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TINNITUS in der Begutachtung - Deutsche Tinnitus Liga eV

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<strong>TINNITUS</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Begutachtung</strong><br />

von PD Dr. med Gerhard Goebel<br />

„Nichts ist so laut wie e<strong>in</strong> Geräusch, das Du nicht hören willst.“ - E<strong>in</strong>grenzung des<br />

T<strong>in</strong>nitusschweregrades<br />

Ausgehend vom e<strong>in</strong>em <strong>Begutachtung</strong>sbeispiel – e<strong>in</strong> 32-jähriger Kunstschmied beklagt nach<br />

e<strong>in</strong>em Tauchunfall e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>s quälenden T<strong>in</strong>nitus als Unfallfolge – beleuchtet PD Dr.<br />

Gerhard Goebel für Personen-Schadenregulierer <strong>der</strong> Abteilung Haftpflicht (Generalcologne)<br />

die T<strong>in</strong>nitus-Erkrankung. Beson<strong>der</strong>er Schwerpunkt stellt dabei die Anwendung <strong>der</strong> zwei von<br />

ihm maßgeblich entwickelten Test<strong>in</strong>strumentarien zur Erfassung und Quantifizierung <strong>der</strong><br />

T<strong>in</strong>nitusproblematik dar: Mit dem „Strukturierten T<strong>in</strong>nitus-Interview (STI)“ können weitgehend<br />

alle T<strong>in</strong>nitusursachen und <strong>der</strong>en Zusammenhänge mit damit assoziierter Störungen erfasst<br />

und die T<strong>in</strong>nitusbelastung mittels e<strong>in</strong>em evaluierten Verfahren graduiert werden. Das STI<br />

erlaubt so dem Gutachter zusammen mit dem T<strong>in</strong>nitus-Fragebogen (TF) e<strong>in</strong>e Fremd- und<br />

Selbstbewertung des T<strong>in</strong>nitusschweregrad. Ziel des Beitrages ist das für die<br />

Versicherungswirtschaft bedeutsame Verständnis und die Erfassung <strong>der</strong> mit T<strong>in</strong>nitus<br />

assoziierten psychischen Aspekte.<br />

PD Dr. med Gerhard Goebel<br />

Chefarzt Med.-Psychosomatische Kl<strong>in</strong>ik Roseneck<br />

im Verbund mit <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>ischen Fakultät <strong>der</strong> Ludwig-Maximilians-Universität München<br />

83209 Prien am Chiemsee<br />

E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Fall<br />

Der bisher gesunde und körperlich gut tra<strong>in</strong>ierte 32-jährige selbstständige Kunstschmied wird<br />

von <strong>der</strong> privaten Unfallversicherung zur <strong>Begutachtung</strong> vorgestellt. Nach Aktenlage kam es zu<br />

e<strong>in</strong>em schweren Badeunfall, als er sich an <strong>der</strong> Steilküste Korsikas beim freien Tauchen <strong>in</strong><br />

etwa 4 m Tiefe im Unrat e<strong>in</strong>er Bachmündung mit se<strong>in</strong>em Fuß an e<strong>in</strong>er Drahtschl<strong>in</strong>ge total<br />

verfangen habe. Nach e<strong>in</strong>em “Filmriss“ wurde er halb ohnmächtig von Begleitern am Ufer<br />

liegend aufgefunden. Er bemerkte über Tage e<strong>in</strong>e beidseitige Hörm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung sowie e<strong>in</strong><br />

beidseitiges Rauschen und e<strong>in</strong>en bleibenden hohen Pfeifton im Kopf. E<strong>in</strong>e ärztliche<br />

Erstbehandlung unterblieb.<br />

Der T<strong>in</strong>nitus wurde allerd<strong>in</strong>gs zunehmend quälen<strong>der</strong> und g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>er erheblichen<br />

Geräuschempf<strong>in</strong>dlichkeit und zunehmen<strong>der</strong> E<strong>in</strong>- und Durchschlafstörungen. Spätere HNO-<br />

Untersuchungen zu Hause ergaben e<strong>in</strong>e beidseits grenzwertige pancochleäre (über alle<br />

Frequenzen h<strong>in</strong>weg) komb<strong>in</strong>ierte Schwerhörigkeit mit chronischen dekompensierten T<strong>in</strong>nitus<br />

im Hochfrequenzbereich. Die Infusionsbehandlung mit HAES und Cortison blieb erfolglos.<br />

