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AG 7 /Erpel 48. Gedenkstättenseminar 27.-29. September 2007<br />

AG 7<br />

Die Gründungsphase der Konzentrationslager in Häftlingsberichten<br />

Häftlingsberichte <strong>als</strong> Selbstzeugnisse<br />

Simone Erpel<br />

Die Berichte ehemaliger Gefangener der nation<strong>als</strong>ozialistischen Konzentrationslager<br />

oder genau: Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager sind<br />

Selbstzeugnisse. Unter Selbstzeugnissen werden allgemein autobiographische Texte<br />

wie Tagebücher, Berichte zu herausragenden Ereignissen oder Autobiographien<br />

gemeint, aber auch Zeugnisse, die in Dialogform entstanden sind, wie Interviews<br />

oder schriftliche Zeugenaussagen. Die Selbstzeugnisse von KZ-Überlebenden<br />

unterscheiden sich trotz dieser formalen Übereinstimmung tief greifend von<br />

Selbstzeugnissen zu anderen historischen Themen. Sie haben eine existenzielle<br />

Bedeutung durch die Nähe zum Tod, in der sich die Opfer befanden. 1 Schon die<br />

Bezeichnung Über-lebende/Über-lebender weist im konkret wörtlichen Sinn, wie der<br />

Philosoph Giorgio Agamben hervorhebt, auf die To<strong>des</strong>nähe hin. 2<br />

Wenn man nun versucht den Stellenwert von Selbstzeugnissen für die<br />

Konzentrationslager-Forschung genauer zu bestimmen, treten beträchtlich große<br />

Forschungslücken zu Tage. Schriftlich überlieferte Erinnerungen dienen häufig nur<br />

<strong>als</strong> Illustration von Thesen oder <strong>als</strong> Ergänzung zu den Aktenüberlieferungen oder sie<br />

werden <strong>als</strong> individuelle Äußerungen zitiert. Diese jedoch gelten, schon weil sie<br />

individuell sind, in ihrem Faktizitätsgehalt <strong>als</strong> problematisch. 3 Auch gegenwärtig ist<br />

dort noch die – nicht untypische – Auffassung anzutreffen, dass „im Interesse der<br />

1 Vgl. Thomas Rahe, Die Bedeutung der Zeitzeugenberichte für die historische Forschung zur Geschichte der<br />

konzentrations- und Vernichtungslager, in: Beiträge zur Geschichte der nation<strong>als</strong>ozialistischen Verfolgung in<br />

Norddeutschland 2 (1995) Kriegsende und Befreiung, (S. 84-98) S. 87.<br />

2 Vgl. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003, S. 14f.<br />

3 Grit Philipp, Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945, Berlin 1999, S.<br />

15.<br />

1


AG 7 /Erpel 48. Gedenkstättenseminar 27.-29. September 2007<br />

Rekonstruktion historischer Realität Erlebtes und Erinnertes möglichst scharf zu<br />

trennen“ 4 sei.<br />

Es scheint an Instrumentarium zu fehlen, um den Dokumentationscharakter der<br />

Selbstzeugnisse überlebender Häftlinge differenziert betrachten zu können. Ein Blick<br />

in die Nachbardisziplin Literaturwissenschaft erweist sich in dieser Hinsicht <strong>als</strong><br />

hilfreich. Denn es sind vor allem literatur- und sozialwissenschaftliche Studien, die<br />

Holocaust-Zeugnisse selbst zum Forschungsgegenstand gemacht haben. In den dort<br />

vertretenden Ansätzen wird betont, dass die geschilderten Erlebnisse nicht von der<br />

Art ihrer Darstellung zu trennen seien, da sich das was der Ereignissen aus dem wie<br />

ihrer Darstellung erkennen lasse, <strong>als</strong>o das Erlebte aus dem Erinnerten. 5 So kritisiert<br />

etwa die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigelt, dass Selbstzeugnisse von<br />

Überlebenden auf juristische Beweismittel bzw. auf historiographisch überprüfbare<br />

Berichte reduziert würden. Dadurch werde das Eigentliche, nämlich die (Toten)klage<br />

in Zeugnissen von KZ-Überlebender ignoriert. 6 Gerade das sind menschliche<br />

Erfahrungen, die zur unüberbrückbaren Distanz zwischen denen führte, die Zeugnis<br />

ablegen und den Adressaten, weil es sich um das Bezeugen einer dem Gegenüber<br />

oder dem Lesenden unzugänglichen Erfahrung handelt. Zugleich ist Kommunikation<br />

die Bedingung, ohne die ein Erinnern nicht möglich ist. 7 Beide - Überlebende und<br />

Zeugen <strong>des</strong> Zeugnisses - sind konstitutiv an diesem Vorgang beteiligt. 8 Deshalb<br />

halte ich den Zeugnis-Begriff auch für zutreffender <strong>als</strong> den Begriff Bericht, der eine<br />

sachliche Faktizität impliziert. Denn es geht um Zeugenschaft. Sie haben sicher in<br />

