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Lösungsskizze - Verwaltungsgericht Sigmaringen

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Examensrepetitorium an der Universität Tübingen<br />

Aktuelle Fälle aus der Praxis des <strong>Verwaltungsgericht</strong>s <strong>Sigmaringen</strong><br />

Sommersemester 2009<br />

<strong>Lösungsskizze</strong> zu Fall 8: „Die rücksichtslose Dachterrasse“<br />

VRiVG Stefan Röck<br />

1. Gutachten zu den Erfolgsaussichten der Klage des N<br />

Der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 I VwGO) ist eröffnet, da es sich bei der Entscheidung<br />

über die Rechtmäßigkeit des Baugenehmigung um die Auslegung von Vorschriften<br />

des öffentlichen Baurechts - LBO und BauGB - und damit um die Anwendung<br />

öffentlich - rechtlicher Vorschriften handelt. Auch liegt eine öffentlich - rechtliche<br />

Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art vor, die keinem anderen Gericht zugewiesen<br />

ist.<br />

A. Zulässigkeit der Klage<br />

a. Klageart § 42 I VwGO: N erstrebt die Aufhebung einer dem B bereits erteilten<br />

Baugenehmigung. Zu diesem Ziel führt allein die Anfechtungsklage.<br />

b. Klagebefugnis § 42 II VwGO: Eine mögliche Rechtsverletzung liegt bei einer Anfechtungsklage<br />

immer dann vor, wenn der Kläger durch den VA möglicherweise<br />

in eigenen Rechten verletzt ist. Da N nicht Adressat der Baugenehmigung ist, hilft<br />

die Adressatentheorie hier nicht weiter. Vielmehr muss sich N auf Rechtspositionen<br />

berufen können, die gerade oder auch seinem Schutz dienen; gefragt sind<br />

mithin ausschließlich möglicherweise nachbarschützende Rechtsnormen.<br />

Solche Normen sind hier mit den gerügten Abstandsflächenvorschriften nach § 5<br />

LBO und dem Gebot der Rücksichtnahme im Streit, denn beide sind nachbarschützend<br />

oder können es zumindest sein.<br />

Fraglich ist, ob der Annahme einer möglichen Rechtsverletzung - wie die R meint<br />

- die Problematik um die (materielle) Präklusion entgegen steht. Dies wäre nur<br />

der Fall, wenn die Präklusion nach § 55 II 2 LBO offensichtlich vorläge. Dies trifft<br />

hier aber nicht zu, denn die komplexe Regelung um § 55 II LBO bedarf der näheren<br />

Prüfung in der Begründetheit der Klage.<br />

c. Das nach §§ 68 ff. VwGO erforderliche Vorverfahren ist durchgeführt. Dass es<br />

dabei nicht zu einer Sachprüfung gekommen ist, spielt für das Vorverfahrenserfordernis<br />

als Sachurteilvoraussetzung keine Rolle.<br />

d. Gegenstand der Klage ist die Baugenehmigung (§ 79 I Nr. 1 VwGO).<br />

e. Der B wurde nach dem SV zum Verfahren beigeladen. Es handelt sich hierbei<br />

nach § 65 II VwGO um eine notwendige Beiladung.<br />

Ergebnis: Die Klage des N ist zulässig.<br />

1


B. Begründetheit der Klage des N<br />

Die Klage ist begründet, wenn die Baugenehmigung vom 19.10.2008 rechtswidrig<br />

ist und den N in seinen Rechten verletzt (§ 113 I 1 VwGO). Dies ist im baurechtlichen<br />

Nachbarstreit nur der Fall, wenn die Baugenehmigung gegen nachbarschützende<br />

Vorschriften verstößt.<br />

a. Die R ist passivlegitimiert, da sie als zuständige untere Baurechtsbehörde (§§ 46 I<br />

Nr. 3, 48 I LBO, §§ 15 I, 19 LVG) die Baugenehmigung erlassen hat.<br />

b. Fraglich ist vorab, ob die Prüfung der materiellen baurechtlichen Normen hier überhaupt<br />

eröffnet ist. Dies wäre nicht der Fall, wenn N mit seinen Rechtspositionen<br />

nach § 55 II 2 LBO präkludiert wäre.<br />

Nach § 55 II 2 LBO werden die vom Bauantrag durch Zustellung benachrichtigten<br />

