Sebastian Kurtenbach
Sebastian Kurtenbach
Sebastian Kurtenbach
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sie auch nach speziellen städtischen Verhaltensweisen von Menschen 2. Solche Verhaltensweisen<br />
wurden bereits in dem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus dem Jahr 1903 (vgl.<br />
Simmel 2010, S. 9ff.), der als einer der ersten stadtsoziologischen Texte gilt 3, von Georg Simmel<br />
beschrieben (vgl. Häußermann/Siebel 2004, S. 35). Simmel definierte drei typische<br />
Eigenschaften des Großstädters: Reserviertheit, Blasiertheit und Intellektualismus (vgl. Siebel<br />
2010, S. 9ff). Er beschreibt die Reserviertheit als Art und Weise, wie sich Großstadtbewohner<br />
untereinander begegnen. „Die geistige Haltung des Großstädters zueinander wird man in<br />
formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.“ (Simmel 2010, S. 16) Blasiertheit<br />
wiederum ist eine Reaktion auf die städtische Umwelt. Menschen reagieren, wie er es nennt, mit<br />
einer „Steigerung des Nervenlebens“ (Simmel 2010, S. 9) auf die Großstadt. „Sie [die<br />
Blasiertheit] ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng<br />
zusammendrängenden Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen<br />
Intellektualität hervorzugehen schien; weshalb denn auch dumme und von vornherein geistig<br />
unlebendige Menschen nicht gerade blasiert zu sein pflegen.“ (Simmel 2010, S. 14) Aufgrund der<br />
sinnlichen Überforderung eines jeden Einzelnen sind Großstadtbewohner abgestumpft. „Das<br />
Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem<br />
Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von Stumpfsinnigen, sondern so, daß die<br />
Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“<br />
(Simmel 2010, S. 15) Das heißt, dass Großstadtbewohner nur noch relativ selektiv ihre Umwelt<br />
wahrnehmen.<br />
Simmels Ausführungen zur Blasiertheit sind insbesondere vor dem Hintergrund des damals<br />
stark ausgeprägten Stadt-‐Land-‐Gegensatzes zu sehen. Die Blasiertheit spiegelt sich auch in<br />
seiner Beschreibung der Intellektualität wider. „Daraus wird vor allem der intellektualistische<br />
Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das<br />
vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist.“ (Simmel 2010, S. 10)<br />
Simmel beschreibt die Stadt somit nicht aus ihrer Größe heraus, sondern aus dem Verhalten, das<br />
die Großstadtbewohner zeigen. Somit ergeben sich zwei wichtige Punkte für das soziologische<br />
Verständnis für Städte. Erstens sind Städte relativ groß, dicht bebaut, weisen eine relativ gute<br />
2 Die Diskussion um das Städtische ist begründet im Stadt-‐Land-‐Gegensatz, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch<br />
gegeben war (vgl. Häußermann/Siebel 2004, S. 34). Heute spielen weitere Faktoren wie Globalisierung,<br />
Digitalisierung usw. eine zunehmende Rolle (vgl. Sassen 2006, S. 18f.).<br />
3 Schon vor Simmel haben Friedrich Engels und Karl Marx Eigenheiten des städtischen Lebens beschrieben und die<br />
Beseitigung des Unterschieds zwischen Stadt und Land als bedeutenden Punkt ihrer Theorie benannt (vgl.<br />
Marx/Engels 1969, S. 4). Allerdings hat Simmel diese Eigenheiten als Erster klassifiziert. Weitere Berichte über die<br />
Lebenswirklichkeiten in der industriellen Großstadt der frühen Industrialisierung: siehe Reiseberichte zu London aus<br />
dem Jahr 1775 von Georg Lichtenberg (vgl. Lichtenberg 1979) oder auch Heinrich Heine (vgl. Heine 2006).<br />
10