Er meidet die Arbeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Werkstatt, da er anschließend noch über Stunden e<strong>in</strong>e<br />

bedrohliche und anhaltende Intensitätssteigerung des T<strong>in</strong>nitus registriert. Die f<strong>in</strong>anzielle<br />

1


Situation ist fatal: Se<strong>in</strong>e erst vor Jahren e<strong>in</strong>gerichtete mo<strong>der</strong>ne Werkstatt ist noch<br />

hochverschuldet. Aufgrund se<strong>in</strong>es Arbeitsausfalls und e<strong>in</strong>er schweren depressiven<br />

Entwicklung kommt es zu e<strong>in</strong>er rückläufigen Auftragslage. Trotz genügen<strong>der</strong><br />

Krankentagegeldversicherung ist die weitere Absicherung se<strong>in</strong>er Zukunft bedroht: Die<br />

Berufsunfähigkeitsversicherung verweigert die Zahlung, die Unfallversicherung prüft,<br />

<strong>in</strong>wieweit die Unfallschäden psychischer Natur und damit nicht versichert s<strong>in</strong>d.<br />

In e<strong>in</strong>er späteren stationären Behandlung auf Veranlassung des Rentenversicherers wird<br />

psychopathologisch und testpsychologisch (SCL-90; BDI) e<strong>in</strong>e schwere Depression mit<br />

latenter Suizidalität, massiven Konzentrationsstörungen und sozialem Rückzug<br />

diagnostiziert. Die Psychotherapie erreicht auch mit Unterstützung von Antidepressiva nur<br />

e<strong>in</strong>e Teilbesserung, die Entlassung erfolgt mit AU und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schätzung e<strong>in</strong>er<br />

Teilerwerbsm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung.<br />

Gutachterlich wurde <strong>der</strong> Tauchunfall als Ursache <strong>der</strong> Beschwerden anerkannt (Be<strong>in</strong>ahe-<br />

Ertr<strong>in</strong>ken). Der T<strong>in</strong>nitus, <strong>der</strong> sich weit überschwellig erst mit 95 dB Breitbandrauschen<br />

verdecken lässt (m<strong>in</strong>imal mask<strong>in</strong>g level, MML), entspricht sowohl bei <strong>der</strong> strukturiert<br />

erhobenen Expertenbeurteilung (STI; s.u.) und im T<strong>in</strong>nitus-Fragebogen (TF; s.u.) e<strong>in</strong>em<br />

extremen Schweregrad. Die Geräuschempf<strong>in</strong>dlichkeit (Unbehaglichkeitsschwelle (UBS) für<br />

Töne und Rauschen bds. weniger als 90 dB) sowie die glaubhafte T<strong>in</strong>nitus-<br />

Lautheitszunahme durch Geräuschexposition wird auf die unfallbed<strong>in</strong>gte temporäre<br />

Sauerstoffunterversorgung des Gehirns zurückgeführt (primär zentraler T<strong>in</strong>nitus).<br />

Distorsionsprodukte (OAE) und SISI-Test (0%) sprechen gegen e<strong>in</strong>en relevanten<br />

Haarzellschaden (Innenohr). Die weiteren Befunde lassen ke<strong>in</strong>e relevante retrocochleären<br />

Störungen erkennen, jedoch e<strong>in</strong>e ausgeprägte bds. periphere Gleichgewichtsstörung. Als<br />

Folge des unfallbed<strong>in</strong>gten T<strong>in</strong>nitus besteht e<strong>in</strong>e ausgeprägte Depression, die im privaten<br />

Unfallversicherungsrecht nicht <strong>in</strong> die Bewertung e<strong>in</strong>geht (OLG Köln mit Urteil vom 12.1.2000<br />

[r+s 2001, 179 = Zeitschrift Versicherungsrecht 2000, 1489) Der unfallbed<strong>in</strong>gte<br />

schwerstgradige zentrale T<strong>in</strong>nitus wird gutachterlich als Unfallschaden mit 20% MdE<br />

e<strong>in</strong>geschätzt.<br />

T<strong>in</strong>nitus-Kategorisierung im ICD <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisation (WHO): H 93.1<br />

T<strong>in</strong>nitus als das Symptom verschiedenster Störungen des Hörsytems gilt streng genommen<br />

nicht als Krankheit son<strong>der</strong>n als e<strong>in</strong> Symptom, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Komplexität und se<strong>in</strong>en<br />

Auswirkungen <strong>in</strong> Teilaspekten mit dem chronischen Schmerzsyndrom vergleichbar ist. 1996<br />

wurde mit <strong>der</strong> 10. Revision des Klassifikationssystem Internationale Klassifikation <strong>der</strong><br />

