Daniel Reimann 1 «La grande etica della latinità» - Gaddas Cicero ...
Daniel Reimann 1 «La grande etica della latinità» - Gaddas Cicero ...
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<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
DANIEL REIMANN<br />
<strong>«La</strong> <strong>grande</strong> <strong>etica</strong> <strong>della</strong> <strong>latinità»</strong> -<br />
<strong>Gaddas</strong> <strong>Cicero</strong>-Parodie in San Giorgio in casa<br />
Brocchi<br />
Gestalt und Funktion einer Parodie auf<br />
<strong>Cicero</strong> im 20. Jahrhundert<br />
1. Vorüberlegung<br />
In einem Brief an seinen Freund Bonaventura Tecchi schreibt<br />
Carlo Emilio Gadda über den Entwurf zu der in den Jahren 1928/29<br />
situierten, 1931 in Solaria erschienenen Erzählung San Giorgio in<br />
casa Brocchi, es handele sich um «una satira dell´ossessione<br />
conservatrice e moralistica di una famiglia signorile milanese». In<br />
seiner kurzen Inhaltsangabe kommt er relativ ausführlich darauf zu<br />
sprechen, daß <strong>Cicero</strong> in dieser Erzählung eine nicht unbedeutende<br />
Rolle spielen wird: «Nella seconda parte è tirato in scena un<br />
benpensante dell´antichità classica, anzi il re dei benpensanti, e cioè<br />
Marco Tullio <strong>Cicero</strong>ne, nonché il «De Officiis»». 1 So die <strong>Cicero</strong>-Parodie<br />
in der kritischen Literatur eigener Bemerkungen gewürdigt wird,<br />
beschränken sich diese meist darauf, jene Ankündigung<br />
1 Gadda, C.E.: A un amico fraterno. Lettere a Bonaventura Tecchi. Carlino, M. (Hrsg.).<br />
Mailand: Garzanti 1984, S. 92 (Brief vom 7.5.1931).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
wiederzugeben oder zu paraphrasieren 2 ; sie übergehen, daß die<br />
<strong>Cicero</strong>-Parodie angesichts der zeitlichen Situierung der<br />
vordergründig nur gegen das Mailänder Großbürgertum<br />
gerichteten Satire in all ihren Spielarten implizit auch eine Kritik<br />
des faschistischen Staats- und Gesellschaftssystems enthält. Diese<br />
Lesart aufzuzeigen, ist ein Ziel des vorliegenden Beitrages. 3<br />
Dazu ist in einem ersten Schritt der<br />
unmittelbar vorliegende Text im Hinblick auf<br />
seine Bezugnahme auf antikes Gedanken- und<br />
2<br />
Vgl. z.B. Anmerkungen zur Ausgabe Gadda, C.E.: Romanzi e racconti II. Pinotti, G. et<br />
al. (Hrsg.). Mailand: Garzanti 2 1994, S. 1279; Roscioni, G.C.: La disarmonia prestabilita.<br />
Studio su Gadda. Turin: Einaudi 1975, S. 118 passim; Ferrero, E.: Invito alla lettura di<br />
C.E. Gadda. Mailand: Mursia 1987, S. 90; Grosse, M.: «Der Käse auf den Makkaroni -<br />
Bemerkungen zu Sprachreflexion und Sprachgebrauch bei Gadda». In: Akzente 5<br />
(Oktober) 1993, S. 463-496, der <strong>Cicero</strong> lediglich als «Ahnherren des perbenismo und der<br />
italienischen Kunstprosa» sieht (S. 468).<br />
3<br />
Freilich darf man bei Gadda zu dieser Zeit noch keine konsequente Faschismuskritik<br />
mit geradlinig-klaren Attribuierungen erwarten, sondern man wird das Schwanken<br />
einzelner Figuren zwischen Tradition und faschistischer Innovation feststellen (s.u.).<br />
Zeitbezüge liegen auch auf rein sprachlicher Ebene bisweilen auf der Hand, z.B. in der<br />
Dimunitivform «la mussolina» (S. 689) für den Stoff des dünnen Gewandes eines<br />
süditalienischen Dienstmädchens. Insgesamt gilt für die Faschismuskritik in dieser<br />
Erzählung, was der Herausgeber der Korrespondenz mit Tecchi, Marcello Carlino,<br />
hinsichtlich der Briefe aus jener Zeit bemerkt: «E´certo lontana l´epoca in cui [...]<br />
Gadda la dirà tutta [...] sul fascismo di casa nostra. Per il momento, nelle lettere a Tecchi,<br />
il dissenso, non ancora focalizzato, bersaglia obiettivi laterali e imbocca comunque vie<br />
traverse: non la ripresa panoramica in esterni, ma il dettaglio d´interno [...], un primo<br />
