Bildungs- und Lerngeschichten – - BSCW
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Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich<br />
Departement Schulische Heilpädagogik<br />
Lerngeschichte für Leila Januar 2010<br />
Liebe Leila!<br />
Heute bekommst du endlich<br />
deine neue Lerngeschichte.<br />
Weißt du noch, als dich «Klaramaus» im Adventsstündchen<br />
als Adventskind erschnuppert hat?<br />
Jeden Tag hast du im Adventsstündchen sehnlichst gehofft,<br />
dass Klaramaus den richtigen Riecher hat,<br />
<strong>und</strong> dich als Adventskind erschnuppert.<br />
In der 3. Adventswoche ist es dann endlich soweit gewesen.<br />
Du hast dich riesig gefreut, dein Strahlen reichte über das ganze<br />
Gesicht <strong>und</strong> du hast herzlich gelacht. Dich so glücklich zu sehen,<br />
hat mir sehr viel Freude bereitet.<br />
Schnell bist du an unseren Adventskalender gegangen,<br />
hast dein Zeichen gesucht <strong>und</strong> dein Säckchen abgenommen.<br />
Gespannt hast du hinein geschaut <strong>und</strong> dein kleines Briefchen<br />
heraus geholt. Klaramaus hat deinen Adventswunsch<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
laut vorgelesen.<br />
<strong>Lerngeschichten</strong><br />
Am Montag, den 14.12.09 durftest du gemeinsam<br />
mit Loris <strong>und</strong> Lukas <strong>–</strong><br />
in den Ahornsportpark gehen.<br />
ein Beobachtungs- <strong>und</strong> Dokumentationsverfahren im Kindergarten<br />
von nichts anderem mehr gesprochen. Voller Vorfreude hast du<br />
Wissenschaftliche Arbeit Masterarbeit<br />
auf diesen Tag gewartet.<br />
Du hast dich sehr darauf gefreut <strong>und</strong> in den nächsten Tagen<br />
Endlich ist es dann soweit gewesen. Monika hat<br />
mit euch den Rucksack gepackt Eingereicht <strong>und</strong> dann von konnte es losgehen. Gabriela Brühlmeier-Frey<br />
Im Ahornsportpark habt ihr verschiede Bewegungsspiele <strong>und</strong> ausprobiert,<br />
konntet durch einen Parcours laufen <strong>und</strong> vieles mehr. Sehr motiviert<br />
Marianne Homberger-Schneider<br />
<strong>und</strong> neugierig bist du bei der Sache gewesen.<br />
Mutig bist du allein über die Wackelbrücke balanciert <strong>und</strong> hast<br />
dich sogar getraut, an der Stange herunter zu rutschen.<br />
Es ist schön, zu beobachten, wie viel Spaß du an der Bewegung hast.<br />
Die Kletterwand hat dir auch gut gefallen. Mit viel Eifer hast<br />
du immer wieder gemeinsam mit Leander <strong>und</strong> anderen<br />
Begleitung Simona Brizzi<br />
Kindern versucht, bis ganz oben zu klettern.<br />
Eingereicht am 7. Januar 2011<br />
Das ist ein ganz besonderer <strong>und</strong> aufregender Tag für dich gewesen, <strong>und</strong><br />
du freust dich schon darauf, ab dem nächsten Sommer regelmäßig mit<br />
in den Ahornsportpark zu gehen.
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
Abstract<br />
Die vorliegende Masterarbeit befasst sich mit dem Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>,<br />
einem ressourcenorientierten Beobachtungs- <strong>und</strong> Dokumentationsverfahren aus Neuseeland.<br />
Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern dieses für die Förderung von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen eingesetzt werden kann <strong>und</strong> welche Rahmenbedingungen für eine Umsetzung in<br />
unseren Kindergärten nötig wären. Dafür wurden zwei Expertinnen befragt, sowie in vier Kindertagesstätten<br />
Deutschlands Interviews durchgeführt <strong>und</strong> anhand qualitativer Inhaltsanalysen<br />
ausgewertet. Es wird aufgezeigt, dass <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ein ideales Instrument für die<br />
Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen sind, wenn sie nach Bedarf mit geeigneten<br />
Kompetenzrastern kombiniert werden. Aus den Interviews konnten wertvolle Umsetzungshinweise<br />
herauskristallisiert <strong>und</strong> eine Handreichung erarbeitet werden.<br />
Vorwort <strong>und</strong> Dank<br />
In den letzten Jahren sind verschiedene Beobachtungsbögen <strong>und</strong> Kompetenzraster entwickelt<br />
worden mit dem Ziel, Kinder in ihrer Verschiedenheit besser wahrnehmen, einschätzen <strong>und</strong> ihrem<br />
Entwicklungsstand entsprechend fördern zu können. Auf der Basis der ICF (International Classification<br />
of Functioning, Disability and Health), der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit,<br />
Behinderung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit wurde unter anderem das «Schulische Standortgespräch»<br />
entwickelt, ein Verfahren zur Förderplanung <strong>und</strong> Zuweisung von sonderpädagogischen Massnahmen,<br />
welches in Elterngesprächen ein gemeinsames Verständnis von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen ermöglichen soll.<br />
Durch diese neu entwickelten Instrumente gelingt es den an der Erziehung <strong>und</strong> Förderung beteiligten<br />
Erwachsenen, ihren Blick auf die kindliche Entwicklung <strong>und</strong> auf bereits ausgebildete Kompetenzen<br />
immer differenzierter auszubilden. Dabei bestand <strong>und</strong> besteht aber die Gefahr, dass vermehrt der<br />
Entwicklungsbedarf oder sogar die Defizite beachtet <strong>und</strong> die Ressourcen <strong>und</strong> Stärken von Kindern<br />
aus den Augen verloren werden. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> stiessen wir auf das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>, welches einen ressourcenorientierten Blick auf <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lernprozesse<br />
von Kindern ermöglicht. Durch die Anwendung des Verfahrens wird eine Veränderung der pädagogischen<br />
Haltung eingeleitet, welche den Dialog mit dem Kind <strong>und</strong> die Reflexion des eigenen<br />
pädagogischen Handelns der Erziehenden ins Zentrum rückt. Diese Qualitäten des Verfahrens der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> weckten unseren Enthusiasmus <strong>und</strong> unsere Motivation, uns längerfristig<br />
für eine Umsetzung in den Deutschschweizer Kindergärten einzusetzen.
Vorwort <strong>und</strong> Dank<br />
Die Begeisterung für dieses Beobachtungs- <strong>und</strong> Dokumentationsverfahren hält auch nach intensiver<br />
Auseinandersetzung mit der Thematik unvermindert an.<br />
Unser herzlicher Dank geht nach Deutschland, an die Kindertagesstätten in Reutlingen <strong>und</strong> Paderborn,<br />
welche uns ihre Türen geöffnet <strong>und</strong> ihre Zeit geschenkt haben, um uns einen umfassenden<br />
Einblick in ihre Arbeit mit dem Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zu gewähren <strong>und</strong><br />
unsere Fragen zu beantworten.<br />
Ein besonderer Dank geht an Frau Margrit Röllin von der Pädagogischen Hochschule in Zürich,<br />
die uns mit dem Thema <strong>Lerngeschichten</strong> inspiriert hat <strong>und</strong> uns ebenso wie Frau Susanne Bosshart<br />
von der Pädagogischen Hochschule St. Gallen für ein Expertinneninterview zur Verfügung<br />
gestanden hat. Auch Frau Wustmann vom Marie Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich sind<br />
wir sehr dankbar, dass sie uns ermöglicht hat, einen ersten Überblick über das Thema zu gewinnen<br />
<strong>und</strong> entsprechende Fragestellungen zu entwickeln.<br />
Zu grossem Dank sind wir Frau Simona Brizzi von der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich<br />
verpflichtet, die uns während unserer Masterarbeit kompetent <strong>und</strong> einfühlsam begleitet <strong>und</strong> unterstützt<br />
hat.<br />
Oberrohrdorf <strong>und</strong> Nürensdorf, Dezember 2010<br />
Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung 1<br />
1.1 Projektidee <strong>und</strong> erste Schritte 1<br />
1.2 Persönlicher Bezug <strong>und</strong> heilpädagogische Relevanz 2<br />
1.3 Erk<strong>und</strong>ungsgespräch 4<br />
2 Theoretische Konzeption 7<br />
2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter 7<br />
2.1.1 Gr<strong>und</strong>legende Aspekte der kindlichen Entwicklung 7<br />
2.1.2 Die Entwicklung der Sprache 8<br />
2.1.3 Die Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens 8<br />
2.1.4 Die Entwicklung der Wahrnehmung 9<br />
2.1.5 Die Entwicklung des Bindungs- <strong>und</strong> Beziehungsverhaltens<br />
<strong>und</strong> der sozialen Wahrnehmung 10<br />
2.1.6 Die Entwicklung der Motorik 11<br />
2.1.7 Folgerungen für den Unterricht im Kindergartenalter 11<br />
2.1.8 Die Zone der nächsten Entwicklung 13<br />
2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept 14<br />
2.3 Das Erleben von Selbstwirksamkeit als Teil des Lernprozesses 18<br />
2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik 22<br />
2.4.1 Der Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich 22<br />
2.4.2 Das Lernen im Kindergartenalter 24<br />
2.4.3 Aktuelle Lehr- <strong>und</strong> Lernformen im Kindergarten 25<br />
2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> 28<br />
2.5.1 Die Herkunft des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> 29<br />
2.5.2 Das <strong>Bildungs</strong>verständnis im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> 30<br />
2.5.3 Die praktische Anwendung des Verfahrens 30<br />
2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> 33<br />
2.6.1 Das Beobachten 33<br />
2.6.2 Die Analyse nach Lerndispositionen 37<br />
2.6.3 Der Dialog 42<br />
2.6.4 Die pädagogische Planung, die «nächsten Schritte» 48<br />
2.6.5 Die Lerngeschichte 51<br />
3 Fragestellung 56<br />
3.1 Fragestellung zum Forschungsteil 56<br />
3.2 Fragestellung zum Entwicklungsteil 57
Inhaltsverzeichnis<br />
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 58<br />
4.1 Zum Verhältnis von quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Forschung 58<br />
4.2 Forschungsdesign 60<br />
4.3 Die Forschungsmethoden 63<br />
4.3.1 Das problemzentrierte Interview in der qualitativen Sozialforschung 63<br />
4.3.2 Wörtliche Transkription 65<br />
4.3.3 Qualitative Inhaltsanalyse 66<br />
4.4 Triangulation 70<br />
4.5 Gütekriterien 73<br />
4.6 Beschreibung der Stichproben 75<br />
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 76<br />
5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen,<br />
Baden-Württemberg, Deutschland 76<br />
5.1.1 Die Kindertagesstätte Gmindersdorf in Reutlingen 77<br />
5.1.2 Kinderhaus Heinestrasse 76 83<br />
5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn,<br />
Nordrhein-Westfalen, Deutschland 91<br />
5.2.1 Paderborner Kindertagesstätte 91<br />
5.2.2 Kindergarten St. Vincenz 92<br />
5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung 103<br />
5.4 Beispiel eines für den Forschungsteil kodierten Interviews mit der<br />
Institutionsleitenden des Kindergartens St.Vincenz in Paderborn 109<br />
5.5 Beispiel eines für den Forschungsteil kodierten Interviews<br />
mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte 113<br />
5.6 Bespiel eines für den Entwicklungsteil kodierten Expertinneninterviews<br />
120<br />
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 125<br />
6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten<br />
Interviews 125<br />
6.1.1 Kategorie 1: Förderdiagnostik 125<br />
6.1.2 Kategorie 2: Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung 128<br />
6.1.3 Kategorie 3: Austausch 131<br />
6.1.4 Kategorie 4: Förderplanung 133<br />
6.2 Interpretation der Ergebnisse 134<br />
6.3 Beantwortung der Fragestellung für den Forschungsteil 135
Inhaltsverzeichnis<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 138<br />
7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten<br />
Interviews 138<br />
7.1.1 Kategorie 5: <strong>Bildungs</strong>verständnis 138<br />
7.1.2 Kategorie 6: Organisation 142<br />
7.1.3 Kategorie 7: Ausgestaltung 146<br />
7.1.4 Kategorie 8: Umsetzung des Verfahrens 148<br />
7.2 Interpretation der Ergebnisse 151<br />
7.3 Beantwortung der Fragestellung für den Entwicklungsteil 152<br />
7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten 155<br />
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens 160<br />
8.1 Einzelfallanalyse 160<br />
8.2 Problemzentriertes Interview 161<br />
8.3 Wörtliche Transkription 162<br />
8.4 Qualitative Inhaltsanalyse 162<br />
8.5 Triangulation 163<br />
8.6 Gütekriterien 163<br />
9 Schlusswort <strong>und</strong> Ausblick 165<br />
10 Literaturliste 167<br />
Anhang (siehe separate Broschüre)<br />
1 Merkblatt <strong>und</strong> Übersicht Förderplanung 3<br />
2 Beobachtungsbogen «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>» 7<br />
3 Analyse dieser Beobachtung nach Lerndispositionen 8<br />
4 Bogen zum kollegialen Austausch über das Lernen des Kindes 9<br />
5 Reflexionsbogen 10<br />
6 Formatiertes Interview Frau Schlüter (Zeilen 707<strong>–</strong>944) 11<br />
7 Formatiertes Interview zwei Pädagoginnen (Zeilen 1174<strong>–</strong>1685) 26<br />
8 Formatiertes Interview Frau Bosshart (Zeilen 405<strong>–</strong>706) 52<br />
9 Formular «Grenzsteine» der Entwicklung 68
1 Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung 1.1 Projektidee <strong>und</strong> erste Schritte<br />
Um eine bessere Lesbarkeit der Texte zu unterstützen, wird in der Regel für die theoretische Konzeption<br />
der Literatur entsprechend die männliche Form verwendet. In Bezug auf das Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> erscheinen aber ausschliesslich die weiblichen Bezeichnungen.
Inhaltsverzeichnis<br />
Darstellung der Inhalte<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
im Kindergarten<br />
Fragestellung zum Forschungsteil<br />
Inwiefern unterstützt das Verfahren<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> die<br />
Förderung von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen im Kindergarten?<br />
Fragestellung zum Entwicklungsteil<br />
Welche Rahmenbedingungen<br />
müssen berücksichtigt werden,<br />
damit das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> in der Praxis<br />
umgesetzt werden kann?<br />
Forschungsvorgehen<br />
Forschungsstrategie<br />
Einzelfallanalyse<br />
Forschungsmethoden<br />
Problemzentriertes Interview<br />
als Erhebungsverfahren<br />
Qualitative Inhaltsanalyse<br />
als Auswertungsverfahren<br />
Abbildung 1 Darstellung der Inhalte<br />
Heilpädagogische Relevanz<br />
Kindliche Entwicklung<br />
im Kindergartenalter<br />
Konstruktivismus<br />
als didaktisches Konzept<br />
Erleben von Selbstwirksamkeit<br />
Kindergartendidaktik<br />
Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong><br />
Hospitationen <strong>und</strong> Interviews<br />
in verschiedenen Kindertagesstäten<br />
Deutschlands, die mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> arbeiten<br />
Inhaltsanalyse der Interviews<br />
mit Pädagoginnen, Institutionsleitenden<br />
<strong>und</strong> Expertinnen<br />
Interpretation<br />
der Ergebnisse<br />
<strong>und</strong> Beantwortung<br />
der FragestellungbezüglichAnwendbarkeit<br />
des<br />
Verfahrens für<br />
die Förderung<br />
von Kindern<br />
mit besonderen<br />
Bedürfnissen<br />
Interpretation<br />
der Ergebnisse<br />
<strong>und</strong> Beantwortung<br />
der<br />
Fragestellung<br />
bezüglich<br />
Rahmenbedingungen<br />
Handreichung<br />
für die<br />
Umsetzung<br />
des Verfahrens
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1 Darstellung der Inhalte<br />
Abbildung 2 Das Verfahren 32<br />
Abbildung 3 Thesen zur Beobachtung 37<br />
Abbildung 4 Eisberg-Modell 39<br />
Abbildung 5 Progressiver Filter (Leu et al., 2007, S. 55) 47<br />
Abbildung 6 Theoriebildung <strong>und</strong> Kategoriensystem/deduktiv 68<br />
Abbildung 7 Ablauf einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse 69<br />
Abbildung 8 Datentriangulation 72
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
Tabellenverzeichnis<br />
Tabelle 1 Merkmale von starkem vs. schwachem Selbstwirksamkeits-Glauben<br />
(in Schachinger, 2007, S. 176). 21<br />
Tabelle 2 Kodierleitfaden für den Forschungsteil 106<br />
Tabelle 3 Kodierleitfaden für den Entwicklungsteil 107<br />
Tabelle 4 Kodiertes Interview, Institutionsleitende Kindergarten St. Vincenz,<br />
Forschungsteil 109<br />
Tabelle 5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen, Paderborner Kinder-<br />
tagesstätte, Forschungsteil 113<br />
Tabelle 6 Kodiertes Interview Expertin, Entwicklungsteil 120<br />
Tabelle 7 K 1, Förderdiagnostik 125<br />
Tabelle 8 K 2, Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung 128<br />
Tabelle 9 K 3, Austausch 131<br />
Tabelle 10 K 4, Förderplanung 133<br />
Tabelle 11 K 5, <strong>Bildungs</strong>verständnis 138<br />
Tabelle 12 K 6, Organisation 142<br />
Tabelle 13 K 7, Ausgestaltung 146<br />
Tabelle 14 K 8, Umsetzung des Verfahrens 148
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
1 Einleitung<br />
In diesem Kapitel werden die Projektidee <strong>und</strong> die ersten Schritte für die Forschungsarbeit zum<br />
Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> vorgestellt. Es folgen ein persönlicher Bezug <strong>und</strong> die<br />
heilpädagogische Relevanz des Themas. Den Abschluss des Kapitels bildet die Zusammenfassung<br />
des Erk<strong>und</strong>ungsgespräches mit Frau C.Wustmann vom Marie Meierhofer-Institut für das Kind.<br />
1.1 Projektidee <strong>und</strong> erste Schritte<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind Geschichten, die über das Lernen der Kinder berichten.<br />
In gezielten Beobachtungen durch verschiedene Bezugspersonen des Kindes<br />
werden Informationen über seine Tätigkeiten gesammelt <strong>und</strong> später im Team zusammengetragen<br />
<strong>und</strong> analysiert. In einer Lerngeschichte, die für das Kind ein- oder zweimal pro<br />
Jahr verfasst <strong>und</strong> ihm vorgelesen wird, werden diese Erkenntnisse für das Kind erlebbar<br />
gemacht.<br />
Der Begriff «<strong>Lerngeschichten</strong>» tauchte in einer Weiterbildung für Kindergärtnerinnen zum<br />
ersten Mal auf <strong>und</strong> faszinierte uns sofort. Die Verbindung von Lernen <strong>und</strong> Geschichten versprach,<br />
neue Dimensionen in der Beobachtung von Lernprozessen von Kindern zu erschliessen. Die Referentin<br />
der Pädagogischen Hochschule in Zürich, Frau Röllin, zeigte uns auf, wie Beobachtungen<br />
nicht nur nach Kompetenzen, sondern auch nach Lerndispositionen analysiert werden können<br />
<strong>und</strong> im Zentrum dabei die Ermutigung der Kinder auf ihrem eigenen Lernweg steht. Die Möglichkeit,<br />
ein Instrument zur Dokumentation von Lernprozessen kennen zu lernen, welches auf die<br />
Stärken der Kinder baut <strong>und</strong> dabei eine notwendige Einschätzung des Entwicklungsstandes nicht<br />
ausschliesst, motivierte uns für weitere Nachforschungen. Auf den Begriff <strong>Lerngeschichten</strong><br />
stiessen wir dann auch im Kindergartenlehrplan des Kantons Zürich, wo die Anwendung von Lernbiografien,<br />
beziehungsweise <strong>Lerngeschichten</strong> beschrieben sind (vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe<br />
des Kantons Zürich, 2008, S.17).<br />
Auf Empfehlung von Frau Röllin hin suchten wir auf der Internetseite des Deutschen Jugendinstitutes<br />
in München, welches von 2004 bis 2007 ein Projekt zu <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
durchgeführt hatte, nach weiteren Informationen <strong>und</strong> entdeckten dabei das Buch «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>», ein Gr<strong>und</strong>lagenwerk für die Arbeit mit diesem Verfahren, verfasst im Jahr 2007<br />
durch Herrn Dr. Leu <strong>und</strong> weitere Autorinnen <strong>und</strong> Autoren. Durch verschiedene Mailkontakte<br />
mit Mitarbeitenden des Institutes erfuhren wir, dass das Zürcher Marie Meierhofer-Institut für das<br />
1
1 Einleitung 1.1 Projektidee <strong>und</strong> erste Schritte<br />
Kind aktuell ein Projekt zum Thema <strong>Lerngeschichten</strong> in Kindertagesstätten der Schweiz unter der<br />
Leitung von Frau C. Wustmann durchführt. Sie hatte bereits das Projekt in München geleitet <strong>und</strong><br />
ermöglichte uns eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema <strong>und</strong> das Entwickeln von möglichen<br />
Fragestellungen. Durch einen Kontakt mit Frau Bosshart von der Pädagogischen Hochschule<br />
St.Gallen erfuhren wir, dass der Versuch, die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> in verschiedenen Kindergärten<br />
der Ostschweiz einzuführen, wieder aufgegeben worden war.<br />
Von Beginn an war es uns ein Anliegen, einen Einblick in die praktische Anwendung des Verfahrens<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zu gewinnen, diese Erkenntnisse in Bezug zur Theorie zu setzen<br />
<strong>und</strong> daraus Fragestellungen zu entwickeln, die den Einsatz von <strong>Lerngeschichten</strong> unter Umständen<br />
auch in der Schweiz fördern können. Durch das Deutsche Jugendinstitut in München bekamen<br />
wir Adressen von Konsultations-Kindertagesstätten in Deutschland. Für unseren ersten Besuch<br />
wählten wir zwei Institutionen in Reutlingen, in der Nähe von Stuttgart <strong>und</strong> begannen mit der sorgfältigen<br />
Planung dieser zwei Tage, wobei uns auch unsere Dozentin Simona Brizzi unterstützte.<br />
Ziel unserer Reise war, die Umsetzung des Verfahrens «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>» in verschiedenen<br />
Kindertagesstätten durch Hospitationen <strong>und</strong> Interviews kennen zu lernen. Im Voraus<br />
informierten wir die Leitenden der beiden Kindertagesstätten über unsere Anliegen <strong>und</strong> Erwartungen<br />
<strong>und</strong> stellten ihnen auch unseren Interviewleitfaden zu. Sie gaben uns die Gelegenheit,<br />
mit ihnen <strong>und</strong> mit je einer Pädagogin ein problemzentriertes Interview durchzuführen <strong>und</strong> den<br />
Alltag <strong>und</strong> die Organisation der Kindertagesstätte kennen zu lernen. Von unserer Reise Mitte April<br />
kamen wir mit einer Fülle von Eindrücken <strong>und</strong> Ideen für unsere weitere Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsarbeit<br />
zurück.<br />
Im Juni 2010 folgte dann eine Reise nach Paderborn mit zwei weiteren spannenden Hospitationen.<br />
1.2 Persönlicher Bezug <strong>und</strong> heilpädagogische Relevanz<br />
Wie im Abschnitt 1.1 beschrieben hat bereits der Titel «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>» unser<br />
Interesse geweckt. Als schulische Heilpädagoginnen ist es uns wichtig, Kinder <strong>und</strong> insbesondere<br />
auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen aufgr<strong>und</strong> einer differenzierten Einschätzung der<br />
Lernentwicklung <strong>und</strong> des Lernstandes optimal zu fördern. Buholzer (2006) schreibt in seinem<br />
Buch «Förderdiagnostisches Sehen, Denken <strong>und</strong> Handeln», dass es unbestritten ist, dass förderdiagnostische<br />
Kompetenzen für die Durchführung von adaptiven Förderprozessen von grosser<br />
Bedeutung sind (vgl. S. 6) <strong>und</strong> dass guter Unterricht, wie auch lernwirksame Förderung auf diagnostischen<br />
Erkenntnissen aufbaut (vgl. S. 8). Im schulischen Alltag wurde uns immer wieder klar,<br />
dass es aber nicht nur von zentraler Wichtigkeit ist, «gute» Förderpläne zu schreiben, sondern<br />
auch Kinder, Eltern <strong>und</strong> alle beteiligten Lehrpersonen ins «Boot» zu holen. Oft erleben wir nun<br />
2
1 Einleitung 1.2 Persönlicher Bezug <strong>und</strong> heilpädagogische Relevanz<br />
aber an solchen «r<strong>und</strong>en Tischen», dass der Blick auf das Kind defizitorientiert ist <strong>und</strong> am Ende<br />
einer Besprechung ein Gefühl zurückbleibt, dem Kind nicht gerecht zu werden. Oft wird das Kind<br />
auch nicht in die Planung der Förderung mit einbezogen, was zu Schwierigkeiten bei der eigentlichen<br />
Umsetzung führt. So waren wir von Anfang an begeistert vom Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>, das Kinder in ihrer Entwicklung ressourcenorientiert <strong>und</strong> selbstwertstärkend<br />
fördert. Ein zentraler Punkt des Verfahrens ist die Beobachtung. Auch Buholzer (2006) räumt der<br />
Beobachtung innerhalb der förderdiagnostischen Methoden einen besonderen Stellenwert ein (vgl.<br />
S. 72). Als schulische Heilpädagoginnen übernehmen wir häufig die Aufgabe der Beobachtenden.<br />
Dies zeigt sich auch im Dokument «Übersicht: Förderung von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen mit<br />
besonderen schulischen Bedürfnissen im Rahmen der Integrierten Heilpädagogik» des Kantons<br />
Aargaus (2008), in dem die Beobachtung durch die Heilpädagogin <strong>und</strong> die Klassenlehrperson<br />
der erste Schritt für eine Förderplanung darstellt (siehe Anhang 1). Die Organisation <strong>und</strong> Durchführung<br />
von strukturierten, differenzierten Beobachtungen, wie sie im Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> erforderlich sind passen gut zu unserer Rolle, ja stärken sie sogar, somit ist die<br />
heilpädagogische Relevanz gewährleistet.<br />
Ein weiterer Aspekt, der uns besonders beeindruckt hat ist die Tatsache, dass bei der Arbeit mit<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> nicht über das Kind, sondern mit dem Kind gesprochen wird. Dies<br />
ermöglicht der Lehrperson die Beziehung zum Kind zu stärken, die Lernenden <strong>und</strong> ihre Gedankenwelt<br />
im Dialog besser kennen zu lernen, um Stärken <strong>und</strong> auch Entwicklungsbedarf zu erfassen<br />
<strong>und</strong> eine optimale Förderung mit dem Kind zusammen zu gestalten. Bei unseren Hospitationen ist<br />
uns auch die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Wertschätzung aufgefallen, die einem Kind bei der Beobachtung<br />
<strong>und</strong> beim Vorlesen der <strong>Lerngeschichten</strong> entgegengebracht wird. Auch der Beobachtende wird<br />
dabei zum Lernenden <strong>und</strong> zwar über das Lernen eines Kindes. Dahinter steht eine veränderte pädagogische<br />
Haltung, mit welcher wir uns in dieser Masterarbeit vertieft auseinandersetzen werden.<br />
Wir sind der Ansicht, dass der ressourcenorientierte Ansatz dieses Verfahrens eine gute Möglichkeit<br />
sein könnte, die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnisse stärkend <strong>und</strong> nachhaltig<br />
für alle Beteiligten zu gestalten.<br />
Durch den Kontakt mit den vier Kindertagesstätten in Deutschland wurde die Frage aufgeworfen,<br />
was wir in der Schweiz unter «Kindern mit besonderen Bedürfnissen» verstehen. Dies werden wir<br />
hier klären <strong>und</strong> dann einen Bezug schaffen zum Verständnis von «Kindern mit besonderem Förderbedarf»<br />
im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>. In allen offiziellen Unterlagen beider<br />
Kantone (AG <strong>und</strong> ZH) haben wir keine eindeutige Definition zum Begriff «Kinder mit besonderen<br />
Bedürfnissen» gef<strong>und</strong>en, obwohl dieser in den Leitfäden zur Förderplanung (siehe Anhang 1)<br />
vorkommt. So erarbeiteten wir aus einem Berufsportrait der IF-Lehrperson die Umschreibung von<br />
«Kindern mit besonderen Bedürfnissen» heraus:<br />
3
1 Einleitung 1.2 Persönlicher Bezug <strong>und</strong> heilpädagogische Relevanz<br />
Bei «Kindern mit besonderen Bedürfnissen» tauchen Schwierigkeiten oder Auffälligkeiten<br />
beim Erwerb oder bei der Festigung der gr<strong>und</strong>legenden Kompetenzen in den zentralen Lern- <strong>und</strong><br />
Entwicklungsbereichen auf. Zu den zentralen Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsbereichen gehören die fünf<br />
im Lehrplan (ZH) beschriebenen Unterrichtsbereiche, sowie auch die Bereiche «Allgemeines<br />
Lernen», «Umgang mit Anforderungen» <strong>und</strong> «Umgang mit Menschen» (vgl. Ramirez Moreno,<br />
2010, S. 5).<br />
Flämig, Musketa <strong>und</strong> Leu (2009) verwenden folgende Umschreibung im Heft «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> für Kinder mit besonderem Förderbedarf»:<br />
Kinder mit besonderem Förderbedarf setzen sich auf ihre Art <strong>und</strong> Weise <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong><br />
individueller Fähigkeiten <strong>und</strong> Einschränkungen mit der Welt auseinander. (...) Einen<br />
besonderen Bedarf an pädagogischer Förderung haben dabei Kinder, deren Entwicklung<br />
in einzelnen Bereichen bisher einen langsameren <strong>und</strong> verkomplizierten Verlauf genommen<br />
hat oder deren Verhaltens- <strong>und</strong> Lernwege für die Fachkräfte eine besondere Herausforderung<br />
darstellen. Aber auch Kinder, deren Entwicklung in bestimmten Bereichen<br />
ungewohnt schnell voranschreitet, bedürfen besonderer Wege <strong>und</strong> Mittel zur Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Förderung ihrer Fähigkeiten, da auch sie sich nicht ihren Möglichkeiten<br />
entsprechend entwickeln können, wenn diese Besonderheit unentdeckt <strong>und</strong> ungefördert<br />
bleibt. (S. 13)<br />
Für unsere Masterarbeit stellt sich nun die Frage, inwiefern die Anwendung des Verfahrens der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> unsere beruflichen Kompetenzen als Schulische Heilpädagoginnen<br />
im Bereich der Förderplanung erweitern könnte.<br />
1.3 Erk<strong>und</strong>ungsgespräch<br />
Wie im Abschnitt 1.1 bereits erwähnt, führten wir mit Frau C.Wustmann vom Marie Meierhofer-<br />
Institut für das Kind in Zürich ein Erk<strong>und</strong>ungsgespräch, um uns im für uns neuen Feld der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> zu orientieren. Unser Ziel war es, vertieftere Informationen zu diesem<br />
Verfahren zu erhalten, um später daraus unsere Fragestellung für diese Masterarbeit zu formulieren.<br />
Dieses Gespräch gab uns auch Gelegenheit herauszuarbeiten, mit welchen Themen sich Kindertagesstätten<br />
auseinandersetzen, die dieses Verfahren bereits umgesetzt haben. Dabei konnten wir<br />
von der grossen Erfahrung von Frau Wustmann profitieren, die am Deutschen Jugendinstitut<br />
das Projekt zur Implementierung der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in verschiedenen Städten<br />
Deutschlands geleitet hatte <strong>und</strong> momentan als Projektleiterin des Projektes «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
Resilienzförderung im Frühbereich» am Marie Meierhofer-Institut für das Kind arbeitet (siehe<br />
4
1 Einleitung 1.3 Erk<strong>und</strong>ungsgespräch<br />
Literaturliste). Das Gespräch bildete auch die Gr<strong>und</strong>lage für das Erstellen des Interviewleitfadens<br />
für die Befragung der Pädagoginnen <strong>und</strong> Institutionsleitenden anlässlich unserer Hospitationen.<br />
Dieses Erk<strong>und</strong>ungsgespräch wurde nicht als Interview geführt, da es uns als Einstieg in die Thematik<br />
diente, hätte aber zu einem späteren Zeitpunkt unserer Forschung auch als Expertinneninterview<br />
geführt werden können. Die folgenden zentralen Punkte konnten wir aus dem am 1. Dezember 2009<br />
am Marie Meierhofer-Institut für das Kind durchgeführten Erk<strong>und</strong>ungsgespräch für unsere weitere<br />
Arbeit herauskristallisieren:<br />
·· Die Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> erfordert einen Paradigmenwechsel, welcher<br />
Beobachtung, die Reflexion der Beobachtung <strong>und</strong> den Austausch im Team beinhaltet.<br />
·· Um die Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zu beginnen, muss als erstes die Gr<strong>und</strong>haltung<br />
der Pädagoginnen verändert werden hin zu einer Haltung, die Stärken statt<br />
Schwächen beachtet. Dazu kommen die Motivation <strong>und</strong> der Wille eines Teams, diese neue<br />
Gr<strong>und</strong>haltung zu entwickeln. An <strong>und</strong> für sich könnten auch «Teaching Stories» verfasst<br />
werden. Dies sind nach Margret Carr, welche das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
entwickelt hat, Geschichten über das Lernen <strong>und</strong> Reflektieren von Pädagoginnen<br />
<strong>und</strong> werden durch diese selber verfasst.<br />
·· Eine Didaktik, die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> unterstützt, ist schülerzentriert.<br />
Sie bietet die Möglichkeit, Eigeninitiative <strong>und</strong> Selbstbildungsprozesse der Kinder zu fördern.<br />
Frei gewählte Aktivitäten dürfen sich im Kindergarten aber durchaus mit geführten Sequenzen<br />
abwechseln. Die Gr<strong>und</strong>haltung dabei ist aber, den Schwerpunkt auf mehr Begleitung <strong>und</strong><br />
weniger Anleitung zu legen. Darin besteht eine wesentliche Neuerung <strong>und</strong> häufig auch ein<br />
Unterschied zum schulischen Lernen.<br />
·· Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist der erste Schritt die Beobachtung.<br />
Diese wird üblicherweise zweimal pro Woche durchgeführt. Alle zwei Wochen findet eine<br />
Teamsitzung statt, in welcher die Pädagoginnen ihre Beobachtungen austauschen. Als<br />
Gr<strong>und</strong>lage für die Beobachtungen dient die Frage der Pädagogin: «Was möchte ich Neues<br />
entdecken bei einem Kind?»<br />
·· In der Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist der kontinuierliche Austausch im<br />
Team wichtig, um die Subjektivität der verschiedenen Beteiligten aufzuheben. Dadurch<br />
wird die eigene Wahrnehmung, der eigene Blickwinkel hinterfragt. Durch das Zusammenführen<br />
der unterschiedlichen Sichtweisen kommt das Team in einen Dialog. Über diesen<br />
Austausch entstehen differenziertere, objektivere <strong>Lerngeschichten</strong>.<br />
·· In <strong>Lerngeschichten</strong> werden Fähigkeiten beschrieben. Sie sind ressourcenorientiert. Bei<br />
Kindern mit besonderen Bedürfnissen haben sie grosse Wirksamkeit, weil die Haltung <strong>und</strong><br />
die Orientierung durch die andere, ressourcenorientierte Sichtweise den Blick auf das<br />
Kind verändert.<br />
5
1 Einleitung 1.3 Erk<strong>und</strong>ungsgespräch<br />
·· <strong>Lerngeschichten</strong> werden im Portfolio abgelegt. Pro Jahr werden nach mehreren Beobachtungen<br />
zwei <strong>Lerngeschichten</strong> für jedes Kind verfasst. Es werden Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen<br />
der Kinder in ähnlichen Situationen, teilweise auch unter veränderten Voraussetzungen<br />
beobachtet.<br />
·· <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> Portfolioarbeit ergeben sehr gute Gr<strong>und</strong>lagen für den Aufbau eines<br />
wertschätzenden Dialogs zwischen Pädagogin <strong>und</strong> Kind. Fotogeschichten können bei<br />
kleineren Kindern die geschriebenen <strong>Lerngeschichten</strong> ersetzen. Bei Dialogen muss immer<br />
wieder überprüft werden, ob sie von einer wertschätzenden, ressourcenorientierten Haltung<br />
geprägt sind.<br />
·· Folgende Bausteine sind für die Umsetzung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
erforderlich: Die Gr<strong>und</strong>haltung, die strukturellen Bedingungen, die Haltung den Kindern<br />
<strong>und</strong> ihrem Lernen gegenüber, die eigenen Ressourcen <strong>und</strong> die eigene Wahrnehmung. Dabei<br />
sollte das ganze Team beteiligt sein.<br />
·· Die Erfahrung mit der Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zeigt, dass es längere Zeit<br />
braucht, um diese ressourcenorientierte Sichtweise zu integrieren.<br />
·· Der Paradigmenwechsel muss vor der Umsetzung vollzogen werden können.<br />
·· Während der Umsetzung ist ein gutes Zeitmanagement ausschlaggebend.<br />
6
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
2 Theoretische Konzeption<br />
Im folgenden Kapitel werden die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen zum Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> dargelegt, ergänzt durch Aspekte zu weiteren theoretischen Konzepten, die einen<br />
zentralen Bezug zu diesem Instrument haben. Im ersten Abschnitt wird auf die Entwicklungspsychologie<br />
eingegangen, damit Entwicklungsverläufe <strong>und</strong> ihre Bedeutung für das Lernen auf der<br />
Kindergartenstufe einsichtig werden. Im Weiteren werden der Begriff <strong>und</strong> das didaktische Konzept<br />
des Konstruktivismus, sowie das Selbstwirksamkeits-Erleben als Basis von Lernprozessen erläutert.<br />
Die Kindergartendidaktik <strong>und</strong> der Lehrplan dieser Stufe werden im Abschnitt 2.4 vorgestellt, im<br />
darauffolgenden Abschnitt das eigentliche Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>. Wichtige<br />
Themen dabei sind die Herkunft <strong>und</strong> der Ansatz des Verfahrens sowie die praktische Anwendung.<br />
2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
In diesem Abschnitt werden zuerst einige gr<strong>und</strong>legende Aspekte der kindlichen Entwicklung<br />
dargestellt, um eine Basis für das Verständnis des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
im Kindergarten zu schaffen. Anschliessend folgt eine Übersicht über die kindliche Entwicklung<br />
in fünf Bereichen, welche den in Abschnitt 2.4.1 erläuterten <strong>Bildungs</strong>bereichen des Lehrplans<br />
für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich entsprechen. Daraus werden Erkenntnisse für die<br />
Unterrichtsgestaltung im Kindergarten formuliert. Die Einführung des Begriffes der «Zone der<br />
nächsten Entwicklung» von Lew Wygotsky schliesst diesen Abschnitt zum Thema Entwicklungspsychologie<br />
ab.<br />
2.1.1 Gr<strong>und</strong>legende Aspekte der kindlichen Entwicklung<br />
Entwicklung ist ein dynamischer, ganzheitlicher Prozess, das heisst die einzelnen Teilbereiche<br />
stehen in einer ständigen Wechselwirkung zueinander. Dabei weist jeder Bereich der Entwicklung<br />
grosse Unterschiede zwischen den Kindern in Bezug auf den zeitlichen Ablauf <strong>und</strong> auf die Ausprägung<br />
von Entwicklungs- <strong>und</strong> Verhaltensmerkmalen auf. Diese Vielfalt unter den Kindern wird<br />
als interindividuelle Variabilität bezeichnet. Aber auch im Kind selbst sind einzelne Eigenschaften<br />
<strong>und</strong> Fähigkeiten unterschiedlich angelegt <strong>und</strong> reifen verschieden rasch heran, was eine intraindividuelle<br />
Variabilität bewirkt. Durch diese variablen Entwicklungsverläufe sind heterogene<br />
Kindergruppen die Regel <strong>und</strong> erfordern das Beachten von individuellen Eigenschaften <strong>und</strong> auch von<br />
besonderen Bedürfnissen der Kinder. Ziel ist eine Pädagogik der Vielfalt, denn Normvorstellungen<br />
werden dem einzelnen Kind nur zufällig gerecht.<br />
7
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
Ein Kindergartenkind eignet sich gr<strong>und</strong>legende Fähigkeiten in der aktiven Auseinandersetzung<br />
mit der gegenständlichen Umwelt selber an. Seine Interessen <strong>und</strong> Eigenaktivitäten richten sich<br />
nach dem jeweiligen Entwicklungsstand. Dabei ist es ein aktives Wesen, das entwicklungsspezifisch<br />
selektive Erfahrungen macht <strong>und</strong> auf seine Umwelt einwirkt, indem es seine neu erworbenen<br />
Fähigkeiten auf vielfältige Weise anwendet, immer wieder neuen äusseren Gegebenheiten anpasst<br />
<strong>und</strong> dadurch differenziert <strong>und</strong> verinnerlicht (vgl. Largo, 2002, S. 75 f.).<br />
2.1.2 Die Entwicklung der Sprache<br />
«Die Sprache ermöglicht uns einerseits ein differenziertes zwischenmenschliches Beziehungsverhalten<br />
<strong>und</strong> andererseits eine vielseitige Informationsübermittlung» (Walter & Fasseing, 2002,<br />
S. 92). Die Sprachentwicklung ist in den ersten Lebensjahren eng mit dem Beziehungsverhalten<br />
verknüpft, da mit Hilfe von Sprache <strong>und</strong> Nicht-sprachlicher-Kommunikation soziale Beziehungen<br />
unterhalten, sowie emotionales Befinden mitgeteilt werden. Als sprach-unspezifische kognitive<br />
Voraussetzungen werden ausserdem die sensomotorische Entwicklung als Schrittmacher für die<br />
Sprachentwicklung, die vor-sprachlichen Gesten als Vorbereitung für den Erwerb <strong>und</strong> Gebrauch<br />
von Wörtern, sowie verschiedene Strukturen <strong>und</strong> Prozesse allgemeiner kognitiver <strong>und</strong> perzeptueller<br />
Natur genannt (vgl. Grimm, 1998, S. 738). Schon ein Neugeborenes verfügt über ein differenziertes<br />
auditives Wahrnehmungsvermögen, in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres stellt sich<br />
dann ein erstes Verständnis für konkrete Bedeutungen von Wörtern ein, indem diese das Kind<br />
mit Personen in Beziehung setzt. Im anschliessenden Kleinkindesalter ist das Sprachverständnis<br />
bereits deutlich weiter entwickelt als der sprachliche Ausdruck <strong>und</strong> basiert auf vielfältigen Alltagserfahrungen.<br />
Förderlich für die Sprachentwicklung eines Kindes sind das Zuhören, das Erzählen<br />
<strong>und</strong> Kommunizieren <strong>und</strong> eine akzeptierende Gr<strong>und</strong>haltung der Erwachsenen. Im Kindergartenalter<br />
ist die Sprache bei den meisten Kindern so weit entwickelt, dass sie im täglichen Umgang<br />
häufig in vollständigen <strong>und</strong> grammatikalisch korrekten Sätzen sprechen. Manchmal bestehen<br />
noch Auffälligkeiten in der Artikulation <strong>und</strong> im Satzbau (vgl.Walter & Fasseing, 2002, S. 99 f.).<br />
Beeindruckende Fortschritte in der Sprachentwicklung sind im Kindergartenalter die Erweiterung<br />
des Wortschatzes <strong>und</strong> die Fähigkeit des Kindes, seine Aussagen so komplex <strong>und</strong> differenziert<br />
zu formulieren, dass sie die sozialen Regeln der Situationsangemessenheit berücksichtigen (vgl.<br />
Mietzel, 2002, S. 215).<br />
2.1.3 Die Entwicklung des logisch-mathematischen Denkens<br />
«Das logisch-mathematische Denken besteht im weitesten Sinne aus der Einsicht über das Wesen<br />
von Objekten <strong>und</strong> deren Zusammenwirken» (Largo, 2002, S. 100). Damit diese Kompetenz entwickelt<br />
werden kann, braucht es vielfältige, genaue Beobachtungen <strong>und</strong> die Fähigkeit, Kategorien<br />
8
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
systematisch zu erstellen. Bereits Säuglinge verfügen über eine, allerdings noch sehr eingeschränkte,<br />
Mengenvorstellung. Später lernt das Kind anhand der Begriffe «eines» <strong>und</strong> «vieles» die ersten<br />
Unterscheidungen von Mengen kennen. Das Verständnis für kausale Zusammenhänge erschliesst<br />
sich das Kind im Alltag, zum Beispiel im Umgang mit Materialien wie Erde oder Wasser. Bereits<br />
im Kleinkindesalter sortiert es Gegenstände auf Gr<strong>und</strong> bestimmter Eigenschaften <strong>und</strong> bildet also<br />
erste Kategorien. Im Kindergartenalter vollzieht es den Wandel vom wahrnehmungsgeb<strong>und</strong>enen<br />
Denken zum konkret-logischen Denken, es lernt, seine Wahrnehmung durch logische Einsichten<br />
zu relativieren <strong>und</strong> verschiedene Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen. Das Kind braucht vielfältige,<br />
wiederholte Erfahrungen, bis es einen abstrakten Zusammenhang wirklich verstanden hat.<br />
Jedes Kind sollte dabei die Vorgehensweise <strong>und</strong> das Ausmass der Erfahrungen so weit wie möglich<br />
selber bestimmen können, wie es auch im Konstruktivismus als didaktisches Konzept angestrebt<br />
wird. Das Zahlverständnis ist ein Teilbereich der logisch-mathematischen Kompetenz <strong>und</strong> entwickelt<br />
sich vom dritten oder vierten Lebensjahr an. Es ist bis zum Eintritt in die erste Klasse oft<br />
noch auf den Zahlenraum bis fünf beschränkt (vgl. Largo, 2002, S.102 ff.).<br />
Nach Piaget beginnt zwischen dem 16. <strong>und</strong> 24. Lebensmonat das voroperationale Denken, da das<br />
Kind fähig wird, eine Handlung oder ein Ereignis gedanklich abzubilden. Es gelingt ihm, über<br />
konkrete Ereignisse auf der Ebene der Vorstellungen nachzudenken. Allerdings ist es seiner Meinung<br />
nach in dieser voroperationalen Phase, die bis ins Alter von sechs oder sieben Jahren dauert, noch<br />
nicht fähig, auf der Ebene der Vorstellungen aus seinen Erfahrungen logische Schlussfolgerungen<br />
zu ziehen <strong>und</strong> seine Aufmerksamkeit auf mehrere Merkmale einer Situation gleichzeitig zu richten<br />
(vgl. Mietzel, 2002, S.181f.).<br />
2.1.4 Die Entwicklung der Wahrnehmung<br />
Sinneseindrücke sind die Gr<strong>und</strong>steine für Sinneserfahrungen <strong>und</strong> werden durch die Interpretation<br />