Angrenzer mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die im Rahmen der Beteiligung<br />

nicht fristgemäß geltend gemacht worden sind (materielle Präklusion). Als<br />

Einwendungsfrist statuiert § 55 II 1 LBO zwei Wochen nach Zustellung der Benachrichtigung<br />

durch die Gemeinde und schreibt hierfür zudem noch als Form<br />

„schriftlich oder zur Niederschrift“ vor.<br />

Nach dem Sachverhalt sind die Einwendungen des N erst am 21.08.2008 und<br />

damit weit mehr als 2 Wochen nach dem Zugang der Benachrichtigung am<br />

01.08.2008 bei der R eingegangen. Ein früherer Eingang ist nicht belegt; hierfür<br />

taugt auch der auf dem Schriftsatz angebrachte Vermerk „vorab per Telefax“<br />

nicht, denn dieser kann den konkreten Eingang des entsprechenden Telefaxes<br />

nicht ersetzen. Allerdings erfordert der Eintritt der Präklusion eine exakte Beachtung<br />

der in § 55 II LBO geregelten Formvorschriften, wie Zustellung der Benachrichtigung<br />

nebst vorgeschriebener Belehrungen über die Frist und die Folgen einer<br />

Fristversäumnis. Nach Sachverhalt ist hier keine Zustellung der Benachrichtigung<br />

erfolgt; der bloße Zugang mittels einfachem Brief kann diese eng auszulegende<br />

Formanforderung nicht ersetzen. Damit scheitert der Eintritt der Präklusion<br />

schon an diesem Formerfordernis.<br />

c. Fraglich ist, ob die auf § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO beruhende Baugenehmigung gegen<br />

nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts verstößt.<br />

Die hier allein zu prüfenden Abstandsflächenregelungen (§ 5 LBO) werden von<br />

dem Vorhaben nach den Sachverhaltsangaben mit den maßgeblichen baulichen<br />

Anlagen jedoch eingehalten. Zunächst weist die nördliche Außenwand des geplanten<br />

Wohngebäudes mit und ohne Terrassengeländer die zur Grenze des klägerischen<br />

Grundstücks erforderliche Abstandsfläche auf. Diese Abstandsfläche<br />

beurteilt sich nach §§ 5 VI und VII LBO und beläuft sich im nachbarschützenden<br />

Teil auf 0,4 der Wandhöhe (§ 5 VII 3 LBO). Die Wandhöhe beträgt nach den Bauvorlagen<br />

6,10 m; dies ergibt eine erforderliche Abstandstiefe von 2,44 m (6,10 x<br />

0,4). Nach dem Sachverhalt beträgt die tatsächliche Abstandstiefe 2,85 m. Für<br />

das 90 cm hohe Terrassengeländer beläuft sich die Abstandstiefe auf 2,80 m<br />

(7,00 x 0,4) bei einer geplanten Abstandstiefe von 2,85 m. Entgegen der Meinung<br />

des N verstößt auch die Grenzmauer nicht gegen § 5 LBO, da diese als sonstige<br />

bauliche Anlage nach § 5 IX LBO nur dann eine Abstandsfläche einhalten muss,<br />

2


wenn sie höher als 2,50 m ist und ihre Wandfläche mehr als 25 qm beträgt. Beide<br />

Voraussetzungen, die zudem kumulativ vorliegen müssten (vgl. Dürr, Baurecht B.<br />

- W., 12. Aufl. 2008, RNr. 187 m. w. N.), liegen hier nicht vor. Die Mauer soll lediglich<br />

1,90 m hoch werden und sich auf eine Länge von 14 m erstrecken; hieraus<br />

errechnet sich zwar eine Wandfläche von 26,60 m, das Höhenmaß von 2,50 m<br />

wird aber bei Weitem nicht erreicht. Die erste Tatbestandsvoraussetzung des § 5<br />

