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Hilfe für die Seele - BruderhausDiakonie

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sozial<br />

Magazin <strong>für</strong> Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg<br />

Erwartung<br />

Leistungen und Finanzierung der<br />

Sozialpsychiatrischen Dienste<br />

müssen gesichert werden, sagt<br />

Psychiatrieerfahrenen-Vertreter<br />

Rainer Höflacher.<br />

Y Seite 4<br />

Im ländlichen Raum müssen<br />

sozialpsychiatrische Fachkräfte<br />

besonders flexibel arbeiten<br />

und oft weite Wege in Kauf<br />

nehmen.<br />

Y Seite 6<br />

Festlichkeit<br />

Das 40-jährige Bestehen der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>-Werkstätten<br />

haben Menschen<br />

mit und ohne Behinderung<br />

gemeinsam gefeiert.<br />

Y Seite 10<br />

Zufriedenheit<br />

Ausgabe 3 | 2012<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong><br />

Das Land plant ein Psychiatriegesetz<br />

Herausforderung<br />

Die tägliche Arbeit in der Kantine<br />

der Arbeitsagentur Villingen-<br />

Schwenningen gibt Menschen<br />

mit psychischer Erkrankung das<br />

Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.<br />

Y Seite 13


2<br />

EDITORIAL<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

weit mehr als drei Jahrzehnte ist es her, dass Nordrhein-Westfalen<br />

als erstes Bundesland ein „Gesetz<br />

über <strong>Hilfe</strong>n und Schutzmaßnahmen bei psychischen<br />

Krankheiten“ in Kraft gesetzt hat. In der Folge haben<br />

auch <strong>die</strong> meisten anderen Bundesländer Gesetze<br />

erlassen, <strong>die</strong> auf Landesebene <strong>die</strong> Versorgung psychisch<br />

kranker Menschen regeln. Baden-Württemberg<br />

hat als eines der letzten Bundesländer in <strong>die</strong>sem<br />

Frühjahr begonnen, ein Landespsychiatriegesetz auf<br />

den Weg zu bringen. Besonderheit: An der inhaltlichen<br />

Ausgestaltung sind Vertreter aller Gruppen<br />

beteiligt, <strong>die</strong> in der psychiatrischen Versorgung<br />

aktiv sind – einschließlich der Angehörigen- und<br />

Betroffenen-Verbände. Im Interview lesen Sie <strong>die</strong><br />

Haltung eines Betroffenenverbands: Rainer Höflacher,<br />

Geschäftsführer des Landesverbands Psychiatrie-<br />

Erfahrener, formuliert seine Erwartungen an das<br />

künftige Landespsychiatriegesetz.<br />

Wir richten außerdem den Blick auf unterschiedliche<br />

Bereiche der sozialpsychiatrischen Arbeit: Wir stellen<br />

Inhalt<br />

TITELTHEMA<br />

3 Landespsychiatriegesetz:<br />

Rechtssicherheit <strong>für</strong> psychisch<br />

Erkrankte<br />

4 Interview: Patientenrechte müssen<br />

gestärkt werden<br />

6 Sozialpsychiatrie auf dem Land:<br />

Wohnortnahe Betreuung<br />

7 Geschlossene Unterbringung:<br />

Ziel ist das selbstständige Leben<br />

KOLUMNE<br />

9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong>:<br />

Teilhabe an Arbeit – aber wie?<br />

AKTUELL<br />

10 Menschen mit und ohne Handicap<br />

feierten „40 Jahre Werkstatt <strong>für</strong><br />

Menschen mit Behinderung“ der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

REGIONEN<br />

12 Göppingen:<br />

Jugendliche bauen eine<br />

Stadtoase<br />

14 Villingen-Schwenningen:<br />

Die Arbeitsagentur beschäftigt<br />

Menschen mit Handicap<br />

14 Münsingen:<br />

Ehrenamtliche betreuen<br />

Pflegebedürftige<br />

NACHRICHTEN<br />

15 Aus der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

DIAKONISCHER IMPULS<br />

16 Karin Ott:<br />

Menschsein heißt, dazu zu<br />

gehören<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

eine Einrichtung in Stuttgart vor, in der Menschen<br />

Schutz und Unterstützung finden, <strong>die</strong> neben ihrer<br />

psychischen Krankheit mit sozialen Problemen und<br />

einem schwierigen Umfeld zu kämpfen haben. Und<br />

wir zeigen, wie sozialpsychiatrische Einrichtungen<br />

und Dienste in einem eher ländlich geprägten Kreis<br />

arbeiten.<br />

Arbeit <strong>für</strong> Menschen mit psychischen Krankheiten<br />

oder mit Handicaps bieten <strong>die</strong> Werkstätten <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Behinderung. Zeitgleich mit dem Jahresfest<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> haben <strong>die</strong> Werkstätten<br />

in Reutlingen ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert. Fotos<br />

und Eindrücke dazu auf Seite 10. Dass Menschen mit<br />

psychischer Erkrankung oder Behinderung eine Chance<br />

brauchen, auch auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig<br />

sein zu können, lesen Sie im Bericht über <strong>die</strong> Kantine<br />

der Arbeitsagentur Villingen-Schwenningen.<br />

Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre<br />

Ihre „Sozial“-Redaktion<br />

Impressum<br />

ISSN 1861-1281<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg<br />

Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen<br />

Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955<br />

Mail redaktion@bruderhausdiakonie.de<br />

Herausgeber<br />

Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

Verantwortlich<br />

Sabine Steininger (ste)<br />

Redaktion<br />

Martin Schwilk (msk), Sabine Steininger (ste),<br />

Karin Waldner (kaw)<br />

Mitarbeiter<br />

Karoline Müller (klm), Wolfram Keppler (kep)<br />

Gestaltung und Satz<br />

Susanne Sonneck<br />

Druck und Versand<br />

Grafische Werkstätte der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

Werkstatt <strong>für</strong> behinderte Menschen<br />

Erscheint vierteljährlich<br />

Fotonachweis<br />

Titel + Seite 3: photocase.com; Seite 4 + 16: privat;<br />

Seiten 10+11: factum/Weise; Seite 13: kep;<br />

Seite 15: Norbert Leister; alle anderen: Archiv und<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bruderhaus-<br />

Diakonie<br />

Spendenkonto<br />

Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel,<br />

BLZ 520 604 10, Konto 4006


sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz TITELTHEMA<br />

Landespsychiatriegesetz<br />

Rechtssicherheit <strong>für</strong> psychisch Erkrankte<br />

Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Lauf des Lebens<br />

psychisch krank zu werden, steigt. Psychische<br />

Störungen und psychische Krankheiten sind nach<br />

Angaben des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen<br />

zum dritthäufigsten Grund <strong>für</strong> Krankschreibungen<br />

geworden. Sie verursachen <strong>die</strong> längsten<br />

Fehlzeiten am Arbeitsplatz und zunehmend mehr<br />

Frühberentungen.<br />

<strong>Hilfe</strong> finden psychisch Erkrankte in Kliniken oder bei<br />

niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten.<br />

Erkrankte, <strong>die</strong> umfassendere <strong>Hilfe</strong> brauchen –<br />

etwa auch im Alltag – finden Unterstützung bei den<br />

sozialpsychiatrischen Einrichtungen und Diensten. Im<br />

Idealfall stellen <strong>die</strong> Dienste innerhalb eines Landkreises<br />

alle notwendigen <strong>Hilfe</strong>n bereit, <strong>die</strong> ein psychisch<br />

Erkrankter braucht, um so zu leben wie alle anderen<br />

Bürger auch. Und sie helfen mit, ständig sich wiederholende<br />

Klinikaufenthalte zu vermeiden. So arbeiten<br />

in den Gemeindepsychiatrischen Zentren verschiedene<br />

Dienste zusammen, <strong>die</strong> in der entsprechenden<br />

Region gemeinsam <strong>für</strong> psychisch kranke Menschen<br />

eine Grundversorgung bieten: ärztliche Sprechstunden,<br />

Hausbesuche und ambulante Betreuung,<br />

Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, Freizeit-<br />

und Gesprächsangebote in den Tagesstätten.<br />

Dabei sind <strong>die</strong> Sozialpsychiatrischen Dienste Dreh-<br />

und Angelpunkt in <strong>die</strong>sem System. Diese kümmern<br />

sich besonders um Menschen, <strong>die</strong> wegen ihrer Krankheit<br />

nicht in der Lage sind, von sich aus <strong>Hilfe</strong> in Anspruch<br />

zu nehmen. Sie beraten und unterstützen <strong>die</strong><br />

Erkrankten in Krisen. Sie helfen ihnen, notwendige<br />

ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen, und<br />

schauen in Notfällen danach, dass Erkrankte ein Dach<br />

über dem Kopf haben und geregeltes Essen bekommen.<br />

Sie vermitteln <strong>die</strong> entsprechenden <strong>Hilfe</strong>n und<br />

beraten auch Angehörige und Bezugspersonen von<br />

psychisch Erkrankten.<br />

Vor einigen Jahren kürzte das Land seinen Beitrag<br />

zur Finanzierung der Sozialpsychiatrischen Dienste,<br />

<strong>die</strong> Mitte der 1980er Jahre eingerichtet worden sind.<br />

Das führte landesweit zur personellen Ausdünnung<br />

der Dienste. Das Netzwerk Psychiatrie, in dem <strong>die</strong><br />

wichtigsten sozialpsychiatrischen Verbände Baden-<br />

Württembergs zusammengeschlossen sind, monierte<br />

deshalb 2010 in einem Positionspapier: „Mit Sorge<br />

stellen <strong>die</strong> Unterzeichner fest, dass sich<br />

in den letzten Jahren <strong>die</strong> sozialpsychiatrische<br />

Grundversorgung kontinuierlich<br />

verschlechtert hat.“ Vor allem <strong>die</strong><br />

schwerer psychisch Erkrankten würden<br />

„immer weniger <strong>die</strong> notwendige Unterstützung<br />

erhalten“.<br />

Das könnte jetzt anders werden: Die<br />

grün-rote Landesregierung hat sich in<br />

ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt,<br />

noch in <strong>die</strong>ser Legislaturperiode<br />

ein Landespsychiatriegesetz auf den<br />

Weg zu bringen. Ein solches Gesetz<br />

fordern <strong>die</strong> Fachleute schon seit Jahrzehnten. Baden-<br />

Württemberg, Bayern und Hessen sind <strong>die</strong> letzten<br />

Bundesländer ohne eigenes Psychiatriegesetz.<br />

Darüber hinaus erzwingen mittlerweile auch zwei<br />

Urteile des Bundesverfassungsgerichts neue gesetzliche<br />

Regelungen. Die Urteile stärken das Selbstbestimmungsrecht<br />

psychisch Erkrankter und erklären<br />

Zwangsbehandlungen nach den bisherigen gesetzlichen<br />

Bedingungen <strong>für</strong> unzulässig.<br />

„Erstmals werden in Baden-Württemberg durch ein<br />

Gesetz <strong>für</strong> psychisch kranke Menschen <strong>Hilfe</strong>n und<br />