dieser Empfindungen zu einer Wahrnehmung (vgl. Walter & Fasseing 2002, S. 127). Die Empfindung<br />
ist dabei der elementare Prozess der Reizaufnahme <strong>und</strong> -registrierung. Die Wahrnehmung<br />
hingegen ist ein höherer Prozess der Organisation <strong>und</strong> Interpretation der Reizinformationen. In<br />
der kindlichen Entwicklung sind die Funktionen <strong>und</strong> Prozesse der Wahrnehmung wohl diejenigen,<br />
die am frühesten vorhanden sind <strong>und</strong> sich am schnellsten entwickeln (vgl. Wilkening & Krist,<br />
1998, S. 488). Zu den Wahrnehmungsfunktionen gehören die taktil-kinästhetische, die vestibuläre,<br />
die auditive <strong>und</strong> visuelle Wahrnehmung mit dem Teilbereich figural-räumliche Wahrnehmung.<br />
Taktil-kinästhetische Erfahrungen macht bereits das ungeborene Kind <strong>und</strong> differenziert sie während<br />
den ersten Lebensjahren. Vom zweiten Lebensjahr an setzt es sich mit räumlichen Beziehungen<br />
auseinander <strong>und</strong> beginnt etwa ein Jahr später, seine räumlichen Vorstellungen im Spiel konstruktiv<br />
umzusetzen. Die räumliche Merkfähigkeit ist im Kindergartenalter weit entwickelt, was sich unter<br />
anderem im Spiel «Memory» zeigt. Die gute figurale Erfassung wirkt sich vorteilhaft in Zusammen-<br />
9
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
setzspielen aus (vgl. Largo, 2002, S.104 f.). Die vestibuläre Wahrnehmung, das heisst der Gleichgewichtssinn,<br />
reguliert einen ständig vorhandenen Zustrom von Sinnesreizen, die als Folge der<br />
Erdschwere von den Gleichgewichtsrezeptoren im Innenohr ausgehen <strong>und</strong> bildet ein Bezugssystem<br />
für alle anderen Sinneswahrnehmungen (vgl. Ayres, 1984, S. 97). Die auditive Wahrnehmung,<br />
also das Hören, ermöglicht es dem Kind, auch nicht sichtbare Ereignisse zu registrieren. Sie ist eine<br />
Gr<strong>und</strong>voraussetzung für die Sprachentwicklung <strong>und</strong> für die zwischenmenschliche Kommunikation.<br />
Die visuelle Wahrnehmung, das Sehen ist für die kleinkindliche Entwicklung von überragender<br />
Bedeutung, da sie beinahe an jeder Handlung beteiligt ist (vgl. Wilkening & Krist, 1998, S. 490 ff.).<br />
Sie ermöglicht dem Kind, visuelle Reize zu erkennen, zu unterscheiden <strong>und</strong> sie durch Assoziationen<br />
mit früheren Erfahrungen zu interpretieren.<br />
2.1.5 Die Entwicklung des Bindungs- <strong>und</strong> Beziehungsverhaltens<br />
<strong>und</strong> der sozialen Wahrnehmung<br />
Für eine gute Entwicklung braucht das Kind unter anderem Geborgenheit, Zuwendung, soziale<br />
Akzeptanz <strong>und</strong> verlässliche Bezugspersonen (vgl. Largo, 2002, S. 71 ff.). «Die gegenseitige Bindung<br />
zwischen den Eltern, anderen Bezugspersonen <strong>und</strong> dem Kind stellt die Ernährung, die Pflege <strong>und</strong><br />
den Schutz des Kindes sicher <strong>und</strong> ermöglicht die Weitergabe von Fertigkeiten <strong>und</strong> Wissen» (Largo,<br />
2002, S. 77 f.). Während diese Beziehungen im Kleinkindalter vorbehaltlos sind, hängen sie im<br />
Kindergartenalter vermehrt davon ab, wie viel Geborgenheit <strong>und</strong> Zuwendung das Kind bis anhin<br />
erhalten hat <strong>und</strong> wie gross die Bereitschaft der Pädagogin ist, sich auf eine Beziehung mit dem Kind<br />
einzulassen. In dieser Entwicklungsphase nehmen die meisten Kinder selbständig, ohne Vermittler<br />
Kontakte zu Gleichaltrigen <strong>und</strong> Erwachsenen auf, wobei letztere so wichtig werden, dass sich ein<br />
Mangel nachteilig auf ihr Wohlbefinden <strong>und</strong> Selbstwertgefühl auswirken kann. Das Kindergartenkind<br />
ist nicht mehr auf die unmittelbare Nähe vertrauter Erwachsener angewiesen, braucht aber<br />
die Gewissheit, dass es jederzeit an eine Bezugsperson gelangen kann. Um soziale Kompetenzen<br />
einzuüben, ist es für das Kind wichtig , sich an Vorbildern orientieren zu können <strong>und</strong> die Möglichkeit<br />
zu haben, die beobachteten Verhaltensweisen zu verinnerlichen. Dieses Verständnis für soziale<br />
Situationen spiegelt sich im Symbolspiel <strong>und</strong> später im Rollenspiel des Kindes. Das Symbolspiel<br />
entsteht dabei über die verzögerte Nachahmung einer Handlung, wodurch sich eine innere Vorstellung<br />
ausbildet, welche unabhängig ist von der örtlichen <strong>und</strong> zeitlichen Gegebenheit <strong>und</strong> damit<br />
auf neue Situationen übertragen werden kann. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung<br />
des Rollenspiels ist die soziale Wahrnehmung, die Selbst- <strong>und</strong> Fremdwahrnehmung, wodurch sich<br />
ein Kind in andere Kinder hineinfühlen <strong>und</strong> sich vorstellen kann, dass diese anders denken, fühlen<br />
<strong>und</strong> handeln. Durch diese Fähigkeit der Perspektivenübernahme werden differenzierte soziale<br />
Verhaltensweisen möglich, wie zum Beispiel Empathie (vgl. Largo, 2002, S. 77 ff.). Gerade durch<br />
das Erleben von Empathie werden günstige Voraussetzungen geschaffen für prosoziale Verhaltensweisen<br />
wie Geben <strong>und</strong> Nehmen, Trösten, Teilen <strong>und</strong> Abwechseln im Spiel (vgl. Mietzel, 2002,<br />
S. 246 f.).<br />
10
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
2.1.6 Die Entwicklung der Motorik<br />
«Die Motorik befähigt das Kind, sich gegen die Schwerkraft zu behaupten, sich fortzubewegen<br />
<strong>und</strong> auf seine Umwelt gezielt einzuwirken» (Largo, 2002, S.107). Ihre Entwicklung beginnt in der<br />
Frühschwangerschaft <strong>und</strong> dauert bis zur Adoleszenz. Ein Säugling weist verschiedene Reflexreaktionen<br />
auf, das heisst motorische Verhaltensweisen, die durch einen Reiz zuverlässig ausgelöst<br />
werden können <strong>und</strong> teilweise lebenswichtig sind. In diesem Alter fallen rhythmische <strong>und</strong> alternierende<br />
Arm- <strong>und</strong> Beinbewegungen auf <strong>und</strong> erste koordinierte Bewegungen der Hände. Am Ende<br />
des ersten Lebensjahres können sich die meisten Kinder auf irgendeine Art fortbewegen <strong>und</strong> haben<br />
auch bereits Greiffunktionen entwickelt. Im zweiten Lebensjahr erlernt das Kind das freie Gehen<br />
<strong>und</strong> ist gelegentlich so mit dieser neuen Erfahrung beschäftigt, dass es in anderen Entwicklungsbereichen<br />
nur noch kleine Fortschritte macht. In den weiteren Lebensjahren erprobt es ebenfalls neu<br />
erworbene motorische Fähigkeiten. Auch im Kindergartenalltag muss der kindliche Bewegungsdrang<br />
berücksichtigt werden, um erzieherischen Schwierigkeiten vorzubeugen. Bis ins Kindergartenalter<br />
hat sich die feinmotorische Geschicklichkeit so weit entwickelt, dass das Kind differenzierte<br />
Tätigkeiten wie Basteln <strong>und</strong> Zeichnen ausführen <strong>und</strong> dadurch wiederum seine Kompetenzen<br />
entwickeln <strong>und</strong> verfeinern kann (vgl. Largo, 2002, S.108). Aufgaben, die eine gut entwickelte Feinmotorik<br />
erfordern, sind meist anspruchsvoller als grosse Bewegungen, setzen sie doch oft Geduld,<br />
eine gut abgestimmte Kontrolle durch die Sinnesorgane <strong>und</strong> eine gewisse Konzentrationsfähigkeit<br />
voraus (vgl. Mietzel, 2002, S. 224).<br />
2.1.7 Folgerungen für den Unterricht im Kindergartenalter<br />
Es stellt sich nun die Frage, welche Erkenntnisse aus den in den vorangehenden Abschnitten<br />
dargestellten Entwicklungspsychologie für den Unterricht im Kindergarten gewonnen werden<br />
können. Eine kindorientierte Erziehung richtet sich nach den altersspezifischen Bedürfnissen<br />
der Kinder <strong>und</strong> lässt sich von den Gesetzmässigkeiten der kindlichen Entwicklung leiten (vgl.<br />
Largo, 2002, S. 68).<br />
«Jede Altersstufe ist durch ein spezifisches Verhältnis zwischen der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit<br />
auf der einen <strong>und</strong> der geistigen Entwicklung des Kindes auf der anderen Seite gekennzeichnet»<br />
(Wygotsky, 1987, S. 255). Der Begriff «Unterricht» wird dabei sehr weit gefasst <strong>und</strong> bezieht auch<br />
das Sprechenlernen mit ein. Die Besonderheit des Unterrichts beim Kind bis drei Jahre besteht<br />
dabei darin, dass es nach seinem eigenen Programm lernt, was als spontaner Unterricht bezeichnet<br />
wird. Wenn das Kind später in der Schule von der Pädagogin unterrichtet wird, handelt es sich<br />
um reaktiven Unterricht, wobei oft der spezifische Anteil des eigenen Programms des Kindes relativ<br />
unbedeutend wird. Der Unterricht im Kindergartenalter nimmt nun eine Zwischenstellung ein<br />
<strong>und</strong> kann als spontan-reaktiver Unterricht bezeichnet werden. Das Kind lernt gewissermassen in<br />
11
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
Abhängigkeit davon, in welchem Masse das angebotene Programm zu seinem eigenen wird (vgl.<br />
Wygotsky, 1987, S. 256 ff.).<br />
In jeder Entwicklungsstufe müssen gewisse Eigenschaften bis zu einem bestimmten Grade ausgebildet<br />
sein, damit das Kind unterrichtet werden kann. Doch gerade die zum Zeitpunkt des Unterrichtes<br />
sich noch in Entwicklung befindlichen, noch nicht ausgereiften Prozesse beeinflussen den<br />
Erfolg der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit entscheidend (vgl. Wygotsky, 1987, S. 260 ff.). Im Alter<br />
bis zu drei Jahren wird das gesamte Bewusstsein durch die Wahrnehmungstätigkeit bestimmt. In<br />
dieser Phase ermöglicht das Wiedererkennen, das heisst die Wahrnehmung, ergänzt durch einen<br />
Gedächtnisakt, die Erinnerung. Das Kind kann nur Aufmerksamkeit aufbringen für etwas, was sich<br />
in seinem Wahrnehmungsfeld befindet, sein Denken ist unmittelbar <strong>und</strong> anschaulich. Im Kindergartenalter<br />
wird nun das Gedächtnis zum Zentrum des Bewusstseins <strong>und</strong> spielt eine führende Rolle<br />
im System seiner Funktionen, indem es das Sammeln <strong>und</strong> Verarbeiten unmittelbarer Erfahrungen<br />
ermöglicht. Dabei ändert sich das Denken vom Sichorientieren an den sichtbaren Verbindungen<br />
zum Zurechtfinden in allgemeinen Vorstellungen, das heisst in verallgemeinerten Erinnerungen.<br />
Es kommt also zu einer Loslösung vom rein anschaulichen Denken, das heisst das Kind wird fähig,<br />
«(...) den Gegenstand des Denkens aus der räumlich <strong>und</strong> zeitlich konkreten Situation, in die er<br />
integriert ist, herauszureissen» (Wygotsky, 1987, S. 262). Dies ermöglicht dem Kindergartenkind,<br />
Begriffe herauszubilden, denn diese sind Verallgemeinerungen <strong>und</strong> bewegen sich jeweils genau<br />
auf demjenigen Niveau, auf welchem sich die Kommunikation zwischen Kind <strong>und</strong> Umwelt bewegt.<br />
Diese Existenz von allgemeinen Vorstellungen ermöglicht eine erste Stufe abstrakten Denkens.<br />
Die Vorherrschaft des Gedächtnisses in dieser Entwicklungsstufe zeigt sich weiter darin, dass die<br />
Interessen des Kindes zunehmend nicht mehr allein durch die Situationen an sich determiniert<br />
werden, sondern durch die Bedeutung, die das Kind einer bestimmten Situation beimisst. Seine<br />
Verallgemeinerungen werden also affektiv gefärbt. Ausserdem geht das Kind in dieser Phase zu<br />
schöpferischen Tätigkeiten über, da es die Fähigkeit erlangt, eine Idee darzustellen <strong>und</strong> zwar ausgehend<br />
vom Gedanken bis zur Situation. Die Vorstellung, das Denken geht also der Handlung<br />
voraus. Diese Entwicklung wird in der Arbeit, in Zeichnungen <strong>und</strong> im kindlichen Spiel sichtbar.<br />
In diesem Alter wird auch die kindliche Weltanschauung angebahnt, es bilden sich allgemeine<br />
Vorstellungen von der Welt, von der Gesellschaft <strong>und</strong> von sich selbst heraus <strong>und</strong> es entstehen erste<br />
innere ethische Instanzen.<br />
Welche Bedingungen muss nun der Unterricht im Kindergartenalter erfüllen, um diesen Voraussetzungen<br />
Rechnung zu tragen? Einerseits muss das Kind zu einem bestimmten Ziel geführt werden,<br />
wobei der Lehrplan des Kindergartens in eine Einheit der allgemeinbildenden Arbeit während<br />
der ganzen Schulzeit eingeb<strong>und</strong>en ist. Andererseits muss das Programm auch zum Programm des<br />
Kindes werden, indem es den emotionalen Interessen des Kindes <strong>und</strong> den Besonderheiten seines<br />
12
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
mit allgemeinen Vorstellungen operierenden Denkens gerecht wird (vgl.Wygotsky, 1987, S. 263 ff.).<br />
Der Entwicklungspsychologe Wygotsky veranschaulicht dies am Beispiel eines sechsjährigen<br />
Mädchens: «Jetzt habe ich endlich herausgef<strong>und</strong>en, wie die Flüsse entstanden sind. Wahrscheinlich<br />
haben sich die Menschen einen Platz in der Nähe einer Brücke ausgesucht, dort einen Graben ausgehoben<br />
<strong>und</strong> ihn mit Wasser gefüllt» (Wygotsky, 1987, S. 268). In der Vorstellung des Mädchens<br />
waren also die Brücken das Bestimmende <strong>und</strong> die Flüsse wurden entsprechend geschaffen. Eine<br />
Aufgabe des Kindergartenunterrichtes ist es folglich, mit dem Kind eine verfeinerte Vorstellung<br />
des späteren Unterrichtsgegenstandes zu erarbeiten, das Lernen vorzubereiten <strong>und</strong> differenzierende<br />
Begriffe zu vermitteln. Die folgenden Ziele <strong>und</strong> Aufgaben der Kindergartenstufe werden im Lehrplan<br />
formuliert: Der Kindergarten soll den Kindern das Wissen vermitteln, das ihnen ermöglicht,<br />
die Welt zu verstehen <strong>und</strong> die persönlichen <strong>und</strong> gemeinsamen Ziele durch eigenständiges Handeln<br />
im sozialen Umfeld zu verwirklichen. Im Kindergarten sollen alle Kinder gleichwertige Zugänge<br />
zum Lernen <strong>und</strong> zur Bildung erhalten <strong>und</strong> Normen <strong>und</strong> Werte wie Rücksichtnahme, Sorge <strong>und</strong><br />
Achtung für andere Menschen, für Tiere <strong>und</strong> für die Umwelt kennenlernen. Ausserdem ist es<br />
Aufgabe des Kindergartens, die körperliche, geistige <strong>und</strong> psychische Entwicklung des Kindes zu<br />
unterstützen <strong>und</strong> für das Wohlergehen der Kinder zu sorgen (vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe<br />
des Kantons Zürich, 2008, S. 5). Für eine für den Kindergarten spezifische Didaktik ergibt<br />
sich dabei die folgende Gr<strong>und</strong>lage:<br />
Der deutschschweizerische Kindergarten hat den <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Erziehungsauftrag,<br />
die Kinder in ihrer Selbst-, Sozial- <strong>und</strong> Sachkompetenz zu fördern. Er bietet ihnen die<br />
Möglichkeit, ihre Erfahrungen <strong>und</strong> ihr Wissen, sowie ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten<br />
weiter zu entwickeln. Die Kinder festigen <strong>und</strong> differenzieren vorhandenes Wissen<br />
<strong>und</strong> Können, erkennen Sachverhalte <strong>und</strong> Gesetzmässigkeiten <strong>und</strong> eignen sich neue Fertigkeiten<br />
an. Der Unterricht knüpft an Erfahrungen <strong>und</strong> bereits erworbenem Wissen der<br />
Kinder an (Walter & Fasseing, 2002, S. 136).<br />
2.1.8 Die Zone der nächsten Entwicklung<br />
Um sich Klarheit zu verschaffen über das Verhältnis zwischen Entwicklung <strong>und</strong> Unterricht im<br />
Kindergartenalter, schlägt Wygotsky das Bild der «Zone der nächsten Entwicklung» vor: «Die<br />
Bestimmung des Entwicklungsniveaus <strong>und</strong> seines Verhältnisses zu den Unterrichtsmöglichkeiten<br />
ist also eine unumstössliche, gr<strong>und</strong>legende Tatsache, die unbestritten ist <strong>und</strong> von der wir ohne<br />
Weiteres ausgehen können» (Wygotsky, 1987, S. 298). Im Alltag wird üblicherweise zuerst einmal<br />
das Niveau der aktuellen Entwicklung eines Kindes ermittelt, welches durch die bereits abgeschlossenen<br />
Entwicklungszyklen entstanden ist, zum Beispiel durch Beobachtung oder durch<br />
einen Test. Da dieses «Niveau der aktuellen Entwicklung» den gegenwärtigen Entwicklungsstand<br />
nicht ausreichend widerspiegelt, hat Wygotsky den Begriff der «Zone der nächsten Entwicklung»<br />
eingeführt (vgl. Wygotsky, 1987, S. 299 ff.). Er weist darauf hin, dass sich die geistige Entwicklung<br />
13
2 Theoretische Konzeption 2.1 Die Psychologie der kindlichen Entwicklung im Kindergartenalter<br />
nicht nur durch selbständige Tätigkeiten messen lässt, sondern dass Kinder durch Nachahmung<br />
oder unter Anleitung viel mehr einsichtig zu leisten vermögen (vgl. ebd.). «Die Differenz zwischen<br />
dem Niveau, auf dem die Aufgaben unter Anleitung, unter Mithilfe der Erwachsenen gelöst werden,<br />
<strong>und</strong> dem Niveau, auf dem das Kind Aufgaben selbständig löst, macht die Zone der nächsten Entwicklung<br />
aus» (Wygotsky, 1987, S. 300). Gemeint sind damit also die Entwicklungsmöglichkeiten,<br />
die Dynamik der Entwicklung, die Prozesse, die im Werden <strong>und</strong> Reifen begriffen sind. Die alleinige<br />
Orientierung an bereits durchlaufenen Entwicklungsetappen hat sich vor allem im Unterricht<br />
mit geistig zurückgebliebenen Kindern als unzulänglich erwiesen, da die in Reifung begriffenen<br />
Entwicklungspotentiale dadurch im Keim erstickt wurden. Nach Wygotsky ist es ein wesentliches<br />
Merkmal von Unterricht, dass er Zonen der nächsten Entwicklung schafft, dass also beim Kind<br />
innere Entwicklungsprozesse ins Leben gerufen werden, die es zunächst nur in der Wechselwirkung<br />
mit der Umgebung meistern kann, die aber anschliessend eine innere Entwicklung erfahren <strong>und</strong><br />
zum inneren Besitz des Kindes werden. Die Entwicklungsprozesse folgen also den Unterrichtsprozessen,<br />
wobei letztere die Zone der nächsten Entwicklung schaffen <strong>und</strong> in einer komplizierten,<br />
dynamischen Beziehung zu den Entwicklungsprozessen stehen (vgl. Wygotsky, 1987, S. 301ff.).<br />
2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept<br />
Im folgenden Abschnitt wird der Begriff des Konstruktivismus als Leitbegriff eines Paradigmas des<br />
Lernens <strong>und</strong> der Erkenntnis erklärt <strong>und</strong> in Bezug zu den <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> gebracht.<br />
Die Gr<strong>und</strong>haltung zu Lernen <strong>und</strong> Bildung im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> basiert<br />
auf einem konstruktivistischen Konzept.<br />
Konstruktivismus wird als eine Erkenntnistheorie verstanden, diese wiederum ist eine Teildisziplin<br />
der Philosophie. Über erkenntnistheoretische Fragestellungen wurde schon im alten Griechenland<br />
nachgedacht <strong>und</strong> philosophiert. Die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es, den Ursprung,<br />
die Gewissheit <strong>und</strong> den Umfang der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen.<br />
Der Konstruktivismus ist kein fertiges, klar definiertes Theoriegebäude, sondern ein lebendiges<br />
philosophisches, erkenntnistheoretisches Konstrukt, mit verschiedenen Richtungen. Einige zentrale<br />
Gr<strong>und</strong>annahmen werden im Folgenden erläutert, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.<br />
·· Jedes Lebewesen steht in einem ständigen Energieaustausch mit seiner Umgebung. Wissensoder<br />
Informationsaustausch zwischen der Umgebung <strong>und</strong> dem Lebewesen finden jedoch<br />
keine statt. Jedes Lebewesen ist ein «geschlossenes System», das Gehirn ist also nicht nach<br />
aussen gerichtet, sondern deutet <strong>und</strong> bewertet die neuronalen Signale nach Kriterien,<br />
die es selber entwickelt hat.<br />
14
2 Theoretische Konzeption 2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept<br />
·· Im Konstruktivismus wird davon ausgegangen, dass Erkenntnisse <strong>und</strong> Wissen über eine<br />
Sache nicht unmittelbar mit Hilfe der Wahrnehmung, sondern vielmehr durch eigenes<br />
Handeln aufgebaut werden.<br />
·· Lebende Systeme organisieren sich also selbst die kognitiven Strukturen <strong>und</strong> können<br />
sich gr<strong>und</strong>sätzlich nur auf die eigenen Zustände beziehen. Konstruktivisten reden dann von<br />
«selbstorganisiert <strong>und</strong> selbstreferenziell».<br />
·· Die Selbstorganisation verläuft keinesfalls zufällig oder beliebig, sondern wird durch die<br />
eigenen Strukturen des Lebewesens, die biologisch gegeben sind, oder lebensgeschichtlich<br />
entwickelt wurden, bestimmt. Die eigenen inneren Strukturen bestimmen, was <strong>und</strong> wie<br />
jemand die «äussere»Welt wahrnimmt.<br />
·· Die konkrete Ausformung der Selbstorganisation erfolgt nach dem Prinzip der Funktionalität.<br />
Lebewesen wählen natürlicherweise Verhaltensweisen aus, die ihr eigenes Überleben<br />
sichern. Dies gilt auch für die Kognition. Ideen, Theorien <strong>und</strong> Konzepte erweisen sich<br />
dann als funktional, wenn sie nicht in Widerspruch zu unserer Wahrnehmung der Welt,<br />
das heisst zu unserer Wirklichkeitskonstruktion geraten <strong>und</strong> deshalb das mentale Gleichgewicht<br />
nicht gefährden.<br />
·· Durch unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen der einzelnen Lebewesen ist die<br />
Verständigung untereinander einmal besser, einmal weniger gut. Trotzdem ist es erstaunlich,<br />
dass es doch häufig ähnliche Erlebniswelten gibt. Zum einen determiniert die Ähnlichkeit<br />
der Strukturen von Menschen ähnliche Wirklichkeitskonstruktionen, besonders dann,<br />
wenn sie in ähnlicher Umgebung leben. Zum anderen kann das kognitive Konstrukt anderer<br />
Lebewesen zu unserem eigenen Wirklichkeitskonstrukt dazu genommen werden, dies<br />
geschieht von Geburt her. Sie ist die Basis intersubjektiver Verständigung, durch die Lebewesen<br />
erfahren, dass Wissen oder eine Fähigkeit, die sie als viabel, passend, erfahren haben,<br />
sich auch für andere in ähnlicher Weise als viabel erwiesen haben.<br />
·· Die Gr<strong>und</strong>haltung des Konstruktivismus ist, dass nie ein bestimmter Weg, eine bestimmte<br />
Lösung eines Problems oder eine bestimmte Vorstellung von einem Sachverhalt als richtig<br />
<strong>und</strong> wahr bezeichnet werden kann. Jank & Meyer (1991) umschreiben dies in einer These<br />
wie folgt: «Es gibt kein Wissen, das hochwertiger als anderes Wissen wäre, sondern nur<br />
verschiedene viable Möglichkeiten der Weltanschauung» (S. 292).<br />
(vgl. Jank & Meyer,1991, S. 289 ff.)<br />
Diese Gr<strong>und</strong>annahmen haben nun auch einen Einfluss auf das Verständnis von Lernprozessen.<br />
Lernen ist nach konstruktivistischer Auffassung kein empirischer Abbildungsprozess. Gegenstände<br />
werden nicht einfach durch Wahrnehmung registriert oder einfach durch Mitteilungen von<br />
«aussen» übernommen. Die Auseinandersetzung mit der «Aussenwelt» erfolgt immer im inter-<br />
15
2 Theoretische Konzeption 2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept<br />
aktiven Kontext. Jedes Wissen baut auf früher erworbenem Wissen auf, restrukturiert, erweitert<br />
<strong>und</strong> differenziert es. Wissen ist so nie abgeschlossen, sondern ist in einem dynamischen Fluss<br />
(vgl. Reusser, 2006, S.155). Die durch eigenständiges Problemlösen aufgebauten Wissensstrukturen<br />
lassen sich am besten auf neue Situationen übertragen, da diese selber als mentale Modelle aufgebaut<br />
wurden <strong>und</strong> bei neuen Sachverhalten weiterentwickelt <strong>und</strong> vernetzt werden können. Largo<br />
(2009) spricht in seinem Buch «Schülerjahre» von selbstbestimmtem Lernen: «Selbstbestimmtes<br />
Lernen heisst, dass das Kind aktiv <strong>und</strong> selektiv Lernerfahrungen machen kann. Nur so kann es<br />
das frisch Gelernte mit seinem bestehenden Wissen vernetzen» (S. 63). Folglich ist Wissen kein<br />
übertragbares Gut <strong>und</strong> Kommunikation kann nicht eins zu eins dieses Wissen zu den Lernenden<br />
bringen. Alle Konstruktionsschritte müssen auf angebotenen oder selbstgef<strong>und</strong>enen Wegen<br />
individuell <strong>und</strong> in sozialen Bezügen von den Lernenden selber ausgeführt werden, damit Lernen<br />
nachhaltig wird (vgl. Reusser, 2006, S. 154).<br />
Das Gedankengut des Konstruktivismus hat auch Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichts.<br />
Nachfolgend werden sieben Merkmale aufgeführt, die in ganz allgemeiner Form den Konstruktivismus<br />
im Unterricht umschreiben, wie Dubs (1997) es darlegt:<br />
·· Der Unterricht orientiert sich an komplexen, lebensnahen <strong>und</strong> ganzheitlich zu betrachtenden<br />
Problembereichen. Das Ganze wird nicht in Teilprobleme aufgegliedert <strong>und</strong> bearbeitet,<br />
sondern in einem komplexen Gesamtzusammenhang betrachtet. Im Unterricht werden<br />
deshalb nicht bestimmte Lerninhalte durch die Lehrkräfte strukturiert, sondern es werden<br />
komplexe Lernumgebungen gestaltet, in denen die Lernenden ihre individuellen Erfahrungen<br />
machen können.<br />
·· Lernen wird als aktiver Prozess verstanden. Das individuelle Wissen <strong>und</strong> Können wird<br />
durch neue Erfahrungen verändert <strong>und</strong> auf die eigene Interpretation <strong>und</strong> das eigene Verstehen<br />
ausgerichtet. Dadurch wird anspruchsvolles Denken erst möglich, weil das dazu<br />
notwendige Wissen im Kontext des individuellen Vorwissens <strong>und</strong> der eigenen Erfahrung so<br />
neu konstruiert wird.<br />
·· Das kollektive Lernen hat bei diesen Lernprozessen eine grosse Bedeutung. Durch den Austausch<br />
der individuellen Interpretation einer komplexen Lernsituation, durch die Diskussion<br />
mit anderen wird es möglich, die eigene Interpretation <strong>und</strong> Sinngebung zu überdenken<br />
oder gewonnene Erkenntnisse anders zu strukturieren. So ist es möglich, dass die Lernenden<br />
ihr eigenes Lernen regulieren <strong>und</strong> in Gang halten.<br />
·· Bei dem erwähnten selbstregulierten Lernen sind Fehler bedeutsam, da die Auseinandersetzung<br />
mit Fehlerüberlegungen in der Diskussion mit anderen Lernenden oder Lehrenden<br />
verständnisfördernd wirkt <strong>und</strong> zu einer besseren Konstruktion von verstandenem Wissen<br />
führt.<br />
16
2 Theoretische Konzeption 2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept<br />
·· Wichtig ist, die komplexen Lernbereiche auf die Vorerfahrung <strong>und</strong> auch auf die Interessen<br />
der Lernenden auszurichten, denn Lerninhalte werden dann zu einer Herausforderung,<br />
wenn sie auf den realen Erfahrungsschatz <strong>und</strong> auf die individuellen Interessen der Lernenden<br />
ausgerichtet sind.<br />
·· Der Konstruktivismus beschränkt sich nicht nur auf die kognitiven Bereiche des Lernens.<br />
Die persönliche Identifikation mit den Lerninhalten, wie auch Gefühle, Umgang mit<br />
Ängsten <strong>und</strong> Freuden sind bedeutsam, denn der Umgang mit Fehlern in komplexen Lernsituationen<br />
<strong>und</strong> das kooperative Lernen, die Selbststeuerung bei den Lernprozessen <strong>und</strong><br />
das Miteinbeziehen der Eigenerfahrung verlangen mehr als nur Rationalität.<br />
·· Im Konstruktivismus wird die eigene Wissenskonstruktion <strong>und</strong> nicht Wissensproduktion<br />
angestrebt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollte die Evaluation des Lernerfolgs nicht primär auf Lernprodukte<br />
mit ausschliesslich richtigen <strong>und</strong> falschen Lösungen ausgerichtet werden, sondern<br />
die Fortschritte in den komplexen Lernprozessen sollten überprüft werden. Dazu eignet<br />
sich die Selbstevaluation hervorragend, mit welcher die individuellen Lernfortschritte <strong>und</strong><br />
damit die Verbesserung der eigenen Lernstrategien reflektiert werden können.<br />
(vgl. Dubs, S. 26 ff.).<br />
Wie eingangs erwähnt basiert das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> auf einer konstruktivistischen<br />
Gr<strong>und</strong>ansicht. Diese prägt das Verständnis von Bildung <strong>und</strong> Lernen bei Kindern im<br />
frühen Alter von null bis sechs Jahren stark. Bildung wird hier vor allem als ein eigenständiger,<br />
vom Menschen selbst organisierter Vorgang verstanden, indem Menschen sich die Umwelt aktiv<br />
aneignen <strong>und</strong> dabei über Kompetenzen, über den Erwerb von Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Denkmustern,<br />
über eigene Einstellungen ihre gesamte Person weiterentwickeln (vgl. Leu, Flämig, Frankenstein,<br />
Koch, Pack, Schneider <strong>und</strong> Schweizer, 2009, S. 36). Schäfer (2007) verdeutlicht, dass es bei <strong>Bildungs</strong>prozessen<br />
um das Erschliessen des Symbolgehaltes kindlicher Lebensäusserungen geht. Er versteht<br />
Lernen nicht als Rezeption <strong>und</strong> Speicherung von Informationen, sondern als Sinngebungsarbeit<br />
des Kindes. Diese Arbeit <strong>und</strong> die Bedeutungserschliessung finden im selbständigen Handeln seinen<br />
Ausdruck. Jedes Individuum hat seinen eigenen <strong>Bildungs</strong>prozess <strong>und</strong> bildet mit dem Austausch zur<br />
belebten oder unbelebten Umwelt seine individuellen Strukturen. Der Lernende entwickelt sich,<br />
reflektiert, trifft Entscheide, leitet Veränderungen ein <strong>und</strong> gestaltet aktiv das gesellschaftliche Leben<br />
mit. Das Individuum bildet sich selbst, im Austausch mit der Umwelt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollte<br />
sich Bildung an den Bedürfnissen der Kinder orientieren (vgl. Neuss, 2007, S. 30 f.). «Frühkindliche<br />
Bildung darf daher, wenn sie effektiv sein will, nicht nur die Anforderungen der Gesellschaft oder<br />
Schule an das Kind berücksichtigen, sondern muss sich zunächst am Kind <strong>und</strong> seiner Tätigkeit<br />
orientieren» (Schäfer, zit. nach Neuss, 2007, S. 31). In den Tätigkeiten sieht Schäfer die Form<br />
der eigenen Weltaneignung, die dem Kind hilft, sich <strong>und</strong> die Welt zu erfassen <strong>und</strong> Selbstbildung<br />
voranzutreiben (vgl. Neuss, 2007, S. 31). Der <strong>Bildungs</strong>begriff hat einen umfassenden Anspruch.<br />
Das Lernen wird demgegenüber mehr auf das Individuum <strong>und</strong> seine kognitiven Vorgänge bezogen.<br />
17
2 Theoretische Konzeption 2.2 Der Konstruktivismus als didaktisches Konzept<br />
Lernen ist demnach ein Vorgang, ohne den der Mensch nicht zur Bildung gelangen kann (vgl. Leu<br />
et al., 2007, S. 36).<br />
Beim Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wird neben der konstruktivistischen auch eine<br />
soziokulturelle Sichtweise auf das Lernen des Kindes berücksichtigt. Demnach ist Lernen kein<br />
isolierter, abgrenzbarer Vorgang, sondern ist immer in Situationen eingebettet. Beziehungen <strong>und</strong><br />
Interaktionen des Kindes mit anderen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen sind Voraussetzung für das Lernen.<br />
Margret Carr versteht Lernen als das zunehmende Beteiligtsein an sozialen Aktivitäten. Der Ansatz<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zielt darauf, Lernende in der Welt immer mehr handlungsfähig<br />
werden zu lassen, damit sie mit Veränderungen <strong>und</strong> Unterschieden zurechtkommen, Lust<br />
<strong>und</strong> Mut haben, Schwierigkeiten anzugehen, Verantwortung zu übernehmen <strong>und</strong> Beziehungen<br />
zu anderen Menschen aufzubauen <strong>und</strong> so ihre Selbstwirksamkeit erleben können. Dem Kind sollen<br />
zunehmend differenziertere <strong>und</strong> komplexere Handlungs- <strong>und</strong> Orientierungsmuster ermöglicht<br />
werden, damit es sich immer mehr seine Umwelt aneignen kann. Der Ansatz fördert zum einen<br />
die persönlichen Fähigkeiten <strong>und</strong> Eigenschaften <strong>und</strong> zum anderen die Beziehungen des Kindes<br />
zu seiner Umwelt, zu den anderen Menschen <strong>und</strong> zu den Dingen. In diesem Sinne wird beim Verfahren<br />
keine scharfe Abgrenzung der Begriffe Bildung <strong>und</strong> Lernen gemacht. Vielmehr wird Bildung<br />
<strong>und</strong> Lernen als ganzheitlicher lebenslanger Prozess verstanden mit einem hohen Eigenanteil des<br />
Lernenden bei diesem Selbstbildungsprozess (vgl. Leu et al., 2007, S. 37 ff.).<br />
Kinder lernen die Welt durch gemeinsame Aktivitäten mit Anderen schrittweise kennen<br />
<strong>und</strong> zu verstehen. (...) Je grösser die Teilnahme an Aktivitäten <strong>und</strong> Interaktionen des<br />
Kindes, desto umfangreicher werden sein Verständnis <strong>und</strong> Wissen. Es handelt sich dabei<br />
nicht um einen einseitigen Prozess vom Erwachsenen zum Kind, sondern um eine<br />
wechselseitige Partnerschaft, in der Erwachsene <strong>und</strong> Kinder gemeinsam Verständnis <strong>und</strong><br />
Wissen konstruieren. Das soziokulturelle System, in dem Kinder lernen, ist der wichtigste<br />
Qualitätsaspekt in der Frühpädagogik. (Smith, zit. nach Leu et al., 2007, S. 37).<br />
2.3 Das Erleben von Selbstwirksamkeit als Teil des Lernprozesses<br />
In diesem Abschnitt wird zuerst der Begriff «Selbstwirksamkeit» genauer umschrieben, damit<br />
nachher ein Bezug zum Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> gemacht werden kann.<br />
Der Begriff Selbstwirksamkeit wurde in den 70er-Jahren von Professor Albert Bandura, einem<br />
Professor für Social Science in Psychology an der Stanford-Universität in Kalifornien geprägt.<br />
Selbstwirksam ist jemand, wenn er selber, selbstständig etwas tut, selber handeln kann. Bandura<br />
18
2 Theoretische Konzeption 2.3 Das Erleben von Selbstwirksamkeit als Teil des Lernprozesses<br />
definiert das wie folgt: «Wahrgenommene Selbstwirksamkeit bezieht sich auf die Überzeugung<br />
über diejenigen Fähigkeiten, die man benötigt, um eine bestimmte Handlung zu organisieren <strong>und</strong><br />
auszuführen, um damit bestimmte Ziele zu erreichen» (Bandura, zit. nach Schmitz, 2007, S. 23).<br />
Es geht Bandura um die Befähigung des Menschen zur Gestaltung seiner persönlichen Lebensumstände<br />
<strong>und</strong> um den Ausbau <strong>und</strong> die Erweiterung der eigenen Kompetenzen <strong>und</strong> persönlichen<br />
Ressourcen, damit Erfolg erst möglich wird. Gleichzeitig soll der Mensch an seine Gestaltungsmöglichkeiten<br />
glauben, denn je mehr er die von ihm beeinflussbaren Aspekte des Lebens aktiv mitgestaltet,<br />
desto mehr fühlt er sich als Gestalter seiner eigenen Zukunft <strong>und</strong> ist dadurch motiviert,<br />
sich einzusetzen (vgl. Schachinger, 2005, S. 174 f.). Selbstwirksamkeits-Erwartungen gehen dem<br />
Gefühl von Selbstwirksamkeit voraus, denn die Erwartungen sind eine subjektive Meinung über<br />
die eigenen Fähigkeiten. Es geht dabei nicht um individuelle Fähigkeiten in einem messbaren Sinn,<br />
sondern vielmehr darum, was jemand glaubt, in einer gewissen Situation tun zu können. Die Selbstwirksamkeits-Erwartungen<br />
sind nicht im eigentlichen Sinne stabile Persönlichkeitseigenschaften,<br />
sondern variieren innerhalb der jeweiligen Begleitumstände, Aktivitätsbereiche <strong>und</strong> Schwierigkeitsniveaus<br />
(vgl. Schachinger, 2005, S.175). Der Aufbau von Selbstwirksamkeits-Erwartungen kann<br />
durch eigenes, aktives Handeln gefördert werden. Bei Bandura gelten Erfolge, die Bewältigung<br />
schwieriger Aufgaben <strong>und</strong> das Erreichen anspruchsvoller Ziele aus eigener Kraft als Basis für eine<br />
widerstandsfähige Überzeugung der eigenen Selbstwirksamkeit. Weiter sind auch stellvertretende<br />
Erfahrungen, das heisst Modell- <strong>und</strong> Beobachtungslernen förderlich. Die Beobachtung, dass eine<br />
Person in einer bestimmten schwierigen Situation Lösungen findet, erhöht auch den Glauben an<br />
die eigene Selbstwirksamkeit. Von zentraler Bedeutung ist auch der ermutigende Dialog zwischen<br />
Menschen. Eine verbale Mitteilung, die klar macht, dass an die Fähigkeiten des Gegenübers geglaubt<br />
wird, kann zu einer Stärkung der Selbstwirksamkeits-Erwartung führen (vgl. Schmitz, 2007, S. 29).<br />
Dieser Glaube an die eigenen Fähigkeiten, also ein starker Selbstwirksamkeits-Glaube (siehe Tabelle1)<br />
zeigt sich auch in einer aktiven, lern- <strong>und</strong> entwicklungsorientierten Gr<strong>und</strong>haltung, die Aufgabenorientierung<br />
<strong>und</strong> strategisches, lösungsorientiertes Denken auch in schwierigen Situationen fördert<br />
<strong>und</strong> ermöglicht, dass auch neue Herausforderungen mit Mut <strong>und</strong> Zuversicht in Angriff genommen<br />
werden (vgl. Schachinger, 2007, S.176). Solche Fähigkeiten sind auch für eine ges<strong>und</strong>e Entwicklung<br />
von Kindern im Kindergarten oder in der Schule von grosser Bedeutung. Carina Fuchs verwendete<br />
in ihrem Buch «Selbstwirksames Lernen im schulischen Kontext» (2005) den Begriff «Selbstwirksames<br />
Lernen», der durch die Synthese von «Selbstwirksamkeit» <strong>und</strong> «Lernen» entstanden<br />
ist. Ihre Definition dazu lautet: «Selbstwirksames Lernen bezeichnet ein individuell sinn- <strong>und</strong><br />
bedeutungsvolles Lernen, das sich auszeichnet durch das bewusste, selbst verursachte Gelingen eines<br />
herausfordernden Lernvorhabens» (Fuchs, S. 91). In ihrem Abschlusskapitel listet sie wichtige<br />
Kennzeichen für das selbstwirksame Lernen auf:<br />
·· hohe Selbstverantwortung beim Lernen<br />
·· individuelle Kompetenzentwicklung angehen mit Hilfe von Kompetenzrastern<br />
19
2 Theoretische Konzeption 2.3 Das Erleben von Selbstwirksamkeit als Teil des Lernprozesses<br />
·· verstehendes, intrinsisch motiviertes Lernen<br />
·· selbst verursachte Erfolgserlebnisse<br />
·· erarbeiten von Kompetenzrastern im Dialog mit den Beteiligten<br />
(vgl. Fuchs, 2005, S. 91)<br />
Diese Punkte sind auch beim Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> von zentraler Bedeutung,<br />
wie sich bei näherer Betrachtung zeigt.<br />
Leu (2007) umschreibt es so, dass die Motivation eines Kindes zu lernen, zu entdecken <strong>und</strong> zu<br />
forschen eine Gr<strong>und</strong>voraussetzung für das Voranschreiten in seinen individuellen Lernprozessen ist.<br />
Jedes Kind bringt diese Gr<strong>und</strong>voraussetzung, diese Motivation von sich aus mit. Es zeigt von Natur<br />
aus Selbstverantwortung <strong>und</strong> Motivation für sein Lernen. Um dies aufrechtzuerhalten oder zu<br />
aktivieren, bedarf es Menschen, die sich interessiert dem Kind zuwenden, es braucht Räumlichkeiten<br />
<strong>und</strong> Materialien, die das Interesse des Kindes wecken. Daraus entsteht Aktivität <strong>und</strong> engagiert sein,<br />
das Kind nimmt Kontakt zu anderen Kindern, zu Dingen <strong>und</strong> zu Erwachsenen auf, entwickelt<br />
eigene Ideen <strong>und</strong> versucht, diese in den Alltag umzusetzen (vgl. S. 100). Das Kind spürt dadurch<br />
die eigene Selbstwirksamkeit <strong>und</strong> wird in seinem Selbstwert gestärkt. Es entwickelt eine subjektive<br />
Überzeugung, aus eigener Kraft <strong>und</strong> eigenem Vermögen bestimmte Ergebnisse bewirken zu können<br />
(vgl. Schachinger, 2005, S. 175).<br />
Der ressourcenorientierte Ansatz des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> geht von der<br />
Verschiedenartigkeit der Kinder aus <strong>und</strong> zielt auf die Stärkung der individuellen Interessen <strong>und</strong><br />
Fähigkeiten eines jeden Kindes hin. Die Lehrperson lernt die Fähigkeiten eines Kindes durch die<br />
intensive Beobachtung besser kennen <strong>und</strong> kann auf Gr<strong>und</strong> der Analyse anhand der Lerndispositionen<br />
individuell auf die Interessen <strong>und</strong> Lernfortschritte des Kindes eingehen. Gerade die Lerndispositionen<br />
«interessiert sein», «engagiert sein» <strong>und</strong> «standhalten bei Anforderungen» umschreiben,<br />
wie stark der Selbstwirksamkeits-Glauben bei einem Kind ausgebildet ist (siehe Tabelle 1 <strong>und</strong><br />
Abschnitt 2.6.2, die Analyse nach Lerndispositionen). Durch den intensiven Dialog ermutigt die<br />
Lehrkraft das Kind <strong>und</strong> findet gemeinsam mit ihm die nächsten Entwicklungsschritte. Das Kind<br />
kann eigene Ideen entwickeln, trägt Verantwortung für sein Lernen, ist motiviert <strong>und</strong> engagiert<br />
sich. Gleichzeitig lernt es, durch die Reflexion im Gespräch mit der Lehrperson seine Stärken <strong>und</strong><br />
Grenzen einschätzen. Die Selbstwahrnehmung der Kinder wird durch die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
positiv beeinflusst, da sich die Lernenden in vielen Bereichen durch die ressourcenorientierte<br />
Sichtweise als kompetent erfahren <strong>und</strong> Einfluss haben auf ihre Entwicklungsschritte <strong>und</strong><br />
auf ihr Lernen (vgl. Mohr & Wustmann, 2010, S. 21). So wird das Gefühl von Selbstwirksamkeit<br />
gefördert <strong>und</strong> Kinder können neue Aufgaben mit Mut <strong>und</strong> Zuversicht anpacken. «Kinder zeigen<br />
20
2 Theoretische Konzeption 2.3 Das Erleben von Selbstwirksamkeit als Teil des Lernprozesses<br />
explorierendes Verhalten, probieren Neues aus oder gehen an die Grenzen dessen, was sie können.<br />
Besonders gut können Kinder bei Herausforderungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten standhalten, wenn<br />
die Situation <strong>und</strong> Interaktion bestätigend gestaltet ist, so dass Fehler oder Schwierigkeiten als Teil<br />
des Lernprozesses gelten <strong>und</strong> explorierendes Verhalten unterstützt wird» (Leu et al., 2007, S. 52).<br />
Starker Selbstwirksamkeits-Glaube Schwacher Selbstwirksamkeits-Glaube<br />
·· Aktive, lern- <strong>und</strong> entwicklungsorientierte<br />
Gr<strong>und</strong>haltung («ich kann das lernen,<br />
ich schaffe das»).<br />
·· Zugr<strong>und</strong>eliegende Überzeugung:<br />
Fähigkeiten sind keine angeborenen,<br />
unveränderlichenTalente, sondern erlernbare<br />
Fähigkeiten.<br />
·· Schwierige Aufgaben werden als Herausforderungen<br />
gesehen, grosses Interesse<br />
<strong>und</strong> Engagement werden gezeigt.<br />
·· Setzung anspruchsvoller Ziele, denen<br />
man sich verpflichtet fühlt.<br />
·· Kein vorschnelles Aufgeben bei Hindernissen<br />
<strong>und</strong> Schwierigkeiten, sondern<br />
Anstrengungserhöhung.<br />
·· Aufgabenorientierung <strong>und</strong> strategisches,<br />
lösungsorientiertes Denken, auch bei<br />
Schwierigkeiten.<br />
·· Fehler bilden einen natürlichen Bestandteil<br />
jedes Lernprozesses, Motto: «Aus<br />
Fehlern lernen <strong>und</strong> es das nächste Mal<br />
besser machen».<br />
·· Versagen wird auf unzureichende Anstrengung<br />
zurückgeführt, Sinn für<br />
Selbstwirksamkeit stellt sich nach der<br />
Niederlage rasch wieder ein.<br />
·· Neue Aufgaben werden mit Mut <strong>und</strong><br />
Zuversicht in Angriff genommen.<br />
21<br />
·· Passive, hilflose <strong>und</strong> resignative Haltung<br />
(«da kann man nichts machen, dafür bin<br />
ich zu dumm»).<br />
·· Zugr<strong>und</strong>eliegende Überzeugung:<br />
Fähigkeiten sind angeboren <strong>und</strong> unveränderbar,<br />
Versagen <strong>und</strong> Fehler werden auf<br />
fehlende Begabung zurückgeführt,<br />
Lernen <strong>und</strong> Kompetenzaufbau hat daher<br />
keinen Sinn.<br />
·· Man scheut vor schwierigen Aufgaben<br />
zurück, bei Misserfolg Verlust des Interesses<br />
an der Aufgabe.<br />
·· Einmal gesetzten Zielen fühlt man sich<br />
nur wenig verpflichtet.<br />
·· Rasches Aufgeben bei Hindernissen <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten, wenig Ausdauer <strong>und</strong><br />
Anstrengungsbereitschaft.<br />
·· In Prüfungssituationen Konzentration<br />
auf persönliche Defizite <strong>und</strong> mögliche<br />
negative Konsequenzen bei Versagen.<br />
·· Fehler <strong>und</strong> Misserfolg bedeuten, dass<br />
man ein Versager, eine Versagerin ist <strong>und</strong><br />
werden nur schwer <strong>und</strong> erst nach längerer<br />
Zeit weggesteckt.<br />
·· Vermeidungsverhalten unterwandert<br />
den effektiven Einsatz von Bewältigungsstrategien<br />
<strong>und</strong> blockiert den Erwerb <strong>und</strong><br />
Ausbau von Kompetenzen<br />
·· Neue Aufgaben werden aus Angst vor<br />
Versagen nicht in Angriff genommen.<br />
Tabelle 1 Merkmale von starkem vs. schwachem Selbstwirksamkeits-Glauben (in Schachinger, 2007, S. 176).
