Arbeit mit der Lernleiter - Kinderzentrum St. Vincent

Arbeit mit der Lernleiter - Kinderzentrum St. Vincent Arbeit mit der Lernleiter - Kinderzentrum St. Vincent

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09.06.2013 Aufrufe

Arbeit mit der Lernleiter Die Erfahrungen der Schüler Die Erfahrungen der Schüler sind in höchstem Maß vielfältig. Je nach Typ der Lernleiter können die Schüler bei themenzentrierten Lernleitern, wie beispielsweise im Fach HSU, den Lernstoff oder Anteile daraus selbst wählen, während sie bei linearen Lernleitern, wie in den Fächern Deutsch und Mathematik, den Stoff bearbeiten, der ihrem aktuellen Lernstand sowie ihrer Lerngeschwindigkeit entspricht. In jedem Fall arbeiten sie ihrem individuellen Tempo entsprechend. Gegebenenfalls ist die Lehrkraft unterstützend tätig, wenn es um Anschauungsfragen oder um die qualitative wie quanti- 03 | 2012 www.foerdermagazin.de tative Auswahl der Aufgaben geht. Orientierungsmaßstab sind dabei immer die kognitiven Fähigkeiten der Schüler, aber auch ihre sozialen und energetischen Ressourcen. Konsequenterweise sind dadurch auch Lern- und Leistungssituation getrennt. Das Kind bearbeitet eine Lernzielkontrolle dann, wenn es an der entsprechenden Stelle ist, und in genau jenem Tempo, das notwendig ist. Durch die Arbeit mit der Lernleiter visualisieren die Kinder ihren eigenen Lernstand sowie ihren Fortschritt und können sich so als Lernende in einem größeren Ganzen verorten. Sie erfahren bei jeder Arbeit mit der Lernleiter, etwas ge- impulse Thomas Müller Die Arbeit mit der Lernleiter ist fester Bestandteil im Mathematik-, Deutsch- und HSU-Unterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 der St. Vincent-Schule, einer Schule zur Erziehungshilfe in Regensburg. Die Entwicklung dieser Arbeit begann 2008 in den Klassen 1 und 2. Seit 2010 wird in allen Grundschulklassen mit Lernleitern gearbeitet. Die Kinder sind es gewohnt, mindestens einmal am Tag mit der Lernleiter zu arbeiten, und führen diese Arbeit gern, motiviert und konzentriert aus. Dies ist auf den angst- und konkurrenzfreien sowie voll individualisierten Charakter der Arbeit zurückzuführen. Gibt es Tage, an denen eine Lernleiterarbeit nicht geplant ist, fragen die Schüler oft nach bzw. fordern diese geradezu ein. Siehe auch den Beitrag unter „Brennpunkte“, S. 49 ff schafft zu haben bzw. mit einer Arbeit auch fertig geworden zu sein, indem sie die bearbeiteten Lernschritte auf der Lernleiter farbig markieren. Das Vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit wird so angebahnt oder gesteigert. Krankheitstage führen so nicht mehr zur Frustration, weil dem Tempo der Klasse nicht oder nur schwer gefolgt werden kann. Gleichzeitig entstehen während der eigenen Arbeit auch Phasen, in denen schneller und konzentrierter, und solche, in denen langsamer und scheinbar weniger konzentriert gearbeitet wird. Immer wieder interessieren sich Schüler in solchen Phasen für die Aufgaben ihrer Mitschüler, hören und schauen ihnen zu, wie sie arbeiten oder wenn ihnen etwas erklärt wird. Auf diese Art und Weise festigen sie den eigenen Lernstoff, können aber auch schwächere Schüler unterstützen oder sich an älteren Schülern und neuen, schwierigeren Themen orientieren bzw. für diese interessieren. Soziales Lernen realisiert sich hier aus dem Lernvorgang als solchem und muss nicht planmäßig angestoßen oder eingeübt werden. Beispielhaft ‚ereignen‘ sich so verschiedene soziale wie personale Lernziele: 53