piano sulla società culturale del ventennio » (Carlino (Hrsg.) 1984, S. 15f.; Herv. d.<br />
Verf.). Gadda war 1921 in der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der früheren<br />
Ordnung in die faschistische Partei eingetreten (Brief an Ugo Betti vom 31.12.1921), seit<br />
1926 deutet sich in den Briefen an Tecchi die enttäuschte Abkehr vom Faschismus an<br />
(z.B. 28.02.1926; vgl. dazu auch Muscetta 1986, S. 186). Spätere Abrechnungen mit dem<br />
Regime finden sich u.a. in «Quer pasticciaccio brutto di via Merulana» (1946/47, dazu<br />
z.B. Brockmeier, P.: «Leben unter dem Faschismus: <strong>Gaddas</strong> «Gräßliche Bescherung», in:<br />
Italienisch 14, 1985, S. 42-53), teils im «Primo libro delle favole» (1939/40, 1952) und<br />
besonders in «Eros e Priapo» (1928-Nachkriegsjahre, veröff. 1967). Ein Vergleich mit<br />
der Antikerezeption in letztgenanntem Werk (vgl. die Bezeichnung Mussolinis als Priapo<br />
Ottimo Massimo, die zahlreichen lateinischen Zitate usw.) würde hier zu weit führen;<br />
immerhin eine auswahlartige Bestandsaufnahme der latinisierenden Elemente in jenem<br />
Text hat Bezzola, G.: «Cenni lessicali su «Eros e Priapo» di Carlo Emilio Gadda», in:
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Bildungsgut zu betrachten. Insofern versteht sich<br />
die folgende Betrachtung auch als exemplarische<br />
Studie zu einer der mannigfaltigen Ausformungen<br />
der Antikerezeption im Zwanzigsten Jahrhundert.<br />
So soll, ausgehend von einer textnahen Analyse,<br />
die <strong>Cicero</strong>-Parodie als e i n Zugang 4 zu San<br />
Giorgio in casa Brochi genauer betrachtet und<br />
damit ein Beispiel für eine mit der römisch-<br />
italienischen Kulturtradition spielende Parodie in<br />
der italienischen Literatur unseres Jahrhunderts<br />
beleuchtet werden. 5<br />
Saggi di letteratura italiana in onore di Gaetano Trombatore. Mailand: Istituto Editoriale<br />
Cisalpino-La Goliardica 1973, S. 25-46 (bes. S. 31f., 35, 44) vorgelegt.<br />
4 Als ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Rolle der bildenenden Kunst (Futurismus,<br />
Novecento) in der Erzählung hervorzuheben, welcher von anderer Seite kürzlich<br />
anschaulich dargestellt worden ist: Kleinhans, M.: ««Un caleidoscopico Novecento». Zur<br />
Funktion der bildenden Kunst in Carlo Emilio <strong>Gaddas</strong> Satire San Giorgio in casa<br />
Brocchi»., in: Romanische Forschungen 1/ 1997, S. 24-46. Dort wird die Bedeutung der<br />
auf der Mailänder Futuristenausstellung zu sehenden Kunstwerke für die spätere<br />
Initiation Gigis hervorgehoben (vgl. S. 26, s.u. zur Bedeutung von de officiis). Ferner<br />
wird die Rolle des geistigen Hauptes der Novecento-Bewegung, Margherita Sarfatti, für<br />
die faschistische Kultur bis Ende der zwanziger Jahre herausgestellt (S. 27f.), womit sich<br />
die im folgenden hinsichtlich der <strong>Cicero</strong>-Parodie zu präsentierende faschismuskritische<br />
Lektüre des Textes auch auf einen weiteren zentralen Bereich der gaddianischen Satire,<br />
den der bildenden Künste, übertragen läßt. Als tertium comparationis ergibt sich die<br />
programmatische Rückkehr des Novecento zu antiken Themen (s. dazu art. cit., S. 36):<br />
vgl. bei der Triennale die Darstellung von Kentauren und Amazonen (S. 659). Die<br />
Antike des Novecento ist nicht gleichzusetzen mit dem traditionalistischen Antike-Begriff<br />
der am Ottocento orientierten Brocchi: So lästert der Maler Penella sogar über «deren»<br />
<strong>Cicero</strong> (S. 679, 681)!<br />
5 Ein kurzer Inhaltsabriß möge dem Leser dazu dienen, sich den groben<br />
Handlungsablauf zu vergegenwärtigen: Der zu Beginn noch achtzehnjährige, halbwaise<br />
Gigi ist in einer Mailänder Patrizierfamilie aufgewachsen. Die verwitwete Mutter,<br />
contessa Brocchi, und der Onkel Agamènnone versuchen, ihn von der<br />