2 Theoretische Konzeption<br />
2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
Auf der Basis von entwicklungspsychologischen Erkenntnissen <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage des<br />
Konstruktivismus entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine speziell auf den Kindergarten<br />
zugeschnittene Didaktik mit verschiedenen Lehr- <strong>und</strong> Lernformen, welche mit dem Lehrplan<br />
für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, erschienen im Jahre 2008, ausdifferenziert <strong>und</strong> als<br />
verbindlich erklärt wurde. Diese Aspekte werden in den folgenden Abschnitten dargestellt.<br />
2.4.1 Der Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich<br />
«Der Lehrplan ist ein Referenzrahmen für die Diskussion <strong>und</strong> Kommunikation über Bildung,<br />
Erziehung <strong>und</strong> Betreuung der Kinder auf dieser Stufe des Schulsystems» (Lehrplan für die Kindergartenstufe<br />
des Kantons Zürich, 2008, S. 3). Er unterstützt das Recht auf bestmögliche Bildung<br />
des Kindes, bildet die verbindliche Gr<strong>und</strong>lage für die Arbeit im Kindergarten <strong>und</strong> ermöglicht den<br />
Lehrpersonen gleichzeitig eine Orientierung bei der Gestaltung der <strong>Bildungs</strong>prozesse im Kindergarten.<br />
Er ist auch Gr<strong>und</strong>lage für ergänzende Arbeitsmaterialien. Darüber hinaus informiert er<br />
Eltern <strong>und</strong> weitere am <strong>Bildungs</strong>geschehen interessierte Personen über die gr<strong>und</strong>sätzliche Ausrichtung<br />
der Bildung, Erziehung <strong>und</strong> Betreuung auf der Kindergartenstufe (vgl. ebd.).<br />
Im Lehrplan werden vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten von <strong>Bildungs</strong>prozessen vorgestellt.<br />
«Ziel des Kindergartens ist es, durch angemessene Gestaltung der <strong>Bildungs</strong>prozesse Spiel- <strong>und</strong><br />
Lernmöglichkeiten zu schaffen, die den Kindern Gelegenheit bieten, für sich selber oder im<br />
Austausch mit anderen selbständig <strong>und</strong> kompetent zu handeln» (Lehrplan für die Kindergartenstufe<br />
des Kantons Zürich, 2008, S. 14). Neben Lern- <strong>und</strong> Unterrichtsformen wird auch auf die<br />
Gestaltung von Abläufen hingewiesen. Dazu gehören die Rhythmisierung, also die Strukturierung<br />
des Tages in feste, übersichtliche Blöcke <strong>und</strong> die Rituale, eine methodische Form um Übergänge<br />
<strong>und</strong> periodisch wiederkehrende Ereignisse zu gestalten. Eine zentrale Aufgabe der Pädagogin im<br />
Kindergarten ist gemäss Lehrplan für die Kindergartenstufe die Beobachtung, die auch immer mit<br />
einer Beurteilung, das heisst einer Einschätzung des Entwicklungsstandes verb<strong>und</strong>en ist. Diese ist<br />
die Gr<strong>und</strong>lage für eine gezielte, ressourcenorientierte Planung <strong>und</strong> Förderung <strong>und</strong> ein Mittel zur<br />
Orientierung über den Erfolg von pädagogischen Massnahmen. Im Lehrplan wird betont, dass die<br />
Beobachtungen <strong>und</strong> Einschätzungen dem Kind <strong>und</strong> seinen Eltern gegenüber offengelegt werden<br />
sollen, wofür eine Lernbiografie/Lerngeschichte hilfreich ist. Diese zeigt auf, wie sich die Kompetenzen<br />
des Kindes entwickeln <strong>und</strong> umfasst Aufzeichnungen von besonderen Ereignissen auf dem<br />
Lernweg eines Kindes wie das erstmalige Schreiben des eigenen Namens oder die Freude an der<br />
Lösung einer anspruchsvollen Aufgabe. Die Aufzeichnungen dienen der Lehrperson zur Orientierung<br />
im eigenen pädagogischen Handeln <strong>und</strong> sind Gr<strong>und</strong>lage für Elterngespräche <strong>und</strong> für die<br />
Beurteilung der Notwendigkeit von Fördermassnahmen. Bei der Beobachtung <strong>und</strong> Aufzeichnung<br />
22
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
von Lernbiografien/<strong>Lerngeschichten</strong> wird neben dem Erwerb von Wissen <strong>und</strong> Können auch auf<br />
Lerndispositionen geachtet. Damit sind situationsbezogene Lernstrategien <strong>und</strong> Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
die Motivation, etwas zu können <strong>und</strong> zu wissen, gemeint. Es ist die Bereitschaft, sich auf das Lernen<br />
einzulassen. Die folgenden fünf Lerndispositionen finden dabei Beachtung. Sie entsprechen den<br />
Lerndispositionen, wie sie von M. Carr im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> formuliert<br />
wurden.<br />
·· Fragen stellen, interessiert sein <strong>und</strong> Neues erfahren wollen<br />
·· engagiert sein, sich einer Sache widmen<br />
·· standhalten bei Herausforderungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />
·· sich ausdrücken <strong>und</strong> mitteilen<br />
·· an der Gemeinschaft partizipieren <strong>und</strong> Verantwortung übernehmen<br />
(vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S.16 f.).<br />
Auf der Kindergartenstufe richten sich die <strong>Bildungs</strong>prozesse nicht nach Fächern, sondern nach<br />
<strong>Bildungs</strong>bereichen, in welchen sich die Kinder durch verschiedene Aktivitäten, Handlungen <strong>und</strong><br />
Spielformen entsprechende Kompetenzen aneignen. Bei der Gestaltung der <strong>Bildungs</strong>prozesse<br />
hat die Lehrperson folglich die Möglichkeit, Inhalte aus den nachfolgenden fünf <strong>Bildungs</strong>bereichen<br />
auszuwählen:<br />
·· Kommunikation, Sprache <strong>und</strong> Medien<br />
·· Natur, Technik <strong>und</strong> Mathematik<br />
·· Identität, Soziales <strong>und</strong> Werte<br />
·· Wahrnehmung, Gestaltung <strong>und</strong> Künste<br />
·· Körper, Bewegung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
(vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 20 f.).<br />
Für jeden <strong>Bildungs</strong>bereich werden zwölf bis achtzehn Basiskompetenzen formuliert, die als<br />
gr<strong>und</strong>legend erachtet <strong>und</strong> von allen Kindern gegen Ende der Kindergartenzeit erwartet werden<br />
(vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 24 ff.).<br />
23
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
2.4.2 Das Lernen im Kindergartenalter<br />
Lernen ist ein innerer Prozess, der unterschiedlich bewusst stattfindet, wenn Menschen spielen,<br />
arbeiten, Erfahrungen machen, denken, nachahmen, erklären <strong>und</strong> erklärt bekommen, verstehen<br />
<strong>und</strong> üben. Daraus entwickeln sich veränderte Einstellungen, Gefühle, Vorstellungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen.<br />
Das Lehr- <strong>und</strong> Unterrichtsverständnis ist abhängig vom Lernverständnis der Pädagogin.<br />
Der Unterricht im Kindergarten ist vom didaktischen Modell des Konstruktivismus geprägt.<br />
Gemeint ist damit, dass die Kinder die Mitwelt <strong>und</strong> Lerninhalte auf der Basis ihres Vorwissens <strong>und</strong><br />
ihrer Sinn- <strong>und</strong> Wertvorstellungen selber konstruieren <strong>und</strong> nicht so wahrnehmen <strong>und</strong> innerlich<br />
abbilden, wie sie ihnen präsentiert werden (vgl. Achermann, 2009, S. 16).<br />
Echtes Lernen zeichnet sich durch Eigenaktivität <strong>und</strong> Selbstbestimmung aus, wozu auch<br />
die Lernerfahrungen wie Erfolgserlebnisse, Umwege, Fehlschläge <strong>und</strong> Enttäuschungen gehören.<br />
Selbstbestimmtes Lernen unterstützt eigene Lern- <strong>und</strong> Problemlösungsstrategien <strong>und</strong> ein gutes<br />
Selbstwertgefühl. Neues Wissen kann nur erworben <strong>und</strong> genutzt werden, wenn es in vorhandene<br />
Wissensstrukturen eingebaut <strong>und</strong> auf der Basis von individuellen Erfahrungen interpretiert wird<br />
(vgl. Schmid, Wettstein, Walter & Fasseing, 2002, S. 121).<br />
Kindliches Lernen wird durch vielfältige Formen bestimmt.<br />
·· Das beiläufige Lernen findet unbeabsichtigt statt <strong>und</strong> das dadurch erworbene Wissen ist<br />
implizit,also unbewusst <strong>und</strong> nicht in Sprache gefasst. Durch die Unterstützung der Pädagogin<br />
wird es in bewusstes, explizites, in Begriffe gefasstes Wissen überführt.<br />
·· Das Lernen durch sinnliche Erfahrungen ist die Gr<strong>und</strong>lage, auf welcher das Kind seine<br />
Vorstellungen über Gegenstände <strong>und</strong> Zusammenhänge aufbaut. Diese Erfahrungen sind<br />
handlungsleitend für weitere Tätigkeiten.<br />
·· Das objektorientierte Lernen ermöglicht dem Kind, sich geistige Fähigkeiten in der eigenständigen<br />
Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Umwelt zu erwerben, zum Beispiel<br />
im Konstruktionsspiel.<br />
·· Das soziale Lernen bestimmt die Sozialisation <strong>und</strong> das Kommunikationsverhalten des Kindes<br />
durch Orientierung an Vorbildern <strong>und</strong> Nachahmung von vertrauten Personen. Im Spiel<br />
mit gleichaltrigen Kindern werden Verhaltensweisen <strong>und</strong> Wertvorstellungen verinnerlicht,<br />
zum Beispiel beim «Einkaufen spielen».<br />
·· Das Lernen durch Unterweisung dient dem Erwerb von Kulturtechniken, dabei übernimmt<br />
das Kind Fähigkeiten <strong>und</strong> Wissen von Erwachsenen. Dieses Lernen findet oft durch sprachliche<br />
Vermittlung statt.<br />
(vgl. Largo, 2002, S. 71 <strong>und</strong> Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 11).<br />
24
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
Das Ziel von Lernprozessen ist der Erwerb von Kompetenzen, also das Vermögen, in einem bestimmten<br />
Handlungsbereich Leistungen zu erbringen oder Probleme zu lösen. Dazu braucht es<br />
Wissen, Können, Dispositionen <strong>und</strong> die Fähigkeit, die zur Verfügung stehenden Ressourcen gewinnbringend<br />
einzusetzen. Dabei ermöglicht das deklarative Wissen dem Kind, sich in seiner Welt<br />
zu orientieren <strong>und</strong> ihr entsprechende Bedeutungen zuzumessen <strong>und</strong> beinhaltet die Kenntnis von<br />
Fakten <strong>und</strong> Zusammenhängen. Das Können, das prozedurale Wissen, befähigen das Kind, zahlreiche<br />
Fertigkeiten, wie Zählen oder Ball werfen, im Hinblick auf ein Handlungsziel anzuwenden.<br />
Mit Dispositionen werden gr<strong>und</strong>legende Neigungen, Haltungen <strong>und</strong> Einstellungen gegenüber<br />
Sachen <strong>und</strong> Personen bezeichnet. Durch spannende Erfahrungen entstehen positive Dispositionen,<br />
der Wunsch, etwas meistern zu können <strong>und</strong> Interesse <strong>und</strong> Freude am Lernen (vgl. Largo, 2002,<br />
S. 71<strong>und</strong> Lehrplan für die Kindergartenstufe, 2008, S. 12).<br />
Das Kind kann nur so viel von seiner Umwelt aufnehmen, wie ihm von seinem Entwicklungsstand<br />
vorgegeben ist. Ein Angebot, welches über seine Bedürfnisse hinausgeht, bleibt ungenutzt oder<br />
behindert gar seine Entwicklung. Für die Kindergärtnerin bedeutet dies: Das Kind ist kein Gefäss,<br />
das sich mit beliebigem Inhalt füllen lässt. Das Kind sucht also aus einem inneren Bedürfnis heraus<br />
Erfahrungen mit seiner Umwelt. Die Aufgabe der Pädagoginnen ist es daher, dem Kind die Erfahrungsmöglichkeiten<br />
anzubieten, die für seine Entwicklung wesentlich sind <strong>und</strong> das soziale <strong>und</strong><br />
materielle Umfeld so zu gestalten, dass das Kind diese Erfahrungen selbständig machen kann (vgl.<br />
Largo 2002, S. 75 ff.). Um diese Anforderungen zu erfüllen, stehen den Lehrpersonen verschiedene<br />
Lehr- <strong>und</strong> Lernformen zur Verfügung, die den Kindern vielfältige Erfahrungs- <strong>und</strong> Lernfelder<br />
anbieten.<br />
2.4.3 Aktuelle Lehr- <strong>und</strong> Lernformen im Kindergarten<br />
Eine Didaktik, die von der Verschiedenheit der Kinder ausgeht, muss mehrere Merkmale erfüllen.<br />
Dazu gehören die Balance zwischen Instruktion <strong>und</strong> Konstruktion, also zwischen angeleitetem<br />
<strong>und</strong> selbständigem Lernen. Weiter erfordert sie entwicklungsorientierte Lernangebote, die sich<br />
sowohl an individuellen Lernbedürfnissen als auch an Lernzielen orientiert <strong>und</strong> die Differenzierung<br />
der Lernwege berücksichtigt. Diese didaktische Konzeption hat die Förderung des eigenständigen<br />
Lernens zum Ziel <strong>und</strong> bedingt eine förderorientierte, systematische Beobachtung, Erfassung <strong>und</strong><br />
Dokumentation von Lernprozessen des einzelnen Kindes (vgl. Achermann, 2009, S. 15). Durch<br />
die im Folgenden dargestellten vielfältigen methodisch-didaktischen Möglichkeiten werden diese<br />
Erfordernisse im Kindergarten umgesetzt.<br />
25
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
·· Lernumgebungen<br />
Eine Haupttätigkeit der Lehrpersonen ist es, Kinder zu Lernumgebungen hinzuführen, mit<br />
ihnen eine Lernumgebung zu entwickeln oder sie selber eine Lernumgebung gestalten zu<br />
lassen. Dabei wird die Lebenswirklichkeit der Kinder, der Raum innerhalb <strong>und</strong> ausserhalb<br />
des Kindergartens <strong>und</strong> das vorhandene oder zur Verfügung gestellte Material berücksichtigt.<br />
Lernumgebungen fördern pädagogisch wertvolle <strong>und</strong> eigenständige Lernprozesse, lassen<br />
die Kinder handelnd aktiv werden <strong>und</strong> vermitteln neue Erfahrungen (vgl. Lehrplan für die<br />
Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 14). Lernumgebungen sind die Gr<strong>und</strong>lage<br />
für verschiedene Lern- <strong>und</strong> Unterrichtsformen.<br />
·· Die geführte Aktivität<br />
Ziel der geführten Aktivität ist es, eine gemeinsame Basis für weitere Lernschritte <strong>und</strong><br />
für die selbständige Anwendung erlernter Fertigkeiten aufzubauen. In einer zielorientierten<br />
Unterrichtssequenz <strong>–</strong> meist in der ganzen Gruppe durchgeführt <strong>–</strong>wird durch Spiele <strong>und</strong><br />
Übungen sowohl deklaratives als auch prozedurales Wissen vermittelt. Die geführte Aktivität<br />
ist eine kindergärtnerinnenzentrierte Unterrichtsform, lässt aber methodisch viel<br />
Spielraum offen (vgl. Walter & Fasseing, 2002, S. 160 f.).<br />
·· Die individuelle Vertiefung<br />
Diese Unterrichtsform ermöglicht den Kindern eine persönliche Auseinandersetzung mit<br />
vermittelten <strong>und</strong> erarbeiteten Inhalten in Form einer Aufgabenstellung. Ziel dabei ist, dass<br />
sich die Kinder handelnd mit den neuen Inhalten befassen <strong>und</strong> Entdeckungen mit Gleichaltrigen<br />
austauschen. So werden diese mit den vorhandenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten<br />
verknüpft <strong>und</strong> durch Wiederholung gefestigt (vgl. Walter & Fasseing, 2002, S.198).<br />
·· Das Freispiel<br />
«Im Spiel verwirklicht sich, was die hohe Qualität von Lernen ausmacht: Das Interesse, das<br />
Engagement, die Anteilnahme des Kindes, die Fokussierung auf die Tätigkeit, die Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> Konzentration verbinden sich mit der Lust an der Sache» (Lehrplan für die<br />
Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S.15). Es ist eine selbstbestimmte, vielfältige<br />
Tätigkeit <strong>und</strong> eine ganzheitliche Form des Lernens, da das Wissen <strong>und</strong> Können der Kinder<br />
auf integrierte Weise zur Anwendung kommt. Oft werden von den Kindern Spiel- <strong>und</strong><br />
Handlungsziele in Betracht gezogen, doch dürfen keine nützlichen Resultate angestrebt<br />
26
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
werden, da sonst der spielerische Charakter, der Selbstzweck des Spielens, verloren ginge<br />
(vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 15). Im Spiel gestalten<br />
die Kinder unter Einbezug ihres Körpers, ihrer Sinne <strong>und</strong> oft auch ihrer Sprache eigene<br />
Spielwelten, die ein persönlicher Ausdruck ihres Innenlebens sind <strong>und</strong> bauen ein Beziehungsnetz<br />
auf. Lernfortschritte werden durch die Erweiterung von Spielhandlungen beobachtbar<br />
(vgl. Walter & Fasseing, 2002, S. 206 f.).<br />
·· Die spielerische Förderung<br />
Die spielerische Förderung ist eine Form der individuellen Unterstützung einzelner Kinder<br />
<strong>und</strong> orientiert sich an deren persönlichen Voraussetzungen, Bedürfnissen <strong>und</strong> Motivationen.<br />
Durch gezielte Lernangebote können Kinder in ihrer ganz speziellen Entwicklungssituation<br />
unterstützt <strong>und</strong> begleitet werden. Diese Förderung wird oft durch die Schulische Heilpädagogin<br />
übernommen (vgl. Walter <strong>und</strong> Fasseing, 2002, S. 236).<br />
·· Das Projekt<br />
«Die Kinder <strong>und</strong> die beteiligten Lehrpersonen wirken an einer Art Forschungsveranstaltung<br />
oder Produktion mit» (Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich,<br />
2008, S. 15). Projektideen können von der Lehrperson vorgeschlagen werden oder aus<br />
Wünschen der Kinder entstehen. Sie erlauben ihnen Einsichten in Planungsvorgänge, das<br />
Einbringen von kreativen Ideen <strong>und</strong> die Prüfung derer Realisierbarkeit. Einzelprojekte<br />
von Kindern ermöglichen, ein Thema für längere Zeit zu verfolgen, sich darin zu vertiefen<br />
<strong>und</strong> kompetent zu werden (vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich,<br />
2008, S.16).<br />
·· Das Atelier<br />
Mit dem Begriff Atelier wird ein Raumteil im Kindergarten bezeichnet, der die Kinder<br />
durch seine Einrichtung zur aktiven Gestaltung <strong>und</strong> Verarbeitung von aktuellen Themen<br />
animiert, wie zum Beispiel die Bauecke, das Postbüro etc. «Es sind Lernumgebungen, die je<br />
nach Ausstattung verschiedene Handlungen <strong>und</strong> Erfahrungen, das Lernen am Modell, aber<br />
auch die freie, kreative Gestaltung ermöglichen» (Lehrplan für die Kindergartenstufe des<br />
Kantons Zürich, 2008, S.16). «Eine Spiel- <strong>und</strong> Lernumgebung bildet einen Ort ab, der von<br />
den Kindern vielfältig bespielt werden kann. Die Kinder übernehmen verschiedene Rollen<br />
<strong>und</strong> gestalten die Spiel- <strong>und</strong> Lernumgebung mit den Rollen anderer Kinder aus» (Achermann,<br />
2009, S. 35).<br />
27
2 Theoretische Konzeption 2.4 Die Gr<strong>und</strong>lagen der Kindergartendidaktik<br />
·· Das Portfolio<br />
Das Portfolio ist ein Instrument zur Dokumentation <strong>und</strong> Begleitung von Lernprozessen<br />
<strong>und</strong> wird vom Kind selber zusammengestellt, zum Beispiel in Form einer Schatztruhe.<br />
In der dialogischen Betrachtung der Gegenstände oder Erzeugnisse zusammen mit der Lehrperson<br />
oder mit den Eltern wird sich das Kind seiner Entwicklung <strong>und</strong> seines Lernens<br />
bewusst. Das Portfolio gibt der Lehrperson Einblick in die Kompetenzentwicklung des<br />
Kindes, woraus sich Hinweise für die Förderung des Kindes <strong>und</strong> die Beratung der Eltern<br />
ableiten lassen (vgl. Lehrplan für die Kindergartenstufe des Kantons Zürich, 2008, S. 16).<br />
Die <strong>Lerngeschichten</strong>, die durch das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> entstehen<br />
werden oft in Portfolioordnern, auch Schatz- oder Könnerbücher genannt, abgelegt.<br />
·· Der Werkstattunterricht<br />
Der Werkstattunterricht gehört <strong>–</strong> wie auch die Vertragsarbeit <strong>–</strong> zu den erweiterten Lernformen.<br />
Er verbindet durch sein Angebot an zielorientierten Arbeitsstationen systematisches<br />
Lernen mit Eigenaktivität <strong>und</strong> unterschiedlichen Sozial- <strong>und</strong> Lernformen <strong>und</strong> ermöglicht<br />
individuelles Lernen (vgl. Walter & Fasseing, 2002, S. 250).<br />
·· Die Vertragsarbeit<br />
Im Unterricht können Verträge als Hilfestellung für das persönliche Lernen eingesetzt<br />
werden, indem die Kinder ihre Lernziele selbständig formulieren, mit der Kindergärtnerin<br />
besprechen <strong>und</strong> in einem festgesetzten Zeitraum daran arbeiten. Wichtig ist, dass die<br />
Ziele positiv formuliert <strong>und</strong> im Kindergarten erreichbar sind (vgl. Walter & Fasseing, 2002,<br />
S. 258).<br />
2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Im folgenden Abschnitt wird nun vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Herkunft <strong>und</strong> des pädagogischen<br />
Ansatzes dieses Beobachtungs- <strong>und</strong> Dokumentationsinstrumentes die praktische Anwendung des<br />
Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> vorgestellt.<br />
28
2 Theoretische Konzeption 2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
2.5.1 Die Herkunft des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Die «Learning Stories», das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>, wurden am Ende<br />
der 1990er-Jahre durch Margaret Carr von der Waikato Universität in Neuseeland auf folgendem<br />
Hintergr<strong>und</strong> entwickelt:<br />
Neuseeland hatte in jüngerer Zeit eine Vorreiterrolle in Bezug auf die Entwicklung der<br />
Frühpädagogik <strong>und</strong> führte eine staatlich geförderte Elementarerziehung ein. Als Folge davon<br />
wurde die administrative Zuständigkeit für alle Kindertageseinrichtungen dem <strong>Bildungs</strong>system<br />
zugeordnet <strong>und</strong> eine Diplomausbildung für pädagogische Fachkräfte dieser Stufe eingeführt.<br />
Zwischen 1991 <strong>und</strong> 1996 wurde ein Nationales Curriculum entwickelt, an welchem die Wissenschaftlerinnen<br />
Margret Carr <strong>und</strong> Helen May massgeblich beteiligt waren. Die Gr<strong>und</strong>lage für dieses<br />
Curriculum war ein integriertes Verständnis von Erziehung <strong>und</strong> Betreuung <strong>und</strong> ein konstruktivistisches<br />
Verständnis von Lernprozessen, welches die wechselseitige Beziehung zwischen Lernenden<br />
<strong>und</strong> Lerngelegenheit, also zwischen Kindern, Lernumwelt <strong>und</strong> Erwachsenen hervorhebt. Im Fokus<br />
des Interessens standen die Dispositionen zum Lernen <strong>und</strong> nicht der Erwerb von einzelnen Fertigkeiten.<br />
Damit verb<strong>und</strong>en ist das Ziel, dass Kinder «als kompetent <strong>und</strong> selbstbewusst Lernende<br />
<strong>und</strong> Kommunizierende aufwachsen, ges<strong>und</strong> an Körper, Verstand <strong>und</strong> Geist, sich sicher<br />
fühlen durch ein Bewusstsein der Zugehörigkeit <strong>und</strong> in dem Wissen, dass sie einen wertvollen<br />
Beitrag zur Welt darstellen».<br />
(Ministry of Education 1996, May et al., zit. nach Leu et al., 2007, S. 21)<br />
Bei der Entwicklung des Curriculums wurde grossen Wert darauf gelegt, auch den sozialen <strong>und</strong><br />
kulturellen Kontext Neuseelands, wie zum Beispiel die Partnerschaft zwischen Maori <strong>und</strong> Pakeha,<br />
das heisst Nicht-Maori zu berücksichtigen. Der Name des Curriculums, «Te Whariki» stammt aus<br />
dem Kulturkreis der Maori <strong>und</strong> bedeutet «gewobene Matte». Er lässt erkennen, dass das Wissen<br />
<strong>und</strong> Verstehen von Kindern wie ein Wandteppich von zunehmender Feinheit, Komplexität <strong>und</strong><br />
Reinheit ist. Verb<strong>und</strong>en mit der Einführung des Curriculums war die Auflage, ein Verfahren zu<br />
entwickeln, mit welchem Lernprozesse der Kinder erfasst werden können <strong>und</strong> dies war der Ausgangspunkt<br />
für die Entwicklung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>, der «Learning<br />
Stories», welche einen Wandel von den überlieferten Formen der Beobachtung zu einer alternativen<br />
Sicht auf Kinder darstellt <strong>und</strong> im Einklang steht mit den curricularen Rahmenbedingungen<br />
des «Te Whariki» (vgl. Leu et al., 2007, S. 20 ff.).<br />
29
2 Theoretische Konzeption 2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
2.5.2 Das <strong>Bildungs</strong>verständnis im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Wie bereits in Abschnitt 2.2 <strong>und</strong> 2.3 erwähnt orientiert sich der Ansatz der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
an einem modernen Verständnis von Bildung <strong>und</strong> Lernen, welches gr<strong>und</strong>sätzlich alle<br />
Kinder als kompetente Lerner ansieht <strong>und</strong> Bildung als Vorgang der Auseinandersetzung mit der<br />
Umwelt versteht, wobei sich das Kind die Welt durch erforschende Aktivitäten zunehmend aneignet<br />
<strong>und</strong> nach einem individuellen Bauplan für sich neu konstruiert. In dieses sich entwickelnde Weltbild<br />
werden laufend neue Eindrücke integriert <strong>und</strong> mit neuen Erfahrungen verknüpft. Die Prozesse<br />
des Lernens sind immer eingebettet in die Lebenszusammenhänge <strong>und</strong> basieren auf der Qualität<br />
von Interaktionen <strong>und</strong> Beziehungen. Ziel von Bildung <strong>und</strong> Lernen ist dabei die Erweiterung der<br />
Handlungsfähigkeit in der Welt, was bedeutet, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen,<br />
das eigenen Handeln zu reflektieren, Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> das eigene emotionale Leben<br />
regulieren zu können. Den Kindern soll ein Lernen ermöglicht werden, welches lustbetont <strong>und</strong><br />
erfolgreich verläuft, um das Gefühl von Kompetenz <strong>und</strong> Selbstwirksamkeit zu stärken. Im Ansatz<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> stehen also nicht Auffälligkeiten <strong>und</strong> Defizite, also nicht die<br />
Abweichung von der Norm im Vordergr<strong>und</strong>, sondern die individuellen Interessen, Kompetenzen<br />
<strong>und</strong> Strategien des Lernens. In einer anregungsreichen Umgebung, in welcher alle Kinder die<br />
Möglichkeit haben, vielfältige Erfahrungen zu sammeln, können Pädagoginnen auch lernen, nicht<br />
die Einschränkungen des Kindes sondern seine hinderlichen Entwicklungsbedingungen vermehrt<br />
zu erkennen <strong>und</strong> ihm neue Handlungs- <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>ungsspielräume anzubieten (vgl. Flämig et al.,<br />
2009, S. 21 f.).<br />
Ziel des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist es, Lernwege von Kindern zu verstehen,<br />
Kinder zu unterstützen <strong>und</strong> ihnen schrittweise eine immer differenziertere Partizipation zu ermöglichen.<br />
Dies erfordert einen Wandel der Sicht auf die Kinder, der defizitäre Blick auf Wissenslücken<br />
der Kinder anhand von Beobachtungsbögen wird durch eine ressourcenorientierte Sichtweise<br />
kindlicher Lernprozesse ersetzt (vgl. Leu et al., 2007, S. 48 f.).<br />
2.5.3 Die praktische Anwendung des Verfahrens<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> umfasst folgende Schritte:<br />
·· Die Beobachtung<br />
Die alltäglichen Aktivitäten eines Kindes bilden den Beobachtungsgegenstand. Die Beobachtungen<br />
werden auf dem Beobachtungsbogen festgehalten (Anhang 2). Nach Möglichkeit<br />
führen verschiedene Bezugspersonen eines Kindes Beobachtungen durch.<br />
30
2 Theoretische Konzeption 2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· Die Analyse nach Lerndispositionen<br />
Die Auswertung der Beobachtungen findet nach den von M. Carr entwickelten Lerndispositionen<br />
statt, die im Abschnitt 2.6.2 genauer erläutert werden (Anhang 3). Im Zentrum<br />
der Aufmerksamkeit sind dabei das Wahrnehmen <strong>und</strong> die Anerkennung der Lernprozesse,<br />
auf welche sich das Kind aufgr<strong>und</strong> seiner individuellen Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen in<br />
einer bestimmten Situation einlässt.<br />
·· Der Dialog<br />
Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist der Dialog mit dem Kind, im Team<br />
<strong>und</strong> mit den Eltern ein zentrales Element. Anschliessend an die Beobachtung <strong>und</strong> auch<br />
nach dem Vorlesen der Lerngeschichte findet ein Dialog mit dem Kind statt, um es darin zu<br />
unterstützen, die eigenen Lernprozesse <strong>und</strong> Fortschritte zu erkennen <strong>und</strong> um mit ihm die<br />
nächsten Lernschritte zu planen. Im kollegialen Austausch <strong>und</strong> in der Reflexion im Team<br />
werden die Lernprozesse des Kindes aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet <strong>und</strong> dabei<br />
die eigenen subjektiven Einschätzungen erweitert. Auch in Elterngesprächen ermöglicht<br />
das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> den Eltern einen Einblick in den Alltag<br />
<strong>und</strong> in die Lernfortschritte ihres Kindes.<br />
·· Die pädagogische Planung, die «nächsten Schritte»<br />
Durch die dokumentierte <strong>und</strong> analysierte Beobachtung erlangen die kindlichen Aktivitäten<br />
eine immer differenziertere Bedeutung. Die Fachkräfte überlegen sich, inwieweit sie bereits<br />
auf ihre Beobachtungen reagiert haben <strong>und</strong> welche zusätzlichen Anregungen sie dem Kind<br />
bieten könnten. Dadurch wird es möglich, die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen <strong>und</strong><br />
auch in Elterngesprächen transparent zu machen.<br />
·· Die <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Diese sehr persönlichen Texte werden wie eine Art Briefe an das Kind verfasst <strong>und</strong><br />
beruhen auf den Erkenntnissen des bisher beschriebenen Verfahrens. «Durch die Lerngeschichte<br />
erfährt das Kind etwas über die Wahrnehmung <strong>und</strong> Wertschätzung seiner<br />
Lernprozesse» (Leu et al., 2007, S. 74).<br />
(vgl. Leu et al., 2007, S. 66 ff.).<br />
31
2 Theoretische Konzeption 2.5 Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Abbildung 2 Das Verfahren<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Beobachtung<br />
Dialog mit dem Kind<br />
über die Beobachtung<br />
Analyse der Beobachtung<br />
nach Lerndispositionen<br />
Kollegialer Austausch<br />
über das Lernen des Kindes<br />
Pädagogische Planung,<br />
die «nächsten Schritte»<br />
Lerngeschichte verfassen<br />
Vorlesen der Lerngeschichte,<br />
Dialog mit dem Kind <strong>und</strong> den Eltern<br />
32
2 Theoretische Konzeption<br />
2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Nachdem im vorangehenden Abschnitt die praktische Anwendung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> dargestellt wurde, werden nun die für die Anwendung notwendigen fünf<br />
Bausteine in ihrer theoretischen Verortung <strong>und</strong> im Bezug auf das Verfahren ausführlich erläutert<br />
(vgl. Abbildung 2). Der Dialog als immer wiederkehrendes Element im Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> wird hier im Anschluss an die Analyse nach Lerndispositionen dargelegt.<br />
Die für das Verfahren einsetzbaren Instrumente entstammen dem Buch «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>.<br />
<strong>Bildungs</strong>prozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren <strong>und</strong> unterstützen.»<br />
(Leu, et al., 2007, Anhang). Sie sind im Anhang 2 bis 5 zu finden.<br />
2.6.1 Das Beobachten<br />
Im Kindergarten ist das Beobachten die am häufigsten angewandte Methode zur Erfassung des<br />
Entwicklungsstandes <strong>und</strong> des möglichen Förderbedarfs eines Kindes. Gr<strong>und</strong>legend dabei ist die<br />
Haltung der Pädagogin, aus welcher heraus beobachtet wird, sowie das fachliche <strong>und</strong> persönliche<br />
Interesse an dem, was das Kind tut <strong>und</strong> daran, wie es dies tut.<br />
Während langer Zeit war die klassische Ausgangsfrage bei Beobachtungen, ob das Kind etwas<br />
Bestimmtes bereits kann <strong>und</strong> wie es dies im Vergleich zu anderen Kindern ausführt. Dieser vergleichende,<br />
einschätzende <strong>und</strong> bewertende Blick wird heute in Frage gestellt. Neu steht die bewusste<br />
<strong>und</strong> systematische Wahrnehmung kindlicher Entwicklung, Kompetenzen, Stärken <strong>und</strong> Interessen<br />
im Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen <strong>und</strong> ist Voraussetzung dafür, den Kindern neue<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Herausforderungen anzubieten, sowie neue Lernwelten <strong>und</strong> Lernumgebungen<br />
zu schaffen (vgl. Irskens, 2005, S. 12 ff.). Beobachtungen sind zielgerichtete, auf einen definierten<br />
Kontext bezogene Tätigkeiten oder Verfahrensweisen im pädagogischen Handlungsfeld. Zielgerichtetheit<br />
bedeutet, dass Beobachtungen ohne Vorstellungen, welche Ziele damit erreicht<br />
werden sollen, wenig sinnvoll sind. Sie gewinnen ihre Bedeutung durch den Stellenwert, den sie in<br />
einer pädagogischen Konzeption einnehmen (vgl. Andres & Laewen, 2005, S. 35). Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
gehört das Thema Beobachtung zur Ausbildung <strong>und</strong> zum Handwerkszeug einer Pädagogin <strong>und</strong> ist<br />
eine Kernaufgabe professioneller Tätigkeit. Ausserdem sind das Beobachten, Wahrnehmen <strong>und</strong><br />
Verstehen Varianten der Beziehungsaufnahme <strong>und</strong> eine Gr<strong>und</strong>lage für die Begleitung kindlicher<br />
Lernprozesse (vgl. Irskens, 2005, S. 13 f.). Beobachtungen beinhalten die Chance, Kinder neu zu<br />
entdecken <strong>und</strong> schaffen eine Brücke, um mit den Kindern in einen Dialog zu treten.<br />
33
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Altrichter <strong>und</strong> Posch unterscheiden beim Beobachten zwei verschiedene Qualitäten,<br />
die sich gegenseitig ergänzen (vgl. Altrichter & Posch, 2007, S. 128 f.):<br />
·· Das intuitive Sehen, also den Blick für die ganze Situation, welcher Sicherheit für das<br />
Handeln der Pädagogin ergibt. Dabei ist die Aufmerksamkeit breit gestreut <strong>und</strong> Details<br />
können übersehen werden. Die gewonnenen Informationen werden unmittelbar für das<br />
Handeln verwertet, ohne intensive Reflexion.<br />
·· Das gezielte Hinschauen, auch direkte Prozessbeobachtung oder teilnehmende Beobachtung<br />
genannt. Diese geht davon aus, dass etwas Bestimmtes zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
beobachtet werden soll. Sie ermöglicht Erkenntnisgewinn, «weil sie an die komplexen<br />
Prozesse des Lehrens <strong>und</strong> Lernens <strong>und</strong> an den Zusammenhang, in dem diese stehen, relativ<br />
nahe heranzukommen erlaubt» (Altrichter & Posch, 2007, S. 129). Da Realität aber aus<br />
den Begriffen der Beobachtenden rekonstruiert wird <strong>und</strong> sich diesen unter Umständen<br />
auch widersetzen kann, müssen gleichzeitig eigene Annahmen <strong>und</strong> Erwartungen bewusst<br />
werden <strong>und</strong> viel Sensibilität für die Situation vorhanden sein (vgl. ebd.).<br />
Da die Beschreibung von Beobachtungssituationen immer einer subjektivenWahrnehmungsselektion<br />
<strong>und</strong> subjektiven Erwartungen unterliegen, müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden, welche<br />
die Qualität von Beobachtungen unter Umständen einschränken:<br />
·· Stereotypien, das heisst feststehende starre Vorstellungen in Bezug auf soziale Objekte<br />
·· Vorschnelle Erklärungen, Interpretationen <strong>und</strong> Wertungen, sowie eine Tendenz zu<br />
Etikettierungen<br />
·· Projektionen, das heisst Übertragungen von eigenen Problemen, Ängsten <strong>und</strong> Erfahrungen<br />
auf das beobachtete Individuum<br />
·· Lücken in der Beobachtungssequenz, die zu Mutmassungen führen<br />
·· Mildeeffekte, wodurch eindeutig negative Aussagen zurückgewiesen werden, um die Entwicklung<br />
des betroffenen Kindes nicht zu gefährden<br />
·· Die Auswahl von Beobachtungssituationen, die zu Verzerrungen führen kann<br />
(vgl. Buholzer, 2006, S. 75 f.).<br />
34
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Die Beobachtung hat innerhalb der förderdiagnostischen Methoden einen besonderen Stellenwert.<br />
Sie ist die wichtigste Form der Informationsgewinnung. Das Beobachten des Kindes, seiner Interessen,<br />
seiner Motive <strong>und</strong> seines Tuns <strong>und</strong> die darauffolgende Analyse, also der Verstehensprozess<br />
sind die Basis, auf welcher pädagogische Angebote gemacht werden. Auch im Denk- <strong>und</strong> Handlungsmodell<br />
der ICF steht die Beschreibung der kindlichen Aktivitäten im Vordergr<strong>und</strong>. Auf Gr<strong>und</strong><br />
der Schilderung wird analysiert, inwiefern umwelt- <strong>und</strong> personenbezogene Faktoren, sowie Körperfunktionen<br />
<strong>und</strong> -strukturen die Qualität der Aktivitäten beeinflussen. Durch diese verstehende<br />
Beobachtung wird gerade im heilpädagogischen Kontext das Erfassen von Sinn <strong>und</strong> Bedeutung<br />
individueller Lebensäusserungen möglich.<br />
In der heutigen Zeit steht ein grosses Angebot an Materialien zur Beobachtung von Kindern zur<br />
Verfügung. Wichtig ist dabei, zwischen Einschätzbögen, die oft fälschlicherweise als Beobachtungsbögen<br />
bezeichnet werden <strong>und</strong> auf welchen der Entwicklungsstand zu bestimmten Merkmalen<br />
beschrieben <strong>und</strong> beurteilt wird <strong>und</strong> Beobachtungsinstrumenten zu unterscheiden. Zu letzteren<br />
gehört auch das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>. Für die Wahl eines Beobachtungsinstrumentes<br />
nennt Lipp-Peetz (2007) folgende Kriterien: Kontextbezug, Trennung zwischen<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Interpretation, Reflexion der eigenen Gefühle, Perspektivenwechsel, Klarheit<br />
über die «Beobachtungs-Brille», wertschätzende Dokumentation, Dialog mit dem Kind, Anhaltspunkte<br />
für Konsequenzen <strong>und</strong> Austausch mit den Kolleginnen (vgl. Lipp-Peetz, 2007, S. 53).<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> erfüllt diese Kriterien in hohem Masse.<br />
Wie bereits erwähnt ist die Beobachtung ein zentrales Element des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>. «Ziel dieser prozessorientierten Herangehensweise ist es, die Handlungen zu<br />
verstehen <strong>und</strong> die individuellen Lernprozesse des Kindes zu erkennen» (Leu et al., 2007, S. 67).<br />
Die Lernprozesse von Kindern werden dabei durch Beobachtung wahrgenommen, dokumentiert<br />
<strong>und</strong> später interpretiert. Dabei können die Kinder in den verschiedensten Situationen ihres Alltags<br />
<strong>und</strong> bei unterschiedlichen Tätigkeiten beobachtet werden, denn Lernen findet überall statt (vgl.<br />
Flämig, Musketa <strong>und</strong> Leu, 2009, S. 22). Es werden keine Testsituationen oder künstliche Arrangements<br />
erzeugt. «Dabei zeigt die Erfahrung, dass es für Kinder in der Regel keineswegs unangenehm<br />
ist, beobachtet zu werden. Vielmehr wird die Beobachtung von ihnen als Beachtung wahrgenommen,<br />
als Ausdruck von Interesse <strong>und</strong> aufmerksamer Zuwendung der Fachkraft, durch die auch ihr Selbstwertgefühl<br />
gestärkt wird» (ebd.). «Beobachten ist gezieltes Beachten der Kinder. Demzufolge enthält<br />
die Dokumentation des Beobachteten die Wertschätzung kindlichen Tuns. Kinder beobachten,<br />
heisst ihnen zu zeigen, dass sie wichtig sind <strong>und</strong> dass das, was sie tun, wichtig ist» (Preissing, 2005,<br />
S. 79).<br />
35
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Die Beobachtungssequenzen, die in der Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> von verschiedenen Bezugspersonen<br />
durchgeführt werden, bedeuten eine prozessorientierte Herangehensweise <strong>und</strong> entsprechen<br />
weitgehend der teilnehmenden Beobachtung. Dabei wird der Handlungsverlauf in unmittelbarer<br />
Nähe differenziert <strong>und</strong> detailliert beobachtet <strong>und</strong> gleichzeitig schriftlich festgehalten. Die verschriftlichte<br />
Beobachtung einer kindlichen Aktivität entspricht also einer Beschreibung der einzelnen<br />
Tätigkeiten. Dabei soll die Innenperspektive der Alltagssituation erschlossen werden (vgl. Mayring,<br />
2002, S. 81). Allerdings werden im Unterschied zur teilnehmenden Beobachtung, einem halbstandardisierten<br />
Verfahren, bei der Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Vorfeld keine<br />
Beobachtungsdimensionen festgelegt. «Eine Strukturierung der zunächst ‹freien Beobachtung›<br />
[Hervorhebung des Verfassers] erfolgt erst in einem zweiten Schritt durch die Auswertung anhand<br />
der Lerndispositionen...» (Leu et al., 2007, S. 67).<br />
Durch das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wird die Wahrnehmung für lernrelevante<br />
Momente kindlicher Aktivitäten geschärft <strong>und</strong> es gelingt den Pädagoginnen immer besser, entsprechende<br />
Situationen für die Beobachtung auszuwählen. Damit auch zu einem späteren Zeitpunkt<br />
der Kontext der Beobachtung nachvollzogen werden kann, wird zu Beginn der Beobachtung die<br />
Ausgangslage beschrieben. Bei der Beschreibung des Handlungsverlaufes konzentriert sich der<br />
Beobachter ausschliesslich auf die Aktivitäten eines Kindes <strong>und</strong> achtet zusätzlich auf individuelle<br />
Ausdrucksformen wie verbale Mitteilungen, Dialoge, Mimik <strong>und</strong> Gestik sowie auf Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Strategien. Des Weiteren muss auf Interpretationen <strong>und</strong> Bewertungen verzichtet werden, da dies<br />
der beobachtenden Pädagogin ermöglicht, Distanz zu gewinnen zu den eigenen Bewertungs- <strong>und</strong><br />
Deutungsmustern. Eine zusätzliche Unterstützung in diesem Prozess bietet der regelmässige Austausch<br />
im Team, wodurch die individuellen Einschätzungen <strong>und</strong> Interpretationen einer einzelnen<br />
Fachkraft durch die anderen Teammitglieder ergänzt <strong>und</strong> gegebenenfalls auch korrigiert werden<br />
(vgl. Leu et al., 2007, S. 67 ff.).<br />
Durch die Anwendung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>-<strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> werden die Beobachtungen<br />
systematisiert <strong>und</strong> verlieren ihren zufälligen Charakter, da jedes Kind in regelmässigen Abständen<br />
beobachtet wird <strong>und</strong> der Blick von besonderen Situationen auf die alltäglichen Aktivitäten <strong>und</strong><br />
Lernprozesse der Kinder gelenkt wird. Alle erleben somit Beobachtung <strong>und</strong> Wertschätzung, wie es<br />
Kazemi-Visari (2005) in ihren zehn Thesen zur Beobachtung darstellt (S. 87).<br />
36
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Von der Beobachtung zur Achtung<br />
Erika Kazemi-Veisari<br />
Zehn Thesen zur Beobachtung<br />
1. Beim Be(ob)achten werden keine Fakten, sondern Botschaften<br />
wahrgenommen: gesehen, gehört, gefühlt, gedacht.<br />
2. Be(ob)achtungen wählen aus; sie heben hervor, übersehen, deuten.<br />
3. Be(ob)achtungen erfassen nur sichtbare <strong>und</strong> hörbare Aspekte;<br />
die Persönlichkeit des Kindes ist mehr als die Summer der beobachteten<br />
Teile.<br />
3. Die Art <strong>und</strong> Weise, wie Kinder sich ausdrücken, ist nicht unmittelbar<br />
zu verstehen.<br />
5. Be(ob)achtungen werden oft durchgeführt, weil Erwachsene ihre<br />
Probleme mit dem Kind lösen wollen.<br />
6. Be(ob)achtungen sind entscheidend geprägt von der Haltung,<br />
mit der sie durchgeführt werden.<br />
7. Kinder reagieren auf Be(ob)achtungen; sie »richten sich darauf<br />
ein«, was sie als Beobachtete spüren.<br />
8. Be(ob)achtungen können nur zu Achtungen führen, wenn sie<br />
dialogisch sind. Sie werden nicht »am Kind« durchgeführt, sondern<br />
sind eine Form der Kommunikation mit dem Kind.<br />
9. Auch Kinder be(ob)achten ständig <strong>und</strong> aufmerksam, auch sie<br />
deuten, was sie wahrnehmen.<br />
10. Aus Be(ob)achtungen lassen sich immer (!) widersprüchliche <strong>und</strong><br />
verschiedene Schlussfolgerungen ziehen.Deshalb müssen Schlussfolgerungen<br />
kommuniziert werden.<br />
Abbildung 3 Thesen zur Beobachtung<br />
2.6.2 Die Analyse nach Lerndispositionen<br />
Lerndispositionen bilden im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> den Kern des Ansatzes<br />
<strong>und</strong> sind bei der Beobachtung <strong>und</strong> Dokumentation von kindlichem Lernen von grosser Bedeutung.<br />
Sie bilden die Gr<strong>und</strong>lage der Analyse. Carr definiert Lerndispositionen als persönliches Repertoire<br />
an Lernstrategien <strong>und</strong> Motivation, mit denen jeder Mensch, die ihm gebotenen Lerngelegenheiten<br />
wahrnimmt, sie erkennt, beantwortet, auswählt oder auch entwickelt. Dieser F<strong>und</strong>us an individuellen<br />
Strategien wird durch die Lernbemühungen auch fortlaufend ergänzt <strong>und</strong> erweitert. Lerndispositionen<br />
sind eine gr<strong>und</strong>legende Vorraussetzung für Lern- <strong>und</strong> <strong>Bildungs</strong>prozesse <strong>und</strong> bilden<br />
das F<strong>und</strong>ament für ein lebenslanges Lernen, da in ihnen die Motivation <strong>und</strong> die Fähigkeit zum<br />
Ausdruck kommt, wie sich Menschen mit neuen Anforderungen <strong>und</strong> Situationen auseinandersetzen<br />
(vgl. Leu et al., 2007, S. 49).<br />
87<br />
37
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Bei der Analyse von Beobachtungen orientieren sich die Beobachtenden nicht an Basiskompetenzen,<br />
wie diese im Abschnitt 2.4.1 erwähnt sind, sondern an den folgenden von Carr ausdifferenzierten<br />
Aspekten von Lerndispositionen, die den Blick auf die Ressourcen der Kinder ins Zentrum rücken.<br />
Die fünf Lerndispositionen nach Carr lauten:<br />
interessiert sein<br />
engagiert sein<br />
standhalten bei Herausforderungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />
sich ausdrücken <strong>und</strong> mitteilen<br />
An einer Lerngemeinschaft mitwirken <strong>und</strong> Verantwortung übernehmen<br />
Jede dieser Lerndispositionen setzt sich im Weiteren aus drei Elementen zusammen:<br />
·· «Being ready» umschreibt, dass das Kind sich als Lerner sieht <strong>und</strong> motiviert ist, zu lernen.<br />
·· «Being willing» bedeutet, dass das Kind eine Situation als Lernmöglichkeit wahrnimmt.<br />
·· «Being able» umschreibt den Aspekt des Wissens <strong>und</strong> der Fähigkeit, die ein Kind braucht,<br />
damit es seinen Neigungen <strong>und</strong> Interessen nachgehen kann.<br />
(vgl. Leu et al., 2007, S. 50)<br />
Bei der Entwicklung dieser drei Komponenten spielen Erwachsene eine wichtige Rolle. Sie sind<br />
diejenigen Bezugspersonen, die die Lernbemühungen eines Kindes wertschätzen, damit sich das<br />
Kind selbst als lernend, erlebt <strong>und</strong> motiviert <strong>und</strong> «ready» ist. Die zentrale Bedeutung von verlässlichen<br />
Beziehungen für die Entwicklung des Kindes wurde auch schon im Abschnitt 2.1.5 erwähnt.<br />
Erwachsene sind verantwortlich dafür, dass Situationen so beschaffen sind, dass das Kind Lerngelegenheiten<br />
auch wahrnehmen kann, also «willing» ist. Ein zentraler Punkt ist letztlich auch, dass<br />
Erwachsene dafür sorgen sollten, dass Kinder «able» sind, also Wissen <strong>und</strong> Fähigkeiten erwerben,<br />
auch indem sie ihnen etwas zeigen, erklären oder auch mit ihnen unterschiedliche Lösungen für<br />
bestimmte Fragen erörtern (vgl. Leu et al., 2007, S. 50).<br />
Die fünf Lerndispositionen stehen auch in Bezug zu den fünf Strängen «Zugehörigkeit»,<br />
«Wohlbefinden», «Exploration», «Kommunikation» <strong>und</strong> «Partizipation» des «Te Whariki»,<br />
des Nationalen Curriculums für Frühpädagogik in Neuseeland. Carr zeigt den Zusammenhang<br />
zwischen den Lerndispositionen <strong>und</strong> den gr<strong>und</strong>legenden Dimensionen des neuseeländischen Curri-<br />
38
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
culums als Metapher des Eisberges auf: Lerndispositionen sind die Spitze der Eisberge, die Stränge<br />
des Curriculums sind das F<strong>und</strong>ament der fünf Lerndispositionen. Das eigentliche F<strong>und</strong>ament ist<br />
sehr umfangreich <strong>und</strong> liegt unter dem Wasser, somit ausserhalb der direkten Wahrnehmung.<br />
Die Lerndispositionen sind als Spitze des Eisberges erkennbar <strong>und</strong> kommen in den Aktivitäten der<br />
Kinder zum Ausdruck (vgl. Leu et al., 2007, S. 50).<br />
interessiert sein engagiert sein standhalten ausdrücken Lerngemeinschaft<br />
Zugehörigkeit Wohlbefinden Exploration Kommunikation Partizipation<br />
Abbildung 4 Eisberg-Modell (Leut et al., 2007, S. 51)<br />
Als Gr<strong>und</strong>lage dafür dass ein Kind Interesse zeigt <strong>und</strong> auf etwas zugeht, gilt die Erfahrung von<br />
Zugehörigkeit. Das eigene Wohlbefinden ist eine Voraussetzung, dass sich ein Kind engagiert <strong>und</strong><br />
sich mit einer Sache auseinandersetzt. Kinder entwickeln Strategien <strong>und</strong> Motivation, wodurch<br />
sie bei Schwierigkeiten standhalten <strong>und</strong> nicht gleich aufgeben oder etwas auf verschiedene Weise<br />
ausprobieren, erforschen <strong>und</strong> explorieren, wenn sie Zeit <strong>und</strong> Möglichkeit haben. Damit Kinder<br />
lernen sich auszudrücken <strong>und</strong> mitzuteilen, brauchen sie immer wieder eine Umgebung, in der sie<br />
auf verschiedene Art <strong>und</strong> Weise kommunizieren können. Kinder entfalten die Disposition, an<br />
Lerngemeinschaften mitzuwirken <strong>und</strong> Verantwortung zu übernehmen, wenn sie bei Aktivitäten<br />
<strong>und</strong> Diskussionen vielfältig miteinbezogen werden <strong>und</strong> partizipieren können (vgl. Leu et al., 2007,<br />
S. 50).<br />
Die Lerndispositionen sind an keine spezifischen Inhalte geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> lassen sich in beliebigen<br />
Situationen <strong>und</strong> Tätigkeiten von Menschen erkennen <strong>und</strong> beobachten. Es entsteht immer eine<br />
Wechselwirkung zwischen dem, was in einer Person steckt <strong>und</strong> dem, was in einer Situation liegt.<br />
Diese beiden Aspekte sind nicht getrennt voneinander zu interpretieren. Wieweit Kinder Interessen<br />
verfolgen <strong>und</strong> ihre Lerndisposition entfalten können, ist demzufolge abhängig von den inhaltlichen<br />
Neigungen des Kindes, aber auch von den äusseren Bedingungen <strong>und</strong> Gelegenheiten, die dem<br />
Kind geboten werden oder zur Verfügung stehen. Lerndispositionen können durch Wertschätzung<br />
gefördert oder auch durch Nichtbeachtung eingeschränkt werden (vgl. Leu et al., 2007, S. 51).<br />
39
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Im Folgenden werden die fünf Lerndispositionen nach Carr kurz erläutert:<br />
·· interessiert sein<br />
Unter der ersten Lerndisposition versteht man, dass Kinder an etwas Interesse zeigen,<br />
sich Personen oder Sachen aufmerksam <strong>und</strong> fokussiert zuwenden <strong>und</strong> sich mit ihnen auseinandersetzen.<br />
Sie erwerben so Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten. Diese Interessen können sich in<br />
körperlichen, künstlerischen oder sozialen Aktivitäten zeigen <strong>und</strong> müssen keineswegs nur<br />
im Bereich von kognitivem Verstehen liegen.<br />
·· engagiert sein<br />
Die zweite Lerndisposition beinhaltet, dass sich Kinder engagiert zeigen <strong>und</strong> bereit sind,<br />
sich auf Personen, Dinge <strong>und</strong> Situationen einzulassen. Wenn sich Kinder für einige Zeit auf<br />
ein Thema einlassen <strong>und</strong> sich vertieft damit beschäftigen, geschieht es, dass sie sich damit<br />
identifizieren. Das Thema wird dann zu einem Teil der eigenen Person. Dadurch setzen sie<br />
sich mit der Situation intensiv auseinander <strong>und</strong> kennen sich mit dem Thema immer besser<br />
aus. Ein solches Engagement setzt voraus, dass sich Kinder über eine längere Zeit vertieft<br />
mit etwas beschäftigen können.<br />
·· standhalten bei Herausforderungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />
Die dritte Lerndisposition umfasst die Fähigkeit, dass Kinder auch bei Schwierigkeiten <strong>und</strong><br />
Herausforderungen eine Tätigkeit weiterführen, Problemlösungen entwickeln <strong>und</strong> Fragen<br />
stellen, um ihr Wissen zu erweitern. Darin enthalten ist die Erfahrung, dass man aus Fehlern<br />
lernen <strong>und</strong> bei Schwierigkeiten auch selber Lösungen finden kann. Kinder probieren Neues<br />
aus, gehen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, zeigen explorierendes Verhalten, um nächste<br />
Entwicklungsschritte zu machen. Kinder, die erleben, dass Fehler <strong>und</strong> Schwierigkeiten zu<br />
Lernprozessen gehören <strong>und</strong> die in ihrem explorierenden Verhalten durch Situationen <strong>und</strong><br />
Interaktionen bestätigend unterstützt werden, können bei Herausforderungen <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />
besonders gut standhalten.<br />
40
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· sich ausdrücken <strong>und</strong> mitteilen<br />
Bei der vierten Lerndosposition geht es darum, dass sich Kinder mit anderen austauschen,<br />
sich mitteilen, ihre Gefühle, Ideen, Wünsche <strong>und</strong> Interessen ausdrücken. Hierbei liegt<br />
der Fokus nicht nur auf der gesprochenen Sprache sondern auch auf den nonverbalen<br />
Ausdrucksformen in der Kommunikation. Diese Lerndisposition setzt voraus, dass Lernumgebungen<br />
so gestaltet werden, dass den Kindern zugehört wird <strong>und</strong> sie sich sprachlich<br />
frei äussern können.<br />
·· an einer Lerngemeinschaft mitwirken <strong>und</strong> Verantwortung übernehmen<br />
Die fünfte Lerndisposition besteht darin, dass das Kind die Bereitschaft zeigt, Situationen<br />
<strong>und</strong> Dinge auch von einer anderen Position aus zu sehen, an einer Lerngemeinschaft mitzuwirken<br />
<strong>und</strong> Verantwortung zu übernehmen. Es geht auch darum, eine Vorstellung von<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Unrecht zu entwickeln, als Kind Entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> über sich<br />
oder eine Situation Auskunft geben zu können. Weiter beinhaltet diese fünfte Disposition<br />
auch, dass Kinder mit anderen zusammen Strategien oder Erklärungen im Austausch entwickeln<br />
können <strong>und</strong> Verantwortung in der Lerngemeinschaft, in der Gruppe übernehmen.<br />
Um diese Lerndisposition zu entfaltet, bedingt es Situationen, die Lerngemeinschaften<br />
begünstigen, so dass die Kinder für jemanden oder etwas auch Verantwortung übernehmen<br />
können. So erleben sie ihr eigenes Mitwirken <strong>und</strong> können in der Lerngemeinschaft partizipieren<br />
(vgl. Leu, et al., 2007, S. 51ff.).<br />
Die einzelnen Lerndispositionen überschneiden sich häufig <strong>und</strong> können nicht immer klar voneinander<br />
abgegrenzt werden. Es gilt die Regel, dass die dritte Lerndisposition «standhalten bei der<br />
aktuellen Herausforderung» jeweils auch «engagiert sein» <strong>und</strong> «interessiert sein» voraussetzt<br />
<strong>und</strong> beinhaltet. Bei der Planung der «nächsten Schritte» geht es darum einzuschätzen, welche<br />
Lerndisposition schon entwickelt ist <strong>und</strong> ob das Kind bereit ist, neue Herausforderungen anzunehmen<br />
(siehe auch Abschnitt 2.6.4). Es müssen auch keineswegs in jeder Analyse alle Lerndispositionen<br />
herausgearbeitet werden <strong>und</strong> sie müssen auch nicht gleichwertig auftreten. Die<br />
Gewichtung <strong>und</strong> Zuordnung ist von Kind zu Kind verschieden <strong>und</strong> somit sehr individuell.<br />
In welchem Masse die Lerndispositionen in den Tätigkeiten der Kinder zum Tragen kommen,<br />
ist ein Indikator für die «<strong>Bildungs</strong>relevanz» ihrer Aktivität. «Setzen sich Kinder interessiert <strong>und</strong><br />
engagiert mit äusseren Anforderungen auseinander, so erwerben sie Kenntnisse <strong>und</strong> Fertigkeiten,<br />
die für ein zunehmend differenzierteres <strong>und</strong> tieferes Verstehen, für selbstständiges Handeln, sowie<br />
für eine zunehmende Partizipation notwendig sind» (Leu et. al., 2007, S. 54).<br />
41
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
2.6.3 Der Dialog<br />
Im Buch «Die Kunst des Dialogs» von Hartkemeyer (2005) wird der Begriff Dialog im ursprünglichen<br />
Wortsinn verstanden: «dia» hindurch, «logos» Wort, Sinn, Bedeutung. Dialog bedeutet<br />
demzufolge «das Fliessen von Sinn». David Bohm, ein anglo-amerikanischer Quantenphysiker<br />
(1917<strong>–</strong>1992) <strong>und</strong> der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878<strong>–</strong>1965) beeinflussten das<br />
Dialogverständnis im letzten Jahrh<strong>und</strong>ert stark. Bohm verstand den Dialog weder als Diskussion,<br />
Debatte noch als Disput, sondern als Möglichkeit «(...) das rein analytisch-rationale Denken<br />
aufzuheben, um hinter die Oberfläche der Erscheinungen zu schauen <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Zusammenhänge von Problemstellungen besser erkennen zu können» (Bohm, zit. nach Hartkemeyer,<br />
2005, S. 33). Das Führen eines wirklichen Dialoges ist für Bohm ein Mittel, um zu erkennen, wie<br />
unser Denken abläuft, wie unsere Sicht der Welt aufgebaut ist (vgl. Hartkemeyer, 2005, S. 33).<br />
Der jüdische Religionsphilosoph Buber hingegen legt den Schwerpunkt mehr auf das Zwischenmenschliche,<br />
auf die Ich-Du-Beziehung <strong>und</strong> beschreibt den Dialog als Zwiegespräch, als echtes<br />
Zusammentreffen von Menschen. Sein Verständnis von Dialog geht so weit, dass in einem echten<br />
Gespräch die Sprechenden sich nicht nur wahrnehmen, sondern sich auch gegenseitig als Partner<br />
annehmen, also die andere Seite bestätigen, ohne sie billigen zu müssen. Ein echter Dialog ist für<br />
Buber ein Gespräch in dem «(...)jeder der Teilnehmer den oder die Anderen in ihrem Dasein <strong>und</strong><br />
Sosein wirklich meint <strong>und</strong> sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit<br />
sich zwischen ihm <strong>und</strong> ihnen stiftet» (Buber, zit. nach Hartkemeyer, 2005, S. 34).<br />