IX LBO wird damit hier deutlich unterschritten, so dass der Grenzmauer keine Abstandsrelevanz<br />

zukommt. Vielmehr ist diese zulässig und von N hinzunehmen.<br />

Dabei kommt es für solche bauliche Anlagen, die keine Gebäude sein dürfen,<br />

auch nicht mehr darauf an, ob sie sich in die nähere Umgebung einfügen, da es<br />

sich um bloße Nebenanlagen handelt.<br />

d. Die Baugenehmigung verstößt auch nicht gegen nachbarschützende Vorschriften<br />

des Bauplanungsrechts.<br />

Das Vorhaben beurteilt sich nach § 34 I BauGB, da ein Bebauungsplan nicht existiert<br />

und es in einer geschlossenen Umgebungsbebauung liegt. Somit muss<br />

sich das Vorhaben nach den in § 34 I BauGB aufgeführten Parametern in die<br />

Umgebungsbebauung einfügen. Zu beachten ist weiter, dass nach gefestigter<br />

Rechtsprechung § 34 I BauGB nur insoweit nachbarschützend ist, als dem im<br />

Einfügen verankerten Gebot der Rücksichtnahme Nachbarschutz zukommt (Dürr,<br />

a. a. O., RNr. 274 m. w. N.). Danach müsste das Vorhaben dem Nachbarn unter<br />

Berücksichtigung seiner schützenswerten Belange in Abwägung mit den Belangen<br />

des B unzumutbar sein. Dies ist hier nicht der Fall.<br />

Im Rahmen des § 34 I BauGB fügt sich das Vorhaben nach der Art der baulichen<br />

Nutzung (Wohngebäude) unstreitig in die vorhandene Umgebung, die hier durch<br />

Wohngebäude durchgängig geprägt wird, ein. Streitig ist allein, ob dies auch für<br />

das Maß der baulichen Nutzung (eventuelle Dreigeschossigkeit durch das Galeriegeschoss)<br />

zutrifft. Nach dem Sachverhalt liegt hier ein Einfügen des Vorhabens<br />

ohne Weiteres vor, da die Gebäude in der Umgebung zwei oder drei Geschosse<br />

aufweisen und ein neu hinzukommendes Gebäude ohne Weiteres den oberen<br />

Bereich des die Umgebung prägenden Rahmens ausschöpfen darf.<br />

Fügt sich ein Vorhaben aber dem Maß nach - wie hier - in die nähere Umgebung<br />

ein, kommt die Annahme einer unzumutbaren Betroffenheit eines Nachbarn im<br />

Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme nur noch in Ausnahmefällen in Betracht.<br />

Denn zunächst ist zu berücksichtigen, dass die bauordnungsrechtlichen<br />

Abstandsflächentiefen grundsätzlich auch im Rahmen des planungsrechtlichen<br />

Rücksichtnahmegebots die Grenzen eines hinsichtlich Belichtung, Belüftung, Besonnung<br />

und Einsichtnahme gebotenen Mindestschutzes zugunsten des Nachbarn<br />

regeln (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.11.1984 - 4 B 244.84 -, NVwZ 1985,<br />

653; Beschluss vom 6.12.1996 - 4 B 215.96 -, NVwZ-RR 1997,516; VGH B.-W.,<br />

Beschluss vom 08.11.2007 - 3 S 1923/07 -, VBlBW 2008, 147 ff. und Beschluss<br />

vom 26.11.1993 - 3 S 2603/93 -, Juris). Dies bedeutet, dass diesen Belangen<br />

durch Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächentiefe - wie hier - in der Regel<br />

hinreichend Rechnung getragen ist.<br />

Ein Ausnahmefall von diesem Grundsatz soll nach der Rechtsprechung der Belang<br />

der „optisch erdrückenden Wirkung“ eines Vorhabens sein, der zwar an den<br />

Maßkriterien anknüpft, von den vorstehend dargelegten, im Rahmen der Abstandstiefe<br />

bereits berücksichtigen Belangen aber nicht erfasst werde (vgl. zuletzt<br />

3


VGH B. - W., Beschluss vom 08.11.2007, a. a. O.). Ob dies im Falle eines sich<br />

einfügenden Vorhabens überhaupt gilt - immerhin ist dafür wohl keine gesetzliche<br />