Krankheiten (ICD) <strong>der</strong> WHO erstmals <strong>der</strong> Bedeutung des Symptoms <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verbreitung<br />

und dem anstehenden Forschungsbedarf Rechnung getragen: T<strong>in</strong>nitus f<strong>in</strong>det sich als<br />

Fachausdruck im Unterkapitel „Degenerative Erkrankungen des Innenohrs“ (H 93) und ist mit<br />

H 93. 1 kodierbar. Im Gegensatz zur Schmerzsymptomatik und damit zusammenhängenden<br />

2


psychischen Störungen (z.B. somatoforme Schmerzstörung) existiert T<strong>in</strong>nitus nicht <strong>in</strong> den<br />

Kategorien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disor<strong>der</strong>s (DSM) <strong>der</strong> American<br />

Psychiatric Association (APA 1994).<br />

T<strong>in</strong>nituserfassung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Begutachtung</strong><br />

Die Beurteilung von T<strong>in</strong>nitus stellt e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Problem bei <strong>der</strong> <strong>Begutachtung</strong> dar.<br />

Grundsätzlich gilt, dass T<strong>in</strong>nitus bis auf wenigen Ausnahmen (objektiver T<strong>in</strong>nitus als<br />

Körpergeräusch) nicht direkt nachweisbar ist. Als psychophysisches Phänomen entzieht er<br />

sich damit e<strong>in</strong>er ausschließlich naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise und ist wie<br />

Schmerz nur begrenzt messbar.<br />

Zur Erfassung des multidimensionalen Charakters <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitusbelastung (Annoyance) s<strong>in</strong>d<br />

neben dem freien Gespräch beson<strong>der</strong>s Instrumente hilfreich, die durch e<strong>in</strong> breites Spektrum<br />

von Fragen den bio-psycho-sozialen Aspekt des T<strong>in</strong>nitus erfassen. Da diese Bereiche e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle bei <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitusqual ausmachen, sollten <strong>der</strong>art ausgerichtete Instrumentarien<br />

bei <strong>der</strong> <strong>Begutachtung</strong> nicht fehlen. Sie ermöglichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weit abgesicherten Bereich die<br />

komplette Erfassung des T<strong>in</strong>nitusschweregrades.<br />

Quantifizierung des T<strong>in</strong>nitus-Schweregrad mittels des STI<br />

T<strong>in</strong>nitus bedeutet für den Betroffenen e<strong>in</strong>en "Verlust <strong>der</strong> Stille“ und damit e<strong>in</strong>e Störung <strong>der</strong><br />

Aufmerksamkeit mit allen ihren Folgen. Da we<strong>der</strong> die T<strong>in</strong>nitusursache <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />

e<strong>in</strong>er Innenohrerkrankung, noch die Frequenz <strong>der</strong> Ohrgeräusche, noch die T<strong>in</strong>nitus<strong>in</strong>tensität<br />

mit dem Belästigungsgrad korrelieren, ist das Ausmaß <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitusbelastung alle<strong>in</strong> den<br />

Angaben des zu Begutachtenden zu entnehmen. Für den Gutachter ergibt sich damit die<br />

schwierige Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie viele Anteile <strong>der</strong> geklagten psychischen<br />

Störung auf den T<strong>in</strong>nitus zurückzuführen s<strong>in</strong>d und wie viele Anteile den übrigen<br />

psychosozialen Belastungsfaktoren, e<strong>in</strong>schließlich Persönlichkeitsanteilen, zugeordnet<br />

werden sollen (Rosanowsky 2003). Im dritten Teil des STI werden hierzu die wichtigsten<br />

Bereiche systematisch erhoben und quantitativ erfassbar gemacht:<br />

1. Hörbee<strong>in</strong>trächtigung durch den T<strong>in</strong>nitus<br />

T<strong>in</strong>nitus stellt nicht die Ursache e<strong>in</strong>er Hörm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung dar, kann jedoch die Qualität und<br />

Klarheit des Hörvermögens z.T. erheblich bee<strong>in</strong>trächtigen. Der Gutachter muss <strong>in</strong> Erfahrung<br />

br<strong>in</strong>gen, ob und wie schwer Unterhaltungen mit an<strong>der</strong>en Menschen gestört s<strong>in</strong>d und ob die<br />