<strong>Arbeit</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong><br />

Die Erfahrungen <strong>der</strong> Schüler<br />

Die Erfahrungen <strong>der</strong> Schüler sind in<br />

höchstem Maß vielfältig. Je nach Typ<br />

<strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> können die Schüler bei<br />

themenzentrierten <strong>Lernleiter</strong>n, wie<br />

beispielsweise im Fach HSU, den<br />

Lernstoff o<strong>der</strong> Anteile daraus selbst<br />

wählen, während sie bei linearen<br />

<strong>Lernleiter</strong>n, wie in den Fächern<br />

Deutsch und Mathematik, den <strong>St</strong>off<br />

bearbeiten, <strong>der</strong> ihrem aktuellen<br />

Lernstand sowie ihrer Lerngeschwindigkeit<br />

entspricht. In jedem Fall arbeiten<br />

sie ihrem individuellen Tempo<br />

entsprechend. Gegebenenfalls ist<br />

die Lehrkraft unterstützend tätig,<br />

wenn es um Anschauungsfragen<br />

o<strong>der</strong> um die qualitative wie quanti-<br />

03 | 2012 www.foer<strong>der</strong>magazin.de<br />

tative Auswahl <strong>der</strong> Aufgaben geht.<br />

Orientierungsmaßstab sind dabei<br />

immer die kognitiven Fähigkeiten<br />

<strong>der</strong> Schüler, aber auch ihre sozialen<br />

und energetischen Ressourcen. Konsequenterweise<br />

sind dadurch auch<br />

Lern- und Leistungssituation getrennt.<br />

Das Kind bearbeitet eine<br />

Lernzielkontrolle dann, wenn es an<br />

<strong>der</strong> entsprechenden <strong>St</strong>elle ist, und in<br />

genau jenem Tempo, das notwendig<br />

ist. Durch die <strong>Arbeit</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong><br />

visualisieren die Kin<strong>der</strong> ihren eigenen<br />

Lernstand sowie ihren Fortschritt<br />

und können sich so als Lernende<br />

in einem größeren Ganzen<br />

verorten. Sie erfahren bei je<strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong>, etwas ge-<br />

impulse<br />

Thomas Müller Die <strong>Arbeit</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> ist fester Bestandteil im Mathematik-, Deutsch- und<br />

HSU-Unterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 <strong>der</strong> <strong>St</strong>. <strong>Vincent</strong>-Schule, einer Schule zur Erziehungshilfe<br />

in Regensburg. Die Entwicklung dieser <strong>Arbeit</strong> begann 2008 in den Klassen 1 und 2. Seit 2010 wird in allen<br />

Grundschulklassen <strong>mit</strong> <strong>Lernleiter</strong>n gearbeitet. Die Kin<strong>der</strong> sind es gewohnt, mindestens einmal am<br />

Tag <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> zu arbeiten, und führen diese <strong>Arbeit</strong> gern, motiviert und konzentriert aus. Dies ist<br />

auf den angst- und konkurrenzfreien sowie voll individualisierten Charakter <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> zurückzuführen.<br />

Gibt es Tage, an denen eine <strong>Lernleiter</strong>arbeit nicht geplant ist, fragen die Schüler oft nach bzw. for<strong>der</strong>n<br />

