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Was heißt hier arm? (pdf) - Bildung trifft Entwicklung

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<strong>Was</strong> <strong>heißt</strong> <strong>hier</strong> <strong>arm</strong>? | Anregungen zur entwicklungspolitischen <strong>Bildung</strong>sarbeit des DED mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern<br />

➜<br />

zu setzen. Hier fühlte sie sich glücklich und frei, wenn sie die Wolken<br />

beobachtete, die am Himmel Gestalten formten, und dem Wind<br />

lauschte, der durch das trockene Gras strich.Aber eines Tages sah<br />

sie, dass die Blume sterben würde. Ihre Blätter begannen, braun zu<br />

werden, und die orangenen Blüten kräuselten sich und drohten abzufallen.<br />

Sie konnte ohne Regen nicht länger leben. Boniswa fing an<br />

zu weinen, als sie daran dachte, dass ihre schöne Freundin bald für<br />

immer verschwinden würde.<br />

In dem Moment fiel ein Schatten über die Blume.Als sie<br />

aufschaute, sah sie Vater dort stehen und auf sie herabsehen. „Warum<br />

weinst du, meine Tochter?“ fragte er. Boniswa deutete auf die<br />

Blume. „Meine Blume stirbt.“ „Ja“, sagte Vater. „Arme Blume. Sie kann<br />

nicht leben ohne Regen.Aber schau – ich werde Dir etwas zeigen.“<br />

Er kniete sich neben sie auf den Boden, und mit seinen schlanken<br />

Fingern ertastete er sanft den dunklen Fleck in der Mitte der Blume.<br />

Er streckte Boniswa die Hand entgegen. In der Handfläche lag ein<br />

kleiner Haufen schwarzer Dinger, wie Sandkörner. „<strong>Was</strong> ist das?“<br />

fragte Boniswa. „Das sind Samen“, erklärte Vater. „Diese Blume wird<br />

bald sterben.Aber wenn der Regen kommt, kannst Du diese Samen<br />

in den Boden pflanzen, und aus jedem von ihnen wirst Du eine<br />

neue Blume bekommen, genauso schön wie diese <strong>hier</strong>.“ „Wirklich,<br />

Vater?“ fragte Boniswa. „Aber wann? Wann werden die neuen Blumen<br />

kommen?“ „Wirklich, mein Kind. Es wird bald regnen, vielleicht<br />

in einem Monat, nachdem ich von <strong>hier</strong> weggegangen bin.Wenn Du<br />

dann die Samen einpflanzt, werden sie rasch wachsen, und bevor<br />

ich wieder heimkomme, werden Deine neuen Blumen groß sein.“<br />

„Werden sie denn noch <strong>hier</strong> sein, wenn Du wiederkommst?“ wollte<br />

Boniswa wissen. „Das hoffe ich“, sagte Vater. „Wenn Du dich gut um<br />

sie kümmerst, werden sie auf meine Rückkehr warten.“ Dann stand<br />

er vom Boden auf. „Komm“, sagte er. „Lass uns nach Hause gehen<br />

und einen sicheren Platz finden, um die Samen aufzubewahren, bis<br />

der Regen kommt.“ Er nahm Boniswa bei der Hand, und zusammen<br />

gingen sie heim.<br />

Nun fürchtete sich Boniswa nicht mehr vor ihrem Vater,<br />

und jeden Tag musste er ihr erzählen, wie die Samen sich in wunderschöne<br />

Blumen verwandeln würden. Als er wieder zu den Minen<br />

zurückkehren musste, waren alle sehr traurig. Boniswa weinte und<br />

weinte, als sie ihn beim Kofferpacken beobachtete. Bevor er das<br />

Haus verließ, nahm er ihre Hand und ging mit ihr zu dem kleinen<br />

Topf, in den sie die Samen gelegt hatten. „Sei nicht traurig“, sagte er<br />

zu ihr. „Während ich fort bin, musst Du diese Samen säen und die<br />

Pflanzen versorgen, die aus ihnen wachsen werden. Jedes Mal, wenn<br />

Du sie anschaust, erinnere dich an mich, und Du wirst wissen, wenn<br />

die Pflanzen wachsen, verringert sich die Zeit, bis ich wiederkomme.“<br />

Dann küsste er sie zum Abschied und ging hinaus auf die Straße<br />

zum Dorf, wo der Bus darauf wartete, ihn zurück zur Stadt zu<br />

bringen.<br />

Übung B 9. Den Lebensalltag bewältigen Seite 55<br />

Schließlich kam der Regen, und während jeder auf den Feldern<br />

Gemüse pflanzte, nahm Boniswa ihren Haufen Samen mit hinaus<br />

zu der Stelle, an der die orange Blume gestanden hatte, und<br />

pflanzte die Körnchen sorgfältig in einer Reihe. Jeden Tag ging sie<br />

hinaus, um nach dem Rechten zu sehen und sich zu vergewissern,<br />

dass kein Insekt den kleinen grünen Schösslingen, die schon bald<br />

auf der Erde erschienen, Schaden zufügte. „Warum läufst Du ständig<br />

aufs Feld?“ nörgelte Kwezi. „Du solltest <strong>hier</strong> bleiben und bei der<br />

Hausarbeit helfen.“ „Ich helfe ja“, gab Boniswa stolz zurück. „Ich<br />

versorge die Blumen, damit sie groß sind, wenn Vater heimkommt.“<br />

Quelle: Press/Sacks: Der kleine gelbe Bagger. Geschichten aus Südafrika.<br />

Peter Hammer Verlag Wuppertal 1989, S. 12 - 15<br />

Fragen zur Texterschließung:<br />

Hier erscheinen Fragen wichtig, die die ambivalente Gefühlssituation<br />

des Mädchens herausarbeiten, nachempfinden und auf die eigene<br />

Situation übertragen helfen, wie z.B.:<br />

?<br />

1.Warum fürchtet sich Boniswa vor der Ankunft des Vaters und versteckt<br />

sich?<br />

2.Warum läuft sie auch später vor ihm davon und freut sich zunächst,<br />

dass er bald wieder fortgeht?<br />

3.Wodurch wird der Vater ihr vertraut?<br />

4.Wie überwindet sie die Trauer des Abschieds?<br />

5. Hast Du schon mal erlebt, dass Du dich fürchtest vor einer (bekannten)<br />

Person?<br />

6.Wie hast Du dich mal mit einer zunächst unbekannten Person vertraut<br />

gemacht?<br />

7. Kennst Du Familien, wo Vater oder Mutter zeitweilig abwesend<br />

waren? Wie haben die Beteiligten diese Situation erlebt?<br />

8. Rollenspiele mit Identifikation (bei Älteren auch schriftlich):<br />

- Sprich als Boniswa mit deiner Blume über das Warten auf den<br />

Vater<br />

- Erzähl als Boniswa dem Vater beim Abschiednehmen, wie es Dir<br />

mit ihm ergangen ist seit seiner Ankunft<br />

- Stell Dir vor, Du seiest als Boniswa inzwischen 25 Jahre älter und<br />

erzählst deinen Kindern, wie es Dir erging, als Du klein warst.

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