Bohms Perspektive liegt folglich eher darin, Sicherheiten zu hinterfragen <strong>und</strong> die eigenen Interpretationsmuster<br />
zu überprüfen, während Buber sein Augenmerk vermehrt auf die zwischenmenschlichen<br />
Begegnungen legt. Beide Perspektiven können, sowohl bei einem Individuum wie<br />
auch bei Gruppen, neue Erfahrungs- <strong>und</strong> Gedankenwelten eröffnen (vgl. Hartkemeyer, 2005, S. 34).<br />
Im Dialog geht es immer wieder darum, eine Haltung einzunehmen, die darauf basiert, dass nie<br />
mit absoluter Sicherheit erkannt werden kann, wie die Welt aus einer anderer Perspektive, aus dem<br />
Blickwinkel des Gegenübers aussieht <strong>und</strong> auf welchen Erfahrungen, Gr<strong>und</strong>haltungen <strong>und</strong> Bedürfnissen<br />
er oder sie die Welt interpretiert (vgl. Hartkemeyer, 2005, S. 39). «Wenn ich meinem<br />
Gegenüber als nicht ‹besser›-wissend, sondern als lernbereit entgegentrete, habe ich eine Chance,<br />
mein Verständnis zu vertiefen <strong>und</strong> meine Perspektive zu erweitern» (Hartkemeyer, 2005, S. 39).<br />
Auch im Kindergarten <strong>und</strong> in der Schule ist der Dialog zwischen Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden oder<br />
zwischen Lernenden <strong>und</strong> Lernenden ein wichtiges Element im Entwicklungsprozess, wie dies<br />
im Abschnitt 2.1.2 bei der Entwicklung der Sprache betont wurde. Zentral für einen gelingenden<br />
Dialog ist nach Hartkemeyer (2005) die Unterscheidung von Beobachtung <strong>und</strong> Interpretation,<br />
42
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
weil letztere von Bewertung geprägt ist. Bei der Beobachtung <strong>und</strong> dem darauffolgenden Dialog<br />
werden Lernende zur Reflexion ermutigt, die Selbsteinschätzung wird gefördert <strong>und</strong> ein gemeinsamer<br />
Erwartungshorizont kann abgesteckt werden. Daraus werden nächste Entwicklungsziele<br />
formuliert. Eine solche dialogische Lernkultur verändert auch die Rolle der Lehrpersonen. Sie<br />
werden von Unterrichtenden zu Lernprozess-Begleiterinnen, welche die Selbstbildungsprozesse<br />
<strong>und</strong> das Erleben von Selbstwirksamkeit fördern, wie im Abschnitt 2.3 bereits dargelegt wurde. Sie<br />
übernehmen dabei die folgenden Aufgaben:<br />
·· forschendes, entdeckendes Lernen stärken<br />
·· Mitbestimmung <strong>und</strong> Mitbeteiligung ermöglichen<br />
·· Kultur gegenseitiger Wertschätzung entwickeln<br />
·· Ermutigung statt Beschämung pflegen<br />
·· verschiedene Lernzugänge fördern<br />
·· Selbstbewusstsein, Selbständigkeit <strong>und</strong> Selbstgefühl stärken<br />
·· altersübergreifende Gruppen statt Selektion in den Vordergr<strong>und</strong> stellen<br />
·· Förderung sozialer Kompetenzen <strong>und</strong> Kooperationskultur in den Mittelpunkt stellen<br />
·· Persönlichkeitsbildung statt kurzsichtige Fachausbildung stärken<br />
(vgl. Hartkemeyer, S. 165)<br />
Viele dieser oben erwähnten Punkte sind auch bei den <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> von zentraler<br />
Bedeutung <strong>und</strong> werden in Bezug gesetzt zu diesem Verfahren, welches kindliche Lernprozesse <strong>und</strong><br />
die Erweiterung der Lerndispositionen der Kinder fördert. Zugleich geht es darum, die Kinder zu<br />
unterstützen, sich ihrer eigenen Lernprozesse <strong>und</strong> -fortschritte, sowie ihrer Lernstrategien bewusst<br />
zu werden. Durch den Dialog mit dem Kind <strong>und</strong> der Reflexion im Team werden Beobachtungen,<br />
die Lehrpersonen gemacht haben, ergänzt, hinterfragt <strong>und</strong> überprüft. So entsteht eine mögliche,<br />
neue Perspektive, wie dies Bohm in seinem Dialogverständnis umschrieben hat.<br />
Damit Kinder das aktive Lernen mitgestalten können, ist es wichtig, dass die Beziehungen zu ihren<br />
Erziehenden partnerschaftlich <strong>und</strong> gleichwertig aufgebaut sind, auf dem Prinzip der «wechselseitigen<br />
Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung» , ein zentraler Punkt im zu Beginn dieses Abschnittes<br />
erläuterten Dialogverständnis von Martin Buber. Diese Gr<strong>und</strong>haltung zeigt sich besonders auch<br />
im Dialog mit dem Kind. «Die elementare Gr<strong>und</strong>lage des Dialogs <strong>und</strong> einer entsprechenden<br />
43
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Haltung ist eine Atmosphäre der Sicherheit. Dies kann entstehen, wenn pädagogische Fachkräfte<br />
dem einzelnen Kind <strong>und</strong> seinen Sichtweisen mit Akzeptanz <strong>und</strong> Toleranz begegnen <strong>und</strong> sich<br />
darüber hinaus bemühen, sich in die Perspektive des Kindes hineinzuversetzen» (Leu et al., S. 110).<br />
Wichtig ist bei diesem Dialog auch, dass die Fachkraft ihre eigenen Gedanken <strong>und</strong> Gefühle zum<br />
Ausdruck bringt, ohne sich zu verstellen, denn echter Dialog beinhaltet Authentizität, Vertrauen<br />
<strong>und</strong> Offenheit auf beiden Seiten. Dieser dialogische Austausch unterstützt die Kinder bei ihren<br />
Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozessen <strong>und</strong> wirkt auch durch seine Offenheit unterstützend bei Elterngesprächen.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt, dass der Austausch mit Kindern individuell gestaltet werden sollte. Berücksichtigt<br />
werden dabei der Entwicklungsstand, die sprachliche Fähigkeit, sowie die Vorlieben <strong>und</strong><br />
Interessen der einzelnen Kinder. Eine dialogische Gr<strong>und</strong>haltung zeichnet sich bei den <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> auch dadurch aus, feinfühlig auf den Gesprächsbedarf der Kinder reagieren<br />
zu können. Dies gilt für den Zeitpunkt, den Ort <strong>und</strong> die Ausgestaltung des Austausches (vgl. Leu<br />
et al., 2007, S.111 ff.).<br />
Im Folgenden werden einige Möglichkeiten umschrieben, wie der Dialog mit den Kindern angeregt<br />
<strong>und</strong> unterstützt werden kann.<br />
·· Austausch mit Kindern anhand von Beobachtungen <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Nach den Beobachtungen bietet sich oft die Gelegenheit, sich mit dem Kind oder einer<br />
Gruppe von Kindern über die Aktivitäten, Interessen <strong>und</strong> Fragen auszutauschen. Eine gute<br />
Möglichkeit bieten auch die verfassten <strong>Lerngeschichten</strong>, die dem Kind vorgelesen werden<br />
<strong>und</strong> über die nachher der Dialog mit dem Kind geführt wird.<br />
·· Aussagen der Kinder dokumentieren<br />
Die im Dialog mit der Lehrperson geäusserten Gedanken <strong>und</strong> Sichtweisen der Kinder<br />
werden in die Dokumentationen (Wanddokumentationen, Portfolios, <strong>Lerngeschichten</strong> unter<br />
anderem) aufgenommen <strong>und</strong> notiert.<br />
44
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· Der Austausch mit Kindern anhand von Fotografie <strong>und</strong> digitalen Medien<br />
Fotografien sind sehr wichtig für Kinder. Sie erkennen sich <strong>und</strong> andere darauf wieder <strong>und</strong><br />
erinnern sich gut an die festgehaltenen Situationen. Dies fördert, die eigenen Erlebnisse<br />
<strong>und</strong> Erinnerungen in Worte zu fassen <strong>und</strong> ermöglicht einen intensiven Austausch über die<br />
Momentaufnahmen. Gleichzeitig ist es eine gute Gelegenheit, über die Fotodokumentationen<br />
auch mit den Eltern ins Gespräch zu kommen.<br />
·· Der Austausch mit den Kindern anhand der Portfolios <strong>und</strong> Wanddokumentationen<br />
Auch Wanddokumentationen <strong>und</strong> die individuellen Portfolios ergeben eine vielfältige Möglichkeit<br />
mit den Kindern <strong>und</strong> den Eltern ins Gespräch zu kommen. Gerade die persönlichen<br />
Portfolios, auch Schatzmappen, <strong>Bildungs</strong>- oder Könnerbücher genannt, unterstützen einen<br />
intensiven, wertschätzenden Dialog, da die Kinder ihre Entwicklungsschritte immer wieder<br />
betrachten <strong>und</strong> reflektieren können <strong>und</strong> dies auch sichtbar dokumentiert ist.<br />
·· Interview mit Kindern<br />
Das «Interview» ist eine spezielle Form eines ungestörten Gespräches, zu dem sich ein<br />
Kind <strong>und</strong> eine Lehrperson verabredet haben. Die Themen sind offen <strong>und</strong> werden auch durch<br />
die Interessen der einzelnen Kinder bestimmt. Die Kinder erhalten in diesen Momenten<br />
die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lehrperson, die nun auch wieder einen anderen Blick<br />
auf ein Kind bekommen kann durch die Gesprächsmöglichkeit in diesem Ich-Du-Arrangement.<br />
Das Interview wird von der Lehrperson verschriftlicht <strong>und</strong> anschliessend im Portfolio<br />
abgelegt.<br />
·· Die Kinderkonferenz<br />
Kinderkonferenzen ermöglichen den Lernenden die Partizipation <strong>und</strong> fördern das Gefühl<br />
von Selbstwirksamkeit, da sie in die Versammlung von Kindern <strong>und</strong> Lehrpersonen ihre<br />
Gedanken einbringen, nach Lösungen suchen, Ideen entwickeln <strong>und</strong> Wünsche formulieren,<br />
um daraus Projektideen zu verwirklichen <strong>und</strong> «nächste Schritte» zu planen. Auch Konfliktsituationen<br />
können mit Hilfe der Konferenz gelöst werden <strong>und</strong> Gruppenentscheide werden<br />
mit Hilfe von demokratischen Abstimmungsformeln getroffen. Die Ergebnisse der Konferenzen<br />
werden mit den Kindern zusammen dokumentiert <strong>und</strong> für alle zugänglich platziert.<br />
(vgl. Leut et al., 2007, S.114 ff.)<br />
45
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Die beschriebenen Praxisbeispiele erläutern, wie wertvoll der dialogische Austausch im Kindergarten<br />
<strong>und</strong> in der Schule ist. Der Lernprozess der Kinder wird im Dialog begleitet, unterstützt <strong>und</strong><br />
reflektiert. Die Kinder üben, ihre Pläne für ihr weiteres Handeln zu artikulieren, so können sie ihre<br />
Lernstrategien immer bewusster <strong>und</strong> differenzierter einsetzen. Ähnlich wie der Austausch mit den<br />
Kindern sollte auch der Austausch mit den Eltern von einer dialogischen Gr<strong>und</strong>haltung geprägt<br />
sein. Es sollte die Möglichkeit bestehen, im Dialog nicht nur Vorstellungen über die Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Erziehung der Lernenden auszutauschen, sondern auch gemeinsam neue Ideen zu entwickeln,<br />
da das Kind aus verschiedenen Perspektiven beobachtet worden ist. Besonders bei unterschiedlichen<br />
Einschätzungen <strong>und</strong> Vorstellungen ist eine dialogische Gr<strong>und</strong>haltung von grosser Wichtigkeit, da<br />
die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Lehrperson <strong>und</strong> Eltern eine Verbindung zwischen<br />
den Welten der Familie <strong>und</strong> des Kindergartens erzeugt, die das Kind in seiner Entwicklung unterstützt.<br />
Gegenseitiges Vertrauen <strong>und</strong> Wertschätzung zwischen Eltern <strong>und</strong> Lehrpersonen bereiten<br />
den Boden für eine gute Zusammenarbeit (vgl. Leu et al., S.114 ff.).<br />
Beim Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist auch der Austausch, der Dialog mit<br />
anderen Fachkräften von grosser Bedeutung <strong>und</strong> dient dem Austausch über Beobachtungen,<br />
die in diesem Kontext eine neue Bedeutung im pädagogischen Handeln erhalten. Carr erläutert<br />
das Verhältnis zwischen alltäglichem Beobachten <strong>und</strong> Handeln <strong>und</strong> der systematischen Aufzeichnung,<br />
Auswertung <strong>und</strong> Dokumentation von Beobachtungen mithilfe der Metapher eines<br />
«progressiven Filters»:<br />
46
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
wahrnehmen<br />
erkennen<br />
reagieren<br />
dokumentieren<br />
austauschen<br />
Abbildung 5 Progressiver Filter (Leu et al., 2007,S. 55)<br />
Nicht alle Wahrnehmungen einer Pädagogin dringen ins Bewusstsein <strong>und</strong> führen zu einem Erkennen,<br />
sie werden durch einen individuellen Selektionsprozess gefiltert. Da die Erziehenden nicht auf<br />
alle Erkenntnisse reagieren können oder wollen, erfolgt hier ein zweiter Selektionsprozess. Wahrnehmen<br />
<strong>und</strong> Erkennen findet im pädagogischen Alltag ständig statt <strong>und</strong> üblicherweise erfolgt eine<br />
unmittelbare Reaktion. Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> werden nun für ausgewählte<br />
Situationen das Dokumentieren <strong>und</strong> der Austausch mit anderen dem Reagieren, gemeint ist<br />
hier die Planung der «nächsten Schritte», vorangestellt. Dadurch wird der eingeschliffene Ablauf<br />
von Wahrnehmen, Erkennen <strong>und</strong> Reagieren durch eine detaillierte Wahrnehmung, durch eine<br />
systematische Analyse <strong>und</strong> durch den Austausch im Team <strong>und</strong> mit dem Kind abgelöst. Es werden<br />
neue Interpretations- <strong>und</strong> Handlungsräume eröffnet. Eigene Eindrücke von einem Kind werden<br />
verglichen <strong>und</strong> durch die Sicht anderer Lehrpersonen ergänzt. Der Dialog im Team, mit den Eltern<br />
<strong>und</strong> dem Kind tragen dazu bei, Lernprozesse zu erkennen <strong>und</strong> das Kind umfassender einzuschätzen<br />
<strong>und</strong> zu unterstützen (vgl. Leu et al., 2007, S. 55 f.).<br />
47
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
2.6.4 Die pädagogische Planung, die «nächsten Schritte»<br />
In den Volksschulen der Deutschschweiz, die heute nach einem integrativen Verständnis arbeiten,<br />
spielen die Förderdiagnostik <strong>und</strong> die Förderplanung eine zentrale Funktion für die Gestaltung<br />
eines integrativen Unterrichtes. Aus der Förderdiagnostik, aus beschreibenden Daten, werden<br />
Strukturen für das spätere pädagogische, didaktische <strong>und</strong> therapeutische Handeln in der konkreten<br />
Unterrichtssituation abgeleitet. In der Förderplanung werden die künftigen Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsschritte<br />
festgehalten <strong>und</strong> es wird angeführt, wie die vorgenommenen Zielsetzungen am besten<br />
umgesetzt werden können. Im Zentrum des Förderkonzeptes stehen dabei das handelnde Subjekt<br />
<strong>und</strong> die Schaffung von Möglichkeitsräumen. Die daraus formulierten Förderziele beabsichtigen<br />
einerseits, die Auffälligkeiten zu verringern oder andererseits, Kompensationsmöglichkeiten zu<br />
finden, indem Lernsituationen verändert werden, zusätzliche Hilfe angeboten wird oder Lernziele<br />
angepasst werden (vgl. Buholzer, 2006, S. 63 f.).<br />
Im «Merkblatt Förderplanung des Kantons Aargau» wird die Förderplanung folgendermassen<br />
umschrieben: «Die Förderplanung geht vom Ist-Zustand aus (Diagnose), beschreibt einen Soll-<br />
Zustand (Lernziele) <strong>und</strong> definiert notwendige Massnahmen <strong>und</strong> Verantwortlichkeiten (Umsetzung).<br />
Das Formular Förderplanung dient als Planungsgr<strong>und</strong>lage für alle Beteiligten»(Kt. Aargau,<br />
2008, Merkblatt Förderplanung IHP/UME). Zur Förderplanung gehören das Förderjournal, die<br />
Beschreibung der Kompetenz-, beziehungsweise Fachbereiche, der Lernziele <strong>und</strong> der Fördermassnahmen.<br />
Für diese Formulierungen stehen Begriffe aus dem Schulischen Standortgespräch, sowie<br />
Kompetenzmodelle zur Verfügung. Im Abschnitt Förderjournal wird darauf hingewiesen, dass vor<br />
dem Festlegen der Lernziele eine Analyse vorgenommen werden sollte, welche die schulischen<br />
<strong>und</strong> ausserschulischen Stärken der Schüler berücksichtigt. Ausserdem wird betont, dass bei der Ausarbeitung<br />
der Fördermassnahmen nicht nur die Lernmaterialien <strong>und</strong> Lehrmittel, sondern auch die<br />
besonders zu beachtenden Lernsituationen festgehalten werden sollen, zum Beispiel die Feedbackgespräche<br />
(vgl. ebd.).<br />
Auch im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>-<strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist die gezielte Planung, als «nächste Schritte»<br />
bezeichnet, ein zentrales Anliegen. Damit ist in diesem Kontext die Entscheidung darüber gemeint,<br />
wie das einzelne Kind in seinen <strong>Bildungs</strong>prozessen begleitet, unterstützt <strong>und</strong> vorangebracht<br />
werden kann. Durch die Aktivitäten der Kinder werden Pädagoginnen fortlaufend herausgefordert,<br />
zu reagieren <strong>und</strong> «nächste Schritte» anzuregen, sie tun dies aber häufig intuitiv <strong>und</strong> spontan,<br />
indem sie dem Kind bestätigend oder aufmunternd zunicken, ihr Interesse an den Äusserungen<br />
<strong>und</strong> Handlungen des Kindes zeigen oder anregendes Material zur Verfügung stellen. Diese Reaktionen<br />
werden nicht geplant oder dokumentiert <strong>und</strong> werden von Margret Carr als «deciding as<br />
responding» umschrieben, als Abfolge von Wahrnehmen, Erkennen <strong>und</strong> Reagieren, wie dies im<br />
vorangehenden Abschnitt dargestellt wurde. In der Folge gelingt es den pädagogischen Fachkräften<br />
immer qualifizierter wahrzunehmen, wie ein Kind in seinen <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lernprozessen begleitet<br />
48
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
<strong>und</strong> unterstützt werden kann, <strong>und</strong> sie erwerben neue Interpretations- <strong>und</strong> Handlungsspielräume.<br />
Die Erfahrungen, die Pädagoginnen durch dieses Vorgehen von Beobachtung, Analyse, kollegialem<br />
Austausch, Planung der nächsten Schritte <strong>und</strong> Verfassen der <strong>Lerngeschichten</strong> machen, bewirken,<br />
dass die Abfolge von Wahrnehmen, Erkennen <strong>und</strong> Reagieren auch in Alltagssituationen qualifizierter<br />
wird <strong>und</strong> sich auf den gesamten pädagogischen Alltag positiv auswirkt.<br />
Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> bilden die Lerndispositionen die Gr<strong>und</strong>lage für<br />
die pädagogische Planung, da deren Wachstum dem Kind immer komplexere Orientierungs- <strong>und</strong><br />
Handlungsmuster ermöglichen. Lernfortschritte, die als Quelle für Planungen dienen können,<br />
sind unter anderem die zunehmende Komplexität der Lerndispositionen <strong>und</strong> die Häufigkeit <strong>und</strong><br />
Intensität bestimmter Themen <strong>und</strong> Interessen des Kindes. Lernfortschritte bei der Planung von<br />
nächsten Schritten anzustreben, bedeutet also, die Lerndispositionen des Kindes zu stärken <strong>und</strong><br />
das Kind in seinen Handlungen <strong>und</strong> in seinem Verhalten zu ermutigen.<br />
Hilfreich bei der pädagogischen Planung ist das Konzept der «Zonen der nächsten Entwicklung»,<br />
wie es im Abschnitt 2.1.8 bereits detailliert vorgestellt wurde. Dadurch können Entwicklungsschritte,<br />
die entsprechend dem Entwicklungsverlauf kurz bevorstehen, erfasst <strong>und</strong> in die Planung<br />
einbezogen werden <strong>und</strong> es besteht die Möglichkeit, Tätigkeiten zu planen, die das Kind mit Hilfe<br />
eines fortgeschrittenen Kindes oder eines Erwachsenen bereits angehen kann.<br />
Im Folgenden werden die Planung nächster Schritte im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
unter Berücksichtigung der individuellen Motivation, des Wissens <strong>und</strong> Könnens des Kindes <strong>und</strong><br />
des Lernumfeldes erläutert.<br />
·· Planung nächster Schritte unter Berücksichtigung der individuellen Motivation<br />
Der Bogen zum kollegialen Austausch über das Lernen des Kindes (siehe Anhang 4) bildet<br />
die Gr<strong>und</strong>lage für die Planung der nächsten Schritte. Hier werden verschiedene Beobachtungen<br />
<strong>und</strong> Eindrücke zusammengetragen <strong>und</strong> die Fachkräfte gehen der Frage nach, ob<br />
über die verschiedenen Beobachtungen hinweg ein roter Faden erkennbar ist <strong>und</strong> was sie an<br />
ihren Beobachtungen als bemerkenswert empfinden. Sie versuchen dadurch zu erkennen,<br />
welche aktuellen Interessen das Kind motivieren, aktiv mitzuwirken <strong>und</strong> sich zu engagieren<br />
<strong>und</strong> wie sie es dabei unterstützen <strong>und</strong> weiter fördern können.<br />
49
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· Planung nächster Schritte unter Berücksichtigung von Wissen <strong>und</strong> Können<br />
Neben den inhaltlichen Interessen <strong>und</strong> der daraus resultierenden Motivation tragen auch<br />
das Wissen <strong>und</strong> Können, das heisst die individuellen Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten eines<br />
Kindes zur Intensivierung <strong>und</strong> Ausgestaltung von Lerndispositionen bei, denn sie beeinflussen<br />
seine Vorlieben <strong>und</strong> die Wahl der Aktivitäten. Deshalb müssen bei der pädagogischen<br />
Planung auch das Wissen <strong>und</strong> das Können eines Kindes berücksichtigt werden.<br />
Dabei sind auch die verschiedenen <strong>Bildungs</strong>bereiche, wie sie in den curricularen Vorgaben<br />
oder in den Lehrplänen vorgegeben sind als Strukturierung hilfreich, um die Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Fertigkeiten mit Hilfe von Beobachtungen wahrzunehmen, die darin enthaltenen<br />
Lerndispositionen zu analysieren <strong>und</strong> durch geplantes pädagogisches Handeln zu unterstützen.<br />
·· Planung nächster Schritte unter Berücksichtigung des Lernumfeldes<br />
Durch die Analyse von Lerndispositionen werden auch Umweltgegebenheiten erfasst,<br />
welche für die Interessen <strong>und</strong> Kompetenzen eines Kindes hemmend oder förderlich sein<br />
können, denn schwach ausgeprägte Lerndispositionen können ihre Ursachen auch in der<br />
Lernumgebung des Kindes haben. Dazu gehören die Räume, das zur Verfügung stehende<br />
Material, die pädagogischen Fachkräfte, organisatorische Abläufe <strong>und</strong> die Zusammenarbeit<br />
unter den beteiligten Personen, die für eine Entfaltung der Lerndispositionen günstig<br />
oder hinderlich sein können. «Ein gutes Lernumfeld lässt die Kinder zu Wort kommen,<br />
ermöglicht, Fragen zu stellen <strong>und</strong> eigene Vorstellungen zu verwirklichen. Es bietet darüber<br />
hinaus Gelegenheiten für neue Herausforderungen <strong>und</strong> lässt Fehler zu» (Leu et al.,<br />
2007, S. 102). Im Bogen zum kollegialen Austausch über das Lernen des Kindes (Anhang 4)<br />
wird durch die Beantwortung der Frage: «Worauf haben wir bereits reagiert?» geklärt,<br />
inwiefern die Umgebung des Kindes bereits verändert worden ist oder an welchen Stellen<br />
weitergeplant werden kann. Zum Lernumfeld des Kindes gehören alle Personen, die<br />
mit dem Kind zu tun haben, auch die anderen Kinder <strong>und</strong> die Eltern. Die Gestaltung<br />
dieser Interaktionen, so die Bereitschaft zuzuhören <strong>und</strong> die Beachtung jedes einzelnen<br />
Kindes, sind auch als Teil der nächsten Schritte zu verstehen.<br />
(vgl. Leu et al., 2007, S. 98 ff.)<br />
Abschliessend ist auf die Bedeutung der Reflexion des eigenen pädagogischen Verhaltens, der alltäglichen<br />
Handlungsmuster <strong>und</strong> der Planung der nächsten Schritte hinzuweisen. Dies wird durch<br />
bewusste <strong>und</strong> unbewusste Erziehungsziele beeinflusst. Der kollegiale Austausch <strong>und</strong> die Selbstreflexion<br />
sind eine unverzichtbare Basis für professionelles pädagogisches Handeln. Dafür wurde<br />
für das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ein Reflexionsbogen entwickelt, der diesen<br />
50
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Prozess initiiert <strong>und</strong> unterstützt (siehe Anhang 5). Insbesondere, wenn die Planung der nächsten<br />
Schritte schwerfällt, da auf Gr<strong>und</strong> der Beobachtungen <strong>und</strong> der Analyse keine Interessen oder<br />
individuelle Kompetenzen herausgearbeitet werden konnten, kann mit Hilfe des Reflexionsbogens<br />
das eigene pädagogische Verhalten <strong>und</strong> die Beziehung zum Kind reflektiert werden, bevor nächste<br />
Schritte geplant werden müssen (vgl. Leu et al., 2007, S. 103 ff.).<br />
2.6.5 Die Lerngeschichte<br />
Lerngeschichte für Eric April 2010<br />
Lieber Eric<br />
In den letzten Monaten habe ich dich beim Spielen beobachtet. Ein paar<br />
Mal habe ich auch aufgeschrieben, was du gemacht hast, damit ich mich<br />
später besser daran erinnern kann.<br />
Dich zu beobachten <strong>und</strong> dir beim Spielen zuzusehen, hat mir viel Freude<br />
bereitet!<br />
Du bist jetzt schon ein halbes Jahr in der Bärengruppe <strong>und</strong> fühlst dich als<br />
«kleiner Bär» sehr wohl.<br />
Jeden Morgen kommst du freudestrahlend in die Gruppe, verabschiedest<br />
dich von deiner Mama <strong>und</strong> legst los. Du bist immer gut gelaunt <strong>und</strong> lachst<br />
viel!<br />
Im Kuschelraum spielst du am liebsten mit dem blauen Trecker. Schon in<br />
den ersten Wochen in der Bärengruppe ist dieser zu deinem Lieblingsspielzeug<br />
geworden <strong>und</strong> das bis heute.<br />
Aber auch an der kleinen Küche kann man dich häufig finden <strong>und</strong> beobachten,<br />
wie du den Backofen aufmachst, eine Pfanne hineinstellst <strong>und</strong> ihn<br />
wieder zumachst.<br />
Mit dem Kochlöffel rührst du in den Töpfen herum, schaust uns immer wieder<br />
an <strong>und</strong> sagst: «Oh!»<br />
Allerdings kannst du dich auch für den großen Flur begeistern lassen. Im<br />
Kastanienbecken füllst du die Kastanien mit einer kleinen Schüppe von<br />
einem Eimer in den anderen. Dabei zeigst du viel Ausdauer!<br />
Deine großen braunen Augen strahlen dabei <strong>und</strong> an deiner Gestik <strong>und</strong><br />
Mimik erkennt man, dass du viel Freude hast!<br />
In den letzten Wochen hast du viele neue Wörter dazugelernt.<br />
51
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Dein Lieblingswort im Moment lautet: «Nein».<br />
Unser Lied «Lange, lange Reihe…» singst du auch schon etwas mit.<br />
Die Bärenkinder freuen sich über jedes neue Wort, das du lernst <strong>und</strong><br />
warten schon ganz gespannt darauf, dass du «richtig» sprechen kannst.<br />
Du magst Musik <strong>und</strong> freust dich darüber, wenn wir gemeinsam singen.<br />
In den Stuhlkreisen <strong>und</strong> auch am Tisch machst du schon die Bewegungen<br />
bei Liedern <strong>und</strong> Fingerspielen mit <strong>und</strong> freust dich dabei!<br />
Besonders gerne magst du das Fingerspiel «Zehn kleine Zappelmänner…».<br />
Lieber Eric, es macht mir sehr viel Freude, dich beim Spielen zu beobachten<br />
<strong>und</strong> es ist schön zu sehen, wie gerne du zu uns in die Kita kommst. Ich<br />
bin gespannt, was du uns in der nächsten Zeit noch alles zeigen wirst <strong>und</strong><br />
froh, dass ich an deinen Erlebnissen teilhaben darf.<br />
Eine anonymisierte Lerngeschichte aus einer besuchten Kindertagesstätte<br />
Deine Erzieherin Maja<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind Geschichten, die vom Lernen des Kindes im Kindergarten erzählen. Sie werden<br />
individuell für das jeweilige Kind verfasst. Da diese Texte sehr persönlich geschrieben werden<br />
<strong>und</strong> wie eine Art Brief an das Kind formuliert sind, verwenden die meisten Fachkräfte als Anrede<br />
die Du-Form. Die Kinder erleben auf diese Weise, dass ihre Tätigkeiten von den Lehrpersonen<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> wertgeschätzt werden. Gleichzeitig sind <strong>Lerngeschichten</strong> auch für die Eltern<br />
eine gute Möglichkeit, etwas über den <strong>Bildungs</strong>prozess ihrer Kinder zu erfahren. <strong>Lerngeschichten</strong><br />
beruhen immer auf dokumentierten <strong>und</strong> analysierten Beobachtungen (siehe Abschnitte 2.6.1 <strong>und</strong><br />
2.6.2). Auch fliessen Erkenntnisse, die im kollegialen Austausch gewonnen wurden oder sich aus<br />
dem Dialog mit dem Kind ergeben haben, beim Verfassen mit ein. Die Anzahl der Beobachtungen,<br />
die zu einer Lerngeschichte führen, sind nicht festgelegt <strong>und</strong> liegen im Ermessen der Fachkräfte.<br />
Es kann sein, dass eine einzelne Beobachtung, die als besonders bemerkenswert empf<strong>und</strong>en wird zu<br />
einer Lerngeschichte führt. Wichtig ist, dass die einzelnen Beobachtungen <strong>und</strong> das Verfassen der<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> zeitlich nicht zu weit auseinander liegen, damit Letztere für das Kind nachvollziehbar<br />
bleibt. Es besteht auch immer die Möglichkeit, alltägliche, nicht dokumentierte Beobachtungen,<br />
als Ergänzung in eine Lerngeschichte einfliessen zu lassen, um einen roten Faden sichtbar<br />
zu machen <strong>und</strong> ein zusammenhängendes Bild von den Entwicklungsprozessen der einzelnen<br />
Kinder <strong>und</strong> deren Interesse aufzuzeigen. Dabei ist jedoch immer zu beachten, dass der Text für die<br />
Kinder, trotz vieler Informationen aus den Beobachtungen <strong>und</strong> Analysen, nicht zu lange oder zu<br />
oberflächlich wird. Die Fachkräfte haben beim Verfassen der Lerngeschichte die Möglichkeit, ihren<br />
eigenen Stil beim Formulieren <strong>und</strong> Gestalten zu entwickeln. Im Zentrum steht immer, dass die<br />
Kinder durch die <strong>Lerngeschichten</strong> etwas über die Wahrnehmung <strong>und</strong> Wertschätzung ihrer Lernprozesse<br />
<strong>und</strong> über ihr eigenes Lernen erfahren.<br />
52
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Damit das Kind in seinem persönlichen Ordner die verschiedenen <strong>Lerngeschichten</strong> unterscheiden<br />
kann, ist es zweckmäßig, diese auch bildlich zu dokumentieren. Fotos eignen sich dazu besonders,<br />
aber auch eigene Zeichnungen der Kinder oder Aufkleber <strong>und</strong> Symbole können als Erkennungsmerkmal<br />
der einzelnen Geschichten dienen. Die Ordner sollten für die Kinder gut zugänglich sein,<br />
damit diese ohne Hilfe die <strong>Lerngeschichten</strong> immer wieder anschauen, sich vorlesen lassen oder<br />
selber dazu erzählen können (vgl. Leu et al., 2007, S. 74).<br />
Damit <strong>Lerngeschichten</strong> im Sinne des Verfahrens verfasst werden können, sind folgende Punkte zu<br />
beachten:<br />
·· Für Kinder verständliche Formulierungen<br />
Bei <strong>Lerngeschichten</strong> ist es wichtig, dass sie klare Sätze, sowie Formulierungen <strong>und</strong> Begriffe<br />
enthalten, die für das Kind verständlich sind. Das Kind soll die Inhalte seiner Lerngeschichte<br />
nachvollziehen können, dann kann es Freude daran haben <strong>und</strong> beginnen, seine eigenen<br />
Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsschritte wahrzunehmen. Es gilt beim Formulieren der Geschichten,<br />
den sprachlichen Entwicklungsstand eines Kindes zu berücksichtigen. Bei kleinen oder<br />
fremdsprachigen Kindern oder Kindern mit einer Sprachentwicklungsverzögerung ist das<br />
Erstellen einer Foto-Lerngeschichte eine gute Möglichkeit, die Sprachbarriere zu umgehen.<br />
In der Lerngeschichte sollten Verallgemeinerungen vermieden werden, da sich das Kind<br />
sonst nicht angesprochen fühlt <strong>und</strong> die Sätze nicht aussagekräftig sind. Fachkräfte sollten<br />
das Verhalten eines Kindes konkret beschreiben <strong>und</strong> auf die beobachteten Situationen<br />
beziehen, damit das Kind erfährt, dass seine individuellen Kompetenzen von ihnen wahrgenommen,<br />
anerkannt <strong>und</strong> wertgeschätzt werden. So kann es Selbstvertrauen entwickeln in<br />
sein eigenes Handeln <strong>und</strong> erlebt persönlichkeitsfördernde Selbstwirksamkeit.<br />
·· Wiedergabe von Beobachtungssituationen<br />
In den <strong>Lerngeschichten</strong> geht es um eine oder mehrere Beobachtungen von einem Kind.<br />
Dieses sollte sich bei der Lerngeschichte an die einzelnen zusammengefassten Handlungsverläufe<br />
erinnern können, damit der Austausch, der Dialog mit dem Kind möglich wird.<br />
Hilfreich kann dabei die Verwendung von wörtlicher Rede sein, die während der Beobachtung<br />
aufgeschrieben wurde, da sich das Kind in seinen eigenen Aussagen wiedererkennen<br />
kann. Durch das Vorlesen der Lerngeschichte kann sich das Kind an die Situation zurückerinnern<br />
<strong>und</strong> kann der Pädagogin auch noch einmal Erklärungen abgeben. So erhält diese<br />
einen tieferen Einblick in die Absichten des Kindes. Es entsteht ein Dialog, bei dem Interpretationen<br />
<strong>und</strong> Einschätzungen der Lehrperson bestätigt, ergänzt oder auch korrigiert<br />
werden können.<br />
53
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· Bezug zu den Lerndispositionen<br />
Die Basis von <strong>Lerngeschichten</strong> sind dokumentierte, analysierte Beobachtungen. Die Ergebnisse<br />
der Analyse nach den Lerndispositionen sollten in die Geschichte einfliessen, damit<br />
diese auch wirklich vom Lernen des Kindes erzählen. Wichtig ist hierbei jedoch, dass die<br />
Begriffe für die Kinder verständlich sind. Engagement, Standhalten oder Lerngemeinschaft,<br />
wie einzelne Lerndispositionen benannt werden (siehe Abschnitt 2.6.2) sind für die Kinder<br />
nur bedingt verständlich <strong>und</strong> sollten daher nicht verwendet werden. Hilfreich ist auch hier<br />
wieder, konkrete Beobachtungen zu beschreiben, welche die Lerndispositionen beinhalten.<br />
«Indem die Fachkraft die konkrete Handlung benennt, an der sie die Lerndispositionen<br />
erkennt, wird das Kind im Dialog mit der Fachkraft auf die Lernrelevanz seiner Aktivität aufmerksam»<br />
(Leu, et al., 2007, S. 76). Das Kind wird im Dialog mit der Lehrperson angeregt,<br />
über die eigenen Absichten, Pläne <strong>und</strong> Strategien nachzudenken <strong>und</strong> diese mitzuteilen.<br />
So wird es sich über das eigene Lernen <strong>und</strong> die eigenen Fähigkeiten bewusst.<br />
·· Einschätzungen <strong>und</strong> Interpretationen<br />
Wichtige weitere Einschätzungen <strong>und</strong> Interpretationen der Lehrpersonen können in die<br />
Lerngeschichte einfliessen. Diese basieren immer auf Beobachtungen <strong>und</strong> auf dem kollegialen<br />
Austausch. Oftmals werden die <strong>Lerngeschichten</strong> auch durch Aussagen des Kindes,<br />
die im Dialog mit der Lehrperson entstehen, ergänzt.<br />
·· Anerkennung der Lernaktivität des Kindes<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sollten stets anerkennend <strong>und</strong> wertschätzend formuliert sein, da sie das<br />
Kind in seiner individuellen Lernaktivität unterstützen <strong>und</strong> bestärken sollen. Die individuellen<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> Kompetenzen des Kindes werden beachtet <strong>und</strong> fördern so die Freude<br />
am Lernen. Das bedeutet nicht, dass Lehrpersonen die individuellen Schwächen <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten eines Kindes ignorieren oder «schön reden». Vielmehr geht es darum,<br />
in den individuellen <strong>Lerngeschichten</strong> davon zu erzählen, was ein Kind schon alles kann,<br />
woran es interessiert ist, welche Strategien es beim Lernen verwendet. «Die Geschichten<br />
würdigen die Fähigkeiten <strong>und</strong> die Motivation des Kindes, sich ein Bild von seiner Welt zu<br />
machen <strong>und</strong> Zusammenhänge zu verstehen. Dadurch wird die Entwicklung eines positiven<br />
Selbstbildes <strong>und</strong> Vertrauen in die eigenen (Lern-)Fähigkeiten unterstützt» (Leu et al.,<br />
2007, S. 76).<br />
54
2 Theoretische Konzeption 2.6 Bausteine des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
·· Berücksichtigung geplanter «nächster Schritte»<br />
In die verfasste Lerngeschichte können auch die im kollegialen Austausch geplanten<br />
«nächsten Schritte» einfliessen. Beim Vorlesen der Lerngeschichte kann das Kind den<br />
direkten Zusammenhang zwischen seinem derzeitigen Interesse <strong>und</strong> den durch die Pädagogin<br />
formulierten «nächsten Schritten» erkennen. Diese sollten immer nur als Vorschlag<br />
für das Kind formuliert <strong>und</strong> mit dem Kind besprochen werden. Falls das Kind nicht einverstanden<br />
ist, kann es im Dialog mit der Fachkraft eigene Ideen für «nächste Schritte»<br />
einbringen. So wird das eigene aktive Mitgestalten für das Kind erlebbar <strong>und</strong> lässt es spüren,<br />
dass es entsprechend seinen Interessen Einfluss nehmen kann auf die Gestaltung von Aktivitäten.<br />
Gerade dieser Punkt fördert das Erleben von Selbstwirksamkeit in idealer Weise.<br />
Anhand der Formulierungen der «nächsten Schritte» in einer Lerngeschichte wird auch<br />
für die Eltern transparent, welchen Einfluss die Beobachtungen <strong>und</strong> Dokumentationen auf<br />
die individuelle Förderung ihres Kindes haben. Leu betont, dass so die Professionalität des<br />
pädagogischen Handelns in einem Kindergarten oder an einer Schule untermauert werden<br />
kann.<br />
(vgl. Leu, 2007, S. 75 ff.)<br />
55
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
3 Fragestellung<br />
In diesem Kapitel werden auf Gr<strong>und</strong> der Theorie <strong>und</strong> der Auseinandersetzung mit dem Verfahren<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> zwei Fragestellungen für die vorliegende Forschungsarbeit<br />
entwickelt.<br />
Wie bereits mehrfach erwähnt, orientiert sich die Analyse von Beobachtungen anhand von<br />
Lerndispositionen an den Ressourcen der Kinder. Folglich werden Lernprozesse im Zusammenhang<br />
mit der jeweiligen Situation <strong>und</strong> dem sozialen Kontext beschrieben <strong>und</strong> beachten insbesondere<br />
die Individualität von kindlichen Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozessen. Dabei bleiben Schwächen<br />
<strong>und</strong> Defizite nicht unbeachtet, vielmehr können Informationen darüber, wo das Kind Stärken<br />
<strong>und</strong> Interesse zeigt für die Förderung genutzt werden (vgl. Leu et al., 2007, S. 54). Dies macht das<br />
Verfahren interessant für eine auf ein integratives Verständnis aufbauende Schule <strong>und</strong> legt die<br />
Fragestellung nahe, ob das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ein geeignetes Mittel zur<br />
Förderplanung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen im Kindergarten sein könnte <strong>und</strong> auch<br />
bei uns eine Umsetzung möglich wäre. Aus diesen Überlegungen <strong>und</strong> den ersten Einsichten in das<br />
Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> entwickeln wir zwei Fragestellungen, welche für<br />
einen Forschungsteil <strong>und</strong> einen Entwicklungsteil gelten.<br />
3.1 Fragestellung zum Forschungsteil<br />
Wie in der Theorie dargelegt wurde, bedeuten das Beobachten, die Analyse nach Lerndispositionen,<br />
der Austausch im Fachteam <strong>und</strong> das Verfassen einer Lerngeschichte ein intensives zeitliches<br />
<strong>und</strong> persönliches Sicheinlassen auf Mitarbeitende <strong>und</strong> Kinder <strong>und</strong> eine Auseinandersetzung mit<br />
den Interessen <strong>und</strong> Lernprozessen der Kinder. Durch die Analyse der Beobachtungen anhand von<br />
Lerndispositionen anstatt Kompetenzen wird ein ressourcenorientierter Blick auf das Kind möglich,<br />
sein individuelles Lernen <strong>und</strong> seine Stärken rücken ins Zentrum der Beachtung. Wie gelingt es<br />
nun, anhand dieser Lerndispositionen, auch die Stärken <strong>und</strong> Ressourcen von Kindern mit besonderem<br />
Förderbedarf zu erkennen <strong>und</strong> daraus eine Förderplanung zu erstellen? Kann auch anhand der<br />
Lerndispositionen der Entwicklungsbedarf dieser Kinder erfasst werden?<br />
Diese Überlegungen führen uns zu folgender Forschungsfrage:<br />
Inwiefern unterstützt das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> die Förderung<br />
von Kindern mit besonderen Bedürfnissen im Kindergarten?<br />
56
3 Fragestellung<br />
3.2 Fragestellung zum Entwicklungsteil<br />
Durch die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Regelklassen wird ein ressourcenorientiertes<br />
Beobachtungsverfahren bedeutsam, damit auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen<br />
im Prozess des Lernens <strong>und</strong> Lehrens optimal unterstützt werden können. Wie wir im Kontakt zur<br />
Pädagogischen Hochschule St. Gallen erfahren haben, sind bisherige Versuche, das Verfahren<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> umzusetzen, nicht erfolgreich gewesen. Die Frage taucht auf,<br />
ob dies mit der Angst vor Mehrbelastung oder dem Festhalten an der bestehenden Praxis der<br />
Beobachtung <strong>und</strong> Beurteilung auf Gr<strong>und</strong> von Basiskompetenzen zu tun haben könnte. Aus diesen<br />
Überlegungen entwickeln wir die folgende Fragestellung für den Entwicklungsteil:<br />
Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, damit das Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in der Praxis umgesetzt werden kann?<br />
Dazu müssen als Erstes die Erfordernisse zur Umsetzung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
erfasst <strong>und</strong> anschliessend auch eine mögliche Ausgestaltung dargestellt werden.<br />
Dabei ist auch wichtig zu beachten, welche bereits bestehenden Gefässe für den im Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> erforderlichen Austausch genutzt werden können.<br />
Dieser Entwicklungsteil zielt auf eine Umsetzung des Verfahrens <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
in den Kindergärten der Deutschschweiz hin <strong>und</strong> kann möglicherweise im Anschluss an diese<br />
Masterarbeit begonnen werden.<br />
57
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen<br />
Nachdem in den vorangehenden Kapiteln die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> das Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> dargelegt, sowie die Fragestellungen für die vorliegende Masterarbeit<br />
formuliert wurden, muss in diesem Kapitel zuerst einmal begründet werden, weshalb ein<br />
qualitatives Forschungsvorgehen gewählt wird. Um mit der Forschung beginnen zu können, muss<br />
anschliessend das Forschungsdesign, also der Untersuchungsplan, festgelegt <strong>und</strong> begründet werden.<br />
Dieser umfasst auf formaler Ebene Ziel <strong>und</strong> Ablauf der Untersuchung <strong>und</strong> stellt also gewissermassen<br />
Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Regeln auf, die das Verhältnis zwischen dem Forschenden <strong>und</strong><br />
seinem Untersuchungsgegenstand bestimmen. Erst im Anschluss können die entsprechenden<br />
Forschungsmethoden, also die Erhebungs-, Aufbereitungs- <strong>und</strong> Auswertungsverfahren, ausgewählt<br />
<strong>und</strong> im Folgenden dargestellt werden. Da sich für qualitative Sozialforschung vor allem offene<br />
<strong>und</strong> kommunikative Verfahren eignen, bietet sich das problemzentrierte Interview als Erhebungsverfahren<br />
an. Für die Auswertung der durchgeführten Interviews wird nach deren Aufbereitung<br />
durch die Methode der wörtlichen Transkription zur Beantwortung der Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsfrage<br />
die qualitative Inhaltsanalyse ausgewählt <strong>und</strong> hier als Methode erläutert. Zum Abschluss<br />
werden die Triangulation <strong>und</strong> die Gütekriterien qualitativer Forschung, sowie die Auswahl der<br />
Stichproben vorgestellt.<br />
4.1 Zum Verhältnis von quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Forschung<br />
Das Ziel von Forschung ist es, gehaltvolle Aussagen zu erarbeiten, die über eine bestimmte vorgegebene<br />
Situation hinaus gültig sind <strong>und</strong> unser Verständnis in Bezug auf einen bestimmten Forschungsgegenstand<br />
erweitern. Dies kann gr<strong>und</strong>sätzlich durch quantitative oder qualitative Methoden<br />
erreicht werden. «Wenn bei der Erhebung <strong>und</strong> Auswertung Zahlbegriffe verwendet werden <strong>und</strong><br />
diese durch mathematische Operationen zueinander in Beziehung gesetzt werden, spricht man<br />
in der Forschung von quantitativen Verfahren. In allen anderen Fällen spricht man von qualitativen<br />
Verfahren» (Dietrich, 2006, S. 2). Quantitative Forschung hebt das Zusammenspiel von internen<br />
<strong>und</strong> externen Faktoren, also kausale Zusammenhänge, hervor <strong>und</strong> drückt diese durch Messungen<br />
numerisch aus, um festzustellen, in welchem Ausmass die verschiedenen Faktoren einander bedingen<br />
(Cropley, 2008, S.13). Quantitative Methoden basieren auf der erkenntnistheoretischen Anschauung,<br />
dass bestimmte Merkmale bei allen Menschen ähnlich, aber unterschiedlich stark ausgeprägt zu<br />
finden sind. Dieser Grad der Ausprägung ist messbar <strong>und</strong> kann numerisch ausgedrückt werden,<br />
ohne dass sich die Versuchspersonen bewusst sein müssen, was die Forscher messen. Dabei versuchen<br />
Letztere bereits bestehende Gesetze auf neue Situationen zu übertragen, um den Anwendungsbereich<br />
zu erweitern oder zu differenzieren <strong>und</strong> bestehende Hypothesen zu überprüfen. Diese<br />
Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen mittels logischer, widerspruchsfreier Beweisführung<br />
wird als deduktives Denken bezeichnet (vgl. Cropley, 2008, S. 40).<br />
58
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.1 Zum Verhältnis von quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Forschung<br />
Im qualitativen Ansatz hingegen steht nicht die Feststellung interner Merkmale, sondern die<br />
Beschreibung ihres besonderen Charakters im Vordergr<strong>und</strong> (vgl. Cropley, 2008, S.14). Moser (2008)<br />
betont, dass es in qualitativen Studien darum geht, Deutungen zu entwickeln, die etwas Typisches<br />
beschreiben, dass also Theorien generiert werden (vgl. Moser, S. 22 ff.). Die Wurzeln qualitativen<br />
Denkens gehen zurück bis zu Aristoteles (384<strong>–</strong>322 v. Chr.), also auf ein Wissenschaftsverhältnis,<br />
das entwicklungsmässige Aspekte betont, Intentionen, Ziele <strong>und</strong> Zwecke verstehen will <strong>und</strong> damit<br />
auch Werturteile in der wissenschaftlichen Analyse zulässt. In der qualitativen Forschung ist neben<br />
dem deduktiven ein induktives Vorgehen geeignet <strong>und</strong> bildet damit die Gr<strong>und</strong>lage für sinnvolle<br />
Einzelfallanalysen (vgl. Mayring, 2002, S.12). Qualitative Erhebungen basieren auf Beobachtung<br />
<strong>und</strong> Beschreibung menschlichen Verhaltens <strong>und</strong> versuchen, die Perspektive der Teilnehmenden<br />
zu übernehmen, ihre Realität zu verstehen <strong>und</strong> eine Kooperation aufzubauen.<br />
Seit 1980 wurde in den Sozialwissenschaften Kritik laut an den bisher angewandten, meist quantitativen<br />
Methoden, die sich auf standardisierte Fragebögen <strong>und</strong> Beobachtungsschemata abstützen<br />
<strong>und</strong> dadurch nach Ansicht der Kritiker das soziale Feld in seiner Vielfalt einschränken <strong>und</strong> komplexe<br />
Strukturen vereinfacht darstellen (vgl. Lamnek, 2005, S. 4). Mayring (2005) betont aber, dass<br />
in jedem Forschungsprozess sowohl quantitatives als auch qualitatives Denken enthalten sind<br />
(vgl. Mayring, 2005, S. 19).<br />
Für die vorliegende Forschungsarbeit bietet sich ein qualitatives Verfahren an, da zur Beantwortung<br />
der Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsfrage Deutungen entwickelt werden <strong>und</strong> die Perspektive <strong>und</strong><br />
Realität der Teilnehmenden, also die Umsetzung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
<strong>und</strong> ihre Anwendbarkeit auf die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, eine<br />
zentrale Rolle spielen.<br />
Qualitative Forschungsmethoden umfassen entsprechend ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung<br />
teilweise heterogene Vorgehensweisen, die den folgenden gemeinsamen Gr<strong>und</strong>sätzen entsprechen<br />
müssen <strong>und</strong> auch für die vorliegende Arbeit gelten:<br />
·· Qualitative Forschung ist subjektbezogen <strong>und</strong> erfasst subjektive Sichtweisen.<br />
·· Die Qualität der Wirklichkeit, Zusammenhänge <strong>und</strong> innere Strukturen, das Verstehen als<br />
Erkenntnisprinzip stehen im Zentrum.<br />
·· Die qualitative Forschung ist eine nicht standardisierte Form, um dem Untersuchungsgegenstand<br />
offen entgegentreten zu können.<br />
·· Die Regeln in der Forschungsmethodik basieren auf den Regeln des alltäglichen Kommunikationsprozesses.<br />
59
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.1 Zum Verhältnis von quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Forschung<br />
·· Qualitativ orientierte Forschung erhebt deskriptive Daten über Individuen, die als Teil<br />
eines Ganzen gesehen werden.<br />
·· Durch Interpretation wird die gesellschaftliche Realität als Bedeutungszuweisungen<br />
konstruiert <strong>und</strong> nicht als objektiv vorgegeben aufgefasst.<br />
·· Der Forschungsgegenstand wird in seiner natürlichen Umgebung untersucht.<br />
·· Durch den Verallgemeinerungsprozess werden die Ergebnisse generalisiert.<br />
(vgl. Lamnek, 2005, S. 33 <strong>und</strong> Mayring, 2002, S. 19)<br />
4.2 Forschungsdesign<br />
Im Rahmen unserer qualitativen Sozialforschung orientieren wir uns am Untersuchungsplan der<br />
Einzelfallanalyse, da dieser Vorgehensplan nach Mayring (2002) eine klare Struktur aufzeigt, die<br />
eine wissenschaftliche Verwertbarkeit der Ergebnisse sicherstellt (vgl. S. 43). Was in der vorliegenden<br />
Arbeit nicht ins Forschungsdesign einer klassischen Einzelfallanalyse passt ist die Tatsache, dass<br />
aus verschiedenen Institutionen Informationen zu der Forschungsfrage zusammengetragen <strong>und</strong><br />
ausgewertet, aber nicht untereinander verglichen wurden.<br />
Das Ziel von Einzelfallanalysen ist es, das Forschungsobjekt in seiner Individualität <strong>und</strong><br />
seinem konkreten Kontext zu verstehen (vgl. Mayring, 2002, S. 41). «Die Komplexität des ganzen<br />
Falles, die Zusammenhänge der Funktions- <strong>und</strong> Lebensbereiche in der Ganzheit der Person <strong>und</strong><br />
der historische, lebensgeschichtliche Hintergr<strong>und</strong> sollen hier besonders betont werden» (Mayring,<br />
2002, S. 42). Von zentraler Bedeutung bei der Einzelfallstudie ist, dass ein ganzheitliches <strong>und</strong> damit<br />
realistisches Bild der sozialen Welt gezeichnet werden kann, um der Individualität <strong>und</strong> Identität<br />
der zu Untersuchenden gerecht zu werden <strong>und</strong> jeden einzelnen Befragten als Fachmann für die<br />
Deutungen <strong>und</strong> Interpretationen seiner Alltagswelt zu betrachten. Dadurch wird ein genauerer<br />
Einblick in das Zusammenwirken verschiedener Faktoren <strong>und</strong> das Herausarbeiten typischer<br />
Vorgänge möglich (vgl. Lamnek, 2005, S. 299 ff.). Da während des ganzen Analyseprozesses auf den<br />
Fall in seiner Ganzheit zurückgegriffen werden kann, unterstützen Einzelfallanalysen die Suche<br />
nach relevanten Einflussfaktoren <strong>und</strong> nach tief greifenden Ergebnissen, sowie die Interpretation<br />
von Zusammenhängen oder quantitativ gewonnenen Ergebnissen. Einzelfallanalysen durchzuführen<br />
bedeutet, sich in ein Forschungsfeld, in einen natürlichen Bereich der Gesellschaft zu begeben<br />
<strong>und</strong> sich vertraut zu machen mit Handlungs- <strong>und</strong> Sprechweisen der zu Untersuchenden, an ihrem<br />
Wissen zu partizipieren <strong>und</strong> Kenntnisse von Gegenständen <strong>und</strong> Prozessen zu bekommen. Diese<br />
Handlungsmuster sind zwar individuell festzumachen, es manifestieren sich darin aber generelle<br />
Strukturen.<br />
60
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.2 Forschungsdesign<br />
Die Stärken einer Fallstudie sind die Möglichkeit, interessante Fragen aufzuwerfen, also Theorien<br />
zu entwickeln, Hypothesen aufzustellen <strong>und</strong> Fragen zu beantworten, wie Praxisprobleme angegangen<br />
werden können. In der vorliegenden Arbeit wird die Einsetzbarkeit des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> für die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen überprüft <strong>und</strong><br />
es werden Möglichkeiten für die Umsetzung in den Schweizer Kindergärten aufgezeigt. Schwächen<br />
von Fallstudien können darin liegen, dass Verallgemeinerungen schwierig sind (vgl. Fuchs, 2005,<br />
S. 75 f.). Dieser Nachteil fällt bei dieser Forschungsarbeit kaum ins Gewicht, da es nicht darum<br />
geht, Kindertagesstätten untereinander zu vergleichen oder allgemein gültige Aussagen zu machen.<br />
Die von uns angestrebten Forschungsergebnisse zielen auf die Anwendbarkeit <strong>und</strong> Ausgestaltung<br />
des in Neuseeland ausgearbeiteten Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in Bezug auf<br />
die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen hin. Ausserdem sollen die Erfahrungen,<br />
die verschiedene Institutionen in Europa bereits gemacht haben, Wege für eine Umsetzung in den<br />
Schweizer Kindergärten aufzeigen.<br />
Obwohl bei einer Einzelfallanalyse durch die Realitätsnähe, durch die Begegnung mit handelnden<br />
Individuen ein alltagsweltliches Wahrnehmen <strong>und</strong> Interpretieren, eine auf das Einzigartige<br />
abzielende Studie naheliegen würde, muss ein wissenschaftliches Vorgehen, eine wissenschaftliche<br />
Verwertbarkeit, das heisst die rationale Rekonstruktion der Wirklichkeit durch ein kontrolliertes<br />
Fremdverstehen berücksichtigt werden. In Handlungsmustern von Individuen müssen generelle<br />
Strukturen erkannt <strong>und</strong> als bedeutsame Kennzeichen für das zu untersuchende wissenschaftliche<br />
Problem aufgefasst werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 311f.).<br />
Aus diesen Gründen muss sich die gesamte Fallanalyse an einen Vorgehensplan halten,<br />
welcher auf der Theorie von Lamnek (2005) <strong>und</strong> Mayring (2002) basiert <strong>und</strong> im Folgenden, auf<br />
die Erfordernisse der vorliegende Masterarbeit angepasst, vorgestellt wird:<br />
·· Fragestellung<br />
Der Zweck einer Einzelfallanalyse muss expliziert werden, da kein Fall an sich interessant ist.<br />
·· Falldefinition<br />
Als Kernpunkt der Einzelfallanalyse muss definiert werden, was als Fall gelten soll, denn<br />
davon hängt die Bestimmung des Falles <strong>und</strong> das zu untersuchende Material ab.<br />
61
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.2 Forschungsdesign<br />
·· Bestimmung der spezifischen Methoden zur Datenerhebung <strong>und</strong> Materialsammlung<br />
Für Einzelfallanalysen sind verschiedene Methoden zur Datenerhebung möglich, unter<br />
anderem die teilnehmende Beobachtung, Interviews, oder Gruppendiskussionsverfahren.<br />
Es kann auch auf bereits vorliegende Dokumente zurückgegriffen werden.<br />
·· Aufbereitung des Materials<br />
Da die exakte Beschreibung des Forschungsgegenstandes ein besonderes Anliegen qualitativ<br />
orientierter Forschung ist, muss der Aufbereitung des erhobenen Datenmaterials besondere<br />
Beachtung geschenkt werden. Dazu bieten sich die wörtliche oder kommentierte Transkription,<br />
sowie auch das zusammenfassende oder selektive Protokoll an.<br />
·· Kontexteinbindung der Erhebung <strong>und</strong> das Formulieren von besonderen Eindrücken<br />
Im Anschluss an die Datenerhebung soll eine Beschreibung der Umgebung <strong>und</strong> der<br />
Bedingungen, die Fallzusammenfassung, erfolgen, unter denen die Daten erhoben wurden.<br />
Dazu gehören auch persönliche Eindrücke des Forschenden.<br />
·· Fallstrukturierung<br />
Das vorhandene Material wird auf Kernaussagen hin untersucht <strong>und</strong> einzelnen Kategorien<br />
zugeordnet.<br />
·· Fallinterpretation<br />
Die durch die Analyse erarbeiteten Ergebnisse werden dargestellt, interpretiert <strong>und</strong> in einen<br />
grösseren Zusammenhang eingeordnet.<br />
(vgl. Lamnek, 2005, S. 313 ff. <strong>und</strong> Mayring, 2002, S. 43 ff.)<br />
62
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen<br />
4.3 Die Forschungsmethoden<br />
Wie in diesem Kapitel eingangs erwähnt, werden Forschungsmethoden entsprechend dem geeigneten<br />
Forschungsdesign ausgewählt. Deshalb erfolgt eine Darstellung des problemzentrierten Interviews<br />
als Erhebungsverfahren, der wörtlichen Transkription als Aufbereitungsverfahren <strong>und</strong> der<br />
qualitativen Inhaltsanalyse als Auswertungsverfahren.<br />
4.3.1 Das problemzentrierte Interview in der qualitativen Sozialforschung<br />
Als Forschungsmethode bietet sich für die vorliegenden Fragestellungen das problemzentrierte<br />
Interview an, ein qualitatives Erhebungsverfahren, wie es durch die folgenden Erläuterungen<br />
begründet wird. An <strong>und</strong> für sich sind Interviews Weiterentwicklungen von alltäglichen Gesprächen,<br />
mit dem Ziel, Gedanken, Einstellungen <strong>und</strong> Haltungen der Befragten zu erschliessen (vgl. Altrichter<br />
& Posch, 2007, S.150). Durch diese Form der Datenerhebung, die sprachliche Erfassung<br />
von Bedeutungsmustern, werden subjektive Informationen <strong>und</strong> Interpretationen eines Befragten<br />
über einen Forschungsgegenstand in Erfahrung gebracht. Bei einem qualitativen Interview können<br />
Informationen, also die Wirklichkeitsdefinitionen des Befragten unverzerrt, authentisch, intersubjektiv<br />
nachvollziehbar <strong>und</strong> beliebig reproduzierbar aufgezeichnet werden. Durch die Methode<br />
der qualitativen Inhaltsanalyse können die durch die Interviews entstandenen Texte anschliessend<br />
auf methodisch hohem Status analysiert <strong>und</strong> interpretiert werden, wodurch der Forscher in prozesshafter<br />