diese geradezu ein. Siehe auch den Beitrag unter „Brennpunkte“, S. 49 ff<br />

schafft zu haben bzw. <strong>mit</strong> einer <strong>Arbeit</strong><br />

auch fertig geworden zu sein,<br />

indem sie die bearbeiteten Lernschritte<br />

auf <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> farbig<br />

markieren. Das Vertrauen in ihre<br />

Selbstwirksamkeit wird so angebahnt<br />

o<strong>der</strong> gesteigert. Krankheitstage<br />

führen so nicht mehr zur Frustration,<br />

weil dem Tempo <strong>der</strong> Klasse<br />

nicht o<strong>der</strong> nur schwer gefolgt werden<br />

kann.<br />

Gleichzeitig entstehen während <strong>der</strong><br />

eigenen <strong>Arbeit</strong> auch Phasen, in denen<br />

schneller und konzentrierter,<br />

und solche, in denen langsamer und<br />

scheinbar weniger konzentriert gearbeitet<br />

wird. Immer wie<strong>der</strong> interessieren<br />

sich Schüler in solchen Phasen<br />

für die Aufgaben ihrer Mitschüler,<br />

hören und schauen ihnen zu, wie<br />

sie arbeiten o<strong>der</strong> wenn ihnen etwas<br />

erklärt wird. Auf diese Art und Weise<br />

festigen sie den eigenen Lernstoff,<br />

können aber auch schwächere Schüler<br />

unterstützen o<strong>der</strong> sich an älteren<br />

Schülern und neuen, schwierigeren<br />

Themen orientieren bzw. für diese<br />

interessieren. Soziales Lernen realisiert<br />

sich hier aus dem Lernvorgang<br />

als solchem und muss nicht planmäßig<br />

angestoßen o<strong>der</strong> eingeübt werden.<br />

Beispielhaft ‚ereignen‘ sich so<br />

verschiedene soziale wie personale<br />

Lernziele:<br />

53


impulse<br />

Lernen,<br />

• sich etwas zuzutrauen, <strong>mit</strong> etwas<br />

zu beginnen, etwas abzuschließen<br />

und selbsttätig zu arbeiten.<br />

• rechtzeitig um Hilfe zu bitten.<br />

• sich gegenseitig an einer Sache<br />

orientiert zu unterstützen.<br />

• dass unterschiedliche Kin<strong>der</strong> an<br />

unterschiedlichen Aufgaben und<br />

Problemen arbeiten.<br />

• sich an eigenen Fortschritten und<br />

Erfolgen zu freuen.<br />

• Verantwortung für den eigenen<br />

Lernprozess zu übernehmen.<br />

Die Wirkung <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong>arbeit auf<br />

das soziale Lernen bringt noch einen<br />

weiteren Effekt <strong>mit</strong> sich: Durch die<br />

gegenseitigen Erklärungen und Hilfestellungen<br />

wird <strong>der</strong> <strong>St</strong>off variationsreich<br />

wie<strong>der</strong>holt und geübt,<br />

ohne dass dafür eigens Übungs-<br />

o<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holungsstunden angesetzt<br />

werden müssen.<br />

Durch die Auswahl des Lernstoffes sowie<br />

die Sichtbarkeit und Ordnung <strong>der</strong><br />

Inhalte im <strong>St</strong>ruktursystem ‚<strong>Lernleiter</strong>‘<br />

entwickeln die Schüler nach und nach<br />

eine Bewusstheit für die Inhalte und<br />

erkennen so Zusammenhänge früher.<br />

Die <strong>St</strong>ruktur ist es auch, durch die die<br />

Schüler beim Lernen eine Orientierung<br />

bei <strong>der</strong> Organisation ihrer Prozesse<br />

wie <strong>der</strong> Inhalte erfahren können.<br />

Auf diese Art und Weise „bearbeiten“<br />

sie auch Entwicklungsaufgaben<br />

sozial-emotionaler Art.<br />

Als schwierig erweist sich bisweilen<br />

die Tatsache, dass das selbstverantwortliche<br />

Voranschreiten auf <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong><br />

und das selbst gesteuerte Angehen<br />

und Ausführen von Aufgaben<br />

sehr viel Anstrengungsbereitschaft<br />

seitens <strong>der</strong> Schüler erfor<strong>der</strong>t. Meist<br />

bringen sie diese auf. Immer wie<strong>der</strong><br />

aber auch ist Kin<strong>der</strong>n diese Form <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> nicht vertraut und sie erschöpfen<br />

schnell. Bisweilen stehen ihnen<br />

ihre sozial-emotionalen Lernaufgaben<br />

im Bereich von Durchhaltevermögen<br />

und Frustrationstoleranz im Weg.<br />

Die Erfahrungen <strong>der</strong> Lehrer<br />

Die jeweils <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> arbeitenden<br />

Lehrer sind ebenso in Lernprozesse<br />

eingebunden wie die Schüler.<br />

Das Lehren und Ver<strong>mit</strong>teln von<br />

Inhalten tritt zugunsten <strong>der</strong> Begleitung<br />

und Unterstützung individueller<br />

Lernaufgaben in den Hintergrund.<br />

Sie erhalten durch das selbstverantwortliche,<br />

sich jedoch nicht selbst<br />

überfor<strong>der</strong>nde Lernen <strong>der</strong> Schüler die<br />

Möglichkeit, sich auf die sozialen,<br />

emotionalen wie inhaltlichen Bedürfnisse<br />

zu konzentrieren und so individuellen<br />

För<strong>der</strong>bedürfnissen nachzukommen.<br />

Die tägliche Unterrichtsvorbereitung<br />

erfährt dadurch eine erhebliche<br />

Entlastung. Unterrichtsmaterialien<br />

können selbst bei einer großen<br />

Klassenstärke in geringer Anzahl<br />

bereitgehalten werden, da nie alle<br />

Schüler gleichzeitig <strong>mit</strong> allen Materialien<br />

arbeiten. Letztlich gehen die<br />

Lehrer <strong>mit</strong> den gleichen Voraussetzungen<br />

in das Unterrichtsgeschehen<br />

wie die Schüler, denn das ablaufende<br />

Unterrichtsgeschehen ist unbekannt:<br />

Wer arbeitet an welchem Inhalt in<br />

welchem Tempo? Wer benötigt Unterstützung?<br />

Wer bewältigt seine<br />

Aufgaben allein o<strong>der</strong> <strong>mit</strong>hilfe eines<br />

Partners? Dies bringt die Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>mit</strong> sich, ein sehr hohes Maß<br />