Lokalisation externer Geräusche schwer fällt.<br />

2. Penetranz des T<strong>in</strong>nitus<br />

Die ununterbrochene Präsenz und Aufdr<strong>in</strong>glichkeit des Ohrgeräusch stellt für viele Patienten<br />

die Hauptquelle ihrer subjektiven T<strong>in</strong>nitusbelastung dar. Beson<strong>der</strong>s häufig klagen Betroffene<br />

3


darüber, dass das Ohrgeräusch sie von Tätigkeiten ablenke und ihre Konzentration<br />

bee<strong>in</strong>trächtige, wobei die Konzentrationsfähigkeit eng an das Angstniveau o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />

depressive Entwicklung gekoppelt se<strong>in</strong> kann. Es gilt zu eruieren, ob <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus den ganzen<br />

Tag über bewusst ist und ob <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus auch bei <strong>in</strong>teressanten Tätigkeiten nicht ignorierbar<br />

ist.<br />

3. Entspannungs- und Schlafstörungen<br />

T<strong>in</strong>nitus geht bei vielen Betroffenen mit e<strong>in</strong>em erhöhten Anspannungsgefühl und vegetativer<br />

Übererregbarkeit (arousal) e<strong>in</strong>her, was sich beson<strong>der</strong>s deutlich <strong>in</strong> Schlafstörungen äußern<br />

kann (verzögertes E<strong>in</strong>schlafen, nächtliches Aufwachen, frühes Erwachen, morgendliche<br />

Müdigkeit und chronische Müdigkeit am Tage). Die Korrelation zwischen dem Grad <strong>der</strong><br />

Schlafstörung und Depressivität ist hoch.<br />

4. Emotionale und dysfunktionale Belastungen<br />

Die psychischen Reaktionen auf T<strong>in</strong>nitus können sehr unterschiedlich und vielfältig se<strong>in</strong>. Der<br />

Schweregrad <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitusbelastung korreliert positiv mit Depressivität und Ängstlichkeit. Es<br />

ist also zu eruieren, ob sich <strong>der</strong> Patient aufgrund des T<strong>in</strong>nitus oft nie<strong>der</strong>geschlagen o<strong>der</strong><br />

deprimiert fühlt, sich durch den T<strong>in</strong>nitus häufig unter Druck o<strong>der</strong> "gestresst" fühlt bzw. <strong>in</strong>folge<br />

<strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus e<strong>in</strong>e erhöhte Reizbarkeit besteht.<br />

5. Sozialmediz<strong>in</strong>ische Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

Als Auswirkungen von T<strong>in</strong>nitus s<strong>in</strong>d mehrfach negative Folgen für das Ausmaß und die<br />

Qualität <strong>in</strong>terpersonellen Kontakte und sozialer Aktivitäten bekannt. Der T<strong>in</strong>nitusschweregrad<br />

korreliert hoch mit Bee<strong>in</strong>trächtigungen und Handicaps im Alltagsleben bis h<strong>in</strong> zu massiven<br />

Belastungen familiärer Beziehungen. Nicht selten gehen die psychischen Belastungen so<br />

weit, dass die berufliche Leistungsfähigkeit erheblich bee<strong>in</strong>trächtigt ist und damit<br />

Konsequenzen wie Versetzung o<strong>der</strong> Arbeitsplatzverlust befürchtet o<strong>der</strong> h<strong>in</strong>genommen<br />

werden müssen. Es ist zu eruieren, <strong>in</strong>wieweit <strong>in</strong> Zusammenhang mit dem T<strong>in</strong>nitus e<strong>in</strong><br />

Rentenantrag bzw. e<strong>in</strong>e bereits erfolgte Berentung (EU- o<strong>der</strong> BU- Rente) o<strong>der</strong><br />

Schmerzensgeldansprüche vorliegt.<br />

Das Strukturierte T<strong>in</strong>nitus- Interview (STI)<br />

Um <strong>in</strong> dem teils unübersichtlichen und differenzierten Krankheitsbild die Orientierung zu<br />

behalten, wurde zur Erfassung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>grenzbaren Anzahl von kl<strong>in</strong>ischen Merkmalen des<br />

T<strong>in</strong>nitus und se<strong>in</strong>er neurootologischen und psychischen Komorbidität e<strong>in</strong> „Strukturiertes<br />

T<strong>in</strong>nitus- Interview“ entwickelt und evaluiert, <strong>in</strong> dem als wichtige Eckdaten die T<strong>in</strong>nitus-<br />

Anamnese, t<strong>in</strong>nitusassoziierte Aspekte wie Schw<strong>in</strong>del, Hörm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und Hyperakusis, die<br />