Weise zu typisierenden Aussagen <strong>und</strong> über theoretische Konzepte <strong>und</strong> über Konstellationen<br />
der sozialen Wirklichkeit gelangt (vgl. Lamnek, 2005, S. 329 ff.). Dabei interessieren häufig die<br />
Aussagen von Schlüsselpersonen aus unterschiedlichen Gruppen, deren Sichtweise miteinander<br />
verglichen werden. Meist beschränkt man sich bei qualitativen Interviews auf eine kleine Zahl<br />
von Personen, deren Aussagen auf allgemeine Einstellungen <strong>und</strong> Motive hin rekonstruiert werden<br />
(vgl. Moser, 2008, S. 89). Im qualitativen Interview zeigt der Fragende Empathie <strong>und</strong> entwickelt<br />
aus dem Gesagten weitere Fragen. Je nach dem Grad der Standardisierung kommt die Asymmetrie<br />
zwischen Fragenden <strong>und</strong> Antwortenden mehr zum Tragen, denn je freier <strong>und</strong> offener die Situation<br />
gestaltet ist, das heisst je weniger die Fragen <strong>und</strong> ihre Reihenfolge bereits im Voraus festgelegt<br />
wurden, desto ähnlicher ist das Interview einer alltäglichen Gesprächssituation, da sich der Fragende<br />
auch aktiv am Gespräch beteiligen kann. Es ist bei einem qualitativen Interview wichtig, dass offene<br />
Fragen gestellt werden, die nicht in ein vorgegebenes Antwortschema eingefügt werden müssen<br />
<strong>und</strong> der antwortenden Person Spielraum lassen. Zudem sollte der Interviewer einen neutralen<br />
bis weichen Kommunikationsstil pflegen, wodurch er ein sympathisierendes Verständnis für die<br />
spezielle Situation des Befragten zum Ausdruck bringt. Ausserdem sind qualitativ geführte Interviews<br />
offen für unerwartete Informationen <strong>und</strong> für die Bedürfnisse des Befragten <strong>und</strong> werden nach<br />
Möglichkeit in dessen alltäglichem Milieu durchgeführt. Für die Durchführung eines qualitativen<br />
Interviews ist ein Aufnahmegerät wie Videorecorder oder Tonbandgerät unverzichtbar, um die<br />
Fülle der Informationen systematisch auswerten zu können.<br />
63
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
Das problemzentrierte Interview als spezielle Form des qualitativen Interviews ist ermittelnd,<br />
das heisst der Informationsfluss ist vom Befragten auf den Befragenden gerichtet, dies im Gegensatz<br />
zum vermittelnden Interview, bei welchem durch Ansprechen von bisher unbeachteten<br />
Sachverhalten eine Erkenntnis- oder Bewusstseinsveränderung auf Seite des Befragten provoziert<br />
werden. Es ist aber zu betonen, dass auch in einem ermittelnden Interview für den Befragten<br />
durch die Fragestellung <strong>und</strong> die Beschäftigung mit der Materie neue Aspekte auftauchen können<br />
(vgl. Lamnek, 2005, S. 332 ff.).<br />
Das problemzentrierte Interview ist ausserdem eine offene, halbstrukturierte Befragung,<br />
die den Befragten möglichst frei zu Wort kommen lässt <strong>und</strong> dadurch seine Erzählungen stimuliert.<br />
Dieses Erhebungsverfahren ist aber auf eine bestimmte Problemstellung zentriert, auf die der<br />
Fragende immer wieder zurückkommt. Die Gr<strong>und</strong>lage dafür bildet der Interviewleitfaden, der es<br />
dem Forschenden ermöglicht, alle wichtigen Themenbereiche in beliebiger Reihenfolge zu erfassen.<br />
Er wird auf Gr<strong>und</strong> von theoretischen oder empirischen Erkenntnissen <strong>und</strong> Analysen formuliert.<br />
Durch die teilweise Standardisierung wird die Vergleichbarkeit mehrerer Interviews erleichtert<br />
(vgl. Mayring, 2002, S. 67). Die Konzeptgenerierung durch den Befragten, das heisst die Bedeutungsstrukturierung<br />
der sozialen Wirklichkeit steht im problemzentrierten Interview <strong>–</strong> wie es eine<br />
qualitative Forschung erfordert<strong>–</strong>im Vordergr<strong>und</strong>, doch wird auch gleichzeitig das bereits vorhandene<br />
Vorverständnis des Forschenden durch den Erzählenden erweitert. Es ist also eine Kombination<br />
von induktivem <strong>und</strong> deduktivem Vorgehen, wodurch das theoretische Konzept des Forschers<br />
modifiziert wird (vgl. Lamnek, 2005, S. 364).<br />
Es eignet sich hervorragend für eine theoriegeleitete Forschung, da es keinen rein<br />
explorativen Charakter hat, sondern die Aspekte der vorrangigen Problemanalyse in<br />
das Interview Eingang finden. Überall dort also, wo schon einiges über den Gegenstand<br />
bekannt ist, überall dort, wo dezidierte, spezifischere Fragestellungen im Vordergr<strong>und</strong><br />
stehen, bietet sich diese Methode an. (Mayring, 2002, S. 70)<br />
Eine besondere Anwendungsform von Leitfadeninterviews ist das Experteninterview. Der Befragte<br />
ist für den Interviewer dabei in seiner Eigenschaft als Experte für ein bestimmtes Handlungsfeld<br />
von Interesse, da er über ein Prozess- <strong>und</strong> Deutungswissen in Bezug auf ein professionelles oder<br />
berufliches Handlungsfeld verfügt. Oft besteht dieses Wissen nicht nur aus Fachkenntnissen, sondern<br />
auch aus Praxiswissen, in welches individuelle Entscheidungsregeln, kollektive Orientierungen<br />
<strong>und</strong> soziale Deutungsmuster mit einfliessen. Experteninterviews dienen der Exploration <strong>und</strong> der<br />
Orientierung in einem neuen Feld, sowie zur Theoriegenerierung <strong>und</strong> zum Erwerb von Kontextinformationen.<br />
Sie werden häufig in Ergänzung zu anderen Methoden oder zur Vervollständigung<br />
von Informationen aus anderen Befragungen eingesetzt (vgl. Flick, 2010, S. 218). Experteninterviews<br />
dienen der Triangulation, das heisst in Bezug auf die Auswertung <strong>und</strong> den Prozess des Schlussfolgerns<br />
werden die Ergebnisse von Interviews mit direkt Betroffenen <strong>und</strong> Expertinnen kombiniert<br />
mit dem Ziel, den Untersuchungsgegenstand dadurch genauer zu erfassen.<br />
64
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
4.3.2 Wörtliche Transkription<br />
Die Interviewdaten müssen vor der eigentlichen Auswertung <strong>und</strong> Interpretation in eine schriftliche<br />
Form gebracht werden, das heisst sie müssen aufbereitet werden. Dieses Verfahren nennt sich<br />
Transkription. Eine gebräuchliche Definition dazu lautet. «Die Verschriftlichung menschlicher<br />
Kommunikation, meist auf Gr<strong>und</strong>lage von Tonband- oder anderen Aufzeichnungen. Je nach<br />
Untersuchungszweck kann, beziehungsweise muss die Transkription mehr oder weniger umfassend<br />
sein» (ILMES, zit. nach Kuckartz, Dresing, Rädiker & Stefer, 2008, S. 27). Für eine ausführliche<br />
Auswertung ist die Herstellung von wörtlichen oder kommentierten Transkripten von zentraler<br />
Bedeutung, wenn auch sehr aufwändig. Durch die wörtliche Transkription wird es möglich, eine<br />
vollständige Textfassung des verbal erhobenen Materials herzustellen, was die Basis für eine ausführliche<br />
interpretative Auswertung bildet (vgl. Mayring, 2002, S. 89). In einer kommentierten<br />
Transkription werden zusätzlich durch Sonderzeichen Auffälligkeiten der Sprache wie Pausen,<br />
Betonungen, Lachen im Wortprotokoll vermerkt.<br />
Für die Aufbereitung der problemzentrierten Interviews wird in der vorliegenden Forschungsarbeit<br />
die wörtliche Transkription gewählt, da Besonderheiten in der Ausdrucksweise, wie sie in<br />
der kommentierten Transkription festgehalten werden, hier nicht relevant sind.<br />
Transkriptionen im Rahmen qualitativer Sozialforschung müssen natürlich den wissenschaftlichen<br />
Ansprüchen genügen <strong>und</strong> benötigen daher auch feste Regelsysteme. Diese richten sich nach den<br />
erhobenen Daten, nach der Forschungsabsicht <strong>und</strong> der Fragestellung. Beispielsweise wird manchmal<br />
nur der grobe Inhalt einer Aussage benötigt, ein anderes Mal ist sogar die exakte Technik des<br />
Internationalen Phonetischen Alphabets gefragt. Das Regelsystem ermöglicht eine gute, klare<br />
Nachvollziehbarkeit bei der Generierung des Datenmaterials <strong>und</strong> eine einheitliche Gestaltung der<br />
Transkription. Dies ist von zentraler Bedeutung, gerade wenn mehrere Personen in diesem Prozess<br />
involviert sind <strong>und</strong> an der Transkription arbeiten (vgl. Kuckartz et al., 2008, S. 27). Die häufigsten<br />
Regeln für die wörtliche Transkription werden nachfolgend aufgelistet.<br />
·· Es wird wörtlich, nicht zusammenfassend transkribiert.<br />
·· Vorhandene Dialekte werden nicht mit transkribiert.<br />
·· Die Sprache <strong>und</strong> Interpunktion wird für eine gute Lesbarkeit an das Schriftdeutsch angenähert.<br />
·· Alle Angaben, die einen Rückschluss auf eine befragte Person erlauben, werden anonymisiert.<br />
65
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
·· Die interviewende Person wird mit «I», die befragte Person durch ein «B» gekennzeichnet.<br />
·· Jeder Sprecherwechsel wird durch zweimaliges Drücken der Entertaste, also eine Leerzeile<br />
zwischen den Sprechern, deutlich gemacht, damit die Lesbarkeit erhöht werden kann.<br />
(vgl. Kuckartz et al., 2008, S. 27 f.)<br />
Für die Transkription ist es von grossem Vorteil, geeignete Software <strong>und</strong> Geräte zur Verfügung zu<br />
haben. Hilfreich bei der Arbeit sind Geräte, die eine Verlangsamung der Abspielgeschwindigkeit<br />
ermöglichen, über ein automatisches kurzes Rückspulintervall bei Betätigung der Stopptaste verfügen<br />
oder die Möglichkeit haben, einen Fussschalter anzuschliessen. Für die nachfolgende Analyse der<br />
Interviews ist es hilfreich die Transkriptionen mit einer Zeilennummer zu versehen <strong>und</strong> genügend<br />
Platz für Notizen zu lassen. In jedem Fall sollte ausreichend Zeit für die Transkription berechnet<br />
<strong>und</strong> eingeplant werden. Die Dauer der Verarbeitung variiert je nach Tippgeschwindigkeit <strong>und</strong><br />
Verständlichkeit der Aufnahme zwischen dem Vier- bis Achtfachen der eigentlichen Interviewlänge<br />
(vgl. Kuckartz et al., 2008, S. 28).<br />
In der vorliegenden Arbeit werden die wichtigsten Transkriptionsregeln nach Kuckartz et al.,<br />
(2008) angewendet. Die Anonymisierung wurde aufgehoben, da die Institutionen auch als Modelleinrichtungen<br />
des Projektes «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>» im Buch von Leu et al. aufgelistet<br />
sind <strong>und</strong> alle Beteiligten, wie auch die Expertinnen, das Einverständnis gegeben haben, dass Namen<br />
<strong>und</strong> Institution erwähnt werden dürfen.<br />
4.3.3 Qualitative Inhaltsanalyse<br />
Bei einer qualitativen Inhaltsanalyse wird unterschiedliches Textmaterial mittels Verwendung von<br />
Kategorien schrittweise analysiert, um daraus Folgerungen zu ziehen. Mayring (2002) schreibt:<br />
«Die Stärke der Inhaltsanalyse ist, dass sie streng methodisch kontrolliert das Material schrittweise<br />
analysiert» (S. 114).<br />
Es werden von Mayring (2002) drei Gr<strong>und</strong>formen qualitativer Inhaltsanalyse vorgeschlagen:<br />
·· Zusammenfassung<br />
Ziel dieser Analyse ist es, das Material so zu reduzieren, dass die wichtigen <strong>und</strong> wesentlichen<br />
Inhalte eines Textes erhalten bleiben. Durch die Abstraktion wird ein überschaubares Korpus<br />
geschaffen, das immer noch ein Abbild des Gr<strong>und</strong>materials ist.<br />
66
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
·· Explikation<br />
Ziel dieser Analyse ist es, zu einzelnen Textteilen, seien dies einzelne Begriffe oder Sätze,<br />
zusätzliches Material zu suchen, welches das Verständnis erweitert <strong>und</strong> die Textstellen erklärt<br />
oder ausdeutet.<br />
·· Strukturierung<br />
Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem vorliegenden Material herauszufiltern.<br />
Das Material wird auf Gr<strong>und</strong> von bestimmten Kriterien eingeschätzt <strong>und</strong> verglichen.<br />
(vgl. Mayring, 2002, S.115)<br />
Generell empfiehlt Ritsert (1972) in seinem Ablaufschema für alle Arten der Inhaltsanalyse noch<br />
vor der Kategorienbildung den Schritt der Dimensionierung. «Die Frage bei der Dimensionierung<br />
ist die nach einer ersten Möglichkeit kategorialer Zusammenfassungen in Bezug auf die entwickelten<br />
Vermutungen, Fragestellungen <strong>und</strong> Hypothesen» (S. 46 f.).<br />
Für die Kategorienbildung muss ein Selektionskriterium festgelegt werden. Dies ist in jedem Fall<br />
ein deduktives Element <strong>und</strong> muss mit theoretischen Erwägungen begründet werden.<br />
Die gebildeten Kategorien fassen die Inhaltseinheiten zusammen <strong>und</strong> beziehen sich auf wissenschaftliche<br />
Dimensionen <strong>und</strong> sind somit allgemeiner <strong>und</strong> abstrakter als die Kernaussagen. Auf<br />
diese Weise werden die Aussagen der Befragten mit allgemeineren Prinzipien in Zusammenhang<br />
gebracht. Die Kategorienbildung sollte nicht durch Werthaltungen des Forschers beeinflusst<br />
werden (vgl. Mayring, 2002, S.117 f.).<br />
In Abhängigkeit der Fragestellung werden entweder anhand der Theorie (deduktives Vorgehen)<br />
oder der gesammelten Inhaltseinheiten (induktives Vorgehen) einzelne Kategorien gebildet <strong>und</strong><br />
die herausgearbeiteten Textstellen werden diesen zugeordnet. Für die vorliegende Arbeit bietet<br />
sich ein deduktives Vorgehen an, da die Kategorien in Abhängigkeit des vorgestellten Verfahrens<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> den entsprechenden theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen gebildet<br />
werden.<br />
67
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
Hier eine deduktive Vorgehensweise, angelehnt an ein unveröffentlichtes Skript «Was machen mit<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lerngeschichte<br />
qualitativen Daten?» der HfH (2010):<br />
Textstelle<br />
Textstelle<br />
Textstelle<br />
Textstelle<br />
Textstelle<br />
Kategorie<br />
Kategorie<br />
Unterkategorie<br />
Unterkategorie<br />
Abbildung 6 Theoriebildung <strong>und</strong> Kategoriensystem/deduktiv<br />
Konzept Konzept<br />
spezifisch generell<br />
In dieser Arbeit werden die Interviews mit Pädagoginnen <strong>und</strong> leitenden Personen der Institutionen,<br />
sowie auch zwei Expertinneninterviews mit methodischen Elementen aus der strukturierenden<br />
<strong>und</strong> zusammenfassenden Inhaltsanalyse analysiert <strong>und</strong> ausgewertet, um Kernaussagen in Bezug<br />
auf die Fragestellungen <strong>und</strong> Einschätzungen der Anwendbarkeit des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> herauszufiltern.<br />
68
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
Das folgende Modell zeigt den Ablauf der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring,<br />
2008, Ablauf S. 84): einer strukturierenden, quaslitativen Inhaltsanalyse<br />
Bestimmung<br />
der Strukturierungsdimension<br />
Textstelle<br />
(theoriegeleitet)<br />
<strong>und</strong> Kategorienbildung<br />
Formulierung von Definitionen,<br />
Ankerbeispielen<br />
<strong>und</strong> Kodierregeln<br />
zu den einzelnen Kategorien<br />
Materialdurchlauf:<br />
Bezeichnung <strong>und</strong> Extraktion<br />
der F<strong>und</strong>stellen<br />
Ergebnisaufbereitung<br />
durch Zusammenstellen <strong>und</strong><br />
Zusammenfassen aller Aussagen<br />
zu einer Kategorie,<br />
Generalisierung aller Aussagen<br />
Abbildung 7 Ablauf einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse<br />
Überarbeitung,<br />
gegebenenfalls Revision<br />
von Kategorien<br />
<strong>und</strong> Kategoriensystem<br />
Die strukturierende Inhaltsanalyse ist ein methodisch kontrolliertes Vorgehen. Für die Kategorienbildung<br />
werden folgende drei Schritte vorgeschlagen, die in einem Kodierleitfaden zusammengestellt<br />
werden.<br />
1. Durch die Definition der Kategorien wird explizit definiert, welche Textbestandteile unter<br />
eine Kategorie fallen sollen.<br />
2. Es werden konkrete Textstellen als Ankerbeispiele angeführt, die unter eine Kategorie fallen<br />
<strong>und</strong> als Beispiel für die Kategorie gelten sollen.<br />
69
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.3 Die Forschungsmethoden<br />
3. Dort, wo Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestehen, werden Kodierregeln<br />
formuliert, um eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen.<br />
Für die Auswertung wird das Material nun anhand dieser Kategorien, Zeile für Zeile, durchgearbeitet.<br />
Bei der ersten Materialsichtung werden die Kategorien <strong>und</strong> der Kodierleitfaden erprobt <strong>und</strong><br />
eventuell überarbeitet. Das Material wird nun in zwei Schritten durchgearbeitet. Zuerst werden<br />
die Textstellen im Material durch Farbe oder Zeilennummern bezeichnet, in denen die Kategorien<br />
angesprochen wurden. In einem zweiten Schritt wird das gekennzeichnete Material herausgefiltert,<br />
in ein Auswertungsraster eingetragen.<strong>und</strong> aufgearbeitet (vgl. Mayring, 2002, S.118 ff.)<br />
Die weitere Auswertung kann nun in zwei Richtungen gehen:<br />
·· Das gesamte Kategoriensystem kann in Bezug auf die Fragestellung <strong>und</strong> die dazugehörende<br />
Theorie interpretiert werden.<br />
·· Die Zuordnung von Textstellen zu Kategorien kann auch quantitativ ausgewertet werden.<br />
(vgl. Mayring, 2002, S.117)<br />
4.4 Triangulation<br />
Der Begriff der Triangulation ist ursprünglich der Trigonometrie entlehnt. Eine unbekannte<br />
Grösse wird von verschiedenen Messpunkten aus betrachtet, um sie genauer bestimmen zu können.<br />
Durch die verschiedenen Variationen des Messvorgangs, beziehungsweise der Bezugspunkte<br />
wird es möglich, das zu Messende präziser zu bestimmen, da die Wahrnehmung des Forschungsgegenstandes<br />
von der gewählten Methode des Messens beeinflusst wird. Die Kombination von<br />
verschiedenen Messverfahren soll eine Wahrnehmungsverzerrung einschränken, bestmöglichst<br />
sogar verhindern (vgl. Lamnek 2005, S.158). Auch innerhalb der qualitativen Forschung lässt<br />
sich mit Hilfe der Triangulation ein höheres Mass an Validität, das heisst an Gültigkeit erreichen.<br />
Verschiedene Methoden, verschiedene Forscher, Untersuchungsgruppen mit örtlich <strong>und</strong> zeitlich<br />
unterschiedlichen Settings sowie auch unterschiedliche theoretische Perspektiven in der Auseinandersetzung<br />
mit einem Phänomen lassen einen objektiveren Blick auf ein bestimmtes Phänomen<br />
zu (vgl. Lamnek, 2005, S. 158 f.). Es werden vier Formen der Triangulation unterschieden:<br />
1. Datentriangulation<br />
Hierbei werden verschiedene Daten, die unterschiedlichen Quellen entstammen <strong>und</strong> zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten, an unterschiedlichen Orten oder durch unterschiedliche Personen<br />
erhoben wurden zu einem Phänomen kombiniert.<br />
70
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.4 Triangulation<br />
2. Forschertriangulation<br />
Es werden verschiedene Interviewer oder Beobachter eingesetzt, damit deren subjektiver<br />
Einfluss auf das Untersuchungsergebnis ausgeglichen <strong>und</strong> kontrolliert werden kann.<br />
3. Theorietriangulation<br />
Hierbei werden Daten zu einem Phänomen unter Einbeziehung verschiedener theoretischer<br />
Modelle analysiert <strong>und</strong> interpretiert, damit der Forschungsgegenstand unter verschiedenen<br />
Perspektiven <strong>und</strong> mittels unterschiedlicher Hypothesen durchleuchtet werden kann.<br />
4. Methodentriangulation<br />
Es werden verschiedene Methoden kombiniert oder innerhalb einer Methode Variationen<br />
eingeführt.<br />
(vgl. Lamnek, 2005, S.159)<br />
Die Triangulation wurde anfangs als eine Strategie der Validierung der Ergebnisse, die mit den<br />
einzelnen Methoden gewonnen wurden, konzipiert. Als Folge davon hat sich in den Sozialwissenschaften<br />
ein neuer Fokus gebildet. Zunehmend wird Triangulation als Anreicherung <strong>und</strong> Vervollständigung<br />
der Erkenntnisse verstanden (vgl. Flick, 2010, S. 520).<br />
Die Triangulation von Methoden, Forschern, Theorie <strong>und</strong> Daten wird als die vernünftigste Strategie<br />
der Theoriekonstruktion erachtet (Flick, 2010, S. 520).<br />
Es geht hierbei weniger darum, die Triangulation als Strategie der Validierung der Ergebnisse <strong>und</strong><br />
Vorgehensweisen zu verwenden als vielmehr diese als eine Erweiterung zu verstehen, welche die<br />
Tiefe, die Breite <strong>und</strong> Konsequenzen im methodischen Vorgehen erhöht (vgl. Flick, 2010, S. 520).<br />
In der vorliegenden Arbeit wird vor allem mit der Datentriangulation (1.) gearbeitet. Die<br />
Interviews wurden mit verschiedenen Personen geführt, die in den Institutionen unterschiedliche<br />
Berufsrollen wie Institutionsleitende <strong>und</strong> Pädagoginnen einnehmen. Gleichzeitig fanden die Befragungen<br />
in zwei verschiedenen Städten Deutschlands statt, in Reutlingen <strong>und</strong> Paderborn, die in den<br />
zwei B<strong>und</strong>esländern Baden-Württemberg <strong>und</strong> Nordrhein-Westfalen liegen. Des Weiteren wurden<br />
die Interviews zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt, im April 2010 in Reutlingen <strong>und</strong> im Juni<br />
2010 in Paderborn, geführt. Als Ergänzung <strong>und</strong> Vervollständigung kommen in der Schweiz noch<br />
zwei Expertinneninterviews dazu, die weitere Aspekte zum Forschungsvorhaben liefern. Eine weitere<br />
Triangulation ergibt sich durch die Erkenntnisse aus der erarbeiteten Literatur, aus den Interviews<br />
in den Institutionen <strong>und</strong> mit den Expertinnen. Die Ergebnisse aus diesen verschiedenen Perspektiven<br />
werden zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammengesetzt (vgl. Mayring, 2002, S. 148).<br />
71
Datentriangulation<br />
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.4 Triangulation<br />
Interviews<br />
in Reutlingen<br />
April 2010<br />
KindertagesstätteGmindersdorf<br />
Institutionsleitung<br />
Pädagoginnen<br />
Kinderhaus<br />
Heinestrasse<br />
76<br />
Transkription<br />
Abbildung 8 Datentriangulation<br />
PaderbornerKindertagesstätte<br />
Qualitative Inhaltsanalyse<br />
Interviews<br />
Interviews<br />
in Paderborn<br />
Juni 2010<br />
Institutionsleitung<br />
Pädagogin<br />
Kindertagesstätte<br />
St. Vincenz<br />
Interviews<br />
in der Schweiz<br />
September 2010<br />
72<br />
Zwei Expertinnen<br />
Frau Röllin<br />
Frau Bosshart
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen<br />
4.5 Gütekriterien<br />
Die Qualität der Forschungsarbeit <strong>und</strong> die Wahl der Forschungsmethoden werden durch die<br />
Erfüllung der Gütekriterien der Forschung bestimmt (vgl. Moser, 2008, S.17). Die traditionellen<br />
Gütekriterien der quantitativen Forschung, Validität, Reliabilität, Objektivität, sind unter einer<br />
qualitativen Perspektive oft wenig tragfähig. Deshalb müssen diese Begriffe in der qualitativen<br />
Forschung mit neuen Inhalten gefüllt <strong>und</strong> neu definiert werden. Zentral dabei ist, dass die Massstäbe<br />
zur Erfüllung der Gütekriterien zu Vorgehen <strong>und</strong> Ziel der Analyse passen. Weiter ist es<br />
wichtig, sich bei der qualitativen Forschung darauf einzustellen, dass die Geltungsbegründung der<br />
Ergebnisse viel flexibler sein muss, da man nicht bestimmte Werte errechnen kann, sondern dass<br />
vielmehr argumentativ vorgegangen werden muss <strong>und</strong> Belege angeführt <strong>und</strong> diskutiert werden<br />
sollten (vgl. Mayring, 2002, S. 140).<br />
Mayring (2002) betont, dass gr<strong>und</strong>sätzlich die Gütekriterien der Methode angemessen sein sollten<br />
(vgl. S.142) <strong>und</strong> stellt sechs Kriterien vor, die von allgemeineren Überlegungen in der qualitativen<br />
Sozialforschung abgeleitet wurden:<br />
·· Verfahrensdokumentation<br />
Damit ein Ergebnis wissenschaftlich wertvoll wird, ist es wichtig, das ausgewählte Verfahren<br />
genau zu dokumentieren. Bei der quantitativen Forschung genügt es in der Regel, die<br />
verwendeten Messinstrumente <strong>und</strong> Techniken anzugeben, da diese meistens standardisiert<br />
sind. In qualitativ orientierter Forschung ist das Vorgehen viel spezifischer <strong>und</strong>, wie zuvor<br />
betont, auf den jeweiligen Gegenstand bezogen. Die Methoden werden meist spezifisch für<br />
den Untersuchungsgegenstand entwickelt <strong>und</strong> differenziert. Dieser Vorgang muss dokumentiert<br />
werden, damit der Forschungsprozess für andere nachvollziehbar wird. Wichtig<br />
hierbei ist die Klärung des Vorverständnisses, die Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums,<br />
die Durchführung <strong>und</strong> Auswertung der Datenerhebung.<br />
·· Argumentative Interpretationsabsicherung<br />
In qualitativ orientierten Ansätzen spielen Interpretationen eine wichtige Rolle, lassen sich<br />
aber nicht beweisen. Für die Qualitätseinschätzung sind aber besonders interpretative Teile<br />
wichtig. Deshalb muss beachtet werden, dass die Interpretationen nicht gesetzt, sondern<br />
argumentativ abgesichert werden. Verschiedene Kriterien sind dabei entscheidend: Einmal<br />
muss das Vorverständnis der Interpretation in sich stimmig <strong>und</strong> adäquat sein; dadurch wird<br />
die Deutung sinnvoll theoriegeleitet. Weiter sollte die Interpretation in sich schlüssig sein<br />
73
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.5 Gütekriterien<br />
<strong>und</strong> wo eventuelle Brüche <strong>und</strong> Unstimmigkeiten auftreten müssen diese erklärt werden.<br />
Schliesslich ist es auch wichtig, Alternativdeutungen zu suchen <strong>und</strong> diese zu überprüfen.<br />
·· Regelgeleitetheit<br />
Qualitative Forschung muss zwar offen in Bezug auf den zu untersuchenden Gegenstand,<br />
aber auch bereit sein, vorgeplante Analyseschritte zu modifizieren. Dabei darf die Forschung<br />
nicht in ein unsystematisches Vorgehen münden.<br />
«Auch qualitative Forschung muss sich an bestimmte Verfahrensregeln halten, systematisch<br />
ihr Material bearbeiten» (Mayring, 2002, S. 145 f.). Mayring fordert eine Systematisierung,<br />
indem die Analyseschritte vorher festgelegt werden <strong>und</strong> das Material in sinnvolle Einheiten<br />
unterteilt wird. Die Analyse geht nun von einer Einheit zur nächsten. Natürlich bedeutet<br />
Regelgeleitetheit nicht, sich sklavisch an die Vorgaben zu halten. Aber ohne Regeln wird<br />
qualitative Forschung wertlos.<br />
·· Nähe zum Gegenstand<br />
Die Nähe zum Gegenstand, die Gegenstandsangemessenheit, ist in der qualitativen Forschung<br />
von zentraler Bedeutung. Erreicht wird diese Nähe durch die Forschung in der natürlichen<br />
Lebens- <strong>und</strong> Alltagswelt der Beforschten. Man versucht, eine Interessensübereinstimmung<br />
mit diesen zu erreichen, denn qualitative Forschung will an konkreten sozialen Problemen<br />
ansetzen, will Forschung für die Betroffenen machen <strong>und</strong> dabei ein offenes, gleichberechtigtes<br />
Verhältnis herstellen (vgl. Mayring, 2002, S.146). Der Forschungsprozess erreicht<br />
eine grösstmögliche Nähe zum Gegenstand durch diese Interessenannährung. Am Ende des<br />
Prozesses sollte nochmals überprüft werden, inwieweit dies jeweils gelungen ist.<br />
·· Kommunikative Validierung<br />
Die Gültigkeit der Ergebnisse, der Interpretationen kann auch überprüft werden, indem sie<br />
den Beforschten noch einmal vorgelegt, mit ihnen diskutiert werden. Dieser Vorgang wird<br />
als kommunikative Validierung bezeichnet. Ein wichtiges Argument für die Absicherung<br />
der Ergebnisse ergibt sich, wenn sich die Beforschten in den Analyseergebnissen <strong>und</strong><br />
Interpretationen wiederfinden. Dies darf natürlich nicht das ausschliessliche Kriterium<br />
74
4 Forschungsstrategie <strong>und</strong> methodisches Vorgehen 4.5 Gütekriterien<br />
sein, denn sonst müsste die Analyse immer bei den subjektiven Bedeutungsstrukturen der<br />
Betroffenen bleiben. Trotzdem wird in qualitativ orientierter Forschung den Beforschten<br />
eindeutig mehr Kompetenz zugebilligt. Die Beforschten sind nicht Datenlieferanten, sondern<br />
denkende Subjekte wie die Forscher auch. Aus diesem Gr<strong>und</strong> nimmt der Forscher den<br />
Dialog auf <strong>und</strong> kann (...) «<strong>–</strong> vor allem was die Absicherung der Rekonstruktion subjektiver<br />
Bedeutungen angeht <strong>–</strong> aus dem Dialog wichtige Argumente zur Relevanz der Ergebnisse<br />
gewinnen».<br />
·· Triangulation<br />
Die Qualität der Forschung kann durch die Verbindung mehrerer Analysegänge vergrössert<br />
werden. Denzin (1978) hat dies an unterschiedlichen Ebenen festgemacht: Verschiedene<br />
Datenquellen können zur Analyse herangezogen werden, unterschiedliche Interpreten,<br />
Theorieansätze oder auch Methoden. Detailliertere Erläuterungen zur Triangulation sind<br />
im Abschnitt 4.4 nachzulesen.<br />
(vgl. Mayring, 2002, S. 144 ff.)<br />
In der vorliegenden Arbeit werden die sechs Gütekriterien nach Mayring (2002) als Gr<strong>und</strong>lage für<br />
die Reflexion der Forschungsmethoden herangezogen.<br />
4.6 Beschreibung der Stichproben<br />
Für das Forschungsprojekt wurden Modelleinrichtungen des Projekts «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>»<br />
des Deutschen Jugendinstitutes angeschrieben. In der Schweiz lief der Versuch mit<br />
dem Verfahren der «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>» in Kindertagesstätten erst an <strong>und</strong> so war<br />
es in diesen Institutionen zu früh für Erhebungen. Das Ziel war es, je zwei Institutionen in zwei<br />
verschiedenen Orten Deutschlands, wenn möglich in zwei verschiedenen B<strong>und</strong>esländern anzuschreiben,<br />
woraus Hospitationen in je zwei Kindertagesstätten in Reutlingen <strong>und</strong> Paderborn<br />
resultierten. Dort wurden Interviews mit je einer Pädagogin <strong>und</strong> der Institutionsleitung geführt.<br />
Damit die Forschung im Sinne der Triangulation einen weiteren Blickwinkel bekommt, wurden<br />
zwei mit dem Verfahren vertraute Expertinnen angefragt.<br />
75
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
In diesem Kapitel wird dargelegt, wie die Forschungsarbeit konkret durchgeführt wurde. Dazu<br />
gehören die Kontextinformationen, welche hier durch eine Darstellung der besuchten Kindertagesstätten<br />
realisiert wurden. Dabei ist zu betonen, dass es hier lediglich darum geht, unseren<br />
persönlichen Einblick in die Kindertagesstätten zu dokumentieren <strong>und</strong> keineswegs Anspruch auf<br />
Vollständigkeit besteht.<br />
Anschliessend werden die Datenerhebung, die Datenaufbereitung <strong>und</strong> die Datenauswertung vorgestellt.<br />
Exemplarisch werden drei wörtlich transkribierte, formatierte <strong>und</strong> kodierte Interviews im<br />
Anhang 6 bis 8 aufgeführt, wobei die den Kategorien zugeordneten Aussagen in den Abschnitten<br />
5.4 bis 5.6 dargestellt werden. Alle Interviews wurden sowohl für den Forschungs- wie auch für den<br />
Entwicklungsteil kodiert.<br />
5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen,<br />
Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Die Stadt Reutlingen liegt in zentraler Lage im B<strong>und</strong>esland Baden-Württemberg, am Fusse der<br />
Schwäbischen Alb <strong>und</strong> zählt gut 100’000 Einwohner. Sie verfügt heute über eine hübsche Innenstadt<br />
mit Rathaus <strong>und</strong> Marktplatz. Nach vier schweren Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg lagen<br />
am Ende des Krieges weite Teile der Stadt in Schutt <strong>und</strong> Asche.<br />
Aus verschiedenen Handwerksbetrieben gingen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert bedeutende Industriebetriebe<br />
hervor. Dabei war die Textilindustrie bis Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts der bedeutendste<br />
Wirtschaftsfaktor.<br />
76
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
5.1.1 Die Kindertagesstätte Gmindersdorf in Reutlingen<br />
Annäherung<br />
Die städtische Kindertagesstätte Theodor-Fischer-Strasse, in Gmindersdorf, Reutlingen,<br />
Baden <strong>–</strong>Württemberg, Deutschland<br />
Theodor-Fischer-Strasse<br />
Die Arbeitersiedlung Gmindersdorf wurde anfangs des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts als «Wohlfahrtseinrichtung»<br />
für Arbeiter in unmittelbarer Nähe des Betriebsgeländes einer neuen Spinnerei der<br />
Reutlinger Textilfirma Ulrich Gminder gebaut. Gmindersdorf wurde vom Stararchitekten Theodor<br />
Fischer, Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart, als Gesamtkunstwerk errichtet <strong>und</strong><br />
hatte den Charakter eines natürlich gewachsenen Dorfes mit einer fortschrittlichen Infrastruktur.<br />
Die Arbeitskräfte, die neu angeworben werden mussten, kamen so in Genuss von Wohnmöglichkeiten,<br />
Kinderbetreuung <strong>und</strong> einem Waschhaus. Das heutige Gebäude der Kindertagesstätte wurde<br />
schon damals für die Kinderbetreuung gebaut <strong>und</strong> genutzt. Wegen Auflagen des Denkmalschutzes<br />
konnte das Gebäude in den letzten Jahren nicht den Bedürfnissen der Kindertagesstätte entsprechend<br />
angepasst werden, zum Beispiel war der Einbau einer Aussentreppe oder eines zweiten Treppenhauses<br />
nicht möglich.<br />
77
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Städtische Kindertagesstätte Theodor-Fischer-Strasse, Gmindersdorf<br />
Aktuell werden 108 Kinder von ein bis dreizehn Jahren in der Kindertagesstätte betreut, früher<br />
konnten bis zu h<strong>und</strong>ertvierzig Kinder aufgenommen werden. Heute sind weniger Plätze verfügbar,<br />
da der Dachstock aus feuerpolizeilichen Gründen nicht mehr benutzt werden darf. Ganz früher<br />
waren dort Zimmer für Erzieherinnen untergebracht.<br />
Neu werden Konferenzzimmer, Arbeitsplätze für Erwachsene <strong>und</strong> ein Experimentierzimmer<br />
für acht Kinder eingerichtet. Die Kindertagesstätte hatte in den letzten Jahren viele Umstrukturierung<br />
zu bewältigen; durch diesen Umbruch waren immer wieder Kapazitäten geb<strong>und</strong>en.<br />
Die Kindertagesstätte bietet auch den Kindergarten an für die Kinder in diesem Einzugsgebiet<br />
der Stadt Reutlingen. In diesem Stadtteil ist der Anteil an Familien mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
hoch. In Deutschland besteht Anspruch auf einen Kindergartenplatz, aber keine Pflicht, ihn<br />
auch in Anspruch zu nehmen. Die Plätze in der Kindertagesstätte Gmindersdorf sind sehr begehrt<br />
wegen der täglichen Betreuungszeit von insgesamt zehn St<strong>und</strong>en. Aktuell besteht eine Warteliste<br />
von h<strong>und</strong>ert Kindern für zwanzig freie Plätze.<br />
Es gibt vereinzelt auch behinderte Kinder, die in Gmindersdorf betreut werden, zum Teil<br />
mit einer Inklusionskraft einmal pro Woche.<br />
Die Kindertagesstätte ist täglich von 6.30 bis 17.00 Uhr geöffnet. Im Ganztagesbereich<br />
sind die Kinder acht bis zehn St<strong>und</strong>en, im Kindergarten sechs St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> im Hort fünf bis sechs<br />
St<strong>und</strong>en anwesend. Die tägliche Arbeitszeit der Erzieherinnen beträgt 7¾ St<strong>und</strong>en.<br />
Die Kindertagesstätte verfügt über eine hauseigene Küche mit vier Mitarbeitenden.<br />
Die Mahlzeiten werden täglich frisch gekocht. Je nach Betreuungszeit sind die Kinder schon zum<br />
Frühstück anwesend. Alle Kinder erhalten etwa um 9.30 Uhr ein Obstvesper, zwischen 11.00 <strong>und</strong><br />
12.00 Uhr ein Mittagessen <strong>und</strong> um 14.00 Uhr einen kleinen Snack.<br />
78
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Die Gestaltung der Räumlichkeiten <strong>und</strong> des Tagesablaufes<br />
Bei unserem Besuch fällt uns auf, wie liebevoll alles gestaltet ist. In diesem Gebäude ist viel Platz<br />
vorhanden, es wirkt grosszügig <strong>und</strong> nicht beengend. Eltern <strong>und</strong> Kinder können sich gut orientieren<br />
<strong>und</strong> informieren.<br />
Beim Haupteingang befindet sich ein Eingangsbereich für die Eltern, wo diese sich während<br />
der Eingewöhnungsphase aufhalten können. Wenn ein Kind neu eintritt, sind die Eltern anfänglich<br />
durchgehend anwesend, dann beginnt eine gestaffelte Trennungsphase, die eine allmähliche Ablösung<br />
ermöglicht.<br />
In der Kindertagesstätte wird drei Mal pro Woche am Vormittag in altershomogenen Kleingruppen<br />
gearbeitet, in der übrigen Zeit werden die Kinder in altersgemischten Gruppen betreut. Im altersdurchmischten<br />
Lernen stehen Veränderungen an. Die Aufteilung der Kinder wird neu gestaltet <strong>und</strong><br />
zwar in Gruppen von Kindern von einem bis drei Jahren <strong>und</strong> von drei bis sechs Jahren.<br />
Im Moment sind in der Sternschnuppengruppe Kinder von einem bis sechs Jahren <strong>und</strong> in<br />
der Sonnengruppe Kinder von drei bis sechs Jahren, die ganztags betreut werden. Wenn die Kinder<br />
drei Jahre alt sind, kommen sie in eine neue Gruppe auf dem gleichen Stock.<br />
79
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
In der Kindertagesstätte Gmindersdorf hat jedes Kind ein «Könnerbuch», in welchem eigene<br />
Werke, wie Zeichnungen, Fotos <strong>und</strong> ähnliches, sowie die <strong>Lerngeschichten</strong> abgeheftet werden.<br />
Sie sind für das Kind jederzeit zugänglich <strong>und</strong> werden auf Kinderhöhe aufbewahrt.<br />
80
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
In älteren Kleingruppen finden öfters Projektarbeiten statt. So wurde zum Beispiel auf dem Spielplatz<br />
ein kleines Haus mit Briefkasten gebaut.<br />
Es gibt Ruheräume für Kinder von drei bis sechs Jahren. Während der Ruhezeit liegt die Erzieherin<br />
auch auf einem Bett, erzählt Geschichten oder macht Massage. Über jedem Bett sind die Fotos der<br />
Erzieherinnen oder des Kindes aufgehängt.<br />
81
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Bei der Ausgestaltung der Räumlichkeiten <strong>und</strong> auch bei täglichen Aufgaben arbeiten Eltern<br />
<strong>und</strong> Kinder mit. Auf den Gängen entdecken wir Abbildungen von Eltern wie auch vom Eltern<strong>und</strong><br />
Kinderrat.<br />
Diese Mauer zur Abgrenzung des Spielplatzes wurde durch die Eltern gebaut. Sie lässt einen geborgenen<br />
Bereich für kleine Kinder entstehen.<br />
82
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
5.1.2 Kinderhaus Heinestrasse 76<br />
Annäherung<br />
Das städtische Kinderhaus Heinestrasse 76 in Reutlingen, Baden-Württemberg,<br />
Deutschland<br />
Das Städtische Kinderhaus Heinestrasse 76 ist in einem Wohnquartier am Rande der Stadt Reutlingen<br />
gelegen. Bei unserem Besuch beeindruckte uns der schlichte Bau, der erst beim Eintreten seine<br />
eigentliche Atmosphäre preisgab <strong>und</strong> uns in eine beeindruckend kindgerechte Welt führte.<br />
«Offenheit beginnt in den Köpfen <strong>und</strong> Herzen der Erwachsenen» (Lill, 2010, Internetseite<br />
der Stadt Reutlingen). Die so formulierte konzeptionelle Gr<strong>und</strong>haltung dieser eindrücklichen<br />
Institution definiert ihr Verständnis einer offenen Arbeit mit Kindern.<br />
Das «Städtische Kinderhaus Heinestrasse 76»<br />
83
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Im «Städtischen Kinderhaus Heinestrasse 76», welches im Jahre 2000 erbaut wurde, stehen<br />
30 Ganztagesplätze <strong>und</strong> 33 Plätze mit verlängerten Öffnungszeiten zur Verfügung. Die Kinder<br />
bleiben dann von 6.45 bis 17.00 Uhr beziehungsweise von 7.00 bis 13.00 Uhr oder von 7.30 bis<br />
13.30 Uhr im Kinderhaus. Die Betreuung der Kinder wird durch neun Erzieherinnen gewährleistet,<br />
vier davon arbeiten in einem 100%-Pensum. Dabei stehen für die «Ganztages-Gruppen»<br />
2,83 Mitarbeiterinnen pro Gruppe <strong>und</strong> für die «Verlängerte-Öffnungszeiten-Gruppe»<br />
1,65 Mitarbeiterinnen zur Verfügung. Entsprechend ihren Zuständigkeiten besuchen sie verschiedene<br />
Fortbildungen. Das Kinderhaus wird von Frau Ingrid Elisabeth Schulz geleitet,<br />
die zu ca. 53% für die Hausleitung <strong>und</strong> zu 47% für Weiterbildungen zur Umsetzung des Baden-<br />
Württembergischen <strong>Bildungs</strong>plans zuständig ist. Ab Sommer 2010 arbeitet Frau Schulz<br />
zu 100% in freier Referentinnentätigkeit.<br />
Im Logo des «Städtischen Kinderhauses Heinestrasse 76»<br />
sind die Bausteine enthalten, welche die Schwerpunkte<br />
der pädagogischen Arbeit darstellen:<br />
84
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Gelb: Beziehung<br />
Täglich findet um 9.15 Uhr ein Morgentreff für alle Kinder statt, die zu dieser Zeit bereits im Haus<br />
anwesend sind. Auch in den altershomogenen Gruppen wird ein täglicher Treff mit der Bezugserzieherin,<br />
welche für die Beziehungsgestaltung <strong>und</strong> Begleitung zuständig ist, durchgeführt. Weiter<br />
gehört die Projektarbeit zu den regelmässigen Aktivitäten im Kinderhaus.<br />
Von 7.00 bis 10.00 Uhr steht den Kindern ein Buffet mit biologischen Produkten zur Verfügung.<br />
Die Kinder selber bringen kein Essen mit. Das Mittagessen wird vom nahen Krankenhaus<br />
geliefert.<br />
Wenn ein Kind neu aufgenommen wird, wird es von einer Eingewöhnungserzieherin während<br />
ungefähr zwei Wochen begleitet. Eingewöhnung ist hier ein Konzept mit festgelegten Handlungsparametern,<br />
um die Eingewöhnung <strong>und</strong> den Übergang der Kinder <strong>und</strong> ihren Familien in das<br />
Kinderhaus hilfreich zu gestalten. Vorerst hält sich das Kind mit der Erzieherin <strong>und</strong> der Mutter<br />
zusammen während etwa einer St<strong>und</strong>e in einem Raum entsprechend seinen Interessen auf.<br />
Nach <strong>und</strong> nach werden neue Räume angeboten <strong>und</strong> die Aufenthaltsdauer wird verlängert.<br />
85
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Mit der Zeit begleitet die Mutter das Kind nicht mehr in die verschiedenen Räume <strong>und</strong> verbringt<br />
die Zeit auf dem Elternsofa im Eingang, ist also nach wie vor im Haus anwesend. Ganztageskinder<br />
werden vorzugsweise am Nachmittag eingewöhnt, da es zu dieser Tageszeit ruhiger ist im Kinderhaus.<br />
In der Gesamtkindergartenzeit finden mindestens zwei Entwicklungsgespräche mit den<br />
Eltern statt. Durch verschiedene Aktivitäten <strong>und</strong> Feste, unter anderem durch eine jährliche<br />
«bewegte» Eltern-Kind-Aktion, beteiligen sich die Eltern am Leben im Kinderhaus Heinestrasse<br />
<strong>und</strong> erhalten einen Einblick in die Tätigkeiten der Erzieherinnen <strong>und</strong> der Kinder.<br />
Grün: Beobachtung <strong>und</strong> Bildung<br />
Die Beobachtung ist eine wesentliche Gr<strong>und</strong>lage für die Arbeit mit den Kindern im Kinderhaus<br />
Heinestrasse. Dabei steht das eigene Lernen des Kindes im Zentrum <strong>und</strong> es wird differenziert,<br />
ob es neues Lernen, also ein Lernfortschritt oder eine alltägliche zu bewältigende Situation ist.<br />
Lernen findet aber auch im Lebensalltag statt, zum Beispiel auf der Treppe, wo beim Gehen die auf<br />
der Treppe aufgeklebten Zahlen, Zahlwörter <strong>und</strong> Mengen verinnerlicht werden. Der pädagogischdidaktischen<br />
Haltung liegt der Konstruktivismus zu Gr<strong>und</strong>e: In Ko-Konstruktion gestaltet das<br />
Kind die Welt mit, es entdeckt Fähigkeiten <strong>und</strong> entwickelt Fertigkeiten, seine Autonomie wächst.<br />
Es erweitert seinen Handlungsspielraum Schritt für Schritt <strong>und</strong> verfeinert sein Abbild in der<br />
Interaktion mit der Umwelt.<br />
Im Kinderhaus Heinestrasse 76 wird seit 2003 mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> gearbeitet.<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind Geschichten, die vom Lernen der Kinder erzählen <strong>und</strong> sie werden im <strong>Bildungs</strong>buch<br />
abgelegt.<br />
86
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
87
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Rot: Bewegung<br />
Das «Städtische Kinderhaus Heinestrasse 76» ist ein bespielbares Haus mit Funktionsräumen<br />
<strong>und</strong> Lernwerkstätten wie Baustelle, Schreibwerkstatt, Bewegungsraum, Werkstatt, Labor <strong>und</strong> Traumzimmer.<br />
Diese liebevoll eingerichteten Räumlichkeiten ermöglichen es den Kindern, denjenigen<br />
Aktivitäten nachzugehen, die ihrem derzeitigen <strong>Bildungs</strong>interesse entsprechen. Auf dem Plan<br />
im Eingangsbereich können die Kinder einsehen, welche Erzieherin für welchen Raum zuständig<br />
ist <strong>und</strong> sie können sich entscheiden, wo sie sich aufhalten möchten. Die Kinder dürfen ihren Tätigkeitsbereich<br />
wechseln, wann immer sie wollen, wobei der Innen- <strong>und</strong> Aussenbereich gleichwertig<br />
sind. Die Institution wurde durch den Landessportb<strong>und</strong> Baden-Württemberg für das Bewegungskonzept<br />
zertifiziert.<br />
Experimente mit Zeit <strong>und</strong> Materialien<br />
Einer dieser Funktionsräume ist als Baustelle für Kinder von drei bis sechs Jahren mit Hohlbausteinen,<br />
Biberbausteinen <strong>und</strong> verschieden hohen Baumstämmen eingerichtet. Eine weitere Baustelle<br />
befindet sich im Freien.<br />
Im selben Raum stehen auch Materialien für den mathematischen Bereich zur Verfügung<br />
<strong>und</strong> können auch mit der Baustelle kombiniert werden: Sanduhren, Gelegenheiten zum Messen,<br />
Wiegen <strong>und</strong> Vergleichen.<br />
88
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
Das «Städtische Kinderhaus Heinestrasse 76» ist wie erwähnt ein bewegungszertifizierter Kindergarten.<br />
Bewegung wird dabei nicht nur als motorische Aktivität verstanden, sondern auch als<br />
Angebot an vielfältigen <strong>Bildungs</strong>möglichkeiten <strong>und</strong> an verschiedenen Erfahrungsfeldern in den für<br />
die Bedürfnisse der Kinder eingerichteten Funktionsräumen.<br />
In der Werkstatt bekommen die Kinder einen Werkstattschein,<br />
wenn sie mit Werkzeugen umgehen<br />
können. Dies bedeutet, dass sie dort auch alleine<br />
arbeiten gehen dürfen.<br />
89
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.1 Die besuchten Kindertagesstätten in Reutlingen, Baden-Württemberg, Deutschland<br />
In der Schreibwerkstatt können Kinder ihre «Spuren hinterlassen» <strong>und</strong> erste Schreiberfahrungen<br />
sammeln, sowie auch Nähen oder Weben. Diese Tätigkeiten sind ideal für «entwicklungsbeschleunigte»<br />
Kinder.<br />
Im Traumzimmer können sich die<br />
Kinder zurückziehen, sich erholen <strong>und</strong><br />
Geschichten <strong>und</strong> sanfte Musik hören.<br />
Im Malatelier entdecken die Kinder<br />
die verschiedenen Farbtöne <strong>und</strong> ihre<br />
Wirkung.<br />
Weitere detaillierte Informationen zum «Städtischen Kinderhaus Heinestrasse 76» sind unter der<br />
Internetadresse www.reutlingen.de/ «Standortbestimmung Kinderhäuser der Stadt Reutlingen»<br />
zu finden.<br />
90
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn,<br />
Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Die Universitätsstadt Paderborn liegt im südöstlichen Winkel des Westfälischen Tieflandes,<br />
am Fuss der hier nach Süden <strong>und</strong> Osten ansteigenden Paderborner Hochfläche <strong>und</strong> zählt gut<br />
145’000 Einwohner. Die Bomben des Zweiten Weltkrieges legten Paderborn zu 85% in Trümmer.<br />
Nach dem Wiederaufbau in den 1940er- bis 1960er-Jahren entwickelte sich Paderborn zu einem<br />
der wichtigsten westfälischen Industrieorte, besonders die Hightech-Industrie machte die Stadt zu<br />
einem wichtigen Wirtschaftsplatz. Zu den vielen interessanten Sehenswürdigkeiten zählen unter<br />
anderem der Dom, der im Zentrum der Innenstadt liegt, die Paderquellen <strong>und</strong> das Rathaus.<br />
5.2.1 Paderborner Kindertagesstätte<br />
Geschichte<br />
Institution Paderborner Kindertagesstätte, Ahornallee, Paderborn,<br />
Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Vor fast vierzig Jahren entstanden in Paderborn in der damals jungen Computerindustrie neue<br />
Arbeitsplätze. Viele qualifizierte Arbeitskräfte kamen hierher, darunter auch junge Eltern <strong>und</strong> Alleinerziehende,<br />
die dringend nach Möglichkeiten einer Betreuung während ihrer Arbeitszeit suchten.<br />
Durch die Initiative von Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter der Nixdorf Computer AG wurde schon<br />
1969 der Verein «Paderborner Kindertagesstätte e.V.» gegründet. Aufgr<strong>und</strong> fehlender gesetzlicher<br />
Regelungen <strong>und</strong> massiver behördlichen Auflagen wurde die Einrichtung 1975 geschlossen. Im Jahre<br />
1981 eröffnete die Kindertagesstätte an der Hans-Humpertstrasse wieder <strong>und</strong> wurde 1987 durch<br />
den Neubau in der Ahornallee, der vier Kindergruppen Platz bietet, ergänzt.<br />
Paderborner Kindertagesstätte e.V., Ahornallee<br />
Aktuell werden 60 Kinder im Alter von vier Monaten bis sechs Jahren in der Kindertagesstätte<br />
betreut. Die Kinder sind in vier Gruppen zu je sieben Kindern unter drei Jahren <strong>und</strong> acht Kindern<br />
zwischen drei <strong>und</strong> sechs Jahren eingeteilt. Jede Gruppe wird von drei Lehrpersonen/Erzieherinnen<br />
91
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
betreut. Die Kindertagesstätte ist von 6.30 Uhr bis 17.15 Uhr geöffnet. Die Betreuungszeiten<br />
können nach Absprache von Kind zu Kind verschieden sein <strong>und</strong> richten sich nach den Arbeitszeiten<br />
der Eltern. Nach einem gemeinsamen Frühstück, spätestens um 9.00 Uhr, beginnt der Tag in den<br />
Gruppen oftmals mit Gesang <strong>und</strong> Spiel, mit gemeinsamen <strong>und</strong> individuell abgestimmten Angeboten,<br />
viel Bewegung <strong>und</strong> Sport, aber auch Ausflügen in die nähere Umgebung. In den altersgemischten<br />
Gruppen werden auch gemeinsame Projekte injiziert, um Natur, Wissenschaft, Technik<br />
oder auch Einrichtungen des täglichen Lebens kennen zu lernen. Das Mittagessen findet in der<br />
vertrauten Tischgemeinschaft in der Gruppe statt. Nach dem Essen können sich die Kinder in den<br />
Ruheraum zurückziehen. Meditative Musik oder eine Massage fördern die sinnliche Erfahrung<br />
<strong>und</strong> bringt den Kindern Entspannung.<br />
Nach der Mittagsruhe stehen das freie Spiel oder auch gruppenübergreifende Angebote<br />
im Vordergr<strong>und</strong>. Nach einem kleinen Nachmittagsimbiss beginnt dann die Abholzeit durch die<br />
Eltern.<br />
Die Gestaltung der Räumlichkeiten<br />
Die Kindertagesstätte liegt am westlichen Rand der Stadt Paderborn <strong>und</strong> ist ein ebenerdig angelegtes<br />
Gebäude im Grünen. Bei unserem Besuch fällt uns auf, dass die Räume hell <strong>und</strong> mit vielen<br />
liebevollen Details eingerichtet sind.<br />
Der Eingangsbereich der Kindertagesstätte<br />
mit einem «Kastanienbad»<br />
92
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Vor den einzelnen Gruppenräumen hängen Fotos von den Kindern, von deren Tätigkeiten <strong>und</strong><br />
Lernschritten. Transparenz <strong>und</strong> Offenheit bei der Elternarbeit sind in der Kindertagesstätte von<br />
zentraler Bedeutung.<br />
Bis spätestens um 9.00 Uhr haben alle Kinder in der Gruppe das Frühstück eingenommen, damit<br />
nachher mit den Spielen, dem Singen oder anderen Tätigkeiten begonnen werden kann.<br />
93
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Ein Bewegungsraum animiert die Kinder, sich zu bewegen <strong>und</strong> Neues auszuprobieren.<br />
In der Kindertagesstätte hat jedes Kind ein Portfolio, in welchem seine Werke, wie Zeichnungen,<br />
Fotos <strong>und</strong> ähnliches, sowie die Lerngeschichte abgeheftet werden. Sie werden in den Gruppenräumen<br />
aufbewahrt <strong>und</strong> sind für das Kind jederzeit zugänglich.<br />
Die Portfolios der Kinder<br />
94
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Ein Mädchen zeigt uns sein Portfolio<br />
<strong>und</strong> die <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Nach dem Mittagessen können sich die Kinder in den Ruheraum zurückziehen. Die Erzieherinnen<br />
lassen sanfte Musik spielen, machen eine Massage oder erzählen Geschichten.<br />
95
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Am Nachmittag findet das Freispiel statt. Oft bewegen sich die Kinder auch auf dem grossen Spielplatz,<br />
der zur Kindertagesstätte gehört.<br />
96
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
5.2.2 Kindergarten St. Vincenz<br />
Geschichte<br />
Institution Katholische Kindertageseinrichtung St.Vincenz, Paderborn,<br />
Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Im Jahre1996 wurde die Kindertageseinrichtung St.Vincenz wegen der stetig steigenden Nachfrage<br />
auf Betreiben des örtlichen Jugendamtes eröffnet. Der Kindergarten befindet sich <strong>–</strong> mit separatem<br />
Eingang <strong>–</strong> im Gebäude des Erzbischöflichen Kinderheimes, das von einer grossen Freifläche umgeben<br />
im Kern der Stadtheide liegt. Beide Einrichtungen, Kinderheim <strong>und</strong> Kindergarten, werden<br />
getragen durch den «Verein für Jugendhilfe im Erzbistum Paderborn e.V.» Die Aussenspielfläche<br />
wurde 2004 neu gestaltet <strong>und</strong> ist 1100 Quadratmeter gross.<br />
Katholische Kindertageseinrichtung St.Vincenz<br />
Aktuell werden 65 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren in der Einrichtung betreut.<br />
Im Kindergarten werden die Kinder 35 St<strong>und</strong>en in der Woche <strong>und</strong> in der Tagesstätte<br />
45 St<strong>und</strong>en in der Woche aufgenommen. Die Kinder verteilen sich auf drei Gruppen zu 22 <strong>und</strong><br />
26 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren <strong>und</strong> eine Gruppe mit 17 Kindern im Alter zwischen<br />
zwei <strong>und</strong> drei Jahren. Gr<strong>und</strong>sätzlich arbeiten zwei Erzieherinnen in der Gruppe, unterstützt durch<br />
eine Praktikantin.<br />
97
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Die Kindertageseinrichtung ist von 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr geöffnet. Der Kindergarten wird ohne,<br />
die Tagesstätte mit Mittagsbetreuung geführt.<br />
Die Kinder nehmen ihr Frühstück selber mit, es wird gemeinsam in der Gruppe eingenommen.<br />
Über Mittag bleiben im Moment 26 Kinder in der Einrichtung. Die anderen gehen zum<br />
Essen nach Hause <strong>und</strong> kommen am Nachmittag wieder. Die meisten Kinder kommen aus dem Stadtteil<br />
in der näheren Umgebung der Kindertageseinrichtung, wo es zahlreiche Einfamilienhäuser<br />
gibt. Viele Familien wohnen über längere Zeit hier. In den letzten Jahren sind aber auch Familien<br />
mit Migrationshintergr<strong>und</strong> zugezogen, die auf Wunsch auch in die Einrichtung aufgenommen<br />
werden. Die Kindertageseinrichtung betreut auch zwei Kinder mit einer anerkannten Behinderung<br />
<strong>und</strong> ein Kind mit dem Antrag auf Unterstützung.<br />
Räumlichkeiten <strong>und</strong> alltägliches Leben in der Einrichtung<br />
Die Räume des Erzbischöflichen Kinderheimes sind nicht kindergartentypisch. Es gibt viele kleine<br />
Räume <strong>und</strong> keine grossen Gruppenräume. Dies ist ein Vorteil für die Arbeit in Kleingruppen,<br />
der Geräuschpegel ist dadurch geringer <strong>und</strong> es kann thematisch in den einzelnen Gruppenräumen<br />
gearbeitet werden. Die Beobachtung der einzelnen Kinder ist gut möglich. Bei unserem Besuch<br />
konnten wir erleben, wie aktiv <strong>und</strong> doch ruhig in den einzelnen Räumen gearbeitet <strong>und</strong> gespielt<br />
wurde.<br />
Kinder beim Spielen in einem Gruppenraum<br />
98
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Einige der Räume des Erzbischöflichen Kinderheimes wie die Sporthalle <strong>und</strong> die integrierte<br />
Kapelle werden auch von den Kindern des Kinderheimes benutzt. Oft werden festliche Rituale<br />
wie Geburtstage oder Weihnachtsfeiern in der Kapelle stimmungsvoll gefeiert.<br />
Die Kapelle für feierliche Rituale<br />
Bei der Ausgestaltung der Räumlichkeiten <strong>und</strong> bei anstehenden Reparaturen arbeiten die Eltern<br />
mit. Alle zwei Jahre gibt es auch ein Familienwochenende, an dem Eltern, Kinder <strong>und</strong> Erzieherinnen<br />
teilnehmen. Auch findet immer wieder ein Familienstammtisch in einer Gaststätte statt, an dem<br />
auch die Erzieherinnen teilnehmen, um den Austausch zwischen Eltern <strong>und</strong> den Betreuenden zu<br />
fördern. Es ist uns aufgefallen, dass der Austausch <strong>und</strong> die Kommunikation zwischen allen Beteiligten<br />
eine wichtige Rolle spielt. Dies zeigt sich auch in den Gängen der Einrichtung, wo überall Informationen<br />
auf Bildern, Plakaten oder Fotos zu finden sind. Sogar ein Monitor mit den neuesten<br />
Informationen steht im Eingangsbereich, damit die Eltern Einsicht in die Prozesse, in die Arbeit<br />
<strong>und</strong> Entwicklung der Kinder haben.<br />
Diese Offenheit, das Engagement <strong>und</strong> die Transparenz in der Elternarbeit sind uns bei<br />
unserem Besuch besonders aufgefallen <strong>und</strong> haben uns beeindruckt.<br />
99
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Monitor mit den aktuellen Themen in der Kindertageseinrichtung St.Vincenz<br />
100<br />
Plakate mit Informationen für die Eltern
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Es gibt Ruheräume für die Kinder. Hier können sie sich nach dem Mittagessen ausruhen, eine<br />
Geschichte hören oder sich entspannen.<br />
101<br />
In der Kindertageseinrichtung hat jedes Kind eine «Schatzmappe». Darin werden selbstausgewählte<br />
Werke der Kinder wie Fotos, Zeichnungen <strong>und</strong> auch die <strong>Lerngeschichten</strong> abgeheftet. Sie sind für<br />
die Kinder jederzeit <strong>und</strong> gut zugänglich.