Schutzmaßnahmen zusammengeführt und gesetzlich<br />

geregelt“, kündigt Sozialministerin Katrin Altpeter<br />

an. Den Betroffenen solle in jedem Krankheitsstadium<br />

<strong>die</strong> passende <strong>Hilfe</strong> angeboten werden.<br />

„Bedeutung hat das Landespsychiatriegesetz vor<br />

allem <strong>für</strong> <strong>die</strong> Sicherstellung der psychiatrischen<br />

Grundversorgung durch <strong>die</strong> Sozialpsychiatrischen<br />

Dienste, sowie <strong>für</strong> <strong>die</strong> Abstimmung der Versorgung<br />

vor Ort und <strong>für</strong> das Unterbringungsrecht“, meint Georg<br />

Schulte-Kemna, Leiter des Geschäftsfelds Sozialpsychiatrie<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />

Arbeitsgruppen, zu denen Wissenschaftler und<br />

psychiatrische Praktiker gehören sowie Vertreter der<br />

Kommunen und der Verbände, Angehörigenvertreter<br />

und Psychiatrieerfahrene, erstellen derzeit in einem<br />

mehrmonatigen Prozess ein Eckpunktepapier.<br />

Dieses soll im kommenden Jahr in einen Referentenentwurf<br />

<strong>für</strong> das Landespsychiatriegesetz münden.<br />

msk Z<br />

+<br />

www.landespsychiatrietag.de/download.html<br />

Die Grundversorgung<br />

psychisch<br />

kranker Menschen<br />

soll auch in<br />

Baden-Württemberg<br />

gesetzlich<br />

geregelt werden<br />

3


4<br />

TITELTHEMA<br />

Rainer Höflacher<br />

will nicht Ängste<br />

vor der Psychiatrie<br />

schüren,<br />

sondern sie mit<br />

guten Ideen aus<br />

Betroffenensicht<br />

besser machen<br />

Erwartungen der Selbsthilfegruppen<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Patientenrechte müssen gestärkt werden<br />

Was erhoffen sich Menschen mit eigener Psychiatrieerfahrung von einem Landespsychiatriegesetz?<br />

Im Interview: Rainer Höflacher, Geschäftsführer des badenwürttembergischen<br />

Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener.<br />

Y Viele an der Versorgung von Menschen mit psychischer<br />

Erkrankung Beteiligte fordern seit langem, auch<br />

<strong>die</strong> <strong>Hilfe</strong>n außerhalb der Kliniken stärker gesetzlich zu<br />

regeln. Versprechen Sie sich als Vertreter von Psychiatrie-Erfahrenen<br />

etwas davon, dass Verfahrensweisen in<br />

Gesetzesform gegossen werden?<br />

Dass wir bei der Entwicklung des Landespsychiatriegesetzes<br />

mitarbeiten, zeigt ja, dass wir meinen, dass<br />

auch in der Psychiatrie bestimmte Sachverhalte der<br />

Gesetzesform bedürfen. Das Problem der Überregulierung<br />

muss dabei jedoch immer im Auge behalten<br />

werden. Ein Gesetz muss praktikabel sein, sollte aber<br />

auch richtungsweisend wirken und <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

weiterentwickeln. Zudem muss darauf geachtet<br />

werden, dass Zustände nicht zementiert werden. Im<br />

Bereich der Zwangsmaßnahmen besteht derzeit eine<br />

große Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Rechtspraxis.<br />

Y Warum ist ein Landespsychiatriegesetz notwendig?<br />

Welche Punkte müssen dabei geregelt werden?<br />

Ein Landespsychiatriegesetz ist notwendig, da es<br />

im Bereich der ambulanten <strong>Hilfe</strong>n bisher zu wenig<br />

rechtliche Vorgaben gibt. Es ist uns wichtig, dass zum<br />

Beispiel der Gemeindepsychiatrische Verbund, der Sozialpsychiatrische<br />

Dienst und Beschwerdeinstanzen<br />

gesetzlich verbindlich festgeschrieben und in der<br />

Gesetzesbegründung ausdifferenziert werden. Dies<br />

wirkt sich natürlich auch auf deren Finanzierung aus.<br />

Der zweite wichtige Bereich sind <strong>die</strong> Patientenrechte.<br />

Hier sind Teile der bisherigen Paragrafen nicht mehr<br />

Die Erduldung von Gewalt ist <strong>die</strong> schrecklichste<br />

Erfahrung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Psychiatrie uns<br />

Psychiatrieerfahrenen antun kann.<br />

auf der Höhe der Zeit. Das zeigt sich ja auch darin,<br />

dass das Bundesverfassungsgericht den Para-<br />

grafen 8 des Unterbringungsgesetzes, der unter<br />

anderem Zwangsmedikation regelt, <strong>für</strong> verfassungswidrig<br />

erklärt hat.<br />

Und drittens fehlte es bisher an der Standardisierung<br />

des Berichtswesens, nach dem Motto „Daten <strong>für</strong> Taten“.<br />

Für den Patientenschutz, Politik, Forschung und<br />

Psychiatrieplanung ist das sehr wichtig. Da<strong>für</strong> müssen<br />

neue Strukturen und Institutionen geschaffen<br />

werden.<br />

Wir brauchen ein spezialisiertes Eingehen<br />

auf psychotische und fremdaggressive<br />

Menschen.<br />

Y Bei einer Anhörung der Grünen zum Landespsychiatriegesetz<br />

haben Sie den Schwerpunkt auf <strong>die</strong><br />

gesetzliche Regelung von Zwangsmaßnahmen in der<br />

Psychiatrie gelegt. Worum es ging Ihnen dabei hauptsächlich?<br />

Die Erduldung von Gewalt ist <strong>die</strong> schrecklichste Erfahrung,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Psychiatrie uns Psychiatrieerfahrenen<br />

antun kann. Mir kam es darauf an, einerseits auf <strong>die</strong><br />

Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenwürde<br />

hinzuweisen, von denen viele Psychiatrieerfahrene<br />

berichten. Andererseits einzugestehen, dass<br />

es zurzeit bezüglich Fremd- oder Eigengefährdung<br />

bei einsichtsunfähigen Psychiatrieerfahrenen nicht<br />

immer ohne Zwang und Gewalt geht. Wir brauchen<br />

hier ein spezialisiertes Eingehen auf Menschen, <strong>die</strong><br />

hoch psychotisch und fremdaggressiv sind. Gleichbehandlung<br />

mit Nicht-Psychiatrieerfahrenen <strong>die</strong>nt hier<br />

nicht dem Wohl des Patienten.<br />

(Anmerkung der Redaktion: Manche Psychiatrieerfahrenen<br />

lehnen jede Art von Behandlung, <strong>die</strong> speziell <strong>für</strong><br />

Psychiatrieerfahrene gedacht ist, ab und verlangen<br />

eine Behandlung, wie sie bei anderen Bürgern angewendet<br />

werden würde. Das heißt in solchen Fällen:<br />

Strafvollzug statt Psychiatrie.)<br />

Wichtig war mir auch darzulegen, unter welchen Voraussetzungen<br />

und Bedingungen Zwangsmaßnamen<br />

angebracht sein könnten. Es war <strong>für</strong> uns keine leichte<br />

Entscheidung, Zwangsbehandlungen <strong>für</strong> solche Patienten<br />

nicht zuzulassen, <strong>die</strong> nur einsichtsunfähig und<br />

nicht fremdgefährdend sind. Es können bei <strong>die</strong>ser<br />

Haltung erhebliche Nachteile <strong>für</strong> <strong>die</strong> betroffenen Psy-


sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

chiatrieerfahrenen und ihre Angehörigen entstehen,<br />

<strong>die</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong>se teilweise kaum zu ertragen sind. Das<br />

muss aber in Kauf genommen werden zugunsten der<br />

Patientenschutzrechte. Diese dürfen hier nicht eingeschränkt<br />

werden.<br />

Der Sozialpsychiatrische Dienst ist ein<br />

unverzichtbarer Baustein innerhalb eines<br />

Gemeindepsychiatrischen Zentrums.<br />

Y Ein Problem sind Erkrankte, <strong>die</strong> ihre Krankheit nicht<br />

als solche sehen und <strong>Hilfe</strong> nicht in Anspruch nehmen<br />

oder ablehnen. Um sie kümmern sich <strong>die</strong> Sozialpsychiatrischen<br />

