz als mit Trauer um seinen Vater. Seit er alt genug<br />

war, um dunkel zu begreifen, was um ihn vorging, hatte er ihn<br />

nur als Schatten gesehen – in der Nacht, wenn er mit den anderen<br />

heimlich nach Hause kam, ein Feuerrohr auf der Schulter, und dann<br />

wieder in die Berge ging. Jedes Mal waren dann große, laute Insekten<br />

über dem Tal aufgetaucht und hatten Blitze in die Gipfel geschleudert.<br />

Und eines Nachts war sein Vater überhaupt nicht mehr<br />

auf dem Hof erschienen. Die Blitze hatten das Dorf erfasst und Nawid,<br />

die Mutter und seine vier Schwestern waren über einen steilen<br />

Bergpfad geflohen.<br />

„Hey Bacha! Komm rüber, Du bist kräftig und jung!“, riefen<br />

die Männer aus ihren großen Autos und fuhren ihn auf eine Baustelle<br />

– bald fast jeden Tag. Nawid verlangte nur wenig Geld und es<br />

wurde viel gebaut in der großen Stadt. Dafür dankte er Allah! Er<br />

konnte sich und seine Familie durchbringen; anders als die anderen,<br />

die zurückblieben - zu alt, zu krank oder zu teuer. Die Stadt war aufregend.Vor<br />

allem die bunten Bilder über den Geschäften, am Straßenrand,<br />

auf den unzähligen Autos, Lastwagen und Karren hatten es<br />

ihm angetan.Viele verstand er: Hier war eine Gasflasche auf ein<br />

Holzbrett gemalt, dort eine schöne Frau in ihrem weißen Hochzeitskleid.<br />

„Nur was bedeuteten die Kleckse, Bögen und Schnörkel?“,<br />

fragte sich Nawid immer wieder. Mal sahen sie aus wie die Häufchen<br />

gehobelten Krauts, die Mutter für den Salat bereitete. Ein anderes<br />

Mal erschienen sie ihm wie bauchige Wolken, durch die ein wilder<br />

Wind runde Schneeflocken peitschte. Und dann gab es noch die<br />

strengen Linien mit Zähnen wie an den Panzerketten, die neben den<br />

Wracks vergangener Kämpfe lagen.<br />

Nawid begann die Leute zu fragen. „<strong>Was</strong> weiß ich, was da<br />

steht? Das hat mir ein Schildermaler gemacht“, schimpfte da einer<br />

und scheuchte den Jungen weiter. Ein anderer hielt sich vor Lachen<br />

den Bauch: „Du kannst nicht lesen? Du weißt nicht einmal, was eine<br />

Schrift ist? Na, das ist doch typisch Provinz.“ Lesen, Schrift?– eine<br />

Antwort bekam er nie.<br />

Übung B 11. „Wir ruhen nicht!“ Seite 61<br />

Dann, eines Tages, stoppte ein anderer Wagen an der Kreuzung:<br />

„Willst Du Autos waschen?“ Nawid nickte und stieg ein.Wenig<br />

später waren sie an der Tankstelle angekommen. „Du darfst aber zuerst<br />

nur die Wagen aus Mazar waschen“, verkündete dort ein Junge,<br />

der den Stimmbruch gerade erst hinter sich hatte. Er klärte Nawid<br />

über die Regeln auf. Diejenigen, die schon am längsten in der <strong>Was</strong>chstraße<br />

arbeiteten, bekamen die Wagen aus Kabul zugeteilt, der großen<br />

Stadt. Das waren die meisten und das bedeutete auch das größte<br />

Einkommen.Andere wuschen die Wagen aus Jalalabad, Kandahar<br />

und Herat – je nachdem wie lange sie schon dabei waren. Die wenigen<br />

Pickups und Lastwagen, die aus dem fernen Mazar nach Kabul<br />

geholpert kamen, gehörten Nawid.<br />

„Wie soll ich wissen, woher die kommen?“, wollte er wissen.<br />

„Na, das steht doch auf dem Nummernschild!“ Nawid war verwirrt.<br />

„<strong>Was</strong> <strong>heißt</strong>: s t e h t auf dem Nummernschild?“, fragte er kleinlaut<br />

und hatte Angst, den Job zu verlieren. Der Junge, der den Stimmbruch<br />

gerade hinter sich hatte, lachte und nahm Nawid zur Seite.<br />

„Ich hatte am Anfang das gleiche Problem. Schau her!“ Nach einer<br />

halben Stunde wusste Nawid Bescheid. Die Schnörkel, Punkte und<br />

Bögen bedeuteten Wörter, wie man sie spricht – die reinste Zauberei!<br />

Er prägt sich die Bilder ein – Kabul, Kandahar, Herat, Jalalabad<br />

und, am wichtigsten, Mazar.<br />

Nawid arbeitete nun jeden Tag mit den Jungen zusammen.<br />

Es war eine Schufterei, aber in der Sommerhitze konnten sie sich<br />

mit dem <strong>Was</strong>ser immerhin ein wenig Kühlung verschaffen. Immer<br />

mehr Wörter lernte er kennen, die Wagen waren voll davon. „Allah<br />

behüte uns“, stand da oft in der kunstvollen Krautsalat-Schrift zu lesen<br />

oder „Standplatz Kabul Kart-e-se“ auf den vielen gelben Autos,<br />

die auf dem Dach ein kleines Schild „Taksi“ montiert hatten. Und einer<br />

hatte doch glatt „Kann denn Liebe Sünde sein?“ auf das Blech<br />

gepinselt.<br />

Die Reichen konnten die Zeichen erklären, manche waren<br />

richtig nett und ließen sich bereitwillig löchern. Doch wie sollte er<br />

sich das alles merken? Eines Tages, Nawid durfte inzwischen die Wagen<br />

mit den Herater Nummern waschen, machte er eine seltsame<br />

Beobachtung. Einer der Reichen aus dem Auto nahm einen Block Papier<br />

und malte darauf mit einem kleinen Stöckchen, aus dem Farbe<br />

floss. Es war erstaunlich: Plötzlich standen da Wörter, wie er sie von<br />

den Geschäften, Straßenschildern und Autos kannte! Man musste<br />

sich dann also nicht mehr alles merken. Das wollte er auch können.<br />

Er erbettelte sich Papier und Stift – so hieß das Stöckchen, hatte der<br />

Reiche gesagt – und übte daheim, so oft er konnte. ➜

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