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.2 Die besuchten Kindertagesstätten in Paderborn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland<br />
Die Kindertageseinrichtung St.Vincenz achtet darauf, dass die Kinder viel Bewegung haben,<br />
auch in Form von Wandertagen, Ausflügen in den Wald oder auf den nahen Spielplatz <strong>und</strong> dies<br />
bei jedem Wetter. Die Einrichtung ist bewegungszertifiziert.<br />
102<br />
Auch die Eltern gestalten manchmal eine<br />
Seite in der «Schatzmappe»<br />
Kinder beim Spielen<br />
im Bewegungszimmer
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
103<br />
Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Forschungsarbeit ausgehend von den Fragestellungen<br />
geplant <strong>und</strong> durchgeführt wurde. Wie in Abschnitt 4.2 bereits dargelegt <strong>und</strong> begründet, wurde<br />
für diese Masterarbeit der Vorgehensplan einer Einzelfallanalyse gewählt, obwohl das Forschungsdesign<br />
nicht einer klassischen Einzelfallanalyse entspricht, da das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> nicht die einzelne Institution im Zentrum unserer Forschung war.<br />
In jeder Kindertagesstätte führten wir ein problemzentriertes Interview mit einer oder<br />
mehreren Pädagoginnen gleichzeitig, wobei die Aussagen im letzteren Fall nicht separat dargestellt<br />
wurden. In drei Kindertagesstätten war es auch möglich, zusätzlich ein Interview mit der Institutionsleitung<br />
zu führen. Später kamen in der Schweiz noch zwei Expertinneninterviews dazu.<br />
Für die Interviews erstellten wir einen Leitfaden, welchen wir durch unsere Erfahrungen in den<br />
ersten Interviews später leicht anpassten. Nachfolgend das Beispiel eines Leitfadens, welcher für<br />
das Interview mit der Institutionsleitung des Kindergartens St. Vincenz in Paderborn verwendet<br />
wurde.
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
Interviewleitfaden zum Thema <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
(In den Interviewfragen wurde zur Vereinfachung der Begriff «<strong>Lerngeschichten</strong>» verwendet.)<br />
Würden Sie sich uns bitte persönlich vorstellen?<br />
Wie lautet Ihre Definition von <strong>Lerngeschichten</strong>?<br />
Wie, wann <strong>und</strong> warum haben Sie sich für <strong>Lerngeschichten</strong> entschieden?<br />
Wie häufig werden <strong>Lerngeschichten</strong> geschrieben?<br />
Zeiträume/Abläufe/Verantwortlichkeiten?<br />
Wie <strong>und</strong> wie oft findet der Austausch im Zusammenhang mit <strong>Lerngeschichten</strong> im<br />
Team statt?<br />
Welches ist die Rolle der Beteiligten: Kind, Eltern, Pädagoginnen?<br />
Wie werden <strong>Lerngeschichten</strong> den Kindern kommuniziert?<br />
Welche Qualitäten kennzeichnen diese Dialoge?<br />
Welche Rolle spielen <strong>Lerngeschichten</strong> in Elterngesprächen?<br />
Wer ist bei Ihnen für die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen<br />
zuständig?<br />
Welches sind Gelingensfaktoren <strong>und</strong> Stolpersteine für die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong>?<br />
Welches sind Ihrer Meinung nach Chancen <strong>und</strong> Grenzen der <strong>Lerngeschichten</strong>?<br />
Gibt es durch <strong>Lerngeschichten</strong> eine Mehrbelastung? Wenn ja: welche?<br />
Welche Auswirkungen hat die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> auf die Zusammenarbeit<br />
im Team?<br />
Wie werden die Mitarbeitenden für die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> ausgebildet?<br />
Wie werden <strong>Lerngeschichten</strong> aufbewahrt/archiviert? Für wen sind sie zugänglich?<br />
104
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
Welche Auswirkungen hat die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> auf die Unterrichts<strong>und</strong><br />
Raumgestaltung?<br />
Gibt es Folgeprojekte anschliessend an Ihre Institution z. B. einen Transfer in die Schule?<br />
Welche Entwicklungsperspektiven sehen Sie für Ihre Institution in Bezug auf die Arbeit<br />
mit <strong>Lerngeschichten</strong>?<br />
Welche Empfehlungen würden Sie anderen Institutionen für die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong><br />
geben?<br />
Welches sind Ihre Visionen für die Zukunft?<br />
Welche pädagogischen Gr<strong>und</strong>haltungen zu Entwicklungsprozessen von Kindern sind<br />
die Basis für die Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong>?<br />
Inwieweit unterstützen <strong>Lerngeschichten</strong> die Förderung von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen?<br />
Erachten Sie <strong>Lerngeschichten</strong> als geeignetes Instrument für die Arbeit mit Kindern mit<br />
besonderen Bedürfnissen?<br />
Wie wird aus den <strong>Lerngeschichten</strong> die Förderung von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen abgeleitet?<br />
Wo liegt der Gewinn der Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> für ein Kind mit altersgemässer<br />
Entwicklung oder für ein Kind mit besonderen Bedürfnissen?<br />
Wie werden Ressourcen von Kindern durch <strong>Lerngeschichten</strong> erfasst?<br />
Sind Ihrer Meinung nach <strong>Lerngeschichten</strong> auch ein Instrument zur Beurteilung?<br />
Werden <strong>Lerngeschichten</strong> auch für Schullaufbahnentscheide verwendet?<br />
Welche Stärken nehmen Kinder aus der Arbeit mit <strong>Lerngeschichten</strong> für ihren<br />
zukünftigen Weg mit?<br />
Was zeichnet ein Kind mit altersgemässer Entwicklung oder ein Kind mit besonderen<br />
Bedürfnissen aus, das mit <strong>Lerngeschichten</strong> gefördert wurde?<br />
105
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
106<br />
Nach der Erhebung mussten die Daten aufbereitet werden. Um die exakte Beschreibung des<br />
Forschungsgegenstandes zu gewährleisten, transkribierten wir die Interviews jeweils wörtlich,<br />
wozu trotz Teamarbeit die drei- bis vierfache Interviewzeit einberechnet werden musste (siehe<br />
Anhang 6 bis 8). Die Kontexteinbindung der Erhebung <strong>und</strong> das Formulieren von besonderen<br />
Eindrücken konnten wir durch unsere in den Abschnitten 5.1 <strong>und</strong> 5.2 vorgestellten Kindertagesstätten<br />
gewährleisten.<br />
Als Auswertungsverfahren wählten wir die qualitative Inhaltsanalyse <strong>und</strong> versahen als erstes die<br />
gesamten transkribierten Interviews mit fortlaufenden Zeilennummern, damit die herausgefilterten<br />
Aussagen jederzeit wieder gef<strong>und</strong>en werden können. Dafür war zuerst eine Fallstrukturierung<br />
notwendig, bei welcher wir deduktiv vorgingen <strong>und</strong> anhand der wir in Kapitel 2 den Forschungsfragen<br />
entsprechend dargestellten Theorie mehrere Kategorien <strong>und</strong> Unterkategorien formulierten.<br />
Bei diesem Arbeitsschritt orientierten wir uns an Begriffen, die einerseits aus dem Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> andererseits aus dem Kontext der Förderung von Kindern<br />
mit besonderen Bedürfnissen stammen. Dem Kategoriensystem ordneten wir nun entsprechende<br />
Kernaussagen inklusive Zeilennummern aus den jeweiligen transkribierten Interviews zu <strong>und</strong> trugen<br />
sie ins Kategoriensystem ein (siehe Abschnitte 5.4 bis 5.6). Anschliessend wurden die Aussagen<br />
aller Befragten aus den einzelnen kodierten Interviews den vier Kategorien zugeordnet, damit sie<br />
anschliessend generalisiert werden konnten. Diese Generalisierungen erscheinen in den Abschnitten<br />
6.1 <strong>und</strong> 7.1<br />
Im Laufe der Kategorienbildung entwickelten wir je einen Kodierleitfaden für den Forschungs<strong>und</strong><br />
den Entwicklungsteil, welche eine eindeutige Zuordnung von Textmaterial zu den Kategorien<br />
ermöglichten (vgl. Mayring, 2002, S.118 f.). Die Interpretation der Ergebnisse folgt in den<br />
Abschnitten 6.2 <strong>und</strong> 7.2.
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
Kat. Definition Ankerbeispiele Kodierregeln<br />
K 1 Förderdiagnostik<br />
K 2 Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
K 3 Austausch<br />
K 4 Förderplanung<br />
Mit dem Begriff wird die<br />
Förderung eines Kindes<br />
mit dem Gedanken der<br />
Diagnostik verknüpft, deren<br />
Ziel die Optimierung<br />
der Förderung ist.<br />
Die pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
ist die professionelle<br />
<strong>und</strong> auch persönliche<br />
Einstellung einer<br />
Lehrperson gegenüber<br />
Lernenden <strong>und</strong> ihrem<br />
Lernen.<br />
Der Austausch mit dem<br />
Kind, den Eltern <strong>und</strong> mit<br />
dem Team meint die dialogische<br />
Gr<strong>und</strong>haltung in<br />
Gesprächen, um gemeinsam<br />
das Kind in seinem<br />
Lernen zu fördern.<br />
In einer Förderplanung<br />
werden künftige Lern<br />
<strong>und</strong> Entwicklungsschritte<br />
geplant <strong>und</strong> festgehalten<br />
(vgl. Buholzer, 2006, S.<br />
59).<br />
Tabelle 2 Kodierleitfaden für den Forschungsteil<br />
·· Individueller auf Lernen <strong>und</strong> Entwicklung<br />
der Kinder zu gucken.<br />
(V/I, 818)<br />
·· ..., es gibt schon mit diesen Lerndispositionen<br />
ganz viele Informationen.<br />
(E/R, 151/152)<br />
·· Es folgt eine unheimliche Wertschätzung<br />
hinterher <strong>und</strong> die<br />
Kinder freuen sich auch schon.<br />
Und fragen dann auch morgens:<br />
«Beobachtest du mich den<br />
Tag?» (V/I, 738/739)<br />
·· ... eine Gesamtsicht auf das Kind,<br />
mit dem besonderen Blick auf die<br />
Stärken. (V/P, 946/947)<br />
·· ..., denn es lebt im dritten Schritt<br />
davon, dass man austauscht<br />
<strong>und</strong> miteinander schaut. (E/B,<br />
552/553)<br />
·· Dass sich im Team erst einmal<br />
auseinandergesetzt wird über die<br />
Arbeit, über das Bild vom Kind...<br />
(V/I, 828/830)<br />
·· ..., was hat sich entwickelt <strong>und</strong><br />
wo muss man den nächsten Impuls<br />
geben. (P/P, 1240/1241)<br />
·· Dass man da auch mit der Umgebung<br />
reagieren kann <strong>und</strong> somit<br />
auch die Förderung oder die Herausforderung<br />
für die Kinder dann<br />
gestaltet ist. (H/P, 2293/2294)<br />
107<br />
··<br />
Alle benannten<br />
Diagnose- <strong>und</strong><br />
Beobachtungsverfahren<br />
··<br />
Aussagen zu besonderen<br />
Bedürfnissen<br />
··<br />
Aussagen über Umgang<br />
mit Stärken<br />
<strong>und</strong> Defiziten<br />
··<br />
Aussagen zur Beziehungsebene<br />
··<br />
Aussagen über<br />
Qualität <strong>und</strong> Gestaltung<br />
von Dialog<br />
<strong>und</strong> Austausch<br />
··<br />
Aussagen über<br />
Sinn <strong>und</strong> Ziel von<br />
Austausch<br />
··<br />
Aussagen zu ganzheitlicherAusgestaltung<br />
von Förderung<br />
··<br />
Aussagen zu Förderzielen
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.3 Datenerhebung, Datenaufbereitung <strong>und</strong> Datenauswertung<br />
Kat. Definition Ankerbeispiele Kodierregeln<br />
K 5 <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
K 6 Organisation<br />
K 7 Ausgestaltung<br />
K 8 Umsetzung des Verfahrens<br />
Das <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
umschreibt, welche<br />
Vorstellungen Menschen<br />
vom Lernen <strong>und</strong> von<br />
Bildung haben.<br />
Mit der Organisation ist<br />
die Planung <strong>und</strong> Einführung<br />
des Verfahrens<br />
innerhalb einer Institution<br />
gemeint.<br />
Mit Ausgestaltung des<br />
Verfahrens ist gemeint,<br />
welche Materialen für<br />
die Umsetzung benötigt<br />
werden, wie die Raumgestaltung<br />
aussieht <strong>und</strong> wie<br />
die Dokumentationen<br />
innerhalb des Verfahrens<br />
gestaltet werden.<br />
Mit dem Begriff wird die<br />
konkrete Umsetzung des<br />
Verfahrens in den Institutionen<br />
beschrieben.<br />
Tabelle 3 Kodierleitfaden für den Entwicklungsteil<br />
·· Denn dann hat Lernen stattgef<strong>und</strong>en,<br />
wenn neue Problemlösungswege<br />
erkennbar sind.<br />
(H/I, 2413/2414)<br />
·· Sehe ich mich als diejenige, die<br />
schon alles weiss <strong>und</strong> Kinder belehren<br />
muss oder sehe ich mich als<br />
jemand, der gemeinsam mit den<br />
Kindern auf Entdeckungsreise<br />
geht. (P/P, 1570<strong>–</strong>1572)<br />
·· Und andere Grenzen sind da die<br />
Zeit <strong>und</strong> die personellen Ressourcen.<br />
(E/B, 567/568)<br />
·· Das ist ein fixes Gefäss, dort ist<br />
dann die Zeit, um quasi über die<br />
Beobachtungen zu sprechen.<br />
(P/P, 1254)<br />
·· Also ich denke, dass das Material<br />
exakt auf die Kinder abgestimmt<br />
wird. ..., dass sich die Kinder im<br />
Haus bewegen können ... (H/P,<br />
2299<strong>–</strong>2301)<br />
·· Aber ich denke, es braucht keine<br />
speziellen Anforderungen, keine<br />
speziellen Instrumente, Räume<br />
<strong>und</strong> Personen. (E/R, 367/368)<br />
·· Also am Schluss steht die Gesamtanalyse<br />
der Beobachtungen <strong>und</strong><br />
die Überlegungen für die nächsten<br />
Schritte. (E/R, 170/171)<br />
·· Die Lerngeschichte ist eine Geschichte,<br />
die wir für das Kind über<br />
das Lernen des Kindes erzählen.<br />
Sie wird dem Kind vorgelesen,<br />
übergeben <strong>und</strong> im Könnerbuch<br />
abgeheftet. (G/P, 1688/1689)<br />
108<br />
··<br />
Aussagen zum generellenVerständnis<br />
von Lernen<br />
··<br />
Aussagen zur Rolle<br />
von Pädagoginnen<br />
<strong>und</strong> zum Umgang<br />
mit besonderen<br />
Bedürfnissen<br />
··<br />
Aussagen zur konkreten<br />
Organisation<br />
des Verfahrens an<br />
einer Institution <strong>und</strong><br />
zu Auswirkungen für<br />
die Betroffenen<br />
··<br />
Aussagen zu Material<br />
<strong>und</strong> Raumgestaltung<br />
··<br />
Aussagen zur Dokumentation<br />
··<br />
Kernaussagen zum<br />
Verfahren der <strong>Bildungs</strong>-<br />
<strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
<strong>und</strong> Hinweise<br />
zu konkreten<br />
Abläufen (entsprechend<br />
2.5.3)
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
5.4 Beispiel eines für den Forschungsteil kodierten Interviews mit der<br />
Institutionsleitenden des Kindergartens St. Vincenz in Paderborn<br />
Zeilen 704<strong>–</strong>944<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
V/I 727 ... wenn ich sogenannt magische Momente<br />
wahrnehme. (Magische Moment sind spannende<br />
Entwicklungen)<br />
V/I 743 Dann wird die Beobachtung ausgewertet nach<br />
den Lerndispositionen.<br />
V/I 801 Ausserdem bin ich gr<strong>und</strong>sätzlich der Meinung,<br />
dass jedes Kind besondere Bedürfnisse hat.<br />
V/I 818 Individueller auf Lernen <strong>und</strong> Entwicklung<br />
der Kinder zu gucken.<br />
V/I 891/<br />
892<br />
V/I 895<strong>–</strong><br />
897<br />
V/I 900/<br />
901<br />
... mit den <strong>Lerngeschichten</strong> lernt man<br />
die Bedürfnisse der Kinder richtig einzuschätzen, ...<br />
Das ist besonders bei Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen, ob es jetzt<br />
Entwicklungsverzögerungen oder auch besondere<br />
Begabungen sind, dass man da genau hinguckt,<br />
was für Bedürfnisse hat das Kind.<br />
Bei Kindern mit besonderen Begabungen zum<br />
Beispiel, dass eine Kommunikation über das<br />
Lernen <strong>und</strong> die Lernstrategien <strong>und</strong> Lernwege<br />
stattfindet.<br />
109<br />
K1 Förderdiagnostik<br />
·· Diagnoseinstrumente<br />
·· Beobachtung<br />
·· Analyse<br />
nach Lerndispositionen<br />
·· Aussagen über<br />
besondere Bedürfnisse
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.4 Kodiertes Interview mit der Institutsleitenden des Kindergartens St. Vincenz in Paderborn<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
V/I 714 ... <strong>und</strong> Kinder herausfordern. K 2 Pädagogische<br />
Gr<strong>und</strong>haltung<br />
V/I 738/<br />
739<br />
V/I 780<strong>–</strong><br />
782<br />
Es folgt eine unheimliche Wertschätzung hinterher<br />
<strong>und</strong> die Kinder freuen sich auch schon. Und<br />
fragen dann auch morgens: «Beobachtest du mich<br />
den Tag?»<br />
... dass nach jeder Beobachtung die Kinder<br />
Wertschätzung erfahren <strong>und</strong> mit ihnen über die<br />
Lerngeschichte gesprochen wird, ...<br />
V/I 789 ...: wertschätzende Kommunikation<br />
V/I 830 ... <strong>und</strong> eine Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
stärkenorientiertes Arbeiten.<br />
V/I 888<strong>–</strong><br />
890<br />
V/I 892/<br />
893<br />
V/I 918/<br />
919<br />
V/I 932/<br />
933<br />
... Wertschätzung ist eine ganz wichtige<br />
Gr<strong>und</strong>haltung. Stärken stärken <strong>und</strong> das<br />
Entwickeln der Persönlichkeit im eigenen Tempo,<br />
diese Zeit geben.<br />
... die Ressourcen der Kinder kennenzulernen<br />
<strong>und</strong> zu nutzen dann auch.<br />
Durch die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wäre es<br />
einfach individueller <strong>und</strong> es werden nicht nur<br />
Stärken deutlich ...<br />
Und das Kind kennt eigene Stärken <strong>und</strong><br />
Schwächen.<br />
110<br />
·· Orientierung an<br />
Ressourcen <strong>und</strong><br />
Stärken<br />
·· Aussagen über<br />
Umgang mit<br />
Defiziten<br />
·· Wertschätzung<br />
·· Beziehung
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.4 Kodiertes Interview mit der Institutsleitenden des Kindergartens St. Vincenz in Paderborn<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
V/I 829 Dass sich im Team erst einmal<br />
auseinandergesetzt wird über die Arbeit, über das<br />
Bild vom Kind ...<br />
V/I 887 Ja, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit<br />
Eltern, die dialogische Gr<strong>und</strong>haltung, ...<br />
V/I 831<strong>–</strong><br />
835<br />
V/I 772/<br />
774<br />
V/I 773/<br />
774<br />
V/I 817/<br />
818<br />
Es hat auch Auswirkung auf das Thema<br />
Kommunikation im Team, weil mehr<br />
Kommunikation möglich ist oder sein muss im<br />
Zusammenhang mit dem Thema <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>. Auch Veränderung im Team im<br />
Umgang mit Eltern oder Zugang zu Eltern, dass<br />
das wesentlich offener geworden ist, die<br />
Kommunikation mit Eltern.<br />
Die Rolle der Eltern <strong>und</strong> der Pädagogin ist<br />
Entwicklungsbegleiter zu sein für die Kinder.<br />
Und den Kindern ja ganz viele Erfahrungen<br />
ermöglichen im Sinne von <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>.<br />
Chancen für die Kinder sehe ich in dem<br />
Fortschreiten, die individuelle Förderung mehr in<br />
den Vordergr<strong>und</strong> zu rücken.<br />
K 3 Austausch<br />
·· Dialog mit dem<br />
Kind<br />
·· Dialog im Team<br />
·· Dialog mit den<br />
Eltern<br />
K 4 Förderplanung<br />
·· Förderziele<br />
·· Zone der<br />
nächsten Entwicklung<br />
·· Entwicklungsschritte<br />
111<br />
·· Erweiterte, ganzheitlicheSichtweise<br />
·· Reflexion
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.4 Kodiertes Interview mit der Institutsleitenden des Kindergartens St. Vincenz in Paderborn<br />
Analyseeinheit<br />
V/I 853/<br />
854<br />
V/I 887/<br />
888<br />
V/I 893/<br />
894<br />
V/I 898/<br />
899<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
... weil man sehr situationsorientiert arbeitet <strong>und</strong><br />
guckt, was für Bedürfnisse haben die Kinder. Wo<br />
können sie weiter kommen.<br />
... das Bidungsverständnis, dass nicht von oben<br />
alles eingetrichtert wird,<br />
Und wenn man die Bedürfnisse kennt, dass man<br />
dann bestmöglich interagiert <strong>und</strong> auch reagiert<br />
<strong>und</strong> auf die Kinder zugeht, damit sie Entwicklung<br />
machen können.<br />
... wie man den Kindern Lernwege visualisiert,<br />
das ist ganz wichtig bei Kindern mit<br />
Entwicklungsverzögerungen auch ...<br />
V/I 903 Das ist genau das richtige Instrument (gemeint ist<br />
das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
für die Arbeit von Kindern mit besonderen<br />
Bedürfnissen)<br />
V/I 905<strong>–</strong><br />
908<br />
V/I 930/<br />
931<br />
... dass genau nach den besonderen<br />
Bedürfnissen geguckt wird <strong>und</strong> die abgeleitet<br />
werden aus den <strong>Lerngeschichten</strong>. Und ja daraus<br />
dann auch im Gr<strong>und</strong>e noch Förderpläne erarbeitet<br />
werden, was die Kinder jetzt als nächstes<br />
brauchen, was die nächsten Schritte sind.<br />
Das Bewusstsein, ich kann etwas, ich habe einen<br />
Erfahrungsschatz, ich kann mir selber Ziele<br />
setzen ...<br />
Tabelle 4 Kodiertes Interview, Institutionsleitende Kindergarten St. Vincenz, Forschungsteil<br />
Die wörtliche Transkription dieses Interviews ist im Anhang 6 zu finden<br />
112
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
5.5 Beispiel eines für den Forschungsteil kodierten Interviews mit zwei<br />
Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Zeilen 1174<strong>–</strong>1685<br />
Analyseeinheit<br />
P/P<br />
P/P 1607<strong>–</strong><br />
1610<br />
P/P 1189/<br />
1190<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Ja, absolut, man darf nicht die Defizite der<br />
Kinder aus den Augen lassen, man darf<br />
das Ganze nicht missverstehen. Aber<br />
man kann durch das Positive, was man<br />
positiv an Kindern entdeckt, an deren<br />
wirklichen Stärken, kann man sehr vieles<br />
verändern. Wie ich gesagt habe, Stärken<br />
stärken <strong>und</strong> Schwächen schwächen.<br />
..., es ist noch einmal die Bewusstwerdung<br />
dessen, was ein Kind wirklich schon kann,<br />
ein genaues Betrachten, ...<br />
P/P 1192 ..., fallen viele Dinge nochmals viel viel<br />
mehr ins Auge.<br />
P/P 1208 ... ein genaues Hingucken <strong>und</strong> betrachten<br />
der Entwicklung des Kindes ...<br />
P/P 1214/<br />
1217<br />
Weil viele Augen sehen ganz viele<br />
verschiedene Dinge. Das finde ich auch<br />
ganz wertvoll an diesen Sachen. Man<br />
trägt dann wirklich zusammen, <strong>und</strong> jeder<br />
hat auch eine andere Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
ist auch ein Stück subjektiv damit.<br />
113<br />
K1 Förderdiagnostik<br />
·· Diagnoseinstrumente<br />
·· Beobachtung<br />
·· Analyse<br />
nach Lerndispositionen<br />
·· Aussagen über<br />
besondere<br />
Bedürfnisse
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
P/P 1394 ... durch diese intensive Beobachtung für<br />
die Lerngeschichte ...<br />
P/P 1635/<br />
1636<br />
P/P 1656/<br />
1657<br />
P/P 1660/<br />
1661<br />
P/P 1187/<br />
1188<br />
P/P 1192<strong>–</strong><br />
1194<br />
P/P 1205<strong>–</strong><br />
1207<br />
Aber wir beurteilen das Kind nicht nach<br />
einem bestimmten Raster. Wir kreuzen<br />
nichts an. Wir beschreiben die<br />
Entwicklung des Kindes, ...<br />
Und dann sehen wir etwas, was vielleicht<br />
noch nicht so ist, da müssen wir nochmals<br />
gucken.<br />
Wie gesagt, eine Lerngeschichte ist schon<br />
eine Art Beurteilung.<br />
..., sie beschreibt die Stärken eines jeden<br />
Kindes.<br />
Um wirklich dann auch dieses Positive<br />
heraus stellen, oft fallen negative Sachen,<br />
Defizite, viel mehr ins Auge, als das, was<br />
ein Kind wirklich schon kann.<br />
..., man darf auch nicht die Gefahr dabei<br />
laufen, dass man Defizite nicht aus den<br />
Augen verliert, das fänd ich jetzt auch<br />
wichtig: die Stärken stärken <strong>und</strong> die<br />
Schwächen stärken ...<br />
P/P 1271 Kinder wachsen auf dem Sofa ...<br />
K 2 Pädagogische<br />
Gr<strong>und</strong>haltung<br />
114<br />
·· Orientierung an<br />
Ressourcen <strong>und</strong><br />
Stärken<br />
·· Aussagen über<br />
Umgang mit<br />
Defiziten<br />
·· Wertschätzung<br />
·· Beziehung
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
P/P 1286 Wir sprechen jetzt positiv, positiv über<br />
mich.<br />
P/P 1321 Dann wachsen auch die Eltern.<br />
P/P 1356/<br />
1357<br />
P/P 1362/<br />
1363<br />
P/P 1395/<br />
1396<br />
... , dass man die positive Entwicklung des<br />
Kindes sehr in den Vordergr<strong>und</strong> stellt.<br />
... <strong>und</strong> man gibt den Kindern einen<br />
Schatz mit auf den Weg, so eine<br />
Schatztruhe.<br />
...- ich profitiere auch von der<br />
Beobachtung, weil ich dann einfach auch<br />
für mich ein gutes Gefühl habe.<br />
P/P 1407 Und das gibt ihnen wieder so eine positive<br />
Rückmeldung.<br />
P/P 1413/<br />
1414<br />
P/P 1600<strong>–</strong><br />
1603<br />
P/P 1615/<br />
1616<br />
Wir tauschen uns gut aus, das gibt einem<br />
als Team auch so ein gutes Gefühl dann.<br />
Und durch die Beobachtungen, durch das<br />
Schreiben der <strong>Lerngeschichten</strong> haben wir<br />
herausgearbeitet, dass das Kind vieles<br />
schon gut kann, wo es besondere Stärken<br />
auch hat <strong>und</strong> dann mit diesem Wissen,<br />
mit diesen <strong>Lerngeschichten</strong> in die<br />
Besprechung mit den Eltern zu gehen<br />
oder auch mit Therapeuten.<br />
Weil ich denke, die Kinder wissen schon<br />
sehr gut: »Das kann ich oder das kann ich<br />
nicht.» Das spüren Kinder einfach.<br />
P/P 1629 Ressourcen werden durch Beobachtung<br />
<strong>und</strong> Austausch erfasst.<br />
P/P 1640 Es ist eine positive Beurteilung.<br />
115
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
P/P 1670<strong>–</strong><br />
1673<br />
P/P 1678/<br />
1679<br />
P/P 1256/<br />
1257<br />
P/P 1278<strong>–</strong><br />
1280<br />
P/P 1302/<br />
1309<br />
P/P<br />
P/P 1369/<br />
1370<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Ich würde mir wünschen, dass unsere<br />
Kinder, die so mit <strong>Lerngeschichten</strong><br />
gefördert wurden, egal mit besonderen<br />
Bedürfnissen oder nicht, dass sie einfach<br />
ihre Stärkung gut ausdrücken können <strong>und</strong><br />
dass sie auch dazu stehen können. Weil<br />
Stärken hat man.<br />
..., dass sich die Kinder so einschätzen<br />
können: Selbstvertrauen,<br />
Selbstbewusstsein <strong>und</strong> eine gute<br />
Einschätzung.<br />
Sie gucken sich die Fotos an, sie tragen<br />
das so weiter an ihre Eltern.<br />
Die Kinder strahlen, oder allein dies, weil<br />
sie immer wieder diese Geschichte hören<br />
möchten, weil sie ihnen so gut gefallen<br />
haben, das ist ein Kommunizieren<br />
manchmal auch ohne Worte.<br />
Also es gibt interessierte Eltern, die sich<br />
auch öfters mal diese <strong>Lerngeschichten</strong> mit<br />
den Kindern zusammen durch lesen, weil<br />
das Kind sich das auch einfordert.<br />
Das sie einfach noch ein bisschen<br />
Transparenz von unserer Arbeit<br />
bekommen.<br />
K 3 Austausch<br />
·· Dialog mit dem<br />
Kind<br />
116<br />
·· Dialog im Team<br />
·· Dialog mit den<br />
Eltern
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
P/P 1382<strong>–</strong><br />
1384<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Aber unsere Arbeit machen wir dadurch<br />
transparent, dass die Kinder etwas mit<br />
nach Hause nehmen, sondern durch die<br />
Fotodokumentation, einmal dadurch, dass<br />
die Eltern auch da sehr offen mit uns ins<br />
Gespräch kommen.<br />
P/P 1455 Es ist uns wichtig, dass man die Kinder<br />
einbezieht.<br />
P/P 1306/<br />
1308<br />
P/P 1311/<br />
1312<br />
P/P 1374/<br />
1375<br />
P/P 1212/<br />
1213<br />
P/P 1240/<br />
1241<br />
Im Elterngespräch wird es einfach noch<br />
einmal aufgegriffen <strong>und</strong> es ist auch für<br />
uns wichtig einfach auch viele positive<br />
Dinge den Eltern mit auf den Weg geben<br />
zu können.<br />
Eltern haben einen sehr subjektiven Blick,<br />
<strong>und</strong> wir haben ja schon einen objektiveren<br />
Blick.<br />
... über Bilder oder auch über Geschichten<br />
ist es auch für die Eltern ein guter<br />
Einblick.<br />
Da muss man erst mal beim Kind gucken,<br />
wie weit ist das Kind <strong>und</strong> das Kind da<br />
abholen, wo das Kind steht.<br />
..., was hat sich entwickelt <strong>und</strong> wo muss<br />
man den nächsten Impuls geben.<br />
K 4 Förderplanung<br />
·· Förderziele<br />
·· Zone der<br />
nächsten Entwicklung<br />
117<br />
·· Erweiterte, ganzheitlicheSichtweise<br />
·· Reflexion
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
P/P 1358<strong>–</strong><br />
1360<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Wie hat es sich von der einen<br />
Lerngeschichte zur nächsten entwickelt?<br />
Ist die Impulsgebung, die wir gesetzt<br />
haben, die richtige gewesen. Einfach<br />
noch einmal eine Reflexion für die eigene<br />
Arbeit.<br />
P/P 1573 Es ist das Bild vom Kind <strong>und</strong> es ist das<br />
Bild von mir.<br />
P/P 1574<strong>–</strong><br />
1578<br />
P/P 1611<strong>–</strong><br />
1616<br />
Jedes Kind da abholen, wo es steht <strong>und</strong><br />
im Möglichkeiten zu bieten sich zu<br />
entwickeln, aber nicht alles vorzusetzen,<br />
sondern Angebote zu machen. Und ich<br />
denke, wenn man das so verinnerlicht hat,<br />
dass man das Kind begleiten möchte da,<br />
wo es Hilfe braucht <strong>und</strong> da, wo es keine<br />
Hilfe braucht, macht es schon alleine sein<br />
Ding.<br />
Es ist schon so, dass wir bestimmte<br />
Entwicklungsschritte schon mehr ins Auge<br />
fassen: «Wo befindet sich das Kind, wo<br />
sind seine Interessen, was macht es<br />
sonst noch gerne?» Und dort versuchen<br />
wir anzusetzen. Und so versuchen wir<br />
auch, Projekte für die Gruppe zu planen,<br />
aber auch so kleine Sachen für die Kinder<br />
mit den bestimmten Bedürfnissen, so<br />
kleine Projekte für die zu gestalten.<br />
118
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen der Paderborner Kindertagesstätte<br />
Analyseeinheit<br />
P/P 1621<strong>–</strong><br />
1628<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Ich würde das gar nicht mal münzen für<br />
Kinder mit besonderen Bedürfnissen,<br />
allgemein für alle, weil ich denke, jedes<br />
Kind kann irgendwas besonders gut <strong>und</strong><br />
vielleicht nicht so gut, <strong>und</strong> wir fokussieren<br />
es nicht nur auf Kinder mit speziellen<br />
Bedürfnissen. Klar die sind sicherlich im<br />
Blickpunkt, aber nicht nur. Und ich denke,<br />
da muss man auch aufpassen, dass man<br />
die nicht nur im Blick hat ich denke die<br />
brauchen auch Zeit <strong>und</strong> ein stückweit<br />
Normalität um sich entwickeln zu können<br />
<strong>und</strong> nicht immer so: «Das musst du noch<br />
<strong>und</strong> das musst du noch.» Dann sind die<br />
irgendwann so blockiert, dass gar nichts<br />
mehr geht.<br />
Tabelle 5 Kodiertes Interview mit zwei Pädagoginnen, Paderborner Kindertagesstätte, Forschungsteil<br />
Die wörtliche Transkription dieses Interviews ist im Anhang 7 zu finden<br />
119
5 Dokumentation des Forschungsablaufes<br />
5.6 Bespiel eines für den Entwicklungsteil kodierten Expertinneninterviews<br />
Zeilen 405<strong>–</strong>706<br />
Analyseeinheit<br />
E/B 483/<br />
484<br />
E/B 555/<br />
556<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
Ich würde sagen, ab einem gewissen Level<br />
von besonderem Bedürfnis braucht es noch<br />
etwas anderes.<br />
Ich sehe die Offenheit des Modells als<br />
Chance, da ist nicht irgendein Raster<br />
dahinter, in das die Kinder eingequetscht<br />
werden.<br />
E/B 653<strong>–</strong>655 Und von daher diese <strong>Bildungs</strong>bereiche <strong>und</strong><br />
die Lerndispositionen sind so zwei Dinge,<br />
unterschiedliche Flughöhen, die haben<br />
unterschiedliche Verortungen, das passt<br />
schlecht zusammen.<br />
E/B 681<strong>–</strong>684 Von der schulpolitischen Sicht her, solange<br />
solche Kompetenzraster ..., da ist<br />
jetzt alles auf Kompetenzmodelle gebaut,<br />
es ist im Moment politisch schwer, das zu<br />
verkaufen. Weil dieses Modell eher<br />
ganzheitlich daher daherkommt.<br />
K 5 <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
·· Selbstbildungsprozesse<br />
·· Selbstwirksamkeits-Erleben<br />
120<br />
·· Lehrplan/<br />
<strong>Bildungs</strong>politik<br />
·· Förderung vonKindern<br />
mit besonderen<br />
Bedürfnissen<br />
·· Rolle der Pädagogin
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.6 Kodiertes Expertinnen- interview<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
E/B 422<strong>–</strong>425 Und das Konzept hat mich überzeugt, weil<br />
ich gef<strong>und</strong>en habe, es ist für das jüngere<br />
Kind genau das Richtige. Man macht nicht<br />
künstliche Arrangements, wo man ganz<br />
bestimmte Testsituationen herstellen muss,<br />
sondern man geht von den Situationen aus,<br />
die so oder so stattfinden <strong>und</strong> macht dann<br />
aber systematisch etwas daraus.<br />
E/B 500<strong>–</strong>502 Also für mich stehen <strong>und</strong> fallen die<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> stark mit<br />
dem übrigen Wissen, das eine Lehrperson<br />
hat. Ich glaube <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind viel besser einsetzbar<br />
für erfahrene Lehrpersonen.<br />
E/B 520<strong>–</strong>523 ...das heisst, dass sie das vor allem mit<br />
den jüngeren Kindern in der Basisstufe<br />
durchführen. Und nach einer ersten<br />
Einführung, das war ein ganzer Kurstag, da<br />
habe ich das Modell erklärt, wir haben mit<br />
Videos geübt, Beispiele gemacht.<br />
E/B 531 Und die haben vor allem die Zeit als<br />
Problem genannt.<br />
E/B 540/<br />
541<br />
E/B 567/<br />
568<br />
E/B 587/<br />
588<br />
In der Basisstufe sind die zu zweit, über<br />
grössere Strecken.<br />
Und andere Grenzen sind da die Zeit <strong>und</strong><br />
die personellen Ressourcen.<br />
Die Schritte konnten sie problemlos<br />
durchführen, es ist ein Tandempraktikum.<br />
K 6 Organisation<br />
121<br />
·· Verankerung<br />
innerhalb schon<br />
bestehender<br />
Gefässe<br />
·· Ausbildung<br />
·· Planung<br />
·· Belastung/Entlastung<br />
·· Beteiligung der<br />
Eltern<br />
·· Einführung
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.6 Kodiertes Expertinnen- interview<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
E/B 600<strong>–</strong>602 Also man müsste Möglichkeiten finden,<br />
dass sie von anderen Papierarbeiten<br />
entlastet würden oder dass zum Beispiel<br />
die St<strong>und</strong>enzahl am Kind kleiner ist, ...<br />
E/B 610/<br />
611<br />
E/B 612/<br />
613<br />
E/B 618/<br />
619<br />
E/B 620/<br />
621<br />
E/B 628/<br />
629<br />
Also Zeit <strong>und</strong> Bekanntheitsgrad würde ich<br />
als gesichert betrachten.<br />
Die Rahmenbedingungen klären, unter<br />
denen das dann umgesetzt werden müsste:<br />
Haben die Leute Tandems, haben sie<br />
Zeitgefässe?<br />
Das Paket geschnürt implementieren in<br />
grössere Abläufe als eine mögliche Form.<br />
..., dann müsste sich das Team bewusst<br />
entscheiden <strong>und</strong> alle einigermassen<br />
motiviert sein: ...<br />
Und da würde ich mir jemanden suchen,<br />
der begeistert ist, der damit arbeitet.<br />
E/B 634 Ich glaube, das Üben bei der Einführung ist<br />
ganz wichtig.<br />
E/B 636/<br />
637<br />
..., welche Verbindlichkeit das hat bei<br />
einem Team.<br />
E/B 638<strong>–</strong>640 Und das gibt ja dann auch Motivation <strong>und</strong><br />
es gibt auch eine Zielrichtung. Ich brauche<br />
das dann für das Elterngespräch. Oder wir<br />
wollen es mit dem Ziel der<br />
Unterrichtsentwicklung, ...<br />
E/B 645 Und wo sind die Gefässe, um es<br />
miteinander zu besprechen?<br />
E/B 662/<br />
663<br />
Da wir aber natürlich mit dem Lehrplan<br />
arbeiten müssen, müsste der schon<br />
irgendwie rein.<br />
122
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.6 Kodiertes Expertinnen- interview<br />
Analyseeinheit<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
E/B 667<strong>–</strong>669 Was ich nie gemacht habe, was auch für<br />
Sie von Belangen wäre, diese<br />
Lerndispositionen zu durchleuchten, auch<br />
von der Literatur her. Ja, wie halten die,<br />
wenn man die Forschung anschaut, müsste<br />
man die vielleicht etwas anders<br />
formulieren?<br />
E/B 673/<br />
674<br />
Und dann wird es vielleicht wieder anders<br />
mit der Kompatibilität mit dem Lehrplan.<br />
E/B 676 Auf der institutionellen Ebene habe ich mir<br />
überlegt, man müsste zu zweit sein.<br />
E/B 694<strong>–</strong>696 Dass die Leute einsteigen, braucht es<br />
Ressourcen. Die Work-Life-Balance muss<br />
irgendwie gewährleistet sein. Und wenn<br />
man das als Bestandteil der offiziellen<br />
Arbeitszeit irgendwie integrieren kann, dann<br />
sehe ich da gute Chancen.<br />
E/B 701/<br />
702<br />
E/B 573/<br />
574<br />
Da müsste man es eingrenzen, dass man<br />
sagt, man nimmt den jüngeren Jahrgang.<br />
Und die haben das implementiert als Teile<br />
des Portfolios, was auch Sinn macht <strong>und</strong> an<br />
sich so gedacht ist.<br />
E/B 614<strong>–</strong>616 ..., sondern ich würde die Integration ins<br />
Portfolio, in die Elternarbeit, in die<br />
Lernbegleitung, ich würde das vernetzt<br />
einführen <strong>und</strong> wie ein ganzes Konzept von<br />
Lernbegleitung daraus machen, damit es so<br />
ein ganzes Paket wird.<br />
K 7 Ausgestaltung<br />
123<br />
·· Raumgestaltung<br />
·· Material<br />
·· Portfolio<br />
·· Dokumentation
5 Dokumentation des Forschungsablaufes 5.6 Kodiertes Expertinnen- interview<br />
Analyseeinheit<br />
E/B 429/<br />
430<br />
Zeilen Aussagen Kategorien<br />
...- wird es ein bisschen systematisiert,<br />
ohne aber diese engen Gefässe, wo man<br />
dann nur «Gut» <strong>und</strong> «Sehr gut» ankreuzen<br />
kann.<br />
E/B 434<strong>–</strong>437 Und eine Geschichte ist für mich eine<br />
Situation, in der wir ein Kind oder eine<br />
Kindergruppe beobachtet haben. Die<br />
Verschriftlichung, die Diskussion, das<br />
Schlüsse-Ziehen, das miteinander ergibt<br />
die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lerngeschichte.<br />
E/B 449 Ich schaue, was aktuell geschieht, <strong>und</strong><br />
denke von dort aus weiter.<br />
E/B 490<strong>–</strong>492 Also die Voraussetzung, um mit <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> zu arbeiten ist, dass<br />
man geübt ist in der freien Beobachtung.<br />
Da muss man den Blick geschärft haben.<br />
Man muss Beobachtung <strong>und</strong> Interpretation<br />
sauber trennen können ...<br />
E/B 568<strong>–</strong>570 Vielleicht noch sprachliche Fähigkeiten der<br />
Kindergartenlehrpersonen, je nach dem wie<br />
geübt die sind, alles noch dann zu<br />
verschriftlichen, manche mögen das gar<br />
nicht.<br />
Tabelle 6 Kodiertes Interview Expertin, Entwicklungsteil<br />
Die wörtliche Transkription dieses Interviews ist im Anhang 8 zu finden<br />
K 8 Umsetzung des<br />
Verfahrens<br />
124<br />
·· Kernaussagen über<br />
das Verfahren<br />
·· Konkreter Ablauf
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
6 Ergebnisse für den Forschungsteil<br />
In diesem Kapitel werden die für den Forschungsteil relevanten Aussagen aus den nach qualitativer<br />
Inhaltsanalyse ausgewerteten Interviews in generalisierter Form vorgestellt, erläutert <strong>und</strong> interpretiert.<br />
Ausgehend von diesen Erkenntnissen wird die für den Forschungsteil formulierte Forschungsfrage<br />
beantwortet.<br />
6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten<br />
Interviews<br />
125<br />
Im Folgenden werden die generalisierten Aussagen nach Kategorien getrennt dargestellt. Jede<br />
Kategorie enthält mehrere separat generalisierte Unterkategorien. Die wichtigen Begriffe sind<br />
jeweils zur Hervorhebung kursiv gedruckt. Anschliessend folgen Erläuterungen zu den zentralen<br />
Inhalten. Dabei wird auf die Häufigkeit von Nennungen Bezug genommen. Durch diese quantifizierenden<br />
Aussagen wird die Gewichtung der Antworten berücksichtigt.<br />
6.1.1 Kategorie 1: Förderdiagnostik<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Unterschied zwischen Lerndispositionen <strong>und</strong> Kompetenzen, Kompetenzen<br />
sind vordefinierte Niveaus, Lerndisposition ist offener, Blick auf Tätigkeit<br />
des Kindes<br />
Für Förderplanung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen braucht es mehr<br />
Wissen<br />
Seriöses Instrument Aussagen, ohne Katalog von 100 Items<br />
Stärken stärken <strong>und</strong> Schwächen schwächen<br />
Lerngeschichte schreiben ist Bewertung<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> eher urteilsfrei, zeigen auf, wo Kind seine Talente <strong>und</strong><br />
Schwierigkeiten hat<br />
Defizite von Kindern nicht aus den Augen lassen<br />
Sogenannt normale Entwicklung: auch Förderbedarf bei besondere Kompetenzen,<br />
Begabungen, Interessen?<br />
K 1 Förderdiagnostik<br />
·· Diagnoseinstrumente
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Nachgehende Kontrolle zum Erkennen von möglichen Entwicklungsverzögerungen<br />
durch «Grenzsteine der Entwicklung», manchmal Assistentin<br />
notwendig für Abklärungen<br />
Beobachtungssequenzen zeigen, wo pädagogische Hilfe, wie Logopädie,<br />
notwendig wird<br />
kein Instrument, das verstärkte Zuwendung zu einem Kind ersatzlos macht<br />
Genaues Hingucken <strong>und</strong> Betrachten der Entwicklung des Kindes<br />
Wertfreies Zuschauen <strong>und</strong> Beschreiben<br />
Lernen <strong>und</strong> Entwicklung werden individuell erfasst, Fähigkeiten werden<br />
bewusst<br />
Qualität des Beobachtens, des Beschreibens, verschiedene Wahrnehmungen<br />
werden zusammengetragen, Wahrnehmungen von Einzelpersonen sind<br />
subjektiv<br />
Beobachtungen auch bei <strong>Lerngeschichten</strong> teilweise spontan<br />
Systematisches Beobachten begann mit den <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Beobachtung ausgewertet nach Lerndispositionen<br />
Lerndispositionen an sich geben viele Informationen<br />
Lerndispositionen nicht so exakt, nageln das Kind nicht fest<br />
Auseinandersetzung mit dem Kind<br />
Bedürfnisse der Kinder richtig einschätzen<br />
Jedes Kind hat besondere Bedürfnisse, ob Entwicklungsverzögerungen oder<br />
auch besondere Begabungen, genau hingucken auf Bedürfnisse des Kindes<br />
Spielt keine grosse Rolle, ob besondere oder gewöhnliche Bedürfnisse<br />
Aus <strong>Lerngeschichten</strong> besondere Bedürfnisse herausfiltern<br />
Bild des Kindes durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>, das eine Kind hat<br />
besondere Bedürfnisse <strong>und</strong> das andere andere Bedürfnisse<br />
Unverstandene Kinder können verhaltensoriginell, verhaltensauffällig werden<br />
Bei besonderen Begabungen findet Kommunikation über das Lernen, die<br />
Lernstrategien <strong>und</strong> Lernwege statt<br />
Bestätigungsessenz für unsichere, ängstliche Kinder<br />
Kindern mit besonderem Förderbedarf wird signalisiert: «Du kannst was!»<br />
Und nicht: «Wir üben, üben, üben.»<br />
Ich erachte es als sehr geeignetes Instrument für Kinder mit anderen Besonderheiten,<br />
die viel Aufmerksamkeit brauchen<br />
Tabelle 7 K 1, Förderdiagnostik<br />
·· Beobachtung<br />
·· Analyse nach Lerndispositionen<br />
126<br />
·· Aussagen über besondere<br />
Bedürfnisse
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
Die Auswertung der erhobenen Daten zeigt, dass die Mehrheit der Befragten das Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> allein für das Erkennen von Entwicklungsverzögerungen nicht als<br />
genügend erachtet. Es sollten weitere Instrumente <strong>und</strong> Fachpersonen verfügbar sein für eine<br />
umfassende Diagnostik. <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> haben nach Ansicht mehrer Befragten einen<br />
Einfluss auf die Qualität des Beobachtens, der Blick auf das Kind <strong>und</strong> seine Entwicklung verändert<br />
sich, seine individuellen Fähigkeiten werden bewusst <strong>und</strong> das Beobachten wird systematisiert.<br />
Es wird als ein wertfreies Beobachten <strong>und</strong> Beschreiben der Aktivitäten durch das Zusammentragen<br />
verschiedener Wahrnehmungen eingeschätzt. Mehrere Befragte stellen einen Bezug zwischen<br />
Lerndispositionen <strong>und</strong> Kompetenzen her, wobei Lerndispositionen als offen <strong>und</strong> nicht vordefiniert,<br />
das heisst auch als weniger exakt aber dadurch weniger einengend beschrieben werden. Weitere<br />
Interviewte betonen, dass aber die Analyse nach Lerndispositionen sehr viele Informationen liefern<br />
<strong>und</strong> eine Auseinandersetzung mit dem Kind, mit seiner Entwicklung <strong>und</strong> seinem Lernen ermöglicht.<br />
Die Beantwortung der Frage, ob <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> auch ein Beurteilungsinstrument<br />
darstellen, wurde uneinheitlich beantwortet. Einige Befragte beurteilen das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> als Bewertungsinstrument, andere bezeichnen es als urteilsfrei, als Möglichkeit,<br />
um Stärken <strong>und</strong> Schwächen aufzuzeigen. Die meisten Interviewten unterstreichen, dass zu<br />
besonderen Bedürfnissen Entwicklungsverzögerungen <strong>und</strong> auch besondere Begabungen gehören<br />
<strong>und</strong> dass so gesehen jedes Kind besondere Bedürfnisse hat, die durch die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
herausgefiltert werden können. Das Verfahren wird von den meisten Befragten als<br />
geeignetes Instrument erachtet für Kinder, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, da sich das<br />
Bild des Kindes verändert, denn unsichere Kinder erleben durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Bestätigung in ihrem Lernen, Kinder mit besonderen Begabungen erfahren durch die Kommunikation<br />
über das Lernen mehr über ihre Lernstrategien <strong>und</strong> Lernwege.<br />
127
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
6.1.2 Kategorie 2: Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Auseinandersetzung mit dem Thema stärkenorientiertes Arbeiten, Kind kennt<br />
eigene Stärken <strong>und</strong> Schwächen, auf die Stärken der Kinder fokussieren<br />
Alle Kinder spüren, was sie können, stehen zu ihren Stärken<br />
Nicht ausreichend bewusste negative Bilder von Kindern werden durch<br />
Anwendung des Instrumentariums verändert<br />
Kinder in ihrer Entwicklung begleiten <strong>und</strong> unterstützen. Kinder sind Akteure<br />
ihrer selbst<br />
Stärken stärken <strong>und</strong> das Entwickeln der Persönlichkeit im eigenen Tempo,<br />
dieses Zeit geben<br />
Veränderte Haltung, kein Obendrüberblick , Vorurteile werden abgebaut,<br />
vor allem bei schwierigen Kindern<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind Stärkenorientierung, positive Beurteilung<br />
Bewertung <strong>und</strong> Beurteilung positiv sehen: Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein<br />
<strong>und</strong> eine gute Einschätzung<br />
Besonderer Gewinn für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Stärken werden<br />
beachtet, nicht nur Defizite<br />
Verständigung mit Eltern zentral<br />
Durch Beobachtungen <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> besondere Stärken herausarbeiten<br />
<strong>und</strong> für Besprechungen mit Eltern oder Therapeuten verwenden<br />
Vertrauen der Eltern auf ihr Kind auch durch die methodische Verfasstheit<br />
<strong>und</strong> Fokussierung des Instruments ausweislich stärken können<br />
Auf Ressourcen gerichtet <strong>und</strong> nicht auf Defizite<br />
Auf Schatzsuche gehen anstatt auf Fehlerfahndung<br />
Durch Anwendung ist Offenheit <strong>und</strong> ganze hohe Reflexion im Team entstanden<br />
Ressourcen der Kinder werden gleich gut erfasst wie mit Kompetenzrastern,<br />
mehr Nähe zum Kind<br />
Kognitive Komponente bei altersgemässer Entwicklung im Zentrum, alle<br />
lernen auf ihrem Niveau<br />
Wahrnehmen, was Kinder können, woran sie Spass haben <strong>und</strong> wo sie auch<br />
selber mitmachen können<br />
Kinder herausfordern<br />
128<br />
K 2 Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
·· Orientierung an<br />
Ressourcen<br />
<strong>und</strong> Stärken
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Keine Beurteilung von Defiziten<br />
Mehr Individualität durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Positives herausstellen, oft fallen Defizite viel mehr ins Auge, als das, was ein<br />
Kind wirklich schon kann<br />
Defizite nicht aus den Augen verlieren<br />
Umfassendes Bild eines Kindes bekommen <strong>und</strong> nicht Einseitiges, Defizitorientiertes<br />
Lernen der Kinder ist wichtig <strong>und</strong> anerkannt, <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
ermöglicht, dies in Sprache um zu setzen<br />
Eltern erfahren Wertschätzung, die Kind entgegengebracht wird, gestärkt<br />
wird positiver <strong>und</strong> nicht sorgenvoller Blick<br />
Pädagoginnen profitieren auch von der Beobachtung durch eigenes gutes<br />
Gefühl<br />
Selbstbewusstsein, Stärkung der Selbstwahrnehmung, der Sicherheit <strong>und</strong><br />
Reflektionsfähigkeit<br />
respektvoller Umgang mit Menschen, fördert die soziale Kompetenz,<br />
Bei <strong>Lerngeschichten</strong> ist Beobachtung mit Respekt <strong>und</strong> Beachtung verb<strong>und</strong>en<br />
Anerkennung für Kinder, die sich in der Gruppe noch wenig einbringen<br />
können<br />
Nach jeder Beobachtung Wertschätzung erfahren durch Gespräch über <strong>Lerngeschichten</strong><br />
wertschätzende Kommunikation<br />
Kind spürt andere Beachtung <strong>und</strong> Wertschätzung, kleine Schritte werden<br />
Kind bewusst gemacht<br />
Wertschätzung, die Kinder dann erfahren ist Schatz, eine Schatztruhe<br />
Wertschätzende Qualität der Arbeit mit Kind im Mittelpunkt<br />
Verfahren sagt sehr viel aus über Kind, um in Beziehung zu treten<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind Beziehungsarbeit: Kind kommt näher an mich <strong>und</strong> ich<br />
näher ans Kind heran<br />
Enger Kontakt durch Beschreiben der Kinder <strong>und</strong> durch Vorlesen<br />
Gutes Gefühl im Team durch Austausch<br />
Lernen von den Kindern<br />
Tabelle 8 K 2, Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
·· Aussagen über Umgang<br />
mit Defiziten<br />
·· Wertschätzung<br />
·· Beziehung<br />
129
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
130<br />
Zu Orientierung an Ressourcen <strong>und</strong> Stärken werden auffallend viele <strong>und</strong> oft ähnliche Aussagen<br />
gemacht, das Thema des stärkenorientierten Arbeitens ist dabei für die meisten Interviewten zentral.<br />
Der grössere Teil der Befragten betont, dass durch dieses Verfahren die Aufmerksamkeit auf die<br />
Stärken der Kinder gerichtet wird. Es wird mehrfach genannt, dass diese positive Beachtung das<br />
Selbstvertrauen stärkt <strong>und</strong> die auf Ressourcen bezogene Einschätzung des Entwicklungsstandes der<br />
Kinder in Elterngesprächen hilfreich ist. Eine befragte Person erwähnt die durch die Anwendung<br />
des Verfahrens grössere Reflexionsfähigkeit des Teams. Fast alle Interviewten schätzen das Verfahren<br />
als nicht defizitorientiert ein, wobei sie betonen, dass Defizite nicht aus den Augen verloren werden<br />
dürfen. Sehr viele Aussagen enthalten den Begriff Wertschätzung, obwohl dieser nicht in den<br />
Interviewfragen auftauchte. Damit gemeint ist Wertschätzung bei der Beobachtung, im Dialog,<br />
bei Elterngesprächen <strong>und</strong> vor allem auch eine wertschätzende Gr<strong>und</strong>haltung. Einige Personen<br />
erachten das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> als beziehungsfördernd.