Lebenswirklichkeit fernzuhalten, insbesondere in sexueller Hinsicht; dies soll geschehen<br />
durch Privatunterricht im Lateinischen sowie durch eine Ethik, die der Onkel eigens für<br />
Gigi verfaßt. Doch die Bemühungen der Erwachsenen scheitern am Ende der<br />
Erzählung, als die Ethik fertiggestellt ist: Das Dienstmädchen, welches das Buch<br />
überbringt, verführt Gigi.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Zunächst werden kurz einige der von<br />
Beginn der Erzählung an zahlreich<br />
vorkommenden allgemeinen Anspielungen auf<br />
antikes Gedankengut betrachtet, welche die<br />
Grundlage für die Parodie auf <strong>Cicero</strong> bilden. In<br />
einem eigenen Absatz wird untersucht, wie in der<br />
Erzählung mit ciceronianischer Rhetorik gespielt<br />
wird. Ebenso wird mit den längeren lateinischen<br />
Zitaten anhand ausgewählter Beispiele verfahren.<br />
Auf den römischen Staatsmann und Philosopohen<br />
bezogene Inhalte werden fast immer aus der Sicht<br />
einer Person oder aber durch den Erzähler<br />
vermittelt - von daher sollen kurz die jeweilige<br />
Einstellung der einzelnen Figuren sowie die des<br />
Erzählers zu <strong>Cicero</strong> berücksichtigt werden. Der<br />
Lateinlehrer Frugoni nimmt dabei eine besondere<br />
Stellung ein. Über die Bedeutung des Werkes de<br />
officiis, das Gadda immerhin eine eigene<br />
Erwähnung in seinem Brief wert ist (s.o.), wird<br />
gesondert reflektiert, bevor in abschließenden<br />
Bemerkungen v.a. die Funktion der <strong>Cicero</strong>-Parodie<br />
im Rahmen der Erzählung betrachtet werden<br />
wird. 6<br />
6 Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung einer von Frau Dr. Kleinhans im<br />
Sommersemester 1994 in einem Seminar zur Erzählprosa <strong>Gaddas</strong> an der Universität
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
2. Allgemeine Anspielungen auf die Antike<br />
und Latinismen<br />
Die Erzählung ist allenthalben von<br />
Anspielungen auf die Antike durchdrungen. Hier<br />
können lediglich eine Beispiele herausgegriffen<br />
und Überlegungen zu deren Funktion angestellt<br />
werden.<br />
Bereits am Ende des ersten Absatzes der<br />
Erzählung führt die Abkürzung «p.C.n.» (S. 645 7 )<br />
in die lateinischsprachige Welt ein - wenn auch<br />
die Formel «p.C.n.» freilich nicht klassischen oder<br />
ciceronianischen, sondern erst christlichen<br />
Ursprunges ist.<br />
Viele der subtilen Anspielungen auf die<br />
antike Welt lassen mehrere Lesarten zu. So wird<br />
die gesellschaftliche Situation der Familie Brocchi,<br />
in der Gigi aufwächst, durch den Erzähler in<br />
Würzburg angeregten Arbeit. Neben ihr bin ich den Teilnehmern der Jenenser<br />
Arbeitsgruppe für ihre im Rahmen der Diskussion geäußerten Denkanstöße sowie Frau<br />
Dott.ssa Giacomin (Universität Würzburg) für sprachliche Hinweise zu Dank<br />
verpflichtet.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
folgendem Vergleich charakterisiert: «esser<br />
Brocchi a Brugnasco era come esser Julii o Claudii a<br />
Roma» (S. 655). Eine erste Lesart läßt die Brocchi -<br />
aus Sachkenntnis oder aus Intuition - als<br />
einflußreiche Familie erscheinen. Bei einer<br />
genaueren, rückschauenden 8 Betrachtung des<br />
Textes wird dem Leser durch diesen Vergleich<br />
bereits zu Beginn der Erzählung angedeutet, daß<br />
die Familie Brocchi der ciceronianischen Ethik -<br />
oder dem, was sie dafür hält - kontraproduktiv<br />
entgegenwirken wird: Schließlich wird sie<br />
scheinbar beiläufig mit der Familie der Julier<br />
verglichen, deren herausragender Vertreter Caius<br />
Iulius Caesar der große Gegenspieler <strong>Cicero</strong>s und<br />
dessen republikanischer Ideale, letztendlich<br />
Wegbereiter für die späteren Alleinherrschaften<br />
war.<br />
Nach meist Komik bewirkenden<br />