an Wachsamkeit, Flexibilität und Sensibilität<br />

für die unterrichtliche Situation<br />

<strong>mit</strong>zubringen, um die Vielzahl <strong>der</strong><br />

Lern- und Interaktionsprozesse zu<br />

überblicken und präsent zu sein, wo<br />

es notwendig ist, aber auch sich zurückzuziehen,<br />

wo man nicht gefragt<br />

ist. Die individuelle Zuwendung zu<br />

den <strong>Arbeit</strong>sschritten <strong>der</strong> Schüler ermöglicht<br />

auch ein gezieltes Verstärken,<br />

Loben und Motivieren <strong>der</strong> Schüler.<br />

Die Schüler erleben die Lehrkraft<br />

in einer geradezu persönlichen Situation,<br />

während die Berufszufriedenheit<br />

<strong>der</strong> Lehrkraft erheblich steigt: in <strong>der</strong><br />

Gewissheit, einzelne Schüler auch tatsächlich<br />

und nachvollziehbar in ihren<br />

Lernaufgaben vorangebracht und be-<br />

gleitet zu haben. In diese individuelle<br />

Begleitung lassen sich auch Differenzierungsmöglichkeiten<br />

integrieren,<br />

die durch zusätzliche Lernangebote in<br />

<strong>der</strong> <strong>Lernleiter</strong> bereits angelegt sind.<br />

Bei allen positiven Erfahrungen ist es<br />

für Lehrkräfte im Gegensatz zur herkömmlichen<br />

<strong>Arbeit</strong> jedoch durchaus<br />

aufwändiger, täglich neu, völlig individuell<br />

erstellte Hausaufgaben zu<br />

kontrollieren und den individuellen<br />

Lernfortschritt aller Schüler im Blick<br />

zu behalten. Zudem kann die individuelle<br />

Begleitung und För<strong>der</strong>ung bei<br />

gleichzeitigem sowie dringlichem<br />

Hilfebedarf mehrerer Schüler sehr<br />

anstrengend sein und erfor<strong>der</strong>t von<br />

Schülern ein Warten-Können und<br />

Sich-Gedulden-Müssen, was nicht<br />

immer gelingt. Bei allen Vorteilen,<br />

welche die <strong>Lernleiter</strong>arbeit gerade<br />

für verhaltensauffällige Kin<strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

sich bringt, muss dennoch gesagt<br />

werden, dass sich genau in diesem<br />

Moment ein Unruhe- und Konfliktpotenzial<br />

verbergen kann. Schließlich<br />

bleibt zum einen die Frage des Übergangs<br />

in die nächste Jahrgangsstufe<br />

bei individuellen Lernfortschritten<br />

ungeklärt. Zum an<strong>der</strong>en ist die<br />

angstfreie Lernatmosphäre, in <strong>der</strong><br />

ein Voranschreiten im eigenen Lerntempo<br />

erfolgt, immer wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Gefahr, durch die Zensurengebung<br />

bei Lernzielkontrollen torpediert zu<br />

werden.<br />

Zusammengefasst lässt sich sagen:<br />

Die Lehrkräfte müssen lernen, die<br />

Schüler lernen zu lassen und auf die<br />

individuell bedeutsamen Lernaufgaben<br />

zu vertrauen, die sich für die<br />

Schüler im jeweiligen unterrichtlichen<br />

Kontext ergeben. Im Vor<strong>der</strong>grund<br />

steht nicht das Ver<strong>mit</strong>teln eines<br />

Lerninhalts, son<strong>der</strong>n das Beobachten,<br />

Begleiten und Teilnehmen<br />

an einem Lernprozess, <strong>der</strong> ein gemeinsamer<br />

ist.<br />

Dr. Thomas Müller • Schulleiter •<br />

<strong>St</strong>. <strong>Vincent</strong>-Schule • Private Schule<br />

zur Erziehungshilfe • Regensburg<br />

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