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
6.1.3 Kategorie 3: Austausch<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Dreiergespräch: Eltern, Erzieherin <strong>und</strong> Kind<br />
Spannendes Konzept, um mit Kindern in Dialog zu treten<br />
Der Dialog, das Zweiergespräch mit dem Kind beginnt, in dem das Kind<br />
gefragt wird, ob man es beobachten darf<br />
Neue Gesprächskultur, Kinder erhalten das Gefühl: Ich bin wichtig, meine<br />
Meinung zählt. Unsere Haltung ist: Ich beurteile dich nicht, ich beachte<br />
dich, ich dokumentiere deinen Lernprozess<br />
Gespräche über das eigene Lernen werden mit dem Kind ausgeführt<br />
Kolleginnen sensibilisiert, eher in Dialog zu treten als in Imperativ<br />
Aufmerksamkeit, der Blickkontakt, nonverbaler Kontakt im Dialog<br />
Auseinandersetzung im Team über die Arbeit, über das Bild vom Kind<br />
Auswirkung auf das Thema Kommunikation im Team: mehr Kommunikation<br />
möglich oder nötig<br />
Verändertes Bewusstsein für den Dialog, für die dialogische Haltung<br />
Verfeinerung der Fachlichkeit, miteinander zu wachsen, Fragen zu stellen,<br />
wieder in Dialog zu treten <strong>und</strong> immer Lernende zu bleiben<br />
Grössere Selbständigkeit der Erzieherinnenteams auch gegenüber Institutionsleitung<br />
Veränderung im Team im Umgang mit Eltern, offenerer Zugang zu Eltern<br />
Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Eltern, dialogische Gr<strong>und</strong>haltung<br />
partnerschaftliches Verhältnis zu Eltern<br />
Hilfreich für Elterngespräch <strong>und</strong> für Lernbegleitung<br />
Interessant für Eltern Einblick zu nehmen, den Eltern Arbeit transparent<br />
machen<br />
Bild des Kindes den Eltern zeigen<br />
Eltern auch mit ins Boot holen, Kinder mit ins Boot holen<br />
Hineinfliessen der reflektierten Wahrnehmungen der Erzieherinnen in<br />
Elterngespräche<br />
Andere Haltung für Eltern im Entwicklungsgespräch, sie erfahren, was Kind<br />
kann, auch wenn es nicht altersgemässe Entwicklung ist<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> von Eltern positiv aufgenommen<br />
K 3 Austausch<br />
131<br />
·· Dialog mit dem Kind<br />
·· Dialog im Team<br />
·· Dialog mit den Eltern
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Arbeit durch die Fotodokumentation transparent<br />
W<strong>und</strong>erschöne Dokumentation für Kinder mit altersgemässer Entwicklung<br />
Den Eltern positive Dinge mit auf den Weg geben<br />
Tabelle 9 K 3, Austausch<br />
Von vielen Befragten wird das Verfahren als spannendes Konzept beurteilt, um mit einem Kind in<br />
einen Dialog zu treten <strong>und</strong> zwar nach der Beobachtung oder beim Vorlesen der verfassten Lerngeschichte.<br />
Eine Person hebt hervor, dass es dadurch möglich wird, mit dem Kind vermehrt in einen<br />
Dialog zu treten als im Imperativ zu kommunizieren. In Bezug auf den Austausch im Team wird<br />
häufig betont, dass sich durch das Verfahren eine dialogische Haltung entwickelt. Je eine befragte<br />
Person erwähnt die Verfeinerung der Fachlichkeit <strong>und</strong> die grössere Selbständigkeit des Teams<br />
gegenüber der Institutionsleitung als Gewinn. Durch die Befragung wird ersichtlich, dass durch<br />
das Verfahren für die Eltern vermehrt Einblick in die Arbeit in der Kindertagesstätte möglich wird<br />
<strong>und</strong> die dialogische Gr<strong>und</strong>haltung zu einem partnerschaftlichen Verhältnis führt. <strong>Lerngeschichten</strong><br />
unterstützen nach Ansicht der meisten Befragten die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung von<br />
Elterngesprächen, da sie Gelegenheit geben, das Bild des Kindes transparent zu machen.<br />
132
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
6.1.4 Kategorie 4: Förderplanung<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Tätigkeit des Kindes aufschreiben, daraus Schlüsse ziehen, Förderungsüberlegungen<br />
ableiten<br />
Letzter Teil der Lerngeschichte immer Ausblick auf nächste Schritte,<br />
Umsetzung wird geplant<br />
Bilder von Kindern überprüfen <strong>und</strong> in positiver Weise ergänzen, Lernprozesse<br />
unterstützen <strong>und</strong> begleiten durch Wissen über Kinder<br />
Nächste Schritte planen durch Feststellen, was Kinder an Material brauchen<br />
oder sie weiterbringt<br />
Chancen für Kinder, dass individuelle Förderung mehr in den Vordergr<strong>und</strong><br />
rückt<br />
Durch individuelleres Arbeiten Konflikt mit Kleingruppenarbeit<br />
Was braucht Kind für die weitere Entwicklung<br />
Beim Kind gucken, wie weit ist es <strong>und</strong> da abholen, wo es steht<br />
Eltern <strong>und</strong> Pädagogin als Entwicklungsbegleiter für Kinder<br />
Modell kommt dem ganzheitlichen, entwicklungsorientierten Kindergarten<br />
zugute<br />
Grosse Chancen, auch für Team, gemeinsamen Blick <strong>und</strong> gemeinsames Verstehen<br />
zu entwickeln<br />
Verschiebung des Blickwinkels: nicht nur am Kind therapieren sondern auch<br />
Umfeld anschauen<br />
Auswertung nach Stärken, das heisst nach Lernbereitschaften führt über<br />
Reflexion zur Überlegung, was Kind durch die gestaltete Umgebung zur<br />
Verfügung steht<br />
Entwicklungen bei Kindern sehen <strong>und</strong> reflektieren, wie nächste Schritte<br />
umgesetzt worden sind<br />
Tabelle 10 K 4, Förderplanung<br />
K 4 Förderplanung<br />
·· Förderziele<br />
·· Zone der nächsten<br />
Entwicklung<br />
·· Erweiterte, ganzheitliche<br />
Sichtweise<br />
·· Reflexion<br />
133
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchge führten Interviews<br />
134<br />
Zu diesem Kategoriensystem werden zahlenmässig wenig Aussagen gemacht. Die «nächsten<br />
Schritte» werden im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> aus Beobachtung <strong>und</strong> Analyse<br />
abgeleitet <strong>und</strong> bilden nach Ansicht der meisten Befragten einen entscheidenden Bestandteil des<br />
Verfahrens. Sie werden in der Lerngeschichte festgehalten. Als Chance wird von zwei Befragten<br />
bewertet, dass die individuelle Förderung mehr in den Vordergr<strong>und</strong> rückt <strong>und</strong> das Bild des Kindes<br />
erweitert wird. Zwei Befragte zeigen auch das Spannungsfeld zwischen der individuellen Förderung<br />
<strong>und</strong> der Arbeit mit der ganzen Gruppe auf. Mehrere Befragte erklären, dass <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
helfen, die Zone der nächsten Entwicklung zu erkennen <strong>und</strong> aufzuzeigen, wo neue<br />
Impulse notwendig sind. Nach Aussage einer Person wirken die Bezugspersonen dabei als Entwicklungsbegleiter.<br />
Verschiedene Interviewte betonen, dass im Team ein gemeinsames Verstehen des<br />
Kindes entwickelt wird <strong>und</strong> dass die Reflexion der pädagogischen Arbeit einen wichtigen Stellenwert<br />
einnimmt.<br />
6.2 Interpretation der Ergebnisse<br />
In diesem Abschnitt werden die durch die qualitative Inhaltsanalyse erarbeiteten <strong>und</strong> erläuterten<br />
Ergebnisse interpretiert.<br />
Durch die Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> entwickeln die Betroffenen offenbar<br />
die pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung, dass alle Kinder besondere Bedürfnisse haben, die durch die<br />
Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wahrgenommen <strong>und</strong> herausgefiltert werden können.<br />
Dieser Gewinn wird durch verschiedene Aspekte des Verfahrens erzielt: Durch die erhöhte Qualität<br />
<strong>und</strong> das Systematisieren von Beobachtungen, durch den Austausch im Team <strong>und</strong> durch die Analyse<br />
nach Lerndispositionen, die die Stärken eines Kindes in Bezug auf seinen Lernprozess aufzeigen,<br />
ohne sich an einem Kompetenzraster zu orientieren oder sich auf einen spezifischen Inhalt zu<br />
beschränken. <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> können durchaus eine Bewertung darstellen, dies ist<br />
aber davon abhängig, wie das Kind Beurteilung bisher erfahren hat. Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> verändert den Blick auf das Kind <strong>und</strong> auch das Bild des Kindes, es genügt<br />
allerdings nicht für eine genaue Förderdiagnostik bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen.<br />
Allgemein ausgedrückt kommt das Verfahren einem ganzheitlichen, entwicklungsorientierten<br />
Kindergarten entgegen.<br />
Das Erkennen von Ressourcen der Kinder <strong>und</strong> die Wertschätzung kindlichen Lernens<br />
sind die pädagogischen Gr<strong>und</strong>haltungen, die das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
auszeichnet <strong>und</strong> von anderen Instrumenten unterscheidet. Diese positive Beachtung ist auch für<br />
Elterngespräche hilfreich, da sie sowohl eine wertschätzende Kommunikation unterstützt als auch<br />
eine ressourcenorientierte Sichtweise der Eltern stärkt. Trotzdem ist es möglich, den Entwicklungsstand<br />
des Kindes transparent aufzuzeigen <strong>und</strong> Defizite nicht aus den Augen zu verlieren. Durch<br />
die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> entsteht eine neue Gesprächskultur, indem sich sowohl dem Kind<br />
<strong>und</strong> den Eltern gegenüber als auch im Team eine dialogisch geprägte Gr<strong>und</strong>haltung entwickelt.
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.2 Interpretation der Ergebnisse<br />
135<br />
Das Erkennen der nächsten Schritte, das gemeinsame Verstehen eines Kindes <strong>und</strong> das<br />
Aufzeigen möglicher neuer Impulse sind wichtige Bestandteile des Verfahrens <strong>und</strong> finden auch<br />
Niederschlag in der Reflexion des pädagogischen Handelns im Team. Im Allgemeinen werden<br />
wenig Aussagen gemacht zur Förderplanung. Offenbar fehlt bei der Formulierung <strong>und</strong> Umsetzung<br />
dieser nächsten Schritte oft noch der «rote Faden», die Erkenntnisse werden öfters aus den Augen<br />
verloren <strong>und</strong> die Einbettung im pädagogischen Alltag wird von den Beteiligten als Herausforderung<br />
erlebt.<br />
6.3 Beantwortung der Fragestellung für den Forschungsteil<br />
Ausgehend von den erläuterten <strong>und</strong> interpretierten Ergebnissen wird die für den Forschungsteil<br />
formulierte Forschungsfrage beantwortet <strong>und</strong> mit Hinweisen zur bearbeiteten Literatur <strong>und</strong> zum<br />
Abschlussbericht des Projektes «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> als Instrument zur Konkretisierung<br />
<strong>und</strong> Umsetzung des <strong>Bildungs</strong>auftrags im Elementarbereich» des Deutschen Jugendinstituts<br />
in München (im Literaturverzeichnis aufgeführt) ergänzt.<br />
Die für den Forschungsteil durchgeführte Forschung baut auf der noch einmal aufgeführten<br />
Fragestellung auf:<br />
Inwiefern unterstützt das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> die Förderung<br />
von Kindern mit besonderen Bedürfnissen im Kindergarten?<br />
Diese Frage kann auf Gr<strong>und</strong> der Ergebnisse der vorangehenden Analysen folgendermassen beantwortet<br />
werden:<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist ein geeignetes Instrument, um Entwicklungen<br />
von Kindern wahrzunehmen <strong>und</strong> einzuschätzen. Es unterstützt insofern die Förderung<br />
von Kindern mit besonderen Bedürfnissen im Kindergarten, als durch die systematisierte Beobachtung,<br />
durch den Austausch im Team, durch die Analyse anhand von Lerndispositionen <strong>und</strong><br />
durch die Lerngeschichte in Form eines Briefes ein differenziertes, ressourcenorientiertes Bild vom<br />
Entwicklungsstand eines Kindes entsteht. Margret Carr betont,<br />
dass es darum geht, von den Beziehungen des Kindes zu Menschen, Orten <strong>und</strong> Dingen<br />
auszugehen <strong>und</strong> jedes Kind darin zu unterstützen, sein Repertoire <strong>und</strong> seinen Handlungsrahmen<br />
auszuweiten, damit es immer mehr teilhat an der Gestaltung des Alltags in<br />
der Kindertageseinrichtung <strong>und</strong> in seinem Lebensumfeld (Stichwort «Partizipation»).<br />
(Abschlussbericht, 2007, S. 41)
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.3 Beantwortung der Fragestellung für den Forschungsteil<br />
136<br />
Das Kind wird in diesen Prozess mit einbezogen, ernst genommen <strong>und</strong> erlebt Wertschätzung <strong>und</strong><br />
Selbstwirksamkeit. Dies ist auch für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen eine Qualität, welche<br />
sie durch andere Verfahren nicht in diesem Masse erleben. Ihre Fortschritte werden auch bei<br />
langsamen Lernentwicklungen für alle Beteiligten sichtbar. Im Abschlussbericht des Deutschen<br />
Jugendinstitutes wird zusätzlich erwähnt, dass sich störende Verhaltensweisen von Kindern anders<br />
ausnehmen, wenn sie unter dem Gesichtspunkt von Lerndispositionen betrachtet werden<br />
(vgl. Abschlussbericht, 2007, S. 59).<br />
Allerdings schliesst die Arbeit mit dem Verfahren die zusätzliche Anwendung anderer<br />
diagnostischer Instrumente nicht aus, diese sollten zur Unterstützung bei fraglichen Entwicklungsverläufen<br />
<strong>und</strong> zur Überprüfung der Wahrnehmung <strong>und</strong> Beobachtung von Pädagoginnen auch<br />
einbezogen werden, damit unter Umständen zusätzliche Fördermassnahmen eingeleitet werden<br />
können. Hauptsächlich hingewiesen wird dabei auf das Formular «Grenzsteine der Entwicklung»<br />
(siehe Anhang 9). Nach Flämig (2009) verwenden viele Fachkräfte, die mit Kindern mit besonderem<br />
Förderbedarf arbeiten, mehrere Verfahren parallel. Dabei sehen viele von ihnen in den <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> ein gewinnbringendes Verfahren, weil es vor allem die Kompetenzen des<br />
Kindes ins Zentrum rückt, an denen eine weitere Förderung sinnvoll ansetzen kann (vgl. Flämig et<br />
al., S. 56).<br />
Durch das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> können den Eltern Entwicklungsschritte<br />
des Kindes in positiver Weise transparent gemacht werden, es muss aber auch immer aufgezeigt<br />
werden können, wenn der Entwicklungsstand eines Kindes nicht altersgemäss einzuschätzen<br />
ist. Im Abschlussbericht des Deutschen Jugendinstitutes wird nachgewiesen, dass über 60 Prozent<br />
der befragten Eltern durch den Austausch mit den pädagogischen Fachkräften auf die Stärken ihres<br />
Kindes aufmerksam gemacht wurden, was gerade im heilpädagogischen Kontext eine Rolle spielt<br />
<strong>und</strong> dass über 70 Prozent der Eltern mit Migrationshintergr<strong>und</strong> den Austausch mit Fachkräften in<br />
dieser Form als positiv bewerteten (vgl. Abschlussbericht, 2007, S. 83).<br />
Die Förderplanung wird im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> durch die<br />
pädagogische Planung, das heisst durch das Formulieren der «nächsten Schritte» realisiert, welche<br />
auf der Theorie der «Zonen der nächsten Entwicklung» nach Wygotsky basiert <strong>und</strong> auch einen<br />
Bestandteil der verschriftlichen <strong>Lerngeschichten</strong> bildet. Letztere schliessen jeweils einen Beobachtungszyklus<br />
ab <strong>und</strong> geben Gelegenheit für eine achtsame Begegnung mit dem Kind. Sie bilden<br />
einen von fünf Bausteinen des Verfahrens <strong>und</strong> nicht das eigentliche Ziel, sind aber Ausgangspunkt<br />
für die Umsetzung der «nächsten Schritte» <strong>und</strong> somit heilpädagogisch relevant für die Förderung<br />
von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Dies wird auch im Abschlussbericht betont, nämlich<br />
dass Fachlehrpersonen die Erkenntnisse aus den Beobachtungen als Planungsgr<strong>und</strong>lage für die<br />
individuelle Förderung nutzen (vgl. Abschlussbericht, 2007, S. 31).<br />
Das Verfahren unterstützt die Integration jedes Kindes in idealer Weise, da die Bedürfnisse<br />
aller Kinder gleichermassen beachtet werden <strong>und</strong> vorderhand kein Kind eine Sonderstellung einnimmt,<br />
wie es auch in der bearbeiteten Literatur nachzulesen ist:
6 Ergebnisse für den Forschungsteil 6.3 Beantwortung der Fragestellung für den Forschungsteil<br />
«Die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ermöglichen eine Entwicklungsunterstützung<br />
aller Kinder unabhängig von derer sozialen Herkunft, Nationalität oder dem Vorliegen<br />
einer Behinderung. Sie unterstützen eine pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung, die in der Einzigartigkeit<br />
jedes Kindes einen Gewinn sieht <strong>und</strong> Unterschiede als Bereicherung erkennt.<br />
Kinder mit besonderem Förderbedarf werden in den <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
nicht als gesonderte Zielgruppe betrachtet, für die auf Gr<strong>und</strong> umfassender Andersartigkeit<br />
andere Regeln <strong>und</strong> Gesetzt der Entwicklung gelten würden.»<br />
(Flämig et al., 2009, S. 13)<br />
137
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil<br />
138<br />
In diesem Kapitel werden die für den Entwicklungsteil relevanten Aussagen aus den nach qualitativer<br />
Inhaltsanalyse ausgewerteten Interviews in generalisierter Form vorgestellt, erläutert <strong>und</strong> interpretiert.<br />
Ausgehend von diesen Erkenntnissen wird die für den Entwicklungsteil formulierte<br />
Forschungsfrage beantwortet. Das Kapitel schliesst mit einer Handreichung für eine geplante<br />
Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten.<br />
7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten<br />
Interviews<br />
Im Folgenden werden die generalisierten Aussagen nach Kategorien getrennt dargestellt. Jede<br />
Kategorie enthält mehrere separat generalisierte Unterkategorien. Die zentralen Begriffe sind jeweils<br />
zur Hervorhebung kursiv gedruckt. Anschliessend folgen Erläuterungen zu den zentralen Inhalten.<br />
Dabei wird auf die Häufigkeit von Nennungen Bezug genommen. Durch diese quantifizierenden<br />
Aussagen wird die Gewichtung der Antworten berücksichtigt.<br />
7.1.1 Kategorie 5: <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Kinder nicht stören in Handlungen, notwendige Räume <strong>und</strong> notwendiges<br />
Material, Stichwort Lernumgebungen schaffen, Umfeld gestalten, in dem<br />
Kind Selbstbildungskräfte entfaltet<br />
Hohe Konzentration zeigt sich durch Zufriedenheit, Freudiges<br />
Wenn Kind sich hoch engagiert, kommt es an Grenzen, dann fängt Denken,<br />
Problemlösen, Lernen an<br />
Dann hat Lernen stattgef<strong>und</strong>en, wenn neue Problemlösungswege erkennbar<br />
sind <strong>und</strong> Kind über sein Lernen sprechen kann<br />
Kind muss Zeit haben, etwas selber zu konstruieren, zu überlegen<br />
<strong>Bildungs</strong>verständnis, dass ein Kind aus Eigeninitiative heraus lernt <strong>und</strong> nicht<br />
mit Wissen angefüllt wird, Trichter existiert nicht<br />
K 5 <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
Selbstbildungsprozesse
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Selbstbildung als Bezugspunkt auch des Pädagogen, Kind ist Akteur seiner<br />
Entwicklung<br />
Recht auf Selbstbildungsprozesse ernst nehmen, wesentlicher Kern von Freiheit<br />
gewährleisten, dass Kinder das in ihrem Tempo <strong>und</strong> auf ihre Weise tun<br />
Verständnis der Selbstbildung ist entscheidend, Mensch muss eigene Erfahrungen<br />
machen, <strong>und</strong> das zuzulassen, dafür Raum zu geben, Zeit zu geben, ist<br />
Basis dafür, <strong>und</strong> aber auch eine eigene Freude daran zu haben<br />
Kinder erleben eigene Selbstwirksamkeit, etwas bewirken können in Lernen<br />
<strong>und</strong> Entwicklung<br />
Bei <strong>Lerngeschichten</strong> können Kinder selber mitwirken<br />
Das macht <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> aus: Die Kinder haben eine aktive<br />
Rolle<br />
Schatzmappen sind Eigentum des Kindes, für Eltern, Grosseltern zugänglich,<br />
auch um nach Hause zu nehmen am Wochenende<br />
Sich selber einschätzen, sich selber Sachen zutrauen, offen sein für neue Dinge<br />
<strong>und</strong> ausprobieren, mutiger werden durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>,<br />
weil eigene Lernschritte <strong>und</strong> Lernerfolge deutlich werden.<br />
<strong>Bildungs</strong>bereiche <strong>und</strong> Lerndispositionen haben unterschiedliche Flughöhen,<br />
unterschiedliche Verortungen, passen schlecht zusammen<br />
Kompetenzen bestehen aus Wissen über einen Gegenstand, aus Können.<br />
Wichtigstes ist Disposition, wenn das zu eng ist, bleibt man beim Wissen<br />
hängen<br />
Aus schulpolitischer Sicht solange Kompetenzmodelle, ist im Moment politisch<br />
schwer zu verkaufen, weil Modell ganzheitlich<br />
Damit hängen aktuelle Fragen zur «frühkindlich Bildung» zusammen<br />
Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Basisstufe wäre so eine Sache gewesen<br />
Verständnis von Eltern <strong>und</strong> Behörden steht gegenüber, Verständnis von<br />
Unterricht als sehr strukturierter Ablauf<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind grosse Chance, neues <strong>Bildungs</strong>verständnis nach aussen<br />
zu tragen<br />
Bei <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> nicht Ziele der Lehrperson erreichen,<br />
sondern eigene Ziele des Kindes<br />
Ausstehende Erweiterung <strong>und</strong> Auseinandersetzung in Frage gruppenorientierte<br />
Pädagogik oder Individualisierungstendenz durch Konzept der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Individualisierung <strong>und</strong> Gruppenstruktur in gegenseitiger Wechselwirkung<br />
sehen<br />
Fokus auf individuellem Lernen, Möglichkeit für Interessensgruppen<br />
Selbstwirksamkeits-<br />
Erleben<br />
139<br />
Lehrplan, <strong>Bildungs</strong>politik
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Bei gewissem Level von besonderem Bedürfnis braucht es noch etwas anderes<br />
Zusammenarbeit mit Ergotherapeuten <strong>und</strong> Logopäden, die Kinder in der<br />
Einrichtung therapieren<br />
Alle Erzieherinnen sind <strong>und</strong> fühlen sich zuständig, obwohl spezielle Kraft für<br />
Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen eingestellt<br />
Was es nicht ersetzt, ist zum Beispiel ein Sprachtest, wo es auch fachlicher<br />
wird<br />
Offenheit des Modells als Chance, nicht irgendein Raster dahinter<br />
Haltung, <strong>Bildungs</strong>prozesse erkennen <strong>und</strong> dokumentieren<br />
Pädagogische Gr<strong>und</strong>haltung, das Kind <strong>und</strong> seine Lernprozesse entdecken,<br />
sich selber zurücknehmen, achtsam sein, etwas aushalten können, sich von<br />
eng gestecktem Tagesablauf entfernen, immer wieder Hinterfragung, Reflexion,<br />
ob das Kind genügend Zeit zum Lernen hat, oder ob zu viele Unterbrechungen<br />
sind<br />
Rolle der Pädagogin als Begleitung der Kinder in Entwicklungsprozessen,<br />
Kindern das Verfahren der <strong>Lerngeschichten</strong> transparent machen, Zugang zu<br />
Schatzmappen ermöglichen <strong>und</strong> sie ermuntern, sich aktiv daran zu beteiligen<br />
Grenzen liegen eher bei Kolleginnen, die noch nicht Blick für notwendige<br />
Veränderungen haben, dies bedeutet ja immer auch Unannehmlichkeit<br />
Massgeblich für Ausrichtung ist Beobachtung bzw., was wir daraus lernen,<br />
eigenes Forschen im Umgang mit Kindern, immer wieder merken, wir wollen<br />
auch Lernende sein<br />
Durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> hat Umdenken stattgef<strong>und</strong>en<br />
Jeder hat andere Wahrnehmung, das bestärkt Team<br />
Fairness dem Kind gegenüber durch Analyse nach Lerndispositionen<br />
Nach situationsorientiertem Ansatz arbeiten, Interessen der Kinder<br />
Gemeinsam mit dem Kind auf Entdeckungsreise gehen<br />
Bewusst Frage stellen, ob es richtig ist, wie es gesehen wurde, auch Kommentare<br />
der Kinder in den <strong>Lerngeschichten</strong> vermerken<br />
Tabelle 11 K 5, <strong>Bildungs</strong>verständnis<br />
140<br />
Umgang Kinder mit<br />
besonderen Bedürfnissen<br />
Rolle/Haltung der<br />
Pädagogin
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
141<br />
Mehrere Befragte äussern sich zum Begriff von Selbstbildungsprozessen bei Kindern <strong>und</strong> sprechen<br />
das Einrichten von geeigneten Räumlichkeiten <strong>und</strong> Materialien an, die anregende Lernumgebungen<br />
für die Kinder bilden. Sie betonen, dass in einem so gestalteten Umfeld das Kind seine Selbstbildungskräfte<br />
entfalten kann. Nach ihrer Ansicht zeigt sich das durch konzentriertes, vertieftes<br />
<strong>und</strong> zufriedenes Arbeiten, da in diesem Moment Denken, Problemlösen <strong>und</strong> Lernen stattfindet.<br />
Sehr häufig betonen die Interviewten die Selbstbildungsprozesse eines Kindes, nämlich, dass<br />
Kinder aus Eigeninitiative in ihrem eigenen Tempo <strong>und</strong> auf ihre eigene Weise lernen <strong>und</strong> nicht<br />
mit Wissen angefüllt werden sollen. Aus mehreren Aussagen wird die aktive Rolle des Kindes<br />
beim Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ersichtlich, denn Kinder können in Lernen<br />
<strong>und</strong> Entwicklung etwas bewirken <strong>und</strong> erleben dadurch ihre Selbstwirksamkeit. Einige Befragte<br />
erwähnen, dass sich Kinder durch das Verfahren besser einschätzen lernen, <strong>und</strong> zwei Personen<br />
erkennen unterschiedliche Verortungen von Lerndispositionen <strong>und</strong> Kompetenzen, beziehungsweise<br />
<strong>Bildungs</strong>bereichen des Lehrplans. Eine Befragte betont die grosse Chance, durch das Verfahren<br />
der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ein neues <strong>Bildungs</strong>verständnis nach aussen zu tragen. Einige<br />
Antworten beziehen sich auf die Balance zwischen Individualsierung <strong>und</strong> gruppenorientierter<br />
Pädagogik. Die allermeisten Interviewten sind der Ansicht, dass bei einem bestimmten Grad von<br />
besonderen Bedürfnissen eine interdisziplinäre Zusammenarbeit <strong>und</strong> der Einsatz von Kompetenzrastern<br />
notwendig sind. In beinahe allen Interviews werden die Haltung <strong>und</strong> die Rolle der Pädagogin<br />
angesprochen. Damit gemeint ist die Gr<strong>und</strong>haltung, als Entwicklungsbegleiterin das Kind<br />
<strong>und</strong> seine Lernprozesse zu entdecken. Viele erwähnen die Wichtigkeit der eigenen Veränderungen<br />
im Prozess der Anwendung des Verfahrens.
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
7.1.2 Kategorie 6: Organisation<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Konzept überzeugt, weil es für jüngeres Kind das Richtige ist, keine künstlichen<br />
Arrangements, keine Testsituationen, alltägliche Situationen <strong>und</strong> daraus<br />
systematisch etwas machen<br />
In Basisstufe/Tandempraktika zu zweit über grössere Strecke<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> hängen mit übrigen Wissen einer Lehrperson,<br />
sind viel besser einsetzbar für erfahrene Lehrpersonen<br />
Selbstverständlichkeit, Aufforderung an neue Kollegin, einfach zu schreiben<br />
Keine spezielle Ausbildung für Formulierungen in <strong>Lerngeschichten</strong>, persönlichen<br />
Stil entwickeln, nur Tipps in Ausbildung, für kleine oder fremdsprachige<br />
Kinder formulieren, kurze Sätze <strong>und</strong> einfachen Begriffe<br />
Gr<strong>und</strong>kenntnisschulung für Kolleginnen, die noch nichts davon gehört haben<br />
Aufbauschulung für Kolleginnen, die schon Kenntnisse haben, die eine<br />
Vertiefung wollen, regelmässige trägerübergreifend organisierte Ausbildungen<br />
Modell erklären an einem ganzen Kurstag, üben mit Videos <strong>und</strong> Beispielen<br />
Sich die Zeit konsequent vornehmen, einplanen in Wochenablauf, wann<br />
beobachtet wird, einen Schreibplatz bereitlegen, sich disziplinieren, Routine<br />
entwickeln<br />
Austausch in den fixen Teamzeiten, eine halbe St<strong>und</strong>e reserviert, manchmal<br />
Beobachtungen auch zu zweit austauschen<br />
Braucht hohes Mass an Disziplin, eigenen Rhythmus finden<br />
Fester Teil der Institution, macht dann nicht so viel Arbeit<br />
Eingrenzen, nur jüngeren Jahrgang nehmen<br />
Jede Kollegin Verantwortung für fünf Kinder<br />
Pro Jahr mindestens ein Entwicklungsgespräch, meist um Geburtstag des<br />
Kindes herum<br />
Pro Jahr werden mindestens zwei individuelle <strong>Lerngeschichten</strong> für das Kind<br />
geschrieben<br />
Aber hier im Haus wird es so gemacht: einmal pro Jahr<br />
K 6 Organisation<br />
142<br />
Verankerung innerhalb<br />
schon bestehender Gefässe<br />
Ausbildung<br />
Planung
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Schwierig zu beantworten, ob es Arbeit erleichtert<br />
Immer Zusatzaufgabe für eine Lehrperson, Beobachten kommt einfach noch<br />
dazu<br />
Lücken für Austausch finden, Raum schaffen, das war Mehrbelastung,<br />
herausfinden, was anderes weglassen werden konnte, Beobachten, Reflexion,<br />
Organisation <strong>und</strong> Planung nehmen Zeit in Anspruch<br />
Integration ein Stück Weg mit Mehrbelastung, wenn diese Zeiten eingeplant<br />
sind, dieses keine Mehrbelastung, höchstens bei wenig Computerkenntnissen,<br />
für Kolleginnen im Alltagsgeschäft vielleicht<br />
Möglichkeiten finden, sie von anderen Papierarbeiten zu entlasten oder<br />
kleinere St<strong>und</strong>enzahl am Kind<br />
Dass man ja auch selber ein gutes Gefühl hat, dass man seine Arbeit gut<br />
macht<br />
Zusammentragen in der Gruppenbesprechung, wird es alltäglich, keine<br />
Mehrbelastung mehr, weil viel Positives daraus<br />
Keine Mehrbelastung für Arbeit mit Kindern, sogar erleichternd, bei Gefühl<br />
von Stress bei Rückzug zum Beobachten ist Veränderung spürbar, mehr<br />
Ruhe, veränderte Atmosphäre im Haus, überträgt sich auch auf die Kinder<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> keine Mehrbelastung, anderer Schwerpunkt in der Arbeit<br />
Grenzen sind Zeit <strong>und</strong> personelle Ressourcen<br />
Faszination für das Instrument, muss sich aber ins Gesamtkonzept <strong>und</strong> die<br />
vorhandenen Ressourcen einpassen<br />
Vom zeitlichen Rahmen <strong>und</strong> vom Umfang her müsste sich etwas ändern:<br />
Zukunftsperspektiven<br />
Familienseite gestaltet für das Portfolio, Eltern mit beteiligen am Schreiben<br />
Eltern ermutigen, Schatzmappe anzuschauen <strong>und</strong> eine Seite aktiv zu gestalten<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> haben festen Bestandteil, zentrale Rolle in Elterngesprächen,<br />
auch bei Kindern wo eine leichte Verhaltensauffälligkeit oder eine Entwicklungsverzögerung<br />
ist, wo die Eltern verunsichert sind<br />
Empfehlenswert, offen mit Verfahren umzugehen, andere Beobachtungsverfahren<br />
schliessen Eltern aus<br />
Vorbereitete Beobachtungsbogen für Elterngespräche, einfach so als roten<br />
Faden durch alle Bereiche, damit an alles gedacht wird<br />
Belastung/Entlastung<br />
Beteiligung der Eltern<br />
143
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Rahmenbedingungen klären für Umsetzung: Tandems, Zeitgefässe<br />
Kompatibilität mit dem Lehrplan, geht nicht mit starren St<strong>und</strong>enplänen<br />
Auf institutionellen Ebene: man müsste zu zweit sein<br />
Ressourcen notwendig zum Einsteigen, Gewährleisten der Work-Life-Balance<br />
, als Bestandteil der offiziellen Arbeitszeit integrieren, dann gute Chancen<br />
Keine speziellen Rahmenbedingungen setzen, Lehrperson muss sich Zeit<br />
nehmen, im täglichen Ablauf ein Kind zu beobachten<br />
Wichtigkeit soll von ganz oben erkannt <strong>und</strong> genügend Gelder gesprochen<br />
werden, dass es gut zu meistern ist, Mitarbeiter stehen hinter dem Modell<br />
<strong>und</strong> erachten es als gut, Fortbildung <strong>und</strong> Qualifikation sind nötig, Kleinmengenbudget<br />
für Material, Infrastruktur<br />
Paket geschnürt implementieren in grössere Abläufe als eine mögliche Form<br />
Entscheidung, Verbindlichkeit <strong>und</strong> Motivation des Teams<br />
Üben bei der Einführung ist wichtig<br />
Gibt Motivation <strong>und</strong> Zielrichtung, nutzbar für Elterngespräch oder für<br />
Unterrichtsentwicklung<br />
Zuerst mit Lehrpersonen arbeiten<br />
Nicht obligatorisch machen<br />
Gute Einführung der Lehrpersonen ist Wichtigstes, müssen wissen, womit<br />
sie sich beschäftigen <strong>und</strong> worauf sie sich einlassen, langsames Hineinwachsen<br />
Ruhe bewahren, ausprobieren, <strong>und</strong> dann für sich, für die Einrichtung, für die<br />
Gruppe einen Weg finden, Strukturen schaffen<br />
Gefässe für Gruppenbesprechung , überlegen welche drei Kinder beobachten<br />
werden, die Woche darauf Beobachtungen zusammentragen <strong>und</strong> über die<br />
Kinder sprechen<br />
Gruppenteam funktioniert, gut eingearbeitet <strong>und</strong> eingespielt sein<br />
Alltagsbezug ist da, <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> sind überall möglich,<br />
Grenzen durch technische Ausstattung <strong>und</strong> beim Übergang in die Gr<strong>und</strong>schule<br />
Als Leitung Motor sein für die Umsetzung , wenn es in Hintergr<strong>und</strong> tritt<br />
Mit Buch arbeiten, wo <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> beschrieben sind<br />
<strong>und</strong> ausprobieren, beobachten, ins Gespräch gehen, durch Übung entsteht<br />
Fachkenntnis<br />
Über die Fotodokumentation gehen, das sind kleine <strong>Lerngeschichten</strong> für die<br />
Kinder<br />
Routine in Abläufen bekommen<br />
Fortbildungsphase ermöglichte ein langsames zur Routine kommen, der<br />
Austausch <strong>und</strong> die Übungsphase ermöglichte das Dahinterstehen des Teams,<br />
eigenen Weg finden<br />
Tabelle 12 K 6, Organisation<br />
Einführung<br />
144
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
145<br />
Durch die Aussagen in einigen Interviews wird ersichtlich, dass Teamteaching <strong>und</strong> Erfahrung hilfreich<br />
sind für die Umsetzung von <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> dass neue Kolleginnen beim<br />
Einarbeiten unterstützt werden können durch erfahrene Kolleginnen aus dem Team, einerseits<br />
durch Ermunterung, andererseits durch die Dokumentationen über das Verfahren, dass aber auch<br />
regelmässige Ausbildungen <strong>und</strong> Aufbauschulungen nötig sind.<br />
Die Mehrheit der Befragten ist der Ansicht, dass es ein hohes Mass an Disziplin braucht,<br />
um die Schritte des Verfahrens konsequent durchzuführen <strong>und</strong> dass es wichtig ist, den eigenen<br />
Rhythmus zu finden. In vielen Institutionen sind die Verantwortlichkeiten zur Durchführung des<br />
Verfahrens klar aufgeteilt. Oft finden die Beobachtungen, die Niederschrift der <strong>Lerngeschichten</strong><br />
<strong>und</strong> die Entwicklungsgespräche um den Geburtstag des Kindes herum statt. Für den Austausch<br />
im Team werden meistens fixe Zeitgefässe festgelegt. Die Frage nach der Mehrbelastung wird von<br />
den Befragten unterschiedlich beantwortet. In der Anfangsphase, während der Implementierung<br />
des Verfahrens, wird es zu einer Mehrbelastung, wenn Routine <strong>und</strong> Erfahrung noch fehlen. Sobald<br />
Raum geschaffen werden kann <strong>–</strong> unter Umständen auch dadurch, dass etwas anderes weggelassen<br />
wird <strong>–</strong> schätzen die meisten Interviewten die Aufgabe nicht länger als Mehrbelastung ein, sondern<br />
als veränderten Schwerpunkt in der Arbeit. Zusätzlich betonen einige Personen, dass die Arbeit<br />
mit dem Verfahren positive Auswirkungen hat auf die eigenen Gefühle <strong>und</strong> die Atmosphäre in der<br />
Institution. Als Grenzen werden von fast allen Befragten die zeitlichen <strong>und</strong> personellen Ressourcen<br />
beschrieben.<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> sind nach Aussagen der meisten Interviewten ein fester Bestandteil von<br />
Elterngesprächen, auch bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen, wo die Eltern unter Umständen<br />
verunsichert sind. In einigen Institutionen werden Letztere zur Mitgestaltung bei den Schatzmappen<br />
ermuntert. Eine Person betont, dass das gesamte Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
die Eltern in den Prozess einbezieht. Für eine erfolgreiche Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> erwähnen die Betroffenen unter anderem die Kompatibilität mit dem<br />
Lehrplan, verfügbare Ressourcen, festgelegte Zeitgefässe <strong>und</strong> die Möglichkeit, zu zweit zu arbeiten.<br />
Viele Befragte erachten es als wichtig, dass das Team über die Einführung der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
entscheiden <strong>und</strong> motiviert dahinter stehen kann. Als zentral wird von vielen erachtet,<br />
dass eine gute Einführung <strong>und</strong> ein allmähliches Hineinwachsen hilfreich sind, sodass es gelingt,<br />
Routine zu bekommen in den Abläufen des Verfahrens.
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
7.1.3 Kategorie 7: Ausgestaltung<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Keine speziellen Anforderungen, Instrumente, Räume <strong>und</strong> Personen notwendig<br />
Grenzen sind auch in der Ausstattung<br />
Durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wurde bewusste Beobachtung gestärkt <strong>–</strong><br />
daraus Impulse zur Raumgestaltung<br />
Raumgestaltung hat sich nicht so verändert, immer schon Wert darauf gelegt,<br />
dass die Sachen gut zugänglich sind für die Kinder<br />
Mit den vielen Räumlichkeiten gut möglich, gruppenübergreifend Kinder zusammenfassen<br />
mit gleichen Interessen, hat Auswirkungen auf Raumgestaltung<br />
Material wird exakt auf die Kinder abgestimmt, Kinder können sich im Haus<br />
bewegen<br />
Jedes Team hat Digitalkamera <strong>und</strong> Laptop zur Verfügung, Sequenzen werden<br />
im Team angeschaut <strong>und</strong> Beobachtungen daraus formuliert, Klemmbretter mit<br />
Formularen in jedem Raum bereit<br />
Voraussetzung ist gute Ausstattung, trägt zum Gelingen bei<br />
Als Teile des Portfolios implementieren macht Sinn<br />
Integration ins Portfolio, in Elternarbeit, in Lernbegleitung, vernetzt einführen,<br />
als ganzes Konzept von Lernbegleitung<br />
Wie ein Gespann: das Portfolio <strong>und</strong> die Lerngeschichte<br />
Kind macht sein Portfolio, Lerngeschichte ist Sache der Lehrpersonen<br />
Portfolios haben sehr grosse Bedeutung für Kinder , möchten immer wieder die<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> vorgelesen haben<br />
K 7 Ausgestaltung<br />
Raumgestaltung<br />
Material<br />
Portfolio<br />
146
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Greifbar in Gestalt der «Könnerbücher», in denen Kinder <strong>Lerngeschichten</strong><br />
sammeln <strong>und</strong> sichtbar schätzen<br />
Bei Kleinen <strong>Lerngeschichten</strong> als Bildergeschichten, Fotogeschichten mit wenig<br />
Text um Erinnerung wach zu halten<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> in Besitz des Kindes, auf Kinderhöhe aufbewahren, immer<br />
zugänglich<br />
Über Fotos dokumentieren <strong>und</strong> diese den Eltern aushängen<br />
Nicht zwei <strong>Lerngeschichten</strong> pro Jahr schreiben, nur eine schreiben <strong>und</strong> viele<br />
Fotos machen<br />
Auswertungen werden für Pädagoginnen aufbewahrt, nicht für alle zugänglich,<br />
zur Reflexion über Planung der nächsten Schritte, zum Erkennen eines roten<br />
Fadens im Lernen des Kindes durch gute Dokumentation<br />
Tabelle 13 K 7, Ausgestaltung<br />
Dokumentation<br />
147<br />
Verschiedene Personen erklären, dass es für die Einführung des Verfahrens keine speziellen Anforderungen<br />
an die Räumlichkeiten gibt, dass es hingegen aus der Anwendung des Verfahrens Impulse<br />
gibt für die Raumgestaltung. Sie erläutern auch, dass eine gute materielle Ausstattung zum Gelingen<br />
beiträgt. Viele Befragte betonen, dass es sinnvoll ist, die <strong>Lerngeschichten</strong> gleichzeitig mit dem<br />
Portfolio einzuführen. In Bezug auf die Dokumentation von <strong>Lerngeschichten</strong> äussern fast alle<br />
Interviewten, dass die Schatz- oder Könnerbücher jederzeit zugänglich sein müssen für die Kinder<br />
<strong>und</strong> dass <strong>Lerngeschichten</strong> auch als Bilder- oder Fotogeschichten ausgestaltet werden können,<br />
insbesondere für jüngere Kinder.
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
7.1.4 Kategorie 8: Umsetzung des Verfahrens<br />
Generalisierung<br />
Aussagen Kategorien<br />
Instrument, wo individuelle Lernprozesse dokumentiert werden<br />
Fokus auf Wahrnehmung <strong>und</strong> Austausch des unmittelbaren Geschehens<br />
Unterschied zu vorher: Entwicklung von Themen für Unterrichtsgestaltung werden<br />
aus Beobachtungen abgeleitet, vor allem Entwicklungsschritte für das einzelne<br />
Kind, früher bestimmte eher Kleingruppe die Themenwahl<br />
<strong>Bildungs</strong>biographie des Kindes dokumentieren, mit Kind reflektieren <strong>und</strong> über<br />
Lernen sprechen<br />
Überzeugt von dem Instrument, sehr dialog- <strong>und</strong> ressourcenorientiert<br />
Nicht immer Grosses, manchmal Kleinigkeiten, die nur durch dieses Beobachtungsverfahren<br />
erkennbar sind, nicht Quantität<br />
Mit Begleitung einsteigen, sich Zeit lassen, lange üben, was beschreiben <strong>und</strong> nicht<br />
bewerten heisst, die Analyse als Herzstück des Instrumentes ansehen, als Vorteil<br />
für ein Team, gemeinsam weg vom defizitären Blick<br />
Umsetzen der nächsten Schritte ist immer noch Thema, ebenso Reflexion, wo<br />
Lernen stattgef<strong>und</strong>en hat, Lernprozesse erkennen, aufmerksam werden für kleine<br />
Sachen<br />
Schwierig ist roten Faden bei Entwicklung der Kinder zu verfolgen <strong>und</strong> Erkenntnisse<br />
aus Beobachtung ziehen, schwierig auch Umsetzung der nächsten Schritte<br />
Grenzen des Verfahrens: nicht möglich all zu breit Geschichten zu sammeln<br />
Keine Grenzen der <strong>Lerngeschichten</strong>, immer <strong>und</strong> überall möglich<br />
Mit Beobachtung fängt alles an, Übung in freier Beobachtung, geschärfter Blick,<br />
Beobachtung <strong>und</strong> Interpretation sauber trennen können<br />
Analyse von Beobachtungen anhand Lerndispositionen, sonst wertlos<br />
Lerndispositionen von Entwicklung her aufbauend, nur bei Interesse für Thema,<br />
für Dinge, für Personen ist Engagement <strong>und</strong> Kontakt möglich<br />
Wichtig: Dispositionen festhalten, sagen viel aus über Verhalten <strong>und</strong> Handlungen<br />
des Kindes<br />
Geschichte ist Situation, in der wir Kind oder Kindergruppe beobachtet haben,<br />
unter bestimmten Kriterien beobachten, auf bestimmte Weise analysieren, Verschriftlichung,<br />
Diskussion, Schlüsse-Ziehen, das ergibt <strong>Bildungs</strong>-<strong>und</strong> Lerngeschichte<br />
Lerngeschichte besteht aus Sammlung von kurzen Beobachtungen in zeitlichen<br />
Abständen, die individuelle Handlungen des Kindes beschreiben, Lernwege, <strong>und</strong><br />
Lernzustände oder Lernentwicklungen<br />
K 8 Umsetzung des<br />
Verfahrens<br />
148<br />
Kernaussagen über das<br />
Verfahren
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Lerngeschichte ist Geschichte, die über Lernen des Kindes erzählt, wird vorgelesen,<br />
übergeben <strong>und</strong> im Könnerbuch abgeheftet<br />
Nicht irgendeine Geschichte, sondern geschrieben für das Kind, zum Entwicklungsstand,<br />
aber auch für eine Fachkraft, die genau sieht, wo Kind Probleme<br />
gelöst hat. Wie wird das für Kind beschrieben <strong>und</strong> wie kann es Fachkraft wieder<br />
herauslesen<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> gehen immer Beobachtungen voraus, dann Auswertung der<br />
strukturierten Beobachtung, Analyse nach Lerndispositionen, nach Austausch im<br />
Team entsteht manchmal eine Lerngeschichte, falls nicht sofort Zeit, kann Beobachtung<br />
erst später notiert werden<br />
Sequenzen haben, wo Kinder über längere Zeit etwas tun, um Ablauf beobachten<br />
zu können<br />
Abläufe, nicht starr, bei besonderer Beobachtungssituation muss nicht am festgelegten<br />
Beobachtungstag beobachtet werden, kann spontan sein<br />
Bei schriftlichen Beobachtungen fragen, ob man Kind beim Spielen beobachten<br />
kann, war anfänglich grosses Thema in Institution, manchmal ist Antwort Nein,<br />
Kinder haben Beobachtung vielleicht schon negativ erlebt, wegen Rügen oder<br />
Sanktionen<br />
Wenn Kinder Beobachtung zustimmen, vergessen sie schnell, dass sie beobachtet<br />
werden<br />
Den Kindern berichten oder vorlesen, was beobachtet wurde<br />
Durch Dialog sichtbar machen: Ich habe dich beobachtet <strong>und</strong> erzähle dir das, ist<br />
am Anfang ungewohnt, dann mögen es Kinder, ergibt lange Gespräche, Beziehungen<br />
verändern sich<br />
Analyse der Lerndispositionen ist schriftliche Arbeit<br />
Impuls, der durch Lerngeschichte gegeben wird, im Alltag weiterverfolgen , wie<br />
Projekte für einzelne Kinder, die an Beobachtung anschliessen<br />
Nächste Schritte in Lerngeschichte schreiben, ist Begleitung vom Kind, dran<br />
bleiben, weiter beobachten, manchmal stehen nach Dokumentation der nächsten<br />
Schritte schon wieder nächste Schritte an<br />
Lerngeschichte weitergeben wenn notwendig, Schlüsse ziehen, was Kind braucht<br />
als Förderung<br />
Am Schluss Gesamtanalyse der Beobachtungen <strong>und</strong> Überlegungen für nächste<br />
Schritte<br />
Nächste Schritte nach Sequenzen besprechen, anbieten, reflektieren, dokumentieren,<br />
dann erst, diese Dokumentation, diese Bewertung schreiben<br />
In Analyse Frage nach Thema <strong>und</strong> Interesse des Kindes <strong>und</strong> nach Angeboten für<br />
nächste Entwicklungsschritte, anfänglich explizite Vorschläge gemacht für Kind<br />
Nächster Schritt: «Ich bin gespannt, wann du es schaffst nach oben zu kommen.<br />
Und wann du weißt, wie du nach oben kommst.»<br />
Für eine Lerngeschichte zwei bis drei Beobachtungen<br />
Konkrete Abläufe<br />
149
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.1 Darstellungen der generalisierten Aussagen aus den durchgeführten Interviews<br />
Aussagen Kategorien<br />
Wenn Lerngeschichte geschrieben ist, wird sie Kind vorgelesen, Kommentare<br />
werden auch aufgenommen<br />
Günstige Orte <strong>und</strong> Momente, gemütliche Atmosphäre, geschützter Rahmen, Bei<br />
magischen Momenten, wenn Veränderungen/spannende Entwicklungen stattfinden,<br />
schreiben wir <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Dann wird Geschichte geschrieben, kommt in Buch, <strong>und</strong> dann ist es beendet <strong>und</strong><br />
eigentliche pädagogische Arbeit beginnt<br />
Tabelle 14 Umsetzung des Verfahrens<br />
150<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> wird von vielen Befragten als Instrument zur<br />
Dokumentation von individuellen Lernprozessen beschrieben, wobei aus den Beobachtungen<br />
Entwicklungsschritte für das einzelne Kind abgeleitet werden. Die meisten Interviewten geben<br />
an, dass sie es als wichtig einschätzen, das Kind zu fragen, ob es einer Beobachtung zustimmt <strong>und</strong><br />
einige erwähnen, dass das Kind beim Spielen schnell wieder vergisst, dass es beobachtet wird.<br />
Immer wieder wird bemerkt, dass das Umsetzen der «nächsten Schritte» schwierig zu verfolgen ist<br />
<strong>und</strong> noch weiter zu entwickeln wäre. Die «nächsten Schritte» aus der Beobachtung zu entwickeln<br />
<strong>und</strong> in einer Lerngeschichte zu formulieren, beschreibt eine Person als Begleitung des Kindes in<br />
seinem Entwicklungsprozess. Einige Befragte erklären, dass die nächsten Schritte aus dem aktuellen<br />
Geschehen, aus Themen <strong>und</strong> Interessen des Kindes entwickelt werden. In einer Institution wird<br />
betont, dass seit der Einführung des Verfahrens immer weniger explizite Vorschläge gemacht werden<br />
für das Kind. Alle Beteiligten geben an, dass den <strong>Lerngeschichten</strong> zuerst strukturierte Beobachtungen<br />
vorausgehen <strong>und</strong> diese meistens im Team anhand der Lerndispositionen ausgewertet werden.<br />
Nach dem Austausch im Team wird dann eine Lerngeschichte geschrieben, die dem Kind vorgelesen<br />
<strong>und</strong> für das Könnerbuch abgegeben wird. Eine Person erwähnt, dass in ihrer Institution keine<br />
Verschriftlichung der Beobachtungen gemacht, sondern kurze Sequenzen mit dem Fotoapparat<br />
gefilmt werden. Mehrere Interviewte sagen aus, dass für das Vorlesen eine gemütliche Atmosphäre,<br />
ein geschützter Rahmen <strong>und</strong> günstige Moment wichtig sind. Kaum jemand erwähnt das Verfassen<br />
der <strong>Lerngeschichten</strong> als Schwierigkeit.