Anspielungen auf die antike Mythologie (z.B.<br />
«Nelle ruote di Cupìdo non c´è peggio bastoni» (S.<br />
647) über die alles beobachtenden Portiers,<br />
«laberinto», «dedalo» (S. 655) in Bezug auf die<br />
7 Die Seitenangaben zu San Giorgio in casa Brocchi beziehen sich auf die Ausgabe:<br />
Gadda, C. E.: Romanzi e racconti II. Pinotti, G. et al. (Hrsg.). Mailand: Garzanti 2 1994.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Stickarbeit der Gräfin) und Philosophie (z.B. «ella<br />
sillogizzò» (S. 650) - die Fähigkeit, Syllogismen zu<br />
bilden, wirkt erstaunlich bei einer sonst als etwas<br />
dümmlich dargestellten Person), wird der Leser<br />
immer tiefer in spätrepublikanische<br />
Vorstellungswelt eingeführt; Ausrufe wie «Ma coi<br />
tempi che corrono [...]» (S. 659) oder «Ma erano i<br />
tempi, i tempi «troppo perversi!» (S. 663) erinnern<br />
an das bekannte ciceronianische «O tempora, o<br />
mores» (z.B. 1. Cat., 2) und führen den Leser<br />
behutsam immer näher an den im Laufe der<br />
Erzählung zu parodierenden <strong>Cicero</strong> und dessen<br />
Ethik heran. Doch das Ringen der jeweils parallel<br />
zu setzenden Paarungen:<br />
«moralistisch idealisiertes Rom (verkörpert in <strong>Cicero</strong>) / Ottocento<br />
(Agamènnone, Gräfin)»<br />
und<br />
«politisch instrumentalisiertes Rom / Faschismus<br />
(Novecentisti 9 ; ggf. Frugoni)»<br />
8 <strong>Cicero</strong> und de officiis werden auf S. 665 erstmals erwähnt.<br />
9 Freilich standen die novecentisti im Spannungsfeld zwischen dem Vorwurf der<br />
Regimenähe einerseits und dem der mangelnden Faschismustreue andererseits (dazu vgl.<br />
Kleinhans 1997, S. 30). Erkennt man in der Beschreibung von Penellas Gemälde<br />
Anklänge an den Sprachgebrauch der Futuristen (S. 682) (art. cit., S. 39), so kann auch<br />
in diesem Befund eine indirekte Anspielung auf die faschistische Kulturpolitik gesehen<br />
werden: Das kulturelle Programm des Faschismus als «Bewegung» hatte sich am<br />
Erneuerungswillen des Futurismus orientiert, der Faschismus als etabliertes «System»<br />
verfolgte eine konservative Kulturpolitik (dazu z.B. Lill, R.: Geschichte Italiens in der<br />
Neuzeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 4 1988, S. 330f.).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
läßt sich im Text nicht nur ausgehend von<br />
Anspielungen auf die Antike finden, sondern auch<br />
in Schilderungen der Erzählgegenwart; häufig<br />
kommt es zu Überschneidungen beider Ebenen,<br />
wobei die anachronistischen Brechungen<br />
komische Effekte erzielen.<br />
Wenn beispielsweise die Mailänder<br />
Triennale der Novecentisti von 1929 als Schlag<br />
gegen «gli ultimi ruderi d´un ritardatario Ottocento,<br />
caparbio e duro da morire» (S. 658) bezeichnet<br />
wird, so entsteht eine Parallele zwischen der<br />
epigonalen Kunstauffassung der Brocchi und der<br />
Republik zur Zeit <strong>Cicero</strong>s: Wie <strong>Cicero</strong> hartnäckig<br />
(vgl. «caparbio e duro da morire») an den Idealen<br />
der Republik festzuhalten versuchte, als deren<br />
Untergang im Grunde schon besiegelt war, so tut<br />
dies auch Agamènnone mit den Vorstellungen des<br />
Ottocento. 10 Ferner evoziert die Schilderung der<br />
besagten Kunstausstellung (S. 658f.) durchaus<br />
auch römische ludi 11 , ein Eindruck, der durch die<br />
10 Zu einer weiterführenden Interpretation der Passage über die Mailänder Triennale<br />
vgl. auch Kleinhans 1997, S. 31ff. Auch <strong>Cicero</strong> wird im biographischen Exkurs (s.u.)<br />
Naivität unterstellt, wenn seine Gedanken nach der Ermordung Cäsars wie folgt<br />
wiedergegeben werden: «Trafitto il tiranno, la repubblica stava per ridiventare ... una<br />
repubblica» (S.672).<br />
11 «Per tutte le trentatré sale, orde selvagge di cavalle dalle ginocchia tubolari<br />
galoppavano disfrenate [...]»