Ihrer Berufspraxis die Erfahrung gemacht, dass ehemalige KZ-Häftlinge es sogar <strong>als</strong><br />

ihre Pflicht ansehen, über das, was sie in den Lagern gesehen haben und was ihnen<br />

selbst widerfahren ist, zu sprechen – gegenüber der Nachwelt Zeugnis ablegen.<br />

4 Jürgen Matthäus, Quellen, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort <strong>des</strong> <strong>Terrors</strong>, Geschichte der<br />

nation<strong>als</strong>ozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, München 2005, (S. 363-376) S. 368.<br />

5 Vgl. James E. Young, Beschreiben <strong>des</strong> Holocaust, Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt a. M. 1997,<br />

S. 13; Mona Körte, Zeugnisliteratur, Autobiographische Berichte aus den Konzentrationslagern, in: Benz/Distel<br />

(Hg.), Ort <strong>des</strong> <strong>Terrors</strong>, S. 329-344.<br />

6 Vgl. Sigrid Weigelt, Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage, Die Geste <strong>des</strong> Bezeugens in der Differenz von<br />

„identity politics“, juristischen und historischen Diskurs, in: Zeugnis und Zeugenschaft, Jahrbuch 1999 <strong>des</strong> Einstein<br />

Forums, Berlin 2000, (S. 111-135), S. 131.<br />

7 Vgl. Geoffry H. Hartmann, „Die Wunde lesen“, Holocaust-Zeugenschaft, Kunst und Trauma, in: Zeugnis und<br />

Zeugenschaft, (S. 83 – 110), S. 86.<br />

8 Vgl. Constanze Jaiser, „Ich flüchte heimlich, in tiefer Nacht, in die Welt mit dem Wind“, Zum Umgang mit<br />

poetischen Zeugnissen aus Konzentrationslagern, in: Pertra Fank/Stefan Hördler (Hg.), Der Nation<strong>als</strong>ozialismus im<br />

Spiegel <strong>des</strong> öffentlichen Gedächtnisses, Formen der Aufarbeitung und <strong>des</strong> Gedenkens, Berlin 2005, (S. 167-180),<br />

S.179.<br />

2


AG 7 /Erpel 48. Gedenkstättenseminar 27.-29. September 2007<br />

Der Soziologe Michael Pollak macht in seiner Studie „Die Grenze <strong>des</strong> Sagbaren“ auf<br />

eine enge Verbundenheit von Erzähl- und Erinnerungsstruktur aufmerksam, die ein<br />

Indikator von Identität sei. 9 Anhand von lebensgeschichtlichen Interviews mit<br />

jüdischen Frauen und mittels eines systematischen Vergleichs von Zeugnisliteratur<br />

untersucht er die retrospektiven Verarbeitungsweisen von Holocaust-Überlebenden.<br />

In seiner methodenkritischen Reflexion über das Erinnerungsvermögen zeigt Pollak<br />

auf, dass eine Funktion gemeinschaftlicher Erinnerung die Sicherung von Identität ist,<br />

sowohl für einzelne wie für Gruppen, denn nicht nur die Erinnerungen stabilisieren<br />

die Gruppen, sondern auch umgekehrt stabilisieren Gruppen die Erinnerungen ihrer<br />

Mitglieder.<br />

Pollaks Studie ist bislang auch die einzig mir bekannte soziologische Untersuchung,<br />

in der verwähnt wird, dass bereits im Sommer 1945 die jüdische Hilfsorganisation<br />

Joint Distribution Committee in Budapest Berichte von 14.000 ungarisch-jüdischen<br />

Überlebenden aufzeichnete. 10 Zwischen 1949 und 1951 werteten Soziologen und<br />

Sozialpsychologen der New School for Social Research und der Columbia<br />

Universität die Einzel- und Gruppenberichte von 728 dieser ungarischen<br />

Überlebenden aus. Ein Interesse an ihren Ergebnissen bestand offensichtlich erst 40<br />

Jahre später, denn die Untersuchung wurde 1990 – <strong>als</strong>o nach Pollaks Monographie<br />

– publiziert. 11<br />

Ingesamt erhärtet sich der Eindruck, dass sich die Geschichtswissenschaft bis heute<br />

schwer tut, Zeugnisse der Überlebenden für die Forschung zur Geschichte der<br />

Konzentrationslager zu nutzen.<br />

9 Vgl. Michael Pollak, Die Grenzen <strong>des</strong> Sagbaren, Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden <strong>als</strong> Augenzeugenberichte<br />

und <strong>als</strong> Identitätsarbeit, Frankfurt a. M./New York 1988, S. 117.<br />

10 Vgl. ebenda, S. 103-106.<br />

11 Vgl. Jakob Goldstein/Irving F. Lukoff/ Herbert A Strauss, Individuelles und kollektives Verhalten in Nazi-<br />

Konzentrationslagern, eine soziologische und psychologische Studie zu Berichten ungarisch-jüdischer Überlebender,<br />

Frankfurt a. M./New York 1990.<br />

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