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil<br />
7.2 Interpretation der Ergebnisse<br />
Im Folgenden werden die durch qualitative Inhaltsanalyse gewonnenen <strong>und</strong> erläuterten Ergebnisse<br />
für den Entwicklungsteil interpretiert. Dabei konzentriert sich die Interpretation auf die Bereiche<br />
<strong>Bildungs</strong>verständnis, Mehrbelastung <strong>und</strong> Kernaussagen zum Verfahren, da die anderen Erkenntnisse<br />
zur Beantwortung der Fragestellung dienen.<br />
Immer wieder werden im Verlaufe der Interviews Aussagen gemacht zum <strong>Bildungs</strong>verständnis,<br />
welches offenbar Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> von zentraler Bedeutung ist für die Anwendung des<br />
Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> innerhalb dieses Prozesses auch ständig weiterentwickelt<br />
wird. Diese Tatsache fällt besonders deshalb auf, weil in den Interviews nicht explizit<br />
nach diesem Thema gefragt wurde. Zum <strong>Bildungs</strong>verständnis gehören nach den Erkenntnissen aus<br />
den Interviews das Selbstwirksamkeits-Erleben als Gr<strong>und</strong>lage für Selbstbildungs-Prozesse <strong>und</strong> die<br />
Rolle <strong>und</strong> Haltung der Pädagoginnen, die als Begleiterinnen der Kinder in Entwicklungsprozessen<br />
verstanden werden. Das Kind ist im Verständnis des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong><br />
Akteur seiner Entwicklung, echtes Lernen findet folglich in Lernumgebungen statt, die von den<br />
Räumlichkeiten <strong>und</strong> vom Material her <strong>und</strong> durch die Impulse der Erzieherinnen anregend gestaltet<br />
sind. Beeindruckend sind die Aussagen, dass Kinder in ihren Handlungen nicht gestört werden<br />
sollen <strong>und</strong> oft längere Sequenzen notwendig wären, damit das Lernen <strong>und</strong> Problemlösen der Kinder<br />
einsetzt, was der aktuellen Unterrichtsform mit ihren festgelegten St<strong>und</strong>enplänen häufig entgegensteht.<br />
Die Auseinandersetzung mit individuellem Lernen <strong>und</strong> Gruppenerfahrungen beschäftigt<br />
die besuchten Institutionen im selben Masse wie die Lehrpersonen in unserem Schulsystem <strong>und</strong><br />
dieses Spannungsfeld kann offenbar durch das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> nicht<br />
entkräftet werden. Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> rücken die Ziele des Kindes<br />
ins Zentrum, nicht die Anforderungen einer Pädagogin oder eines Lehrplans <strong>und</strong> die Offenheit des<br />
Verfahrens, das Fehlen von Kompetenzrastern ist eine Chance für alle Kinder, in ihrer Entwicklung<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> nicht mit einer Norm verglichen zu werden. Schön ist die Aussage, dass die<br />
Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> den Pädagoginnen selber ein positives Gefühl gibt, ihre<br />
Arbeit gut zu machen, dass also offensichtlich auch die einzelnen Lehrpersonen <strong>und</strong> das gesamte<br />
Team gestärkt werden, zumal das Verfahren nach einer Einführungszeit nicht mehr als zusätzliche<br />
Belastung empf<strong>und</strong>en wird, sondern in einigen Fällen sogar zu einer Entlastung führt. Es fällt auf,<br />
dass der Reflexionsbogen nicht zur Sprache kommt, sondern nur allgemein die vermehrte Reflexion<br />
im Team erwähnt wird. Offensichtlich ist dieser Schritt im Verfahren noch nicht im Ablauf integriert.<br />
Es erwies sich als sinnvoll, die Einzelaussagen nicht zu stark zu generalisieren, da aufgezeigt<br />
werden sollte, wie die einzelnen Institutionen das Verfahren individuell anpassen. Es geht hier ja<br />
nicht um das Verfahren in den theoretischen Gr<strong>und</strong>zügen, sondern um die Umsetzung in den verschiedenen<br />
Institutionen <strong>und</strong> da gibt es unterschiedliche Ausgestaltungen.<br />
Die Kernaussagen zum Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> lassen sich folgendermassen<br />
interpretieren: <strong>Lerngeschichten</strong> beschreiben individuelle Handlungen eines Kindes, seine<br />
Lernwege, Lernzustände oder Lernentwicklungen. Dies macht das Verfahren zu einem dialog- <strong>und</strong><br />
151
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.2 Interpretation der Ergebnisse<br />
152<br />
ressourcenorientierten Instrument, welches durch die Analyse als Herzstück ermöglicht, sich<br />
immer mehr von einem defizitären Blick zu lösen <strong>und</strong> aufmerksam zu werden für die durch dieses<br />
Beobachtungsverfahren erkennbaren kleinen Fortschritte im Alltag <strong>und</strong> für gelungene Entwicklungen.<br />
7.3 Beantwortung der Fragestellung für den Entwicklungsteil<br />
In diesem Abschnitt wird ausgehend von den erläuterten <strong>und</strong> interpretierten Ergebnissen die für<br />
den Entwicklungsteil formulierte Fragestellung beantwortet <strong>und</strong> mit den Erkenntnissen verglichen,<br />
welche dem Abschlussbericht des Projektes «<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> als Instrument<br />
zur Konkretisierung <strong>und</strong> Umsetzung des <strong>Bildungs</strong>auftrags im Elementarbereich» des Deutschen<br />
Jugendinstituts in München (im Literaturverzeichnis aufgeführt) zu entnehmen sind.<br />
Die für den Entwicklungsteil durchgeführte Forschung geht von der hier noch einmal aufgeführten<br />
Fragestellung aus:<br />
Welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden, damit das Verfahren der<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in der Praxis umgesetzt werden kann?
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.3 Beantwortung der Fragestellung für den Entwicklungsteil<br />
Zu den Rahmenbedingungen für eine Umsetzung in der Praxis gehören folgende Erfordernisse:<br />
·· Ein <strong>Bildungs</strong>verständnis, welches die aktive Rolle des Kindes in seinen <strong>Bildungs</strong>prozessen<br />
ins Zentrum rückt<br />
·· Räumlichkeiten mit anregenden Lernumgebungen<br />
·· Beobachtungen werden in einem ersten Schritt nach Lerndispositionen analysiert,<br />
Kompetenzraster <strong>und</strong> Fachkräfte können nach Bedarf beigezogen werden<br />
·· Begeisterung <strong>und</strong> Motivation des Teams<br />
·· Bereitschaft, das Verfahren diszipliniert anzuwenden<br />
·· Bereitschaft, die pädagogische Arbeit den Eltern transparent zu machen<br />
·· Bereitschaft zur Reflexion des eigenen pädagogischen Handelns<br />
·· Genügende zeitliche <strong>und</strong> personelle Ressourcen<br />
·· Teamteaching als mögliche Unterrichtsform<br />
·· Klare Strukturen in den Abläufen <strong>und</strong> in den Verantwortlichkeiten<br />
·· Eine genügende Infrastruktur wie Digitalkamera, Laptops, Büromaterial <strong>und</strong><br />
weitere<br />
·· Ein gut zugänglicher Platz für die Könnerbücher/Schatzmappen<br />
·· Aus- <strong>und</strong> Fortbildung der Pädagoginnen<br />
·· Gemeinsame Übungsphasen zu den einzelnen Bausteinen<br />
153
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.3 Beantwortung der Fragestellung für den Entwicklungsteil<br />
In Bezug auf die Ausgestaltung kann die Frage folgendermassen beantwortet werden:<br />
154<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> kann überzeugend umgesetzt werden,<br />
wenn die Beobachtungszeiten <strong>und</strong> Verantwortlichkeiten klar festgelegt sind <strong>und</strong> bereits bestehende<br />
Besprechungszeiten genutzt werden, wobei jeweils eine bestimmte Dauer für den Austausch<br />
über ein Kind vereinbart wird. Wichtig ist ausserdem, dass für die Kinder längere Lern- <strong>und</strong> Spielsequenzen<br />
geplant werden, in denen Lernprozesse <strong>und</strong> Beobachtungen möglich sind. Beobachtungsbögen<br />
auf einem Klemmbrett, sowie Digitalkameras müssen jederzeit bereitliegen. Die Analyse<br />
nach Lerndispositionen als Herzstück des Verfahrens kann sowohl einzeln als auch im Team durchgeführt<br />
werden. Besondere Beachtung muss der Umsetzung der nächsten Schritte, dem «roten<br />
Faden» in der Entwicklung <strong>und</strong> im eigenen pädagogischen Handeln geschenkt werden. Das Verfassen<br />
der schriftlichen Lerngeschichte in Briefform ist eine individuelle Aufgabe der Pädagogin<br />
<strong>und</strong> es ist wichtig, dass das Vorlesen in einer achtsam gestalteten Umgebung <strong>und</strong> persönlichen<br />
Atmosphäre stattfindet. <strong>Lerngeschichten</strong> werden als Chance zum wertschätzenden Austausch <strong>und</strong><br />
zur Beziehungsförderung, sowie als Impuls für nächste Schritte verstanden.<br />
Auch im Projekt des Deutschen Jugendinstitutes wurden bei der Evaluation nahezu die gleichen<br />
Erkenntnisse herauskristallisiert. Eine Ausnahme zeigt sich in der Zusammenfassung des Evaluationsberichtes,<br />
wo festgehalten wird, dass das Verfahren eine Veränderung pädagogischer Überzeugungen<br />
<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätze initiieren kann (vgl. Abschlussbericht, 2007, S. 97). Durch die Erhebungen der<br />
vorliegenden Arbeit hingegen wird ersichtlich, dass dieses veränderte <strong>Bildungs</strong>verständnis eine<br />
Rahmenbedingung zur Umsetzung des Verfahrens darstellt <strong>und</strong> es günstig ist, bereits bei oder<br />
sogar vor der Einführung auf diesen Paradigmenwechsel hinzuarbeiten.
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil<br />
Lerngeschichte für Leila Januar 2010<br />
7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten<br />
Liebe Leila!<br />
1. Das Beobachten<br />
Heute bekommst du endlich<br />
deine neue Lerngeschichte.<br />
Gegenstand der Beobachtung sind alltäg-<br />
Weißt liche Handlungen du noch, <strong>und</strong> Äusserungen als dich eines«Klaramaus»<br />
im Advents-<br />
stündchen Kindes. als Adventskind erschnuppert hat?<br />
Jeden Beobachtung Tag hast ist gezielte du Beachtung im Adventsstündchen sehnlichst gehofft,<br />
dass Klaramaus <strong>und</strong> Wertschätzung kindlichen Tuns. den richtigen 2. Riecher Die Analyse hat, nach Lerndispositionen<br />
<strong>und</strong> dich als Adventskind erschnuppert.<br />
Lerndispositionen sind das persönliche<br />
In der 3. Adventswoche ist es dann endlich Repertoire soweit angewesen. Lernstrategien <strong>und</strong><br />
Motivation, mit dem jeder Mensch Lern-<br />
Gesicht <strong>und</strong> du hast herzlich gelacht. Dich gelegenheiten so wahrnimmt glücklich <strong>und</strong> zu beant- sehen,<br />
hat mir sehr viel wortet. Freude bereitet.<br />
Du hast dich riesig gefreut, dein Strahlen reichte über das ganze<br />
Schnell bist du an unseren Adventskalender gegangen,<br />
hast dein Zeichen gesucht <strong>und</strong> dein Säckchen abgenommen.<br />
Gespannt hast 3. Der du Dialog hinein geschaut <strong>und</strong> dein kleines Briefchen<br />
heraus geholt. Klaramaus hat deinen Adventswunsch<br />
Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lern- laut vorgelesen.<br />
geschichten findet der Dialog mit dem<br />
Am Montag, den 14.12.09 durftest du gemeinsam<br />
Kind, im Team <strong>und</strong> mit den Eltern statt.<br />
mit Loris <strong>und</strong> Lukas in den Ahornsportpark gehen.<br />
Du hast dich sehr darauf gefreut <strong>und</strong> in den nächsten Tagen<br />
von nichts anderem mehr gesprochen. Voller Vorfreude hast du<br />
4. Die Planung der «nächsten Schritte»<br />
auf diesen Tag gewartet.<br />
Endlich ist es dann soweit gewesen. Monika hat<br />
mit euch<br />
Die Begleitung<br />
den Rucksack<br />
des Kindes<br />
gepackt<br />
in seinen<br />
<strong>und</strong> dann konnte es losgehen.<br />
<strong>Bildungs</strong>prozessen, das heisst die Planung<br />
Im Ahornsportpark der «nächsten Schritte» habt erfolgt ihr auf verschiede Bewegungsspiele ausprobiert,<br />
konntet Gr<strong>und</strong>lage durch der einen Lerndispositionen. Parcours laufen <strong>und</strong> vieles mehr. Sehr motiviert<br />
<strong>und</strong> neugierig bist 5. Die du Lerngeschichte bei der Sache gewesen.<br />
Mutig bist du allein über die Wackelbrücke <strong>Lerngeschichten</strong> balanciert sind<strong>und</strong> Geschichten, hast<br />
dich sogar getraut, an der dieStange über das Lernen herunter der Kinder zu berichten. rutschen.<br />
Es ist schön, zu beobachten, wie viel Spaß du an der Bewegung hast.<br />
Die Kletterwand hat dir auch gut gefallen.<br />
Sie werden<br />
Mit<br />
meist<br />
viel<br />
in Form<br />
Eifer<br />
eines<br />
hast<br />
Briefes an ein Kind verfasst.<br />
Kindern versucht, bis ganz oben zu klettern.<br />
du immer wieder gemeinsam mit Leander <strong>und</strong> anderen<br />
Das ist ein ganz besonderer <strong>und</strong> aufregender Tag für dich gewesen, <strong>und</strong><br />
du freust dich schon darauf, ab dem nächsten Sommer regelmäßig mit<br />
155
hat mir sehr viel Freude bereitet.<br />
Schnell bist du an unseren Adventskalender gegangen,<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten<br />
hast dein Zeichen gesucht <strong>und</strong> dein Säckchen abgenommen.<br />
Gespannt hast du hinein geschaut <strong>und</strong> dein kleines Briefchen<br />
heraus Was sindgeholt. <strong>Bildungs</strong>-Klaramaus <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong>? hat deinen Adventswunsch<br />
laut vorgelesen.<br />
Das Verfahren der Am <strong>Bildungs</strong>- Montag, <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> den 14.12.09 wurdedurftest Ende der 1990er-Jahre du gemeinsam<br />
durch Margret<br />
Carr von der Waikato Universität in Neuseeland entwickelt.<br />
mit Loris <strong>und</strong> Lukas in den Ahornsportpark gehen.<br />
Du hast <strong>Bildungs</strong>- dich <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> sehr darauf sind gefreut ein ressourcenorientiertes <strong>und</strong> in den nächsten Beobachtungs- Tagen <strong>und</strong><br />
Dokumentationsverfahren, von nichts anderem welches auf die mehr Stärkengesprochen. der Kinder bautVoller <strong>und</strong> dabei Vorfreude eine notwendige hast du<br />
Einschätzung des Entwicklungsstandes auf nicht diesen ausschliesst. Tag gewartet.<br />
In systematischen Endlich ist Beobachtungen es dann soweit durch verschiedene gewesen. Bezugspersonen Monika des Kindeshat werden<br />
mit Informationen euch den über Rucksack seine Tätigkeiten gepackt gesammelt <strong>und</strong> <strong>und</strong> dann mit dem konnte Kind <strong>und</strong> es losgehen.<br />
im Team reflektiert.<br />
Die Analyse der Beobachtungen erfolgt anhand von Lerndispositionen. In einer Lerngeschichte,<br />
Im Ahornsportpark habt ihr verschiede Bewegungsspiele ausprobiert,<br />
die für das Kind ein- oder zweimal pro Jahr verfasst <strong>und</strong> ihm vorgelesen wird, werden diese<br />
konntet durch einen Parcours laufen <strong>und</strong> vieles mehr. Sehr motiviert<br />
Erkenntnisse für das Kind <strong>und</strong> für die Eltern erlebbar gemacht.<br />
<strong>und</strong> neugierig bist du bei der Sache gewesen.<br />
Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> stehen die individuellen Interessen <strong>und</strong><br />
Mutig bist du allein über die Wackelbrücke balanciert <strong>und</strong> hast<br />
Lernentwicklungen eines Kindes im Zentrum. Ziel dabei ist es, die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> Lernwege von<br />
dich sogar getraut, an der Stange herunter zu rutschen.<br />
Kindern zu unterstützen <strong>und</strong> ihnen schrittweise eine immer grössere Partizipation zu ermöglichen.<br />
Es ist schön, zu beobachten, wie viel Spaß du an der Bewegung hast.<br />
Die Kletterwand hat dir auch gut gefallen. Mit viel Eifer hast<br />
du immer wieder gemeinsam mit Leander <strong>und</strong> anderen<br />
Kindern Bausteine des Verfahrens versucht, bis ganz oben zu klettern.<br />
Das ist ein ganz besonderer <strong>und</strong> aufregender Tag für dich gewesen, <strong>und</strong><br />
du freust dich schon darauf, ab dem nächsten Sommer regelmäßig mit<br />
Das Beobachten<br />
in den Ahornsportpark zu gehen.<br />
Dann Gegenstand kam erst der Beobachtung einmal die sindWeihnachtszeit, alltägliche Handlungenauf <strong>und</strong> die Äusserungen du dich eines Kindes. schon sehr<br />
gefreut hast. Immer wieder hast du davon erzählt, dass du Weihnachten<br />
Die Tätigkeit des Kindes wird aus unmittelbarer Nähe differenziert beobachtet <strong>und</strong> auf<br />
mit Mama bei Oma <strong>und</strong> Opa in Wiesheim feiern wirst.<br />
dem Beobachtungsbogen gleichzeitig schriftlich festgehalten.<br />
Alle Bärenkinder konnten erst einmal 2 Wochen Ferien<br />
Beobachtungen werden durch verschiedene Bezugspersonen eines Kindes durch-<br />
genießen. . .<br />
geführt.<br />
. . .Und nach den Weihnachtsferien war es endlich soweit! Dein 4.<br />
Durch die Anwendung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> werden<br />
Beobachtungen systematisiert, da jedes Kind regelmässig beobachtet wird.<br />
lie gefeiert <strong>und</strong> dann haben wir ihn endlich in der Kita mit allen<br />
Bärenkindern Dadurch wird Beobachtung zu gezielter nachgefeiert. Beachtung <strong>und</strong> Ganz Wertschätzung aufgeregt kindlichen bist du morgens<br />
Tuns. in die Kita gekommen <strong>und</strong> hast so viel erzählt. Mittags haben wir im<br />
Kuschelraum deinen Geburtstagsstuhlkreis vorbereitet. Du hast im Flur<br />
gewartet, bis dich der Geburtstagszug hereinholt. Mit einem lauten Ri-Ra-<br />
Rutsch sind deine Fre<strong>und</strong>e Joyce <strong>und</strong> Leander zu dir gekommen, <strong>und</strong><br />
haben dich in den Kuschelraum geholt. Die beiden durften auch bei dir am<br />
Geburtstagtisch sitzen.<br />
Geburtstag. Den hast du schon in den Ferien mit deiner Fami-<br />
Ganz stolz hast du den Bärenkindern von deinen Geburtstagsgeschenken<br />
156
Dann kam erst einmal die Weihnachtszeit, auf die du dich schon sehr<br />
gefreut hast. Immer wieder hast du davon erzählt, dass du Weihnachten<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten<br />
mit Mama bei Oma <strong>und</strong> Opa in Wiesheim feiern wirst.<br />
Alle Bärenkinder konnten erst einmal 2 Wochen Ferien<br />
genießen. . .<br />
Der Dialog<br />
. . .Und nach den Weihnachtsferien war es endlich soweit! Dein 4.<br />
Geburtstag. Im Verfahren Den der hast <strong>Bildungs</strong>- du <strong>und</strong>schon <strong>Lerngeschichten</strong> in den findet Ferien der Dialog mit deiner mit dem Kind, Fami-<br />
im Team<br />
lie <strong>und</strong> gefeiert mit den<strong>und</strong> Elterndann statt. haben wir ihn endlich in der Kita mit allen<br />
Bärenkindern nachgefeiert. Ganz aufgeregt bist du mor-<br />
Im Anschluss an die Beobachtung findet der Dialog mit dem Kind über die beobachtete<br />
gens in die Kita gekommen <strong>und</strong> hast so viel erzählt. Mittags haben wir im<br />
Situation unter Einbeziehung seiner eigenen Sicht auf das Lernen statt. Dabei werden auch<br />
Kuschelraum nächste Lernschritte deinen entwickelt Geburtstagsstuhlkreis <strong>und</strong> geplant. vorbereitet. Du hast im Flur<br />
gewartet, bis dich der Geburtstagszug hereinholt. Mit einem lauten Ri-Ra-<br />
Rutsch sind Imdeine kollegialen Fre<strong>und</strong>e AustauschJoyce <strong>und</strong> in der <strong>und</strong> Reflexion Leander im Team zu werden dir gekommen, die Lernprozesse <strong>und</strong><br />
haben des dich Kindes in den aus verschiedenen Kuschelraum Blickwinkeln geholt. betrachtet Die beiden <strong>und</strong> Besonderheiten durften <strong>und</strong> auch Ergebnisse bei dir am<br />
verdeutlicht.<br />
Geburtstagtisch sitzen.<br />
Ganz stolz Das hast Verfahren du den derBärenkindern <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> von deinen ermöglicht Geburtstagsgeschenken<br />
den Eltern, Einblick in<br />
berichtet. den Alltag Die <strong>und</strong> Kinder in die Lernfortschritte haben dir Geburtstagsorden, ihrer Kinder zu gewinnen. Die die Arbeit Kappe im Kindergarten <strong>und</strong> eine<br />
bunte Geburtstagskarte wird für die Eltern dadurchgebracht, transparent. Zugleich damit du werden wie dieein Erfahrungen richtiges der Eltern Geburtstags- <strong>und</strong><br />
ihre Sicht auf das Lernen ihres Kindes mit einbezogen.<br />
kind aussiehst. Als nächstes hast du dir von der Gruppe das Lied «Weil du<br />
heut Geburtstag Gr<strong>und</strong>lage hast» für einen gewünscht. gelingendenNatürlich Dialog ist die Begegnung mit Instrumenten in einer Atmosphäre <strong>und</strong> der du<br />
selbst Sicherheit hast auch <strong>und</strong>eine die Akzeptanz Rassel des gespielt. Gegenübers, seine Einstellungen <strong>und</strong> Sichtweisen.<br />
Danach bist du endlich auf die Suche nach der Geburtstagsschatztruhe<br />
gegangen <strong>und</strong> sie auch ganz schnell gef<strong>und</strong>en. Die Bärengruppe hat dir<br />
eine rosa Prinzessinen-spardose <strong>und</strong> einen pinken Spiegel geschenkt. Du<br />
hast dich sehr darüber gefreut! Ich glaube, das war genau das richtige<br />
Geschenk für dich.<br />
Anschließend hast du dir noch das Lied «Theo Theo» gewünscht <strong>und</strong> alle<br />
Kinder haben mit viel Spaß dazu getanzt.<br />
Dann ist leider schon wieder Zeit für das Mittagessen gewesen. Du hast für<br />
alle Kinder Eis zum Nachtisch mitgebracht <strong>und</strong> bist im Schlafraum voller<br />
Erschöpfung von dem aufregenden Tag sofort eingeschlafen.<br />
Liebe Leila, ich bin schon sehr gespannt, was wir in Zukunft noch alles<br />
gemeinsam erleben.<br />
Bleib weiterhin so offen <strong>und</strong> fröhlich wie du bist!<br />
Deine Erzieherin Tina<br />
157
mit Mama bei Oma <strong>und</strong> Opa in Wiesheim feiern wirst.<br />
Alle Bärenkinder konnten erst einmal 2 Wochen Ferien<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten<br />
158<br />
genießen. . .<br />
. . .Und nach den Weihnachtsferien war es endlich soweit! Dein 4.<br />
Geburtstag. Den hast du schon in den Ferien mit deiner Fami-<br />
Die Analyse nach Lerndispositionen<br />
lie gefeiert <strong>und</strong> dann haben wir ihn endlich in der Kita mit allen<br />
Bärenkindern Im Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> nachgefeiert. erfolgt dieGanz Auswertung aufgeregt der Beobachtungen bist du morgens<br />
nach in die Lerndispositionen. Kita gekommen <strong>und</strong> hast so viel erzählt. Mittags haben wir im<br />
Kuschelraum deinen Geburtstagsstuhlkreis vorbereitet. Du hast im Flur<br />
Lerndispositionen sind das persönliche Repertoire an Lernstrategien <strong>und</strong> Motivation,<br />
gewartet, bis dich der Geburtstagszug hereinholt. Mit einem lauten Ri-Ramit<br />
dem jeder Mensch Lerngelegenheiten wahrnimmt, beantwortet, auswählt oder auch<br />
Rutsch sind deine Fre<strong>und</strong>e Joyce <strong>und</strong> Leander zu dir gekommen, <strong>und</strong><br />
entwickelt. Diese individuellen Strategien werden durch die Lernbemühungen fortlaufend<br />
haben dich in den Kuschelraum geholt. Die beiden durften auch bei dir am<br />
erweitert.<br />
Geburtstagtisch sitzen.<br />
Ganz stolz hast du den Bärenkindern von deinen Geburtstagsgeschenken<br />
Die fünf Lerndispositionen sind:<br />
berichtet. Die Kinder haben dir Geburtstagsorden, die Kappe <strong>und</strong> eine<br />
bunte<br />
1.<br />
Geburtstagskarte<br />
interessiert sein<br />
gebracht, damit du wie ein richtiges Geburtstagskind<br />
2. aussiehst. engagiertAls sein nächstes hast du dir von der Gruppe das Lied «Weil du<br />
heut 3. Geburtstag standhaltenhast» bei Herausforderungen gewünscht. <strong>und</strong> Natürlich Schwierigkeiten mit Instrumenten <strong>und</strong> du<br />
selbst hast auch eine Rassel gespielt.<br />
4. sich mitteilen, ausdrücken <strong>und</strong> mit anderen austauschen<br />
Danach 5. bist an der du Lerngemeinschaft endlich auf mitwirken die Suche <strong>und</strong>nach Verantwortung der Geburtstagsschatztruhe<br />
übernehmen<br />
gegangen <strong>und</strong> sie auch ganz schnell gef<strong>und</strong>en. Die Bärengruppe hat dir<br />
eine rosa Prinzessinen-spardose <strong>und</strong> einen pinken Spiegel geschenkt. Du<br />
hast Lerndispositionen dich sehr darüber sind Voraussetzung gefreut! fürIch Lern- glaube, <strong>und</strong> <strong>Bildungs</strong>prozesse das war genau <strong>und</strong> lebenslanges das richtige Lernen.<br />
Geschenk Bei für derdich. Analyse nach Lerndispositionen stehen das Wahrnehmen <strong>und</strong> die Anerkennung<br />
Anschließend der Lernprozesse hast des Kindes du dir imnoch Zentrumdas der Lied Aufmerksamkeit. «Theo Theo» gewünscht <strong>und</strong> alle<br />
Kinder haben mit viel Spaß dazu getanzt.<br />
Dann ist leider schon wieder Zeit für das Mittagessen gewesen. Du hast für<br />
alle Kinder Eis zum Nachtisch mitgebracht <strong>und</strong> bist im Schlafraum voller<br />
Erschöpfung von dem aufregenden Tag sofort eingeschlafen.<br />
Liebe Leila, ich bin schon sehr gespannt, was wir in Zukunft noch alles<br />
gemeinsam erleben.<br />
Bleib weiterhin so offen <strong>und</strong> fröhlich wie du bist!<br />
Deine Erzieherin Tina
dich sogar getraut, an der Stange herunter zu rutschen.<br />
Es ist schön, zu beobachten, wie viel Spaß du an der Bewegung hast.<br />
7 Ergebnisse für den Entwicklungsteil 7.4 Handreichung für die Einführung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> im Kindergarten<br />
159<br />
Die Kletterwand hat dir auch gut gefallen. Mit viel Eifer hast<br />
Kindern versucht, bis ganz oben zu klettern.<br />
du immer wieder gemeinsam mit Leander <strong>und</strong> anderen<br />
Die Planung der «nächsten Schritte»<br />
Das ist ein ganz besonderer <strong>und</strong> aufregender Tag für dich gewesen, <strong>und</strong><br />
du freust Die Begleitung dich des schon Kindesdarauf, in seinen <strong>Bildungs</strong>prozessen, ab dem nächsten das heisst Sommer die Planung regelmäßig der «nächstenmit<br />
in den Schritte», Ahornsportpark erfolgt auf Gr<strong>und</strong>lage zu gehen. der Lerndispositionen.<br />
Dann kam erst einmal die Weihnachtszeit, auf die du dich schon sehr<br />
Durch die dokumentierte <strong>und</strong> analysierte Beobachtung erlangen die kindlichen<br />
gefreut Aktivitäten hast. Immer eine immer wieder differenziertere hast du Bedeutung. davon Quelle erzählt, der Planung dass sind du die Weihnachten<br />
zunehmende<br />
mit Mama Komplexität der Lerndispositionen bei Oma <strong>und</strong> <strong>und</strong> dieOpa Intensität <strong>und</strong> in Häufigkeit Wiesheim bestimmter feiern Themen. wirst.<br />
Alle Bärenkinder konnten erst einmal 2 Wochen Ferien<br />
Die Fachkräfte überlegen sich, inwieweit sie schon auf ihre Beobachtungen reagiert<br />
genießen. . .<br />
haben <strong>und</strong> welche zusätzlichen Anregungen sie dem Kind bieten könnten. Zur Planung der<br />
. . .Und «nächsten nach den Schritte» Weihnachtsferien gehört deshalb auch die war Reflexion es endlich des eigenen soweit! pädagogischen Dein Verhaltens. 4.<br />
Geburtstag. Den hast du schon in den Ferien mit deiner Fami-<br />
Lernfortschritte bei der Planung von nächsten Schritten anzustreben, bedeutet die<br />
lie gefeiert <strong>und</strong> dann haben wir ihn endlich in der Kita mit allen<br />
Lerndispositionen des Kindes zu stärken <strong>und</strong> das Kind in seinen Handlungen <strong>und</strong> in seinem<br />
Bärenkindern Verhalten zu ermutigen. nachgefeiert. Ganz aufgeregt bist du morgens<br />
in die Kita gekommen <strong>und</strong> hast so viel erzählt. Mittags haben wir im<br />
Kuschelraum deinen Geburtstagsstuhlkreis vorbereitet. Du hast im Flur<br />
gewartet, bis dich der Geburtstagszug hereinholt. Mit einem lauten Ri-Ra-<br />
Die Lerngeschichte<br />
Rutsch sind deine Fre<strong>und</strong>e Joyce <strong>und</strong> Leander zu dir gekommen, <strong>und</strong><br />
haben <strong>Lerngeschichten</strong> dich in den sind Kuschelraum Geschichten, diegeholt. über das Lernen Die beiden der Kinder durften berichten. auch bei dir am<br />
Geburtstagtisch sitzen.<br />
Diese sehr persönlichen Texte werden wie eine Art Briefe an das Kind verfasst.<br />
Ganz stolz hast du den Bärenkindern von deinen Geburtstagsgeschenken<br />
berichtet. Die <strong>Lerngeschichten</strong> Kinder haben beruhendir auf dokumentierten Geburtstagsorden, <strong>und</strong> analysierten die Beobachtungen Kappe <strong>und</strong> <strong>und</strong> eine aus<br />
bunte Erkenntnissen Geburtstagskarte aus kollegialem gebracht, Austausch damit <strong>und</strong> Dialog du mit wie demein Kind, richtiges wobei auchGeburtstags die Planung<br />
kind aussiehst. der «nächstenAls Schritte» nächstes mit einfliesst. hast du dir von der Gruppe das Lied «Weil du<br />
heut Geburtstag hast» gewünscht. Natürlich mit Instrumenten <strong>und</strong> du<br />
Die von den Bezugspersonen verfassten <strong>Lerngeschichten</strong> werden den Kindern vor-<br />
selbst gelesen hast <strong>und</strong> auch für diese eine gut Rassel zugänglich gespielt. aufbewahrt.<br />
Danach bist du endlich auf die Suche nach der Geburtstagsschatztruhe<br />
Durch die Lerngeschichte erfährt das Kind etwas über die Wahrnehmung <strong>und</strong> Wert-<br />
gegangen <strong>und</strong> sie auch ganz schnell gef<strong>und</strong>en. Die Bärengruppe hat dir<br />
schätzung seiner Lernprozesse.<br />
eine rosa Prinzessinen-spardose <strong>und</strong> einen pinken Spiegel geschenkt. Du<br />
hast dich sehr darüber gefreut! Ich glaube, das war genau das richtige<br />
Geschenk für dich.<br />
Anschließend hast du dir noch das Lied «Theo Theo» gewünscht <strong>und</strong> alle<br />
Kinder haben mit viel Spaß dazu getanzt.<br />
Dann ist leider schon wieder Zeit für das Mittagessen gewesen. Du hast für<br />
alle Kinder Eis zum Nachtisch mitgebracht <strong>und</strong> bist im Schlafraum voller<br />
Erschöpfung von dem aufregenden Tag sofort eingeschlafen.<br />
Liebe Leila, ich bin schon sehr gespannt, was wir in Zukunft noch alles<br />
gemeinsam erleben.
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider 160<br />
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens<br />
In diesem Kapitel wird ein Blick zurück geworfen auf den Ablauf der Forschung, auf Gelungenes<br />
<strong>und</strong> auch auf Aspekte, die wir in einer weiteren Forschungsarbeit anders angehen würden.<br />
Die Reflexion wird entlang dem in Kapitel 4 vorgestellten Forschungsdesign <strong>und</strong> den Forschungsmethoden<br />
aufgebaut.<br />
Ausgangspunkt für die Forschung war ja unsere Begeisterung für das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>. Durch die beeindruckenden Hospitationen, die im Ablauf des Forschungsprozesses<br />
früh angesetzt waren, bekamen wir einen ganzheitlichen Blick für das Thema <strong>und</strong> eine<br />
emotionale Verb<strong>und</strong>enheit. Das Erarbeiten der Theorie wurde dadurch zielgerichtet <strong>und</strong> geschah<br />
mit viel Überzeugung. Ausserdem wurde die Zusammenarbeit zwischen uns beiden Studierenden<br />
durch schöne gemeinsame Erlebnisse in Deutschland bereichert <strong>und</strong> dadurch auch für anspruchsvolle<br />
Momente gestärkt. Neben den wissenschaftlichen Ansprüchen konnte aus diesen Gründen<br />
auch ein persönlicher Bezug einfliessen <strong>und</strong> die theoretische Konzeption wurde von Anfang an mit<br />
Inhalten <strong>und</strong> konkreten Vorstellungen gefüllt. Das gewählte Vorgehen erwies sich also als günstig,<br />
vor allem auch da wir uns die Möglichkeit offenhielten, während der Analyse der Interviews<br />
Rückfragen an die Institutionen zu stellen, was aber letztlich nicht notwendig war. Unsere Erkenntnisse<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen während unseres Forschungsprozesses bestärken uns in unserem Ziel,<br />
die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in den Kindergärten der Deutschschweiz bekannt zu machen.<br />
8.1 Einzelfallanalyse<br />
Wie bereits in Abschnitt 4.2 betont, ist uns bewusst, dass es sich bei unserer Forschung nicht um<br />
eine Einzelfallanalyse im klassischen Sinn handelt, da die einzelnen Institutionen nicht detailliert<br />
analysiert <strong>und</strong> untereinander verglichen wurden. Hilfreich für uns war aber die klare Struktur, der<br />
Vorgehensplan dieses Forschungsdesigns, der uns Übersicht <strong>und</strong> Orientierung bei der Bearbeitung<br />
dieses komplexen Themas bot.<br />
Die vier Kindertagesstätten mussten zuerst wie Einzelfälle erfasst werden, damit wir uns<br />
ins Thema vertiefen <strong>und</strong> erkennen konnten, wie die einzelnen Institutionen die <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong> einschätzen <strong>und</strong> umsetzen. Dadurch wurde es möglich, im Forschungsfeld ein<br />
Gesamtbild mit verschiedenen Aspekten zu erhalten, welches aber die komplexen Inhalte des<br />
Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> die verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten<br />
beinhaltet.<br />
Vor unseren Hospitationen hatten wir uns überlegt, was an Fotos gebraucht würde, um<br />
bei Besuchen zielgerichtet die wichtigen Bilder erfassen zu können, wie zum Beispiel die Räumlichkeiten<br />
<strong>und</strong> die Schatzmappen.
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens<br />
8.2 Problemzentriertes Interview<br />
161<br />
Durch diese Interviewmethode gelang es uns, vielfältige <strong>und</strong> ausführliche Informationen zum<br />
Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> <strong>und</strong> deren Anwendbarkeit für die Förderung von<br />
Kindern mit besonderen Bedürfnissen einzuholen. Die Befragten berichteten in authentischer <strong>und</strong><br />
nachvollziehbarer Weise von ihren Praxiserfahrungen, von bereits Umgesetztem <strong>und</strong> von Stolpersteinen.<br />
Je nach Besuchsprogramm, welches die jeweilige Institution für uns vorbereitet hatte,<br />
wurden die Interviews unterschiedlich organisiert. So fand manchmal zuerst ein ungezwungenes<br />
Vorgespräch statt, welchem wir vor allem Informationen über die Institution entnehmen konnten.<br />
In einigen Kindertagesstätten interviewten wir zuerst die Institutionsleitenden, an anderen Orten<br />
eine Pädagogin oder sogar zwei zusammen, wobei wir in diesen Fällen die Aussagen der Pädagoginnen<br />
beim Transkribieren nicht trennten, da sie sich in ihren Aussagen gegenseitig ergänzten <strong>und</strong> so ein<br />
ganzheitliches Bild entstand.<br />
Vor den Hospitationen hatten wir jeweils einen Interviewleitfaden erstellt, welchen wir<br />
im Voraus per Mail zur Verfügung stellten. Einige Befragte bereiteten sich in der Folge gewissenhaft<br />
vor <strong>und</strong> notierten sich Stichworte. Anfänglich stellten wir Zwischenfragen, merkten aber, dass<br />
das Transkribieren angesichts der bereits vorhandenen Fülle von Informationen dadurch sehr<br />
anspruchsvoll wurde. Mehr <strong>und</strong> mehr unterbrachen wir die Befragten nur noch bei Verständnisproblemen<br />
oder für notwendige Ergänzungen. Die Interviews erhielten dadurch einen stark<br />
strukturierten, ermittelnden Charakter <strong>und</strong> wurden weniger in der Form eines Gesprächs geführt.<br />
Dies empfanden einige Interviewte als etwas unnatürlich, war für uns aber ein sinnvolles Vorgehen.<br />
Entsprechend unseren Erfahrungen passten wir den Leitfaden im Laufe unserer Hospitationen<br />
immer wieder an, was wir für die Beantwortung unserer Forschungsfragen als zulässig erachteten,<br />
da es uns darum ging, möglichst umfassende Erkenntnisse zu gewinnen <strong>und</strong> die Institutionen<br />
untereinander nicht verglichen wurden.<br />
Zur Absicherung der erhobenen Daten wurde das Interview zu zweit geführt, auf Tonband<br />
aufgenommen <strong>und</strong> zugleich stichwortartig festgehalten. So konnten wir eventuelle technische<br />
Pannen auffangen, was sich bei einem Interview als hilfreich erwies. Es ist wichtig, dass bei Schweizer<br />
Interviews die Hochsprache verwendet wird, da sonst eine wörtliche Transkription kaum möglich<br />
ist. Darauf sollten die zu Befragenden bereits beim vorgängigen Zustellen des Interviewleitfadens<br />
aufmerksam gemacht werden.
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens<br />
8.3 Wörtliche Transkription<br />
162<br />
Die wörtliche Transkription diente in der der vorliegenden Arbeit dazu, die Interviews in eine<br />
schriftliche Form zu bringen. Diese Form der Datenaufbereitung erwies sich als sehr zeitaufwändig<br />
<strong>und</strong> es war wichtig, sich die notwendige Zeit dafür einzuplanen. Schön war für uns dabei, die<br />
Situationen <strong>und</strong> die Aussagen der Befragten inhaltlich noch einmal genau zu erfassen. Es war hilfreich,<br />
die Arbeit zu zweit zu erledigen zwecks laufender Klärung von Unklarheiten <strong>und</strong> Vermeidung<br />
von Hörfehlern. In der Folge konnte das transkribierte Material umfassend genutzt werden. Alle<br />
Aussagen wurden in Hochsprache transkribiert <strong>und</strong> die Regionaldialekte wurden leicht angepasst.<br />
Die in Abschnitt 4.3.2 dargelegten Transkriptionsregeln nach Kuckartz (2008) <strong>und</strong> das gewählte<br />
Vorgehen haben sich bewährt.<br />
8.4 Qualitative Inhaltsanalyse<br />
Die Forschungsmethode der qualitativen Analysen erwies sich als ergiebig, wobei wir ein vorwiegend<br />
deduktives Vorgehen wählten. Es war notwendig, sich sorgfältig einzuarbeiten <strong>und</strong> gut<br />
verwendbare Vorlagen mit Zeilennummern <strong>und</strong> Platz für Notizen einzurichten. Durch die klar<br />
formulierten Forschungsfragen <strong>und</strong> durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Verfahren<br />
waren die Definition der Kategorien <strong>und</strong> die Zuordnung einfach. Allerdings sind Kategorien nicht<br />
immer trennscharf <strong>und</strong> es musste jeweils gemeinsam entschieden werden, auf welche Aussage bei<br />
der Zuordnung im Satz Wert gelegt wurde. Die Bezeichnungen für einige Unterkategorien mussten<br />
bei der Generalisierung teilweise noch präziser formuliert werden. Da durch die offen gestellten<br />
Interviewfragen differenzierte, vielfältige Aspekte erfasst wurden, die einen guten Einblick in die<br />
individuelle Ausgestaltung des Verfahrens der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> in den verschiedenen<br />
Institutionen gaben, konnten sie bei der Generalisierung nicht auf kurze prägnante Aussagen<br />
reduziert werden.<br />
Durch die Anpassung des Leitfadens konnten die Daten nicht mehr quantitativ ausgewertet<br />
werden, es waren nur noch Hinweise auf die Häufigkeit von Aussagen möglich. Dafür gab es eine<br />
ganzheitliche Sicht mit vielen interessanten Aspekten in Bezug auf die Anwendbarkeit des Verfahrens<br />
für die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen <strong>und</strong> die Umsetzung bei uns, also eher<br />
komplexe Fragestellungen, die durch quantitative Analysen nicht differenziert genug hätten erfasst<br />
werden können. Für eine mengenmässige Auswertung wären geschlossenere Interviewfragen oder<br />
Fragebögen nötig gewesen.
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens<br />
8.5 Triangulation<br />
163<br />
Die gewählte Form der Datentriangulation hat sich bewährt. Da verschiedene Perspektiven ein<br />
dichteres <strong>und</strong> vielschichtiges Bild ermöglichen, wurden die Interviews mit verschiedenen Personen<br />
aus verschiedenen Orten <strong>und</strong> mit verschiedenen Rollen wie Expertinnen, Pädagoginnen <strong>und</strong><br />
Institutionsleitenden geführt. Dies ergab verschiedene Sichtweisen auf das Verfahren der <strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>, da Leute aus der Praxis, aus der operativen Führung <strong>und</strong> aus der Fortbildung<br />
befragt wurden.<br />
Mit dem Ziel einer Methodentriangulation wäre es auch möglich gewesen, zusätzliche<br />
Fragebögen einzusetzen <strong>und</strong> verschiedene Kindertagesstätten zu vergleichen. Die Methode der<br />
teilnehmenden Beobachtung konnten wir nicht anwenden, da wir über längere Zeit in den Kindertagesstätten<br />
hätten bleiben müssen. Unter Berücksichtigung des Datenschutzes beschlossen wir,<br />
anlässlich unserer Hospitationen keine Videoaufnahmen zu machen.<br />
8.6 Gütekriterien<br />
In unserem qualitativen Forschungsvorhaben war die Verfahrensdokumentation wichtig <strong>und</strong><br />
wir begründeten durch unseren relativ umfassenden Theorieteil differenziert, warum wir welche<br />
Methoden anwendeten.<br />
Die argumentative Interpretationsabsicherung, also die Forderung, dass Deutungen sinnvoll<br />
theoriegeleitet erfolgen, wurde in dieser Masterarbeit durch ein deduktives Vorgehen realisiert.<br />
Durch die Bearbeitung <strong>und</strong> Diskussion der Theorie kristallisierten sich die für die vorliegende<br />
Arbeit sinnvollen Regeln heraus <strong>und</strong> wurden durch klare Abläufe umgesetzt. Die Nähe zum Gegenstand<br />
war durch die Besuche vor Ort gegeben, wodurch die Lebenswelt der Beforschten einsichtig<br />
wurde. Schön war, dass es auch für die Befragten interessant war, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen,<br />
neue Aspekte zu erkennen <strong>und</strong> eine erweiterte Sichtweise durch den Austausch über<br />
das Verfahren zu gewinnen.<br />
Wir vereinbarten anlässlich unserer Hospitationen, dass wir dir Interviews zum Gegenlesen<br />
zustellen würden. Dies wurde vor Ort sehr begrüsst. Nach unserer Erfahrung führte dies für die<br />
Betroffenen im Alltag aber zu Mehrbelastungen, wodurch sich die Rücksendung verzögerte. Eine<br />
weitere Erkenntnis war, dass wir den Befragten im Vorfeld hätten deklarieren sollen, dass wörtliche<br />
Transkriptionen vorgenommen würden, denn die Gegenleser waren über ihre sprachlichen Unzulänglichkeiten<br />
erstaunt. Ausserdem sollten die Interviewten im Voraus genau verstehen, wie <strong>und</strong> in<br />
welcher Form ihr Interview verwendet wird, dass die wörtliche Transkription höchstens <strong>und</strong> nur<br />
nach Absprache im Anhang erscheint <strong>und</strong> durch die Inhaltsanalyse zentrale Aussagen herausgefiltert<br />
werden. Dies hatten wir nach unserer Einschätzung zwar mitgeteilt, es wurde aber offenbar
8 Reflexion des forschungsmethodischen Vorgehens 8.6 Gütekriterien<br />
164<br />
nicht wirklich erfasst <strong>und</strong> beim Lesen entstanden Unsicherheiten oder sogar Ängste. Einige Personen<br />
wollten die Interviews später abändern. Die Abmachung war aber, dass nur missverständliche<br />
oder falsch verstandene Aussagen korrigiert werden sollten, um die ursprünglichen Aussagen nicht<br />
zu verwässern. Nachträglich wurde uns bewusst, dass die kommunikative Validierung anhand der<br />
generalisierten Interviews einfacher gewesen wäre <strong>und</strong> dass wir in einer weiteren Forschungsarbeit<br />
dieses Vorgehen wählen würden. Die Triangulation wurde bereits im vorangehenden Abschnitt<br />
reflektiert.
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
9 Schlusswort <strong>und</strong> Ausblick<br />
165<br />
In diesem Kapitel werden die Erkenntnisse aus dem Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsteil in einen<br />
grösseren Zusammenhang gebracht, die persönlichen Einsichten erläutert <strong>und</strong> mit einem Blick in<br />
die Zukunft abger<strong>und</strong>et.<br />
Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ist ein geeignetes Instrument, um Entwicklungen<br />
von Kindern wahrzunehmen <strong>und</strong> einzuschätzen. Dadurch, dass sich Lehrpersonen verstärkt an<br />
den individuellen Ressourcen der Kinder orientieren, verändert sich der Blick <strong>und</strong> es wird möglich,<br />
kindliche Entwicklungen wahrzunehmen <strong>und</strong> zu fördern. Durch den intensiven Austausch im<br />
Team rücken die <strong>Bildungs</strong>prozesse der Kinder in den Mittelpunkt <strong>und</strong> werden anhand von Lerndispositionen<br />
analysiert <strong>und</strong> reflektiert. Die konsequente Orientierung an den Stärken <strong>und</strong> Interessen<br />
der Kinder, an der individuellen Förderung von Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozessen führen zu einem<br />
Paradigmenwechsel (vgl. Abschlussbericht, 2007, S. 98), der es mit sich bringt, dass eine Institution<br />
ihre pädagogische Arbeit verändert. Die Aussagen aus einem Interview in Gmindersdorf unterstreichen<br />
die Auswirkungen auf die Kinder eindrücklich:<br />
Die Kinder werden gestärkt <strong>und</strong> selbstbewusst. Ihr Lernen ist wichtig <strong>und</strong> anerkannt.<br />
Sie haben gelernt, was sind meine Bedürfnisse, was ist wichtig für mich. Und was kann<br />
ich gut. Die Arbeit mit <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> ermöglicht den Kindern,<br />
dies in Sprache umzusetzen. Und für sich einzustehen. Das ist ein respektvoller Umgang<br />
mit Menschen. Das fördert die soziale Kompetenz, denn was mir selber wiederfährt,<br />
gebe ich weiter.<br />
Auch Largo (2009) erwähnt in seinem Buch «Schülerjahre», dass eine kindgerechte Schule Ziele<br />
wie die Stärkung des Selbstwertgefühls <strong>und</strong> das Erleben von Selbstwirksamkeit haben sollte.<br />
Kinder lernen ihre Schwächen <strong>und</strong> vor allem ihre Stärken kennen, können die eigenen Lernstrategien<br />
erfassen <strong>und</strong> ausbauen <strong>und</strong> entwickeln soziale Kompetenzen <strong>und</strong> Sinn für die Gemeinschaft<br />
(vgl. S.160). Das Verfahren der <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> fördert diese Bereiche auf ideale Art<br />
<strong>und</strong> Weise <strong>und</strong> ist nach einer bewussten Entscheidung, mit der entsprechenden Motivation <strong>und</strong><br />
einer sorgfältigen Einführung an Kindergärten einsetzbar. Dies zu erreichen, ist für uns beiden<br />
Studierenden ein erklärtes Ziel für die Zukunft. Dazu gehört die Einführung an unseren eigenen<br />
Arbeitsstellen <strong>und</strong> durch passende Kursangebote auch an anderen Kindergärten. Entsprechende<br />
Unterlagen werden wir in naher Zukunft entwickeln, da uns dieses Verfahren, insbesondere seine<br />
pädagogischen Hintergründe begeistern <strong>und</strong> wir der Überzeugung sind, dass Kinder mit besonderen<br />
Bedürfnisse, wie auch alle anderen Kinder durch <strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> nachhaltig<br />
gefördert werden können <strong>und</strong> auch die Erwachsenen profitieren.
9 Schlusswort <strong>und</strong> Ausblick<br />
166<br />
Gespannt erwarten wir auch den Bericht zur Evaluation, der das Projekt der Implementierung<br />
systematischer <strong>Bildungs</strong>beobachtung <strong>und</strong> -dokumentation anhand des Verfahrens der «<strong>Bildungs</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Lerngeschichten</strong>» in Schweizer Kindertageseinrichtungen beschreibt, verfasst durch das<br />
Marie Meierhofer-Institut für das Kind in Zürich. Das Projekt endet im Sommer 2011. Aus Zwischenberichten,<br />
nachzulesen im Newsletter des Marie Meierhofer-Instituts, ist die Begeisterung der<br />
Erzieherinnen für das Verfahren spürbar (siehe www.mmizuerich.ch).<br />
Das Instrument scheint also allmählich auch in der Schweiz vermehrt angewendet zu<br />
werden, dies vor allem auf der Stufe der Kindertagesstätten, was zu weiterführenden Forschungsvorhaben<br />
anregt. Eine interessante Frage wäre, inwiefern sich Ressourcenorientierung in den verfassten<br />
<strong>Lerngeschichten</strong> zeigt. Hierbei wären neben qualitativer Inhaltsanalyse auch quantitative<br />
Analysen in Bezug auf die Sprache möglich. Eine weitere Forschungsrichtung ergibt sich durch die<br />
Einführung an Kindergärten <strong>und</strong> eventuell auf der Basisstufe. Hier stellt sich die Frage, inwiefern<br />
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> mit den Lehrplänen kompatibel sind. Im Lehrplan des Kantons<br />
Zürich sind Lerndispositionen immerhin bereits erwähnt. Aufgefallen ist uns auch die Tatsache,<br />
dass die «5 Stränge» des neuseeländischen Curriculums eine gewisse Übereinstimmung haben mit<br />
der ICF. Es würde sich lohnen, diesen Sachverhalt genauer zu analysieren. Für die Zukunft hoffen<br />
wir, dass dieses ressourcenorientierte Beobachtungs- <strong>und</strong> Dokumentationsverfahren möglichst<br />
viele Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen kann, denn:<br />
«<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> sind das ideale Beobachtungsinstrument in unserer<br />
defizitär orientierten Gesellschaft. Sie sollten jedem Kind <strong>und</strong> seinen Eltern zugestanden<br />
werden <strong>und</strong> gehören als dringend notwendiges Kompetenzen-Feedback vor allem in<br />
integrativ <strong>und</strong> heilpädagogisch arbeitende Kindertageseinrichtungen» (Flämig, et al.,<br />
2009, S. 66)!
<strong>Bildungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Lerngeschichten</strong> Masterarbeit Gabriela Brühlmeier-Frey <strong>und</strong> Marianne Homberger-Schneider<br />
10 Literaturliste<br />
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