Dienste. Sehen Sie hier gesetzlichen Regelungsbedarf?<br />

Außer bei Zwangsmaßnahmen sehe ich bei <strong>die</strong>sen<br />

Menschen keinen Regelungsbedarf. Hier kann nur<br />

durch gesetzlich nicht festlegbare menschliche Wertschätzung<br />

und Fachkompetenz geholfen werden. Die<br />

Alltagsfähigkeiten und das Leiden <strong>die</strong>ser Personen<br />

müssen im Mittelpunkt stehen. Der Sozialpsychiatrische<br />

Dienst ist ein unverzichtbarer Baustein innerhalb<br />

eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums.<br />

Er bietet sehr niederschwellige und aufsuchende<br />

<strong>Hilfe</strong>n an und ist bisher in den meisten Landkreisen<br />

<strong>die</strong> entscheidende Drehscheibe im Zusammenspiel<br />

ambulanter psychiatrischer Angebote. Seine Finanzierung<br />

und sein Leistungsangebot müssen gesichert<br />

sein. Ich vermute, dass mein Leben ohne den Sozialpsychiatrischen<br />

Dienst und <strong>die</strong> Tagesstätte weitaus<br />

negativer verlaufen wäre. Vielleicht würde ich gar<br />

nicht mehr leben.<br />

Y Wo sehen Sie <strong>die</strong> Grenzen, ab denen es nötig sein<br />

kann, in das Selbstbestimmungsrecht schwer Erkrankter<br />

einzugreifen? Brächte eine gesetzliche Festlegung<br />

<strong>die</strong>ser Grenze Verbesserungen <strong>für</strong> Betroffene?<br />

Das Recht auf Selbstbestimmung wird eingeschränkt<br />

durch <strong>die</strong> Rechte anderer und durch Ansprüche der<br />

Gesellschaft. Es ist dem Wandel unterworfen. Ohne<br />

ein hohes Maß an Selbstbestimmung ist in unserer<br />

Kultur kein erfülltes und glückliches Leben mehr<br />

vorstellbar. Es besteht aber <strong>die</strong> Gefahr, dass das Recht<br />

auf Fürsorge vernachlässigt wird und dem Psychiatrieerfahrenen<br />

<strong>die</strong> notwendige <strong>Hilfe</strong> vorenthalten<br />

wird. Die Gewährung von Selbstbestimmung geht<br />

Hand in Hand mit der Übertragung von Eigenverantwortung,<br />

was den kranken Menschen überlasten<br />

kann. Die Patientenrechte müssen gestärkt werden,<br />

was ja gerade mit einem neuen Gesetz geschieht.<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz<br />

Bezüglich Selbstbestimmung setzt auch <strong>die</strong> Behindertenrechtskonvention<br />

wichtige Impulse. Darüber<br />

hinaus sehe ich hier keine Notwendigkeit <strong>für</strong> weitere<br />

Gesetze.<br />

Y Sehen Sie sich als Vertreter eines Betroffenenverbands<br />

im bisherigen <strong>Hilfe</strong>system genügend eingebunden?<br />

Was muss passieren, damit <strong>die</strong> Selbsthilfe stärker<br />

unterstützt wird?<br />

Inzwischen sind wir im (sozial)psychiatrischen <strong>Hilfe</strong>system<br />

gut eingebunden. Immerhin feiern wir 2013<br />

unser 20-jähriges Bestehen. Das liegt aber auch daran,<br />

dass wir mitarbeiten und mitgestalten wollen.<br />

Wir gehen den schweren ‚Gang durch <strong>die</strong> Institutionen‘<br />

und verstehen <strong>die</strong> Psychiatrie nicht grundsätzlich<br />

als unseren Gegner. Wir wollen nicht Ängste vor<br />

der Psychiatrie wecken, sondern sie mit konstruktiver<br />

Kritik und guten Ideen aus Betroffenensicht besser<br />

machen. Allerdings dürfen Psychiatrieerfahrene<br />

teilweise nur aus Imagegründen mitwirken oder sie<br />

werden instrumentalisiert und nicht wirklich ernst<br />

genommen. Aber man bestimmt ja selbst, inwieweit<br />

man sich ausnutzen und vom System missbrauchen<br />

lässt.<br />

Leider gibt es immer noch Landkreise, <strong>die</strong> Psychiatrieerfahrene<br />

nicht im Gemeindepsychiatrischen<br />

Verbund haben wollen. Ängste, Vorurteile, Ignoranz<br />

und radikale Psychiatrieerfahrene verhindern dort<br />

<strong>die</strong> konstruktive Zusammenarbeit. Interessant wird<br />

es allerdings da, wo Konflikte entstehen, <strong>die</strong> beiden<br />

Seiten wirklich wehtun. Hier zeigt sich dann, wie<br />

tragfähig und wirksam <strong>die</strong> aufgebauten Beziehungen<br />

tatsächlich sind. Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> oft trockene und zähe Psychiatriepolitik zu<br />

finden. Die konkrete Selbsthilfe direkt am Menschen<br />

wirkt da ungleich attraktiver. Hier wäre es sicherlich<br />

hilfreich, wenn auch von dritter Seite Werbung <strong>für</strong><br />

unsere Sache gemacht würde. Es gibt noch einiges an<br />

Verbesserungspotenzial in unserer Arbeit. Vor allem<br />

aber brauchen wir eine finanzielle Basis, <strong>die</strong> gute<br />

Arbeit weiterhin möglich macht. msk Z<br />

+<br />

Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> oft trockene und zähe Psychiatriepolitik<br />

zu finden.<br />

www.psychiatrie-erfahrene-bw.de<br />

TITELTHEMA<br />

5


6<br />

TITELTHEMA<br />

Matthias Geiger<br />

und Senta<br />

Fezer sichern<br />

samt Team <strong>die</strong><br />

psychiatrische<br />

Versorgung im<br />

Alb-Donau-Kreis<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Sozialpsychiatrie auf dem Land<br />

Wohnortnahe Betreuung <strong>für</strong> Klienten<br />

Im ländlichen Raum bieten Unterstützungszentren <strong>Hilfe</strong>n <strong>für</strong> psychisch Kranke.<br />

Fachkräfte nehmen lange Strecken in Kauf, um ihre Klienten direkt am Wohnort<br />

zu betreuen.<br />

Der Tag beginnt früh im Unterstützungszentrum<br />

Laichingen. Der Kaffee duftet, <strong>die</strong> Menschen sprechen<br />

leise und freundlich miteinander. Dann greift Betriebsamkeit<br />

um sich. Sozialpädagogen und Heilerziehungspfleger<br />

fahren los, um Klienten aufzusuchen.<br />

Im Unterstützungszentrum im oberen Stock beginnt<br />

kurz nach acht <strong>die</strong> Besprechung von Teamleiter<br />

Matthias Geiger und<br />

Regionalleiterin Senta<br />

Fezer. Sie treffen sich<br />

ein- bis zweimal pro<br />

Woche, sprechen aktuelle<br />

Themen durch,<br />

planen und koordinieren<br />

Termine. Als<br />

Teamleiter ist Geiger<br />

verantwortlich <strong>für</strong><br />

den reibungslosen<br />

Ablauf im Unterstützungszentrum.<br />

Er erstellt Dienstpläne, koordiniert<br />

Leistungen, baut Kontakte zur Gemeinde auf und<br />

betreut zudem Klienten. „Die Teamleiter sind unsere<br />

Leute, <strong>die</strong> da<strong>für</strong> sorgen, dass <strong>die</strong> Arbeit in den Unterstützungszentren<br />

funktioniert.“, erklärt Senta Fezer.<br />

Als Regionalleiterin des nördlichen Alb-Donau-Kreises<br />

pendelt sie zwischen den Standorten Laichingen<br />

und Langenau, kümmert sich um das Zusammenspiel<br />

der Einrichtungen, das Management und um<br />

Personalfragen. Die Themen sind so umfangreich<br />

wie <strong>die</strong> zu erbringenden Leistungen. Im Laichinger<br />

Unterstützungszentrum gibt es zum Beispiel einen<br />

offenen Treffpunkt: eine Tagesstätte <strong>für</strong> Menschen<br />

mit psychischer Erkrankung, <strong>für</strong> einzelne Personen<br />

Angebote mit tagesstrukturierenden Maßnahmen<br />

sowie Arbeitsangebote in Kooperation mit der St.<br />

Elisabeth-Stiftung. Hier ist auch <strong>die</strong> Außenstelle des<br />

Sozialpsychiatrischen Dienstes, über den <strong>die</strong> Grundversorgung<br />

psychisch kranker Menschen erfolgt und<br />

Soziotherapie angeboten wird, sowie ein Stützpunkt<br />

<strong>für</strong> ambulant betreutes Wohnen. Sechs Fachkräfte<br />

und drei Betreuungshilfskräfte erbringen <strong>für</strong> Laichin-<br />

gen und Umgebung <strong>die</strong>se Leistungen. Konkret heißt<br />

das, dass <strong>die</strong> Mitarbeitenden sehr vielseitig und flexibel<br />

arbeiten müssen. „Keiner kann mehr sagen, dass<br />

etwas nicht zu seinen Aufgaben gehöre“, sagt Fezer.<br />

Rund 100 Klienten hat das Unterstützungszentrum<br />

Laichingen, <strong>die</strong> in unterschiedlichen Formen ambulant<br />

betreut werden. Im gesamten nördlichen Alb-<br />

Donau-Kreis sind es an <strong>die</strong> 250 Klienten. Und jeder<br />

Klient hat seine ganz persönliche Geschichte. Fezer<br />

und Geiger haben ganze Schicksale in ihrer Obhut:<br />

ein Ehepaar zum Beispiel, das mehr Aufmerksamkeit<br />

fordert, als derzeit geleistet werden kann. Oder eine<br />

Frau mit schwerer psychischer Erkrankung, <strong>die</strong> im<br />

Rahmen des ambulant betreuten Wohnens umziehen<br />

will, sich aber nicht von altem Krempel trennen kann.<br />

Geiger stellt den Dienstplan seiner Kollegen so um,<br />

dass <strong>die</strong> Sozialarbeiterin beim Umzug helfen kann,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Klientin am besten kennt. „Flexibilität zieht<br />

sich bei uns durch alle Arbeitsbereiche“, erklären<br />

Fezer und Geiger.<br />

Wichtig ist auch <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit der Gemeinde.<br />

So hat Matthias Geiger erreicht, das Unterstützungszentrum<br />

Laichinger Bürger bekannter zu<br />

machen und mit den städtischen und kirchlichen<br />

Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Mitarbeitende<br />

des Unterstützungszentrums sind zum Beispiel regelmäßig<br />

auf dem Wochenmarkt vertreten – mit kunsthandwerklichen<br />

Produkten aus dem Laden „Haltestelle“.<br />

Auf <strong>die</strong>se Weise knüpft Geiger Kontakte in der<br />

Stadt, beugt möglichen Vorurteilen vor und bindet<br />

<strong>die</strong> sozialpsychiatrische Arbeit wie selbstverständlich<br />

in das Laichinger Stadtleben ein.<br />

Direkt gegenüber dem Unterstützungszentrum entsteht<br />

derzeit ein Wohnhaus <strong>für</strong> Menschen mit psychischer<br />

Erkrankung. Ab Herbst 2013 können hier bis<br />

zu 20 Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf<br />

leben. „Die zentrale Lage ist perfekt <strong>für</strong><br />

unsere Klienten“, freut sich Senta Fezer „hier können<br />

wir ihnen passgenaue <strong>Hilfe</strong>n mitten in der Stadt anbieten.“<br />

klm Z


sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Die Sozialpsychiatrischen <strong>Hilfe</strong>n im Alb-Donau-Kreis<br />

Die <strong>Hilfe</strong>leistungen <strong>für</strong> psychisch<br />

kranke Menschen im Alb-Donau-<br />

Kreis wurden in den letzten<br />

Jahren stark ausgebaut. Gudrun<br />

Reuther, Dienststellenleiterin<br />

der Sozialpsychiatrischen <strong>Hilfe</strong>n<br />

im Alb-Donau-Kreis, hat daran<br />

maßgeblich mitgewirkt. Vor<br />

zwölf Jahren intensivierten <strong>die</strong><br />

regionalen Träger <strong>die</strong> gemeindenahe<br />

Versorgung: Sie begannen,<br />

sich effektiver zu vernetzen und<br />

ihre Leistungen kooperierend<br />

zu nutzen. Es entstand <strong>die</strong> Idee<br />

eines Gemeindepsychiatrischen<br />

<strong>Hilfe</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Seele</strong> – Das Land plant ein Psychiatriegesetz TITELTHEMA<br />

Geschlossene Unterbringung<br />

Ziel ist das selbstständige Leben<br />

Wenn psychische Krankheit einhergeht mit sozialen Problemen und einem<br />

schwierigen Umfeld, brauchen Erkrankte manchmal Schutz vor sich selbst und vor<br />

anderen. Im Haus Maybachstraße in Stuttgart finden sie Sicherheit – und Unterstützung<br />

auf dem Weg zurück in <strong>die</strong> Selbstständigkeit.<br />

Wer hierher kommt, hat schon einiges hinter sich:<br />

Psychosen, Drogen, Wohnungslosigkeit – und eine<br />

oftmals langjährige Odyssee durch psychiatrische<br />

Kliniken und Heime. Es sind Menschen, <strong>die</strong> „durch<br />

alle Raster gefallen sind“, wie Klaus Masanz sagt.<br />

Masanz leitet gemeinsam mit seinem Kollegen Jürgen<br />

Baur das Haus Maybachstraße im Stuttgarter<br />

Norden. Das ist eine geschlossene Einrichtung <strong>für</strong><br />

Frauen und Männer, <strong>für</strong> <strong>die</strong> es bisher keine passende<br />

<strong>Hilfe</strong> gab. Für psychisch kranke Menschen, <strong>die</strong> Schutz<br />

brauchen. Vor sich selbst, aber auch vor anderen:<br />

Hin und wieder stehen Dealer vor der Tür oder Typen<br />

aus dem Rotlichtmilieu. Dann ist es gut, dass <strong>die</strong><br />

Türen geschlossen sind.<br />

Vor einem Jahr haben <strong>die</strong> Sozialpsychiatrischen<br />

<strong>Hilfe</strong>n Stuttgart der <strong>BruderhausDiakonie</strong> und <strong>die</strong><br />

Rehabilitationseinrichtung Rudolf-Sophien-Stift auf<br />

Betreiben der Stadt Stuttgart gemeinsam das Haus<br />

Maybachstraße eröffnet. Unterstützt von einem<br />

Zentrums (GPZ), um sozialraumorientiert<br />

und leistungsfähig<br />

<strong>Hilfe</strong>leistungen anbieten zu<br />

können. 2005 eröffneten sie das<br />

heutige GPZ in Ehingen. Im GPZ<br />

bieten fünf verschiedene Träger<br />

<strong>Hilfe</strong>leistungen an: „Wir sind<br />

hier sehr breit aufgestellt“, fasst<br />

Reuther zusammen. Seit 2006<br />

forcieren <strong>die</strong> Kooperationspartner<br />

<strong>die</strong> Dezentralisierung: Standorte<br />

wie Langenau und Laichingen<br />

werden seitdem dezentral<br />

verwaltet, mit jeweils eigener<br />

Teamleitung und eigener Buch-<br />

haltung. „Der<br />

Kreis und das<br />

Sozialdezernat<br />

setzen<br />

sich hier<br />

stark ein“,<br />

sagt Gudrun<br />

Reuther. Doch<br />

trotz Förderung<br />

gebe es<br />

insbesondere<br />

im ambulanten Bereich noch keine<br />

ausreichende Finanzierung:<br />

„Diese muss dringend gesichert<br />

werden.“<br />

23-köpfigen Team aus Sozialpädagogen, Heilerziehungspflegerinnen,<br />

psychiatrischen Pflegefachkräften,<br />

Arbeitserziehern und Hauswirtschaftskräften<br />

leben hier 26 Frauen und Männer im Alter zwischen<br />

22 und 60 Jahren. Mehr als <strong>die</strong> Hälfte <strong>die</strong>ser psychisch<br />

kranken Menschen ist unter 35.<br />

Auch Daniel Zeiger (Name geändert), ein fast zwei<br />

Meter großer Hüne mit Rastalocken, Baseball-Shorts<br />

und kräftig-blauem T-Shirt, zählt gerade mal 30 Jahre.<br />

Vor einem Jahr kam er ins Haus Maybachstraße.<br />

Bis dahin hatte er schon eine Menge mitgemacht.<br />

Bereits in der Jugend häuften sich <strong>die</strong> Probleme: Drogen,<br />

Diebstähle, Schwarzfahren, psychische Schwierigkeiten.<br />

Seine Fliesenlegerlehre hielt der gebürtige<br />

Berliner, der in Stuttgart aufwuchs, zwei Jahre durch.<br />

Dann schmiss er vorzeitig hin. „Ich war einfach noch<br />

zu jung“, beschwichtigt er heute, wenn er auf <strong>die</strong>se<br />

turbulente Zeit zurückblickt. Seine Eltern wussten<br />

sich damals nicht mehr zu helfen und warfen den<br />

Besichtigung der<br />

Baustelle des<br />

neuen Wohnhauses<br />

<strong>für</strong> Menschen<br />

mit psychischer<br />

Erkrankung<br />

7


8<br />

TITELTHEMA<br />

Klaus Masanz<br />

(links) bespricht<br />

mit Daniel Zeiger<br />

den Tagesverlauf<br />

Sohn aus der Wohnung, als er 18 geworden war.<br />

Nach einigen Straftaten schickte ihn das Gericht wegen<br />

seines starken Drogen- und Alkoholkonsums und<br />

seiner psychischen Erkrankung statt ins Gefängnis<br />

in <strong>die</strong> forensische Psychiatrie. Vier Jahre, erzählt er,<br />

verbrachte er dann in der forensischen Abteilung der<br />

Psychiatrischen Klinik Weißenau.<br />

Die anschließende Rehabilitationsmaßnahme in<br />

Stuttgart sollte ihn wieder<br />

arbeitsfähig machen.<br />

Während <strong>die</strong>ser Zeit<br />

lebte er in einem psychiatrischen<br />

Wohnheim.<br />

„Das war wie in einer<br />

großen Wohngemeinschaft<br />

mit 20 Leuten auf<br />

zwei Stockwerken“, erinnert<br />

er sich. Von dort aus<br />

absolvierte er mehrere<br />

Praktika, unter anderem in einem Jugendhaus und<br />

in einer Schreinerei. Am ehesten zugesagt hat ihm<br />

das Schreinern: „Da hab ich am längsten gearbeitet,<br />

das war nicht schlecht.“ Zu einer dauerhaften Arbeit<br />

führte das aber nicht.<br />

Nach dem Auslaufen der Reha-Maßnahme suchte<br />

sich der psychisch kranke Mann ein eigenes Ein-Zimmer-Apartment,<br />

wo er ambulant betreut wurde. „Ich<br />

hatte keine Arbeit, aber viel Freizeit, ging öfter in <strong>die</strong><br />

Stadt und habe mich mit Freunden getroffen“, fasst<br />

er <strong>die</strong> Jahre, <strong>die</strong> er in der eigenen Wohnung lebte, in<br />

der Rückschau zusammen. Am Ende auch hier wieder:<br />

Zwangseinweisung in <strong>die</strong> psychiatrische Klinik – weil<br />

<strong>die</strong> Wohnung „nicht mehr topp war“, weil er nicht<br />

mehr zum Arzt ging und weil er „wegen Alkohol,<br />

Schwarzfahren, Diebstahl und ein paar Kleinigkeiten“<br />

zur Gefahr <strong>für</strong> sich selbst und andere geworden war.<br />

Viele der jüngeren Maybachstraßen-Bewohner, erzählt<br />

Klaus Masanz, haben ähnliche Karrieren durchlebt<br />

wie Daniel Zeiger: Psychosen und Persönlichkeitsstörungen<br />

mit häufigen Aufenthalten in psych-<br />

Das Haus Maybachstraße in Stuttgart<br />

Einrichtungen wie <strong>die</strong>se sind in Baden-Württemberg noch selten.<br />

Die erste hat <strong>die</strong> Evangelische Gesellschaft 2001 in Stuttgart-Freiberg<br />

eröffnet. Eine weitere vergleichbare, kleinere Einrichtung betreibt<br />

<strong>die</strong> <strong>BruderhausDiakonie</strong> seit einigen Jahren in Reutlingen. Die<br />

Einrichtungen arbeiten eng mit Kliniken, den Sozialpsychiatrischen<br />

Diensten und den anderen Anbietern der psychiatrischen Grundversorgung<br />

zusammen.<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

iatrischen Kliniken, keine Ausbildung, Drogen- und<br />

Alkoholprobleme, Kontakte zum kriminellen Milieu.<br />

„Die Klienten sind oft ungeduldig und ihr Verhalten<br />

ist sehr herausfordernd.“ Alle haben mehrfache<br />

vergebliche Versuche hinter sich, mit <strong>Hilfe</strong> des Sozialpsychiatrischen<br />

Dienstes und ambulanter Betreuung<br />

einen Fuß auf den Boden zu kriegen. „Es handelt sich<br />

um Klienten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> sozialpsychiatrische Versorgung<br />

bisher nicht erreichen konnte“, weiß Masanz. Einige<br />

haben viele Monate in den geschlossenen Stationen<br />

psychiatrischer Kliniken zugebracht. Andere lebten<br />

eher unterversorgt und fernab von Angehörigen und<br />

ihrem früheren Lebensumfeld in psychiatrischen Pflegeheimen<br />

irgendwo auf dem Land.<br />

Im Haus Maybachstraße wird intensiv versucht, <strong>die</strong><br />

Klienten so zu stabilisieren, dass sie eine regelmäßige<br />

Arbeit durchhalten, sei es auch nur <strong>für</strong> ein paar Stunden<br />

am Tag. Und es wird darauf hingearbeitet, dass<br />

sie wieder selbstständig in einem offenen Wohnheim<br />

oder ambulant betreut in der eigenen Wohnung leben<br />

können.<br />

Daniel Zeiger hat bereits ein klares Ziel: „Wieder eigenständig<br />

wohnen, darauf arbeite ich hin“, sagt er.<br />

Und „eine kleine Arbeit“ wünscht er sich, damit er<br />

wieder mehr Geld in der Tasche hat – etwa eine Teilzeitarbeit<br />

im Verkauf oder im Lager. Unter der Woche<br />

besucht er täglich <strong>die</strong> sogenannte Arbeitsgruppe des<br />

Hauses Maybachstraße – und <strong>die</strong> Suchtgruppe, <strong>die</strong><br />

<strong>für</strong> alle verpflichtend ist, <strong>die</strong> eine Alkohol- oder Drogenkarriere<br />

hinter sich haben.<br />

Das Beschäftigungsangebot im Haus ist vielfältig.<br />

Soeben hat Daniel Zeiger in der Arbeitsgruppe<br />

beispielsweise Gartenmöbel geschreinert <strong>für</strong> den<br />

Grillabend auf dem Dachgarten. Darüber hinaus<br />

mäht und pflegt er regelmäßig den Rasen. Dieses<br />

Beschäftigungsangebot ist wichtig, wie Klaus Masanz<br />

betont. „Denn wir sehen den Aufenthalt hier als<br />

Übergang, als Vorbereitung auf ein selbstständiges<br />

Leben – auch wenn wir wissen, dass manche Klienten<br />

bis dahin noch viele Jahre brauchen werden.“<br />

Daniel Zeiger geht jetzt schon häufig selbstständig in<br />

<strong>die</strong> Stadt, ins Freibad oder in <strong>die</strong> Videothek. Und hin<br />

und wieder fährt er mit der Bahn übers Wochenende<br />

zu seinen Eltern, <strong>die</strong> mittlerweile aus Stuttgart weggezogen<br />

sind. Auch mit der gewünschten Teilzeitarbeitsstelle<br />

könnte es im Lauf des kommenden Jahres<br />

etwas werden. Aber erst muss er noch einmal vor<br />

Gericht. „Die Verhandlung muss erledigt sein“, sagt<br />

er. Dann kann der nächste Schritt in <strong>die</strong> Selbstständigkeit<br />

folgen. msk Z


sozial • Ausgabe 3 1 | 2012<br />

Lothar Bauer:<br />

Teilhabe an Arbeit – aber wie?<br />

„Früher durfte man nichts sagen.“ So erzählte Robert<br />

Kleinheitz, Vorsitzender des Werkstattrates, in einer<br />

Diskussionsrunde anlässlich der Einweihung der<br />

erweiterten und sanierten Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

in Reutlingen. Es habe nur einfachste<br />

Arbeiten gegeben, keine Fortbildungen und kein Mitspracherecht.<br />

Robert Kleinheitz blickt auf eine lange<br />

Zeit der Mitarbeit in der Werkstatt zurück. Die Arbeit<br />

ist anspruchsvoller und vielfältiger geworden. Es werden<br />

zahlreiche Fortbildungen angeboten und – man<br />

darf mitreden. Die Werkstatträte sind <strong>die</strong> Interessensvertretung<br />

der Werkstattbeschäftigten.<br />

Das Paradigma heute heißt Inklusion.<br />

Die Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> sind Teil eines<br />

leistungsfähigen und in der ganzen Republik flächendeckend<br />

ausgebauten Systems von Werkstätten<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Behinderung. Lange war das deutsche<br />

Werkstättensystem ein Vorzeigemodell. Jetzt<br />

wird es kritisch hinterfragt. Es sei ein „exklusives“<br />

Modell. Es schließe Menschen mit Behinderung vom<br />

allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Das Paradigma heute<br />

heißt „Inklusion“. So fordert es <strong>die</strong> UN-Konvention<br />

über <strong>die</strong> Rechte von Menschen mit Behinderung. „Die<br />

Vertragsstaaten“, heißt es in dem Übereinkommen<br />

der Vereinten Nationen, das vom deutschen Bundestag<br />

ratifiziert wurde, „anerkennen das gleiche Recht<br />

von Menschen mit Behinderung auf Arbeit.“ Roland<br />

Es braucht qualifizierte Assistenz, damit<br />

Menschen mit Behinderung am<br />

ersten Arbeitsmarkt ankommen und<br />

dort bestehen können.<br />

Klinger, Direktor des Kommunalverbandes <strong>für</strong> Jugend<br />

und Soziales, nennt als Zielgröße zehn Prozent der<br />

Werkstattbeschäftigten, <strong>die</strong> auf dem ersten Arbeitsmarkt<br />

unterkommen sollten.<br />

Qualifizierte Assistenz wird nötig sein, damit Menschen<br />

mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt ankommen<br />

und dort bestehen können. Inklusion wird<br />

vermutlich auch kein Sparmodell werden. Arbeitgeber<br />

in der Industrie, im Handwerk und in Verwaltungen<br />

werden auch einen angemessenen Ausgleich <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> Leistungsfähigkeit der Menschen mit Behinderung<br />

fordern, wenn sie denn Arbeitsplätze anbieten<br />

sollen.<br />

Künftig wird <strong>die</strong> Assistenz in vielen Fällen nicht mehr<br />

in unseren Räumen, in den Werkstätten <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Behinderung erbracht werden, sondern in<br />

normalen Betriebszusammenhängen. Erste Erfahrungen<br />

sammeln wir bereits damit.<br />

In Kooperation mit Industrie- und Handwerkspartnern<br />

werden Menschen mit Behinderung an Arbeitsplätzen<br />

in normalen Betrieben betreut. „Assistenz<br />

auf Rädern“ wird nötig sein, dann werden viele Menschen<br />

mit Behinderung auch am ersten Arbeitsmarkt<br />

ankommen.<br />

KOLUMNE<br />

Pfarrer Lothar<br />

Bauer, Vorstands-<br />

vorsitzender der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

9


10<br />

AKTUELL<br />

Jahresfest der <strong>BruderhausDiakonie</strong> mit Festakt „40 Jahre<br />

Werkstatt <strong>für</strong> Menschen mit Behinderung“ in Reutlingen:<br />

Rund 5000 Gäste kamen am letzten Junisonntag<br />

Im ersten Moment wirkt der riesige Saal fast wie eine<br />

Wattewolke mit all den weißen Wollrohlingen <strong>für</strong><br />

Babyjäckchen und Windeln, <strong>die</strong> sich kistenweise auf<br />

Tischen und Nähmaschinen stapeln. Das Surren der<br />

Maschinen holt Besucher schnell in <strong>die</strong> Realität: 60<br />

Hände säumen Stoffbahn <strong>für</strong> Stoffbahn. 30 Frauen<br />

nähen hoch konzentriert verkaufsfertige Babykleidung.<br />

Die Textile Fertigung der Werkstätten <strong>für</strong> behinderte<br />

Menschen (WfbM) der <strong>BruderhausDiakonie</strong> hat <strong>die</strong><br />

neuen Räume auf dem Reutlinger Gaisbühlgelände<br />

erst vor kurzem bezogen. „Es ist alles ziemlich groß<br />

hier und professionell“, stellt Gudrun Weber fest. Die<br />

resolute Frau hat eine leichte geistige Behinderung.<br />

Sie arbeitet seit knapp vier Jahrzehnten in der Werk-<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Menschen mit und ohne Handicap backten, kochten,<br />

malten und musizierten <strong>für</strong> <strong>die</strong> vielen Besucherinnen<br />

und Besucher<br />

Menschen mit und ohne Handicap feierten 40 Jahre Werkstatt<br />

Arbeitsplatz Werkstatt: Seit 37 Jahren arbeitet Gudrun Weber hier.<br />

Der Reutlinger Bundestagsabgeordnete Pascal Kober, FDP,<br />

nahm am Gottes<strong>die</strong>nst zum Jahresfest teil. Die Predigt hielt<br />

Pfarrer Hartmut Zweigle, Gustav-Werner-Biograf<br />

statt. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen,<br />

sie steht nicht gerne in der Öffentlichkeit. In der<br />

Textilen Fertigung säumt sie Wollwindeln und näht<br />

Etiketten an. „Ich helfe aber auch viel an anderen<br />

Stationen“, erzählt sie.<br />

Gudrun Weber kennt <strong>die</strong> Werkstätten wie kaum<br />

eine andere. Als junge Frau kam sie nach ihrem Sonderschulabschluss<br />

und einer beruflichen Zwischenstation<br />

in Bad Boll 1975 nach Reutlingen. Sie hatte<br />

eine Ausbildung zur hauswirtschaftlich-technischen<br />

Helferin absolviert, aber keine Anstellung. Gudrun<br />

Weber arbeitete zunächst in der Metallbearbeitung.<br />

„Das hat großen Spaß gemacht, vor allem das Fräsen,<br />

Bohren und Feilen“, erzählt sie noch heute mit leuchtenden<br />

Augen. Ein wenig verschmitzt fügt sie hinzu,<br />

Robert Kleinheitz, Vorsitzender Werkstattrat, Roland Klinger,<br />

Verbandsdirektor Kommunalverband <strong>für</strong> Jugend und Soziales,<br />

Gerhard Droste, Leiter Werkstätten, Martin Holder, Wafios AG,<br />

und Andreas Bauer, Sozialdezernent Landkreis Reutlingen, diskutierten<br />

über Arbeitsplätze <strong>für</strong> Menschen mit Behinderung


sozial • Ausgabe 3 | 2012 AKTUELL<br />

Im Gottes<strong>die</strong>nst zum Thema „Teilhabe an Arbeit“ erzählten<br />

Beschäftigte der Werkstätten von ihrer Tätigkeit in der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

im Metallbereich habe sie auch ihren heutigen Mann<br />

kennengelernt, mit dem sie seit Jahren in einer eigenen<br />

Wohnung wohnt. Irgendwann wurde <strong>die</strong> Arbeit<br />

mit dem Metall zu schwer, Gudrun Weber wechselte<br />

in den Bereich Elektronik, sie lötete Platinen. Schließlich<br />

landete sie beim Nähen.<br />

Besonders stolz ist sie auf ihr eigenes Zuhause. Hin<br />

und wieder erhält sie ambulante Unterstützung<br />

durch <strong>die</strong> <strong>BruderhausDiakonie</strong>. Das meiste bewältigt<br />

sie mit ihrem Mann zwar gut allein, manchmal sei<br />

aber auch Rat nötig. „Dann wende ich mich an <strong>die</strong><br />

Beratungsstelle, <strong>die</strong> helfen uns.“<br />

Gudrun Weber schiebt Bahn <strong>für</strong> Bahn unter der Nadel<br />

an der Maschine hindurch, dreht und wendet den<br />

Stoff. Wie viele Windeln sie am Tag säumt, kann sie<br />

Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der Bruderhaus-<br />

Diakonie, machte den Auftakt zum Festakt 40 Jahre Werkstatt<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Behinderung<br />

Zu Gast: Barbara Bosch, Oberbürgermeisterin von Reutlingen<br />

und Martin Bauch, Stiftungsratsvorsitzender der Bruderhaus-<br />

Diakonie<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Behinderung der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Im Bereich Metall hat sie ihren Ehemann kennengelernt<br />

nicht beziffern, einige Hundert werden es wohl sein.<br />

Sie fühlt sich wohl in der Werkstatt, auch wenn der<br />

Druck heute größer geworden ist, weil viele Aufträge<br />

fertigzustellen sind. „Früher war es gemütlicher“,<br />

sagt sie, „aber ich mag <strong>die</strong> Arbeit und möchte hier bis<br />

zur Rente bleiben.“ klm/ste Z<br />

Die Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

bieten Arbeitsplätze <strong>für</strong> rund 1400 Menschen.<br />

Die Beschäftigten können sich hier auch <strong>für</strong> den<br />

ersten Arbeitsmarkt qualifizieren, zum Beispiel<br />

im Bereich Handwerk oder Garten- und Landschaftsbau.<br />

Die Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> bieten eine Vielfalt<br />

an Arbeitsplätzen: Gudrun Weber näht, zuvor war sie in der<br />

Metallbearbeitung tätig<br />

11


12<br />

REGIONEN<br />

Jugendliche planen<br />

ihren Platz<br />

Göppingen<br />

Jugendliche bauen eine Stadtoase<br />

Jugendliche und Mitarbeitende der Stadt Göppingen kreieren einen<br />

Wohlfühlort auf Zeit – mit vollem Erfolg.<br />

Einfach chillen, skaten oder sich austauschen – Jugendliche<br />

haben viele Freizeitvorlieben. Mit etwas<br />

Engagement können sie <strong>die</strong>se Vorlieben auch mitten<br />

in der Stadt leben, zum Beispiel in Göppingen:<br />

Im März startete das Projekt Stadtoasen. Es soll Jugendlichen<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit<br />

bieten, sich aktiv am<br />

Stadtleben zu beteiligen.<br />

Schülerinnen und Schüler<br />

des Freihof-Gymnasiums<br />

durften ihrer Fantasie<br />

freien Lauf lassen<br />

und einen Platz <strong>für</strong> einen<br />

gewissen Zeitraum ganz<br />

nach ihrem Geschmack<br />

gestalten. In zahlreichen<br />

Treffen bauten sie Modelle, malten und handwerkten.<br />

Unterstützt wurden sie dabei von einem Architekten<br />

und der Göppinger Stadtplanung.<br />

Die Mitarbeitenden der Future-Jugendberufshilfe<br />

und Straßensozialarbeit Göppingen der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

waren dabei an der Umsetzung und<br />

Planung beteiligt: Schulsozialarbeiter Harald Maas<br />

stellte den Kontakt zu Schülern der Klassen acht bis<br />

zehn her, Sozialarbeiterin Katrin Stange koordinierte<br />

<strong>die</strong> Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern und<br />

Sponsoren. Es entstand auf dem Schlossplatz ein<br />

Wohlfühlort zum Entspannen. Da<strong>für</strong> hatten <strong>die</strong> Jugendlichen<br />

insgesamt 300 Paletten verbaut: Sie bildeten<br />

eine über 25 Meter lange hügelige Landschaft,<br />

<strong>die</strong> stellenweise bis zu einem<br />

Meter hoch war.<br />

In der Landschaft wuchsen<br />

Palmen und Blumen, waren<br />

Sandkästen und Wasserbecken<br />

– kurzum Strandatmosphäre<br />

auf einem bisher tristen Parkplatz<br />

mitten in der Stadt – mit<br />

einer Bar, Sitzgelegenheiten,<br />

einer Bühne und einer Dusche<br />

zum Abkühlen.<br />

Die Schülerinnen Lisa<br />

Noch im Rückblick freuen sich und Alexandra fühlten<br />

<strong>die</strong> Schülerinnen Lisa und sich ernst genommen<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Alexandra: „Es war toll. Unsere Vorschläge wurden<br />

ernst genommen und fast immer auch umgesetzt“.<br />

Das Freihof-Gymnasium unterstützte das Projekt, indem<br />

<strong>die</strong> teilnehmenden Schüler teilweise vom Unterricht<br />

befreit wurden und manche Elemente der Oase<br />

im Kunstunterricht gebaut wurden. Die Resonanz aus<br />

der Bevölkerung war spitze, <strong>die</strong> Eröffnung gelungen:<br />

Es spielte <strong>die</strong> Stuttgarter Band „Ironing Hills“, es gab<br />

Poetry Slam, einen Skate-Contest und Aufführungen<br />

der Zirkusgruppe des Freihof-Gymnasiums, zudem<br />

ein Open-Air-Kino.<br />

Bei der Eröffnung der Stadtoase präsentierte <strong>die</strong> Zirkusgruppe<br />

des Freihof-Gymnasiums Akrobatik<br />

„Viele Neugierige und Passanten haben sich richtig<br />

gefreut, dass der Platz so schön genutzt wird“,<br />

erinnert sich Sozialarbeiterin Katrin Stange. Nun<br />

soll getestet werden, ob <strong>die</strong> Oase auf Zeit sich auch<br />

im Herbst auf dem Schlossplatz rentiert. Dann soll<br />

es auch ein gastronomisches Angebot geben. Und<br />

wieder ist beim Bau der Oase das Engagement der<br />

Jugendlichen gefragt: Sie stellen Anträge, holen<br />

Genehmigungen ein, müssen das geplante Budget<br />

einhalten und mit zahlreichen Partnern zusammenarbeiten.<br />

Die Jugendlichen haben sogar schon Ideen <strong>für</strong> eine<br />

Winter-Stadtoase mit Schlittschuhbahn. Lisa und Alexandra<br />

sind sich sicher: „Bei einer weiteren Stadtoase<br />

sind wir auf jeden Fall wieder dabei.“ klm Z<br />

+<br />

www.goeppingen.de


sozial • Ausgabe 3 | 2012 REGIONEN<br />

Villingen-Schwenningen<br />

Die Kantine der Arbeitsagentur<br />

beschäftigt Menschen mit Handicap<br />

Seit einem Vierteljahr arbeitet Arnold Kreis als Küchenhelfer. Die Tätigkeit gibt<br />

dem psychisch kranken Mann <strong>die</strong> verloren gegangene Tagesstruktur und den<br />

Lebensmut zurück. Ein Beispiel, wie <strong>die</strong> <strong>BruderhausDiakonie</strong> Inklusion lebt.<br />

Schon <strong>die</strong> erste Begegnung mit dem 55-Jährigen<br />

macht klar, dass da jemand am richtigen Ort angekommen<br />

ist. „Einwandfrei“ findet es Küchenhelfer<br />

Arnold Kreis hier, „es könnte gar nicht besser gehen“.<br />

Andreas Friesen (links) und Arnold Kreis arbeiten<br />

in der Küche Hand in Hand<br />

Und er ist froh, <strong>die</strong> – wie er sagt – „eintönige Arbeit“<br />

in der Werkstatt <strong>für</strong> Menschen mit psychischer Erkrankung<br />

hinter sich zu haben. Noch eine ganze Zeit<br />

wird seine Rentenversicherung <strong>die</strong> jetzige Maßnahme<br />

unterstützen. So lange hat Arnold Kreis täglich<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit, sich auf dem neuen Arbeitsplatz auf<br />

dem ersten Arbeitsmarkt zu bewähren. Die Küche ist<br />

genau das Richtige <strong>für</strong> einen wie ihn, der viele Jahre<br />

Küchenhilfe in einem Top-Hotel war. „Je stressiger es<br />

ist, desto besser läuft es bei mir“, betont er.<br />

Die Kantine der Arbeitsagentur Villingen-<br />

Schwenningen mit neuem Pächter<br />

Die <strong>BruderhausDiakonie</strong> hat da<strong>für</strong> gesorgt, dass<br />

momentan zwei, in naher Zukunft vier Menschen<br />

mit Behinderungen in der Kantine einen Arbeitsplatz<br />

haben. Angeleitet werden sie von einem<br />

Koch und einer Angestellten der Agentur <strong>für</strong><br />

Arbeit. 50 bis 60 Mittagessen gehen pro Tag über<br />

<strong>die</strong> Theke, zudem gibt es ein Frühstücksbuffet.<br />

Nebenbei erzählt er davon, wie ihn allerdings <strong>die</strong> „katastrophalen<br />

Arbeitszeiten“, <strong>die</strong> Scheidung und noch<br />

weitere Schicksalsschläge langsam in <strong>die</strong> Alkohol-<br />

Abhängigkeit getrieben hatten.<br />

Durch das „viele Rumhängen“ verlor er jede Tagesstruktur.<br />

Mehr als 20 Jahre ging das so, bis er schließlich<br />

einer Langzeittherapie zustimmte. Wieder auf<br />

den Beinen, sucht er gezielt nach Halt: „Den brauche<br />

ich, damit ich nicht wieder versumpfe“. Halt gibt ihm<br />

sein neuer Job, abends kann er jetzt „zufrieden nach<br />

Hause gehen“, weil er „etwas Gutes, etwas Sinnvolles<br />

getan“ hat. Richtig Energie gibt ihm auch das „super<br />

Team“ mit einem Chef, der ihn häufiger mit einem<br />

„Dankeschön, das haben Sie heute gut gemacht“ in<br />

den Feierabend verabschiedet. Der Chef heißt Andreas<br />

Friesen, und er arbeitet zum ersten Mal so eng<br />

mit psychisch erkrankten Menschen zusammen. Er<br />

gibt ganz offen zu: „Das ist nicht immer einfach, man<br />

muss Nerven da<strong>für</strong> haben.“ Aber er kommt mit der<br />

Unterstützerrolle gut klar und findet, dass Arnold<br />

Kreis und auch sein Kollege Robert Koch „eine gute<br />

Arbeit machen.“<br />

In der Kantine füllen sich mittlerweile <strong>die</strong> ersten<br />

Tische. Es gibt Fleischkäse mit Kartoffelbrei und überbackene<br />

Auberginen mit Reis. Einer der ersten Gäste<br />

ist der Busfahrer Manfred Gaudert. Seit fünf Jahren<br />

isst er hier. Dass Menschen mit Handicap in der Kantine<br />

arbeiten, findet der Gast „schwer in Ordnung.<br />

Man muss <strong>die</strong>sen Leuten auch eine Chance geben –<br />

auf dem Arbeitsmarkt“, betont er. kep Z<br />

Einige Gäste<br />

kommen schon<br />

jahrelang<br />

13


14<br />

REGIONEN<br />

Münsingen<br />

Walter Efinger hatte vor gut sieben Jahren einen<br />

Schlaganfall, verlor zu einem großen Teil seine Beweglichkeit<br />

und Sprache. Von da an pflegte ihn seine<br />

Frau. Sie koordinierte <strong>die</strong> zahlreichen Therapien wie<br />

Gymnastik, Logopä<strong>die</strong>, Ergotherapie. „Es kamen jeden<br />

Tag andere Leute in unser Haus“, erzählt <strong>die</strong> heute<br />

76-Jährige. Und der Haushalt musste ja auch gemacht<br />

werden. Irmgard Efinger hörte von dem Projekt<br />

Zeitintensive Betreuung (ZiB) und meldete sich<br />

und ihren Mann an. Seitdem kommt Bernd Holler<br />

zweimal wöchentlich zu dem Ehepaar. Mittlerweile<br />

sind es mehr als vier Jahre.<br />

Holler betreut pflegebedürftige Menschen, er ist<br />

ehrenamtlich <strong>für</strong> ZiB tätig. Mit ihm kam nicht nur<br />

Entlastung <strong>für</strong> Irmgard Efinger, sondern auch viel<br />

Menschlichkeit ins Haus. Bernd Holler und Walter<br />

Efinger sind auf einer Wellenlänge, sie schäkern und<br />

lachen. Und sie singen sehr gerne. „Wir singen eigentlich<br />

immer und überall – ganz egal, was <strong>die</strong> Leute<br />

von uns denken“, erzählt Pflegekraft Bernd Holler.<br />

Der 64-Jährige war früher im Außen<strong>die</strong>nst tätig, saß<br />

viel im Auto. Aus gesundheitlichen Gründen konnte<br />

er <strong>die</strong>sen Beruf irgendwann nicht mehr ausüben,<br />

fühlte sich aber zu jung <strong>für</strong> <strong>die</strong> Erwerbslosenrente.<br />

Durch einen Freund erfuhr er von ZiB und besuchte<br />

<strong>die</strong> 20-stündige Schulung. „Das Projekt hat auch mir<br />

persönlich sehr viel gebracht“, sagt er heute. Er habe<br />

sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Ehrenamtliche betreuen Pflegebedürftige<br />

Von der Zeitintensiven Betreuung im oberen Ermstal und auf der Alb profitieren<br />

pflegende Angehörige ebenso wie <strong>die</strong> ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter.<br />

Bernd Holler (links) unterstützt mit immer neuen Ideen Irmgard<br />

Efinger bei der Betreuung ihres Mannes Walter Efinger<br />

Das von Bernd<br />

Holler gebaute<br />

Spiel trainiert<br />

Motorik,<br />

Gedächtnis<br />

und Sprache<br />

gelernt, geduldig zu sein und auch in schwierigen<br />

Situationen ruhig zu bleiben. Holler macht es Spaß,<br />

sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen:<br />

seine Klienten zu beschäftigen, zu unterhalten und<br />

zu fördern.<br />

Für Walter Efinger hat er beispielsweise ein Würfelspiel<br />

gebaut, das zugleich Gedächtnis und Sprache<br />

trainiert. „Mein Mann hat unglaubliche Fortschritte<br />

gemacht, seit Bernd zu uns kommt“, freut sich<br />

Irmgard Efinger.<br />

ZiB gibt es seit fünf Jahren, mit mittlerweile 65 ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.<br />

Das Projekt startete auf Initiative von Christine Krohmer<br />

von der Diakoniestation Oberes Ermstal-Alb und<br />

Lothar Schnizer, Geschäftsführer der Diakoniegesellschaft<br />

Münsinger Alb.<br />

Die Idee war, einerseits pflegende Angehörige zu<br />

entlasten, andererseits Menschen an eine Arbeit<br />

heranzuführen, <strong>die</strong> auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt<br />

sind. „Die Nachfrage von Seiten der Patienten<br />

und von potenziellen Einsatzkräften war von Anfang<br />

an hoch, und sie steigt weiter an“, erzählt Christa<br />

Herter-Dank, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mitarbeitenden schult und <strong>die</strong><br />

Einsätze koordiniert. Einige Einsatzkräfte haben nach<br />

der Tätigkeit bei ZiB eine Ausbildung begonnen und<br />

arbeiten nun fest in Pflegeheimen oder anderen<br />

Einrichtungen. Seit 2012 wird das Projekt kommunal<br />

gefördert. Die Verantwortlichen hoffen, dass ZiB zu<br />

einem flächendeckenden Angebot von Diakoniestationen<br />

wird. Für Bernd Holler lohnt sich der Einsatz<br />

allemal: „Wenn sich <strong>die</strong> Patienten freuen und mich<br />

anstrahlen, geht mir das Herz auf. Manchmal höre ich<br />

an der Tür schon ein Juhu.“ klm Z


sozial • Ausgabe 3 | 2012<br />

Wohnungen <strong>für</strong> Menschen mit psychischer Erkrankung<br />

Laichingen – Mehrere Einzel-Appartments und zwei<br />

Gemeinschaftswohnungen <strong>für</strong> Menschen mit psychischer<br />

Erkrankung entstehen derzeit in Laichingen.<br />

Auf einem Grundstück im Zentrum trafen sich Anfang<br />

Juli Vertreter der Stadt, des Alb-Donau-Kreises,<br />

der Kirche und der <strong>BruderhausDiakonie</strong> zum symbolischen<br />

ersten Spatenstich. „Auch in ländlichen<br />

Gebieten ist es unverzichtbar, dass Menschen mit<br />

Unterstützungsbedarf in ihrem vertrauten Wohnumfeld<br />

bleiben können und dass ihre Kontakte aufrecht<br />

erhalten bleiben“, begründete Rainer Single,<br />

Kaufmännischer Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

den Bau des neuen Wohnhauses. Menschen mit<br />

psychischer Erkrankung aus Laichingen und Umge-<br />

25 Jahre Sozialpsychiatrischer Dienst in Horb und Freudenstadt<br />

Horb/Freudenstadt – Seit 25 Jahren gibt es im Kreis<br />

Freudenstadt den Sozialpsychiatrischen Dienst. Dieses<br />

Jubiläum haben <strong>die</strong> Sozialpsychiatrischen <strong>Hilfe</strong>n<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong>, <strong>die</strong> psychosoziale Hilfsgemeinschaft<br />

„Die Treppe“ und der Landkreis Anfang<br />

Juli gemeinsam gefeiert. Die Sozialpsychiatrischen<br />

Dienste beraten und unterstützen psychisch Erkrankte<br />

und deren Angehörige außerhalb psychiatrischer<br />

Kliniken. Sie vermitteln <strong>Hilfe</strong>n und suchen Erkrankte<br />

auch zu Hause auf. So tragen sie dazu bei, dass Menschen,<br />

<strong>die</strong> psychisch erkranken, in ihrem gewohnten<br />

Lebensumfeld bleiben können.<br />

2004 übertrug der Landkreis Freudenstadt <strong>die</strong> Trägerschaft<br />

<strong>für</strong> den Sozialpsychiatrischen Dienst der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> und der psychosozialen Hilfsgemeinschaft<br />

„Die Treppe“.<br />

Neuffener Wohnhaus <strong>für</strong> Menschen mit Behinderung eröffnet<br />

Neuffen – Der Standort des neuen Wohnhauses der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> im 6000-Einwohner-Städtchen<br />

Neuffen erfüllt alle Voraussetzungen, damit <strong>die</strong><br />

Hausbewohner mitten in der Gemeinde leben können.<br />

Zwölf Menschen mit Behinderung sind dort<br />

im Juli eingezogen. Am 29. Juni wurde das Haus im<br />

Beisein des Esslinger Landrats Heinz Eininger und des<br />

Neuffener Bürgermeisters Matthias Bäcker feierlich<br />

eröffnet. Die Behindertenhilfe Neckar-Alb der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

wolle Unterstützungsleistungen<br />

im notwendigen Umfang dort anbieten, wo sie gebraucht<br />

werden, sagten <strong>die</strong> Vertreter der Bruderhaus-<br />

Diakonie bei der Eröffnung. Vorstandsvorsitzender<br />

Lothar Bauer und Stiftungsratsvorsitzender Martin<br />

N NACHRICHTEN<br />

bung sollen dort künftig<br />

mit <strong>Hilfe</strong> eines speziellen<br />

Unterstützungsangebots<br />

weitgehend selbstständig<br />

leben können. Der Neubau<br />

entspreche den Zielen des<br />

sogenannten Teilhabeplans,<br />

den der Alb-Donau-<br />

Kreis verabschiedet hat,<br />

Mit dem symbolischen ersten Spatenstich began-<br />

sagte Sozialdezernent<br />

nen <strong>die</strong> Arbeiten <strong>für</strong> das Laichinger Wohnprojekt<br />

Günther Weber. Der Teilhabeplan<br />

sieht vor, Menschen mit Behinderung oder<br />

psychischer Erkrankung möglichst wohnortnah unterzubringen.<br />

„Die Treppe“ ist <strong>für</strong> das<br />

westliche Kreisgebiet<br />

zuständig und hat ihren<br />

Sitz in Freudenstadt. Die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> ist<br />

<strong>für</strong> den östlichen Teil des<br />

Landkreises zuständig.<br />

Der Sozialpsychiatrische<br />

Dienst der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

ist dort Teil des Gemeindepsychiatrischen<br />

Zentrums Horb. Bei der Feier<br />

betonte der Freudenstädter Landrat Klaus-Michael<br />

Rückert den Wert der Arbeit, <strong>die</strong> von den Trägern<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> und „Die Treppe“ im Landkreis<br />

geleistet wird. Das seien zwei kompetente Partner,<br />

<strong>die</strong> miteinander am selben Ziel arbeiteten.<br />

In Feststimmung:<br />

Vertreter der<br />

Kommunen sowie<br />

der Träger <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

und<br />

„Die Treppe“<br />

Bauch zeigten sich zuversichtlich,<br />

dass <strong>die</strong> zwölf<br />

Bewohner des Hauses sich<br />

in der neuen Nachbarschaft<br />

schnell wohlfühlen<br />

werden. In Neuffen sollen<br />

bevorzugt Menschen<br />

wohnen, <strong>die</strong> aus dem Kreis<br />

Esslingen stammen, bisher<br />

aber in Einrichtungen<br />

Neuer Wohnraum: Landrat Heinz Eininger eröff-<br />

außerhalb des Landkreises<br />

nete das Haus <strong>für</strong> Menschen mit Behinderung<br />

gelebt haben. Das Neuffener<br />

Wohnhaus ist <strong>die</strong> erste Behindertenhilfe-Einrichtung<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> im Landkreis Esslingen.<br />

15


DIAKONISCHER IMPULS<br />

Karin Ott ist Diakoniepfarrerin<br />

des Evangelischen<br />

Kirchenkreises<br />

Stuttgart<br />

Karin Ott<br />

Menschsein heißt, dazu zu gehören<br />

Seit fast zwanzig Jahren lebt er auf der Straße. Tagsüber<br />

versucht er in der Nähe der S-Bahnstation, sich<br />

bei den Vorbeihastenden ein paar Cent zusammenzuschnorren<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> nächste Flasche Bier. Seine<br />

Nächte verbringt er im Männerwohnheim. Er ist ein<br />

scheuer Einzelgänger. Wenn er spricht, dann nur leise<br />

und in – <strong>für</strong> andere nur schwer verständlichen – Satzfetzen.<br />

Angst, Schuld, Versagen – das sind bei unseren<br />

Begegnungen seine immer wiederkehrenden, stammelnd<br />

vorgebrachten Worte. Hin und wieder geht<br />

zwischen seiner und meiner Welt ein kleines Fenster<br />

auf, das uns ein längeres Gespräch ermöglicht. In<br />

einem <strong>die</strong>ser Momente erzählte er mir von seinem<br />

früheren Leben. Angespornt von der Wissbegierde<br />

und dem Lerneifer seiner kleinen Tochter entschließt<br />

er sich mit Anfang zwanzig, an der Abendschule das<br />

Abitur nachzumachen. Anschließend nimmt er das<br />

Studium auf. Sein besonderes Interesse gilt der Hirnforschung.<br />

Dann, mitten in den Examensvorbereitungen,<br />

passiert es. „Totaler Nervenzusammenbruch,<br />

nichts ging mehr“, so beschreibt er es selbst. Und<br />

dann spricht er von Gehirnsynapsen und Transmitterstoffen<br />

und was da bei ihm wohl nicht funktioniert.<br />

Dass er <strong>für</strong> das, was mit ihm passiert war, keine ihm<br />

einleuchtende Erklärung findet, macht ihm bis heute<br />

zu schaffen. Alle Versuche, nicht zuletzt mit <strong>Hilfe</strong> von<br />

Psychopharmaka irgendwie das Examen doch noch<br />

zu schaffen, scheitern. „Mit den vielen Tabletten, das<br />

war nicht mehr ich.“ Er setzt sie ab.<br />

Einen Zugang zu einer <strong>Hilfe</strong>, <strong>die</strong><br />

seiner individuellen Situation<br />

gerecht wird, findet er nicht.<br />

Auf <strong>die</strong> Dauer sind weder er noch seine Familie den<br />

zerbrochenen Zukunftsperspektiven und der damit<br />

verbundenen existenziellen Bedrohung gewachsen.<br />

Eines Tages entscheidet er sich, zu gehen. Das war<br />

vor fast zwanzig Jahren. Auf meine Frage, was er sich<br />

am meisten wünscht, antwortet er spontan: „Ab und<br />

zu ein vernünftiges Gespräch. Ich bin doch auch ein<br />

Mensch.“<br />

Ich bin doch auch ein Mensch.<br />

Dieser Satz voller Sehnsucht hat mich berührt und<br />

zugleich auch beschämt. Kommunikation, Begegnung,<br />

Beziehung, das wünscht er sich. Menschsein<br />

heißt, dazu zu gehören. Die Zahl derer wird immer<br />

größer, <strong>die</strong> sich aufgrund von Armut, hervorgerufen<br />

durch <strong>die</strong> reziproken Wirkungen von Erwerbslosigkeit<br />

und zunehmend auch prekärer Beschäftigung<br />

– psychischen und physischen, Suchterkrankungen,<br />

Wohnungslosigkeit – in unserer am Leistungsprinzip<br />

ausgerichteten Gesellschaft als nicht (mehr)<br />

dazu gehörig, als überflüssig und ausgeschlossen<br />

erleben. Die Teilhabe an kulturellen, geselligen,<br />

sportlichen und Bildungsangeboten, der Zugang zu<br />

Gesundheits<strong>für</strong>sorge, angemessenem Wohnraum<br />

und Mobilität setzt <strong>die</strong> da<strong>für</strong> erforderlichen finanziellen<br />

Mittel voraus. Wer den allgemeinen Leistungsansprüchen<br />

nicht gerecht zu werden vermag und<br />

auf soziale Transferleistungen angewiesen ist, steht<br />

unter Teilhabeaspekten vor hohen Hürden.<br />

Armut und Ausgrenzung<br />

verletzen <strong>die</strong> Menschenwürde.<br />

„Es soll keine Armut unter euch geben“ (Dtn 15,4).<br />

Zu den biblischen Grundüberzeugungen gehört,<br />

dass eine Gesellschaft möglich ist, in der niemand<br />

in unfreiwilliger Armut leben muss. Armut entsteht,<br />

das benennt <strong>die</strong> biblische Überlieferung sehr<br />

klar, wo Menschen vorenthalten wird, was ihnen<br />

zusteht. Deshalb braucht es ein soziales Recht, das<br />

wirksam vor Armut schützt. Und es braucht <strong>die</strong> bewusste<br />

Annahme eines jeden Menschen mit ihren<br />

und seinen je individuell verschiedenen Fähigkeiten,<br />

Möglichkeiten und Grenzen. Das gilt in besonderer<br />

Weise <strong>für</strong> alle, <strong>die</strong> sich als unfreiwillig ausgeschlossen<br />

erleben. „Ich bin doch auch ein Mensch.“ Armut<br />

und Ausgrenzung verletzen <strong>die</strong> Menschenwürde.<br />

Und sie beschämen uns, <strong>die</strong> wir es zulassen.<br />

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