ätiologische Zuordnungen sowie die wichtigsten Aspekte des T<strong>in</strong>nituserlebens und <strong>der</strong><br />

Krankheitsbewältigung erfasst werden (Goebel & Hiller 2001)<br />

In <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus-Anamnese werden kl<strong>in</strong>ische Charakteristika des T<strong>in</strong>nitus wie Lokalisation,<br />

Geräuschqualität, Frequenzbereich, Lautstärke sowie bisheriger Verlauf beurteilt. Es können<br />

4


audiometrische Ergebnisse <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus-Bestimmung sowie e<strong>in</strong>er eventuell vorliegenden<br />

Hörm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung und verschiedene Schw<strong>in</strong>delformen und Hyperakusis e<strong>in</strong>getragen und somit<br />

dokumentiert werden. Im ätiologischen Teil wird durch e<strong>in</strong>e systematische Checkliste darauf<br />

h<strong>in</strong>gewirkt, die Vielfalt <strong>der</strong> somatischen Ursachen des T<strong>in</strong>nitus <strong>in</strong> die diagnostischen<br />

Überlegungen mit e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

Goebel,G. & Hiller,W. (2001): Verhaltensmediz<strong>in</strong>ische T<strong>in</strong>nitus-Diagnostik - E<strong>in</strong>e praktische Anleitung<br />

(Manual) zur Erfassung mediz<strong>in</strong>ischer und psychologischer Merkmale mittels des Strukturierten<br />

T<strong>in</strong>nitus-Interview (STI). Gött<strong>in</strong>gen Testzentrale, D-37079 Gött<strong>in</strong>gen Robert-Bosch-Str. 25;<br />

www.testzentrale@hogrefe.de<br />

Quantifizierung des T<strong>in</strong>nitus-Schweregrades mittels des T<strong>in</strong>nitus-Fragebogen (TF 1 )<br />

Im deutschsprachigen Raum gilt <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus-Fragebogen (TF) unter den bisher publizierten<br />

Fragebögen als das am besten evaluierte und breitflächig verbreitetste Instrument (Hiller & Goebel<br />

1998). 40 Items (Fragen) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> 5 faktorenanalytisch entwickelten Skalen gebündelt (Psychische<br />

Belastung, T<strong>in</strong>nitus-Penetranz, Hörprobleme, Schlafprobleme, Somatische Belastung) und können <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em TF- Gesamtscore ausgedrückt werden.<br />

Der damit ermittelte T<strong>in</strong>nitus-Schweregrad (TF- Gesamtscore) korreliert ger<strong>in</strong>g bis mittel mit den<br />

etablierten psychischen Instrumentarien wie Symptom- Check- List (SCL 90- R), Depressionsskala<br />

(ADS), Stait-Trait-Angst<strong>in</strong>ventar (STAI) etc. und hoch mit den Visuelle Analogskalen (VAS)<br />

T<strong>in</strong>nituslautheit und T<strong>in</strong>nitus-Unannehmlichkeit. Nach neusten Untersuchungen <strong>der</strong> Universität<br />

Konstanz (Prof. Elbert) korreliert <strong>der</strong> TF-Gesamtscore auch mit dem Ausmaß plastischer<br />

Verän<strong>der</strong>ungen am Hörkortex von T<strong>in</strong>nitus-Betroffenen (0.7). Erwartungsgemäß stimmt <strong>der</strong> TF mit<br />

psychoakustisch ermittelten T<strong>in</strong>nitus-Variablen nur ger<strong>in</strong>ggradig übere<strong>in</strong>.<br />

T<strong>in</strong>nitusschweregrad<br />

Da STI und <strong>der</strong> TF mittels Summenscores e<strong>in</strong>e Schweregradunterteilung erlauben, können<br />

sowohl die durch den Gutachter ermittelten Ergebnisse im Interview (STI) als auch die<br />

mittels Selbste<strong>in</strong>schätzung durch den TF erhobenen Schweregrade gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abgewogen werden. Flankiert durch weitere psychometrischen Verfahren gelten die so<br />

erhobenen Belastungsgrade <strong>in</strong> ihrer Zusammenschau bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong><br />

Gutachtensfragestellung als richtungsweisende Befunde.<br />

Tabelle Quartile für Strukturiertes T<strong>in</strong>nitus-Interview STI und TF-Gesamtscore<br />