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Verwendung von antikisierenden Begriffen<br />
gestützt wird (z.B. «centauro», «amazzoni», S.<br />
659). Hier macht der Erzähler unterschwellig<br />
deutlich, daß das antike Rom eben nicht nur aus<br />
dem bestand, was Agamènnone und die Gräfin für<br />
römische Tugenden halten.<br />
Eine auf das Ende der Erzählung<br />
vorausdeutende und damit für die Erzählung<br />
konstituierende Isotopie wird von Beginn der<br />
Erzählung an durch Anspielungen auf Bacchus<br />
ausgestaltet. Das geschieht u.a. scheinbar<br />
beiläufig durch in der italienischen Sprache nicht<br />
ungebräuchliche Ausdrücke wie «baccano» (S.<br />
648, 678) oder «perbacco!» (Ausruf Gigis, S.<br />
681); diese werden aber wohl bewußt anderen<br />
sprachlichen Alternativen vorgezogen, denn<br />
Anspielungen auf den Gott der Fruchtbarkeit und<br />
des Weines, im weiteren Sinne der<br />
Ausgelassenheit und Zügellosigkeit, fügen sich gut<br />
in den Gesamtkontext der Erzählung: Schließlich<br />
kommt dem Onkel und der Gräfin ihre Gegenwart<br />
als eine vom bacchischen Wesen verdorbene Zeit<br />
vor, und Gigi sehnt sich nur allzusehr nach der<br />
Ausgelassenheit des Bacchuskultes.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Außer derartigen allgemeinen<br />
Anspielungen auf inhaltliche Aspekte der<br />
griechisch-römischen Antike 12 dienen auch solche<br />
sprachlicher Art 13 (Zitate, lateinische<br />
Einsprengsel wie «laboravi fidenter» (S. 669),<br />
versteckte Latinismen im Italienischen wie<br />
«cospicue» 14 , «demenza», «furore» 15 (S. 651),<br />
12 Vgl. auch zahlreiche wohl aus Livius geschöpfte Anspielungen auf bedeutende<br />
Niederlagen der Römer (Faesulae/ Fiesole, Aretium/ Arezzo, Cortona, Trasimenischer<br />
See, S. 656, z.B. Livius XXII, 3f.).<br />
13 Inhaltliche und sprachliche Kunstgriffe sind beim Stilkünstler Gadda natürlich<br />
ineinender verwoben; im Rahmen dieses Beitrages kann dies nur für einen Fall<br />
exemplarisch illustriert werden: Der Geburtstagsanruf, den Gigi von der zia Maddalena<br />
erhält, wird kommentiert als: «discorsetto del genetliaco: un´ omelìa sibilante [...]» (S.<br />
685). Zunächst wird der Inhalt des Gesprächs also durch das Diminutivsuffix «-etto» als<br />
seichtes Gerede abgetan, was in markantem Kontrast zu den unmittelbar folgenden<br />
Gräzismen steht: Der Geburtstag wird mit dem gewichtigen «genetliaco» bezeichnet, der<br />
«discorsetto» nunmehr als «omelìa», d.h. im modernen italienischen Sprachgebrauch als<br />
eine Art Moralpredigt. Mit diesem Begriff ist aber auch in der altertumsbezogenen<br />
Literaturkritik die letzte Begegnung Hektors u.a. mit Andromache und seinem