Grundlage ersichtlich - kann dahin stehen, denn Anhaltspunkte für das Vorliegen<br />

einer dergestalt optisch erdrückenden Wirkung des Vorhabens für den N sind<br />

schon im Ansatz nicht ersichtlich. Der Sachverhalt gibt hierzu nichts her. Die der<br />

Nachbargrenze zugewandte Gebäudewand weist als solche nur eine Höhe von<br />

6,10 m bei einem Abstand von 2,85 m zur Grenze auf; davon kann ersichtlich keine<br />

optisch erdrückende Wirkung auf den Gartenbereich des N ausgehen. Mehr<br />

oder andere Gesichtspunkte - sieht man von dem hier unerheblichen Belang der<br />

Einsicht, insbesondere von der Dachterrasse aus, ab - sind dem Sachverhalt nicht<br />

zu entnehmen. Es bleibt daher dabei, dass das Gebot der Rücksichtnahme<br />

hier auch nicht ausnahmeweise greift, und die Baugenehmigung folglich insgesamt<br />

nicht gegen nachbarschützende Vorschriften verstößt.<br />

Soweit N zudem eine Verletzung von Art. 14 GG behauptet, trifft dies nicht zu.<br />

Fügt sich ein Vorhaben ein und verstößt es nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme,<br />

kommt darüber hinaus ein Verstoß gegen Art. 14 GG schon deshalb nicht<br />

in Betracht, weil nach dem Gesetzesvorbehalt in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die<br />

baurechtlichen Vorschriften den Eigentumsinhalt und damit den grundrechtlichen<br />

Eigentumsschutz abschließend beschränken. Im Übrigen ist ein schwerer und<br />

unerträglicher Eingriff in die Eigentumsposition der Kläger, wie er im Rahmen des<br />

Art 14 GG erforderlich wäre, weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen.<br />

Ergebnis: Die Klage des N hat folglich keine Aussicht auf Erfolg und ist mit der<br />

Kostenfolge aus §§ 154 I, III, 162 III VwGO abzuweisen.<br />

2. Hilfsgutachten<br />

Nach der vorstehenden Lösung sind hier keine Fragen mehr zu erörtern außer<br />

dem ausdrücklich angesprochenen und nach dem Sachverhalt aufgeworfenen<br />

Problem um die Möglichkeit einer isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids.<br />

Die isolierte Anfechtung eines Widerspruchsbescheids ist möglich, wenn dieser eine<br />

erstmalige Beschwer enthält (§ 79 I Nr. 2 VwGO) oder, wenn und soweit er gegenüber<br />

dem ursprünglichen VA eine zusätzliche selbständige Beschwer enthält (§ 79 II<br />

1 VwGO). Nach dem Sachverhalt sind hier beide Varianten sehr fraglich. In § 79 II 2<br />

VwGO erfährt die „zusätzliche Beschwer“ allerdings durch den Gesetzgeber eine Erweiterung,<br />

in dem dieser bestimmt, dass als eine Solche auch gilt (Fiktion) die Verletzung<br />

einer wesentlichen Verfahrensvorschrift. Dies trifft hier zu, denn die Widerspruchsbehörde<br />

hat gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, in dem<br />

sie - trotz gegenteiliger Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde und ohne vorherigen<br />

Hinweis - die materielle Präklusion angenommen und deshalb eine Sachprüfung<br />

unterlassen hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO 15. Aufl., § 79 RNr. 13 m. w. N.).<br />

Prinzipiell besteht daher hier die Möglichkeit einer isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids.<br />

Fraglich ist allerdings, ob die R hierfür der richtige Beklagte wäre.<br />

Nach §§ 79 II 3, 78 II, I Nr. 1 VwGO richtet sich eine solche Klage gegen den Rechtsträger<br />

der Widerspruchsbehörde. Dies wäre hier für das Regierungspräsidium das<br />

Land B. - W.. Beklagte ist hier aber die Stadt R. In der gegenwärtigen Konstellation<br />

wäre die isolierte Anfechtungsklage daher unzulässig.<br />

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