T<strong>in</strong>nitus-Schweregrad STI-Score TF-Gesamtscore<br />

leichtgradig 0 bis 4 0 bis 30<br />

mittelgradig 5 bis 12 31 bis 46<br />

5


Fazit<br />

schwergradig 13 bis 20 47 bis 59<br />

schwerstgradig 21 bis 40 60 bis 84<br />

Ergeben sich Anhalte für e<strong>in</strong>e relevante psychische Störung bei T<strong>in</strong>nitusbetroffenen, die<br />

dieser mit <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitusauswirkung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gt o<strong>der</strong> es geht e<strong>in</strong>e hohe Belastung<br />

aus Strukturierten T<strong>in</strong>nitus-Interview (STI) bzw. dem T<strong>in</strong>nitus-Fragebogen (TF) hervor, sollte<br />

<strong>der</strong> Gutachter (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> HNO-Arzt) e<strong>in</strong>en entsprechenden H<strong>in</strong>weis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Beurteilung aussprechen und e<strong>in</strong> psychosomatisches/ psychiatrisches/ nervenärztliches<br />

Zusatzgutachten h<strong>in</strong>zuziehen/anfor<strong>der</strong>n. Der Zusatzgutachter, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Materie vertraut se<strong>in</strong><br />

sollte, wird den Ermessensspielraum möglichst vorsichtig ausloten, welche psychischen<br />

Störungen vorliegen und <strong>der</strong>en Ausmaß mittels Untersuchung und entsprechen<strong>der</strong><br />

Mess<strong>in</strong>strumente erfassen. Stellt sich die Zusammenhangsfrage z. B. mit e<strong>in</strong>er<br />

Berufskrankheit, e<strong>in</strong>em Haftpflichtschaden o<strong>der</strong> Unfall, ist unter Berücksichtigung <strong>der</strong><br />

ausführlich erhobenen biographischen, familiären, sozialen und mediz<strong>in</strong>ischen Anamnese zu<br />

beurteilen, <strong>in</strong>wieweit die gefundenen psychischen Störungen auf den T<strong>in</strong>nitus<br />

zurückzuführen s<strong>in</strong>d bzw. wie hoch <strong>der</strong> wahrsche<strong>in</strong>liche Anteil davon ist o<strong>der</strong> ob die<br />

vorgefundenen psychischen Störung an<strong>der</strong>er Natur s<strong>in</strong>d und <strong>der</strong> T<strong>in</strong>nitus eher im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er bereits vorher aufgefallenen seelischen Erkrankung bestanden hat, die vorliegende<br />

psychischen Störungen haben sich durch den T<strong>in</strong>nitus eigentlich kaum verän<strong>der</strong>t.<br />

Bei <strong>der</strong> <strong>Begutachtung</strong> sollte nicht versäumt werden, den Versicherungsträger und den<br />

Betroffenen auf die Effizienz e<strong>in</strong>er t<strong>in</strong>nitusspezifischen, psychosomatischen stationären<br />

Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) aufmerksam zu machen und, wenn <strong>der</strong> Betroffene<br />

hierzu Bereitschaft erkennen lässt, gegebenenfalls e<strong>in</strong>e solche Therapie zu empfehlen. E<strong>in</strong>e<br />

„Kl<strong>in</strong>ik-Liste“ von dafür <strong>in</strong>fragekommenden E<strong>in</strong>richtungen ist bei <strong>der</strong><br />

<strong>Deutsche</strong>n T<strong>in</strong>nitus <strong>Liga</strong> e.V. gegen e<strong>in</strong>e Gebühr (für Mitglie<strong>der</strong> kostenfrei) zu beziehen.<br />

Literatur<br />

(Rosanowsy 2003)<br />

<strong>Begutachtung</strong> des chronischen T<strong>in</strong>nitus<br />

Psaktuell 01/2003<br />

Goebel, G. & Hiller,W. (2001)<br />

Qualitätsmanagement <strong>in</strong> <strong>der</strong> Therapie des chronischen T<strong>in</strong>nitus<br />

Otorh<strong>in</strong>ologol Nova 10: 260- 268<br />

Goebel,G. (Hrsg., 2001)<br />

Ohrgeräusche. Psychosomatische Aspekte des chronischen T<strong>in</strong>nitus<br />

Fachbuch Urban & Vogel, München (ISBN 3-86094-127-7)<br />

6


Goebel, G. (2003)<br />

T<strong>in</strong>nitus und Hyperakusis.<br />

Fachbuch, Reihe: Fortschritte <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>, Band 20; Hogrefe & Huber Verlagsgruppe,<br />

Gött<strong>in</strong>gen (ISBN 3-8017-1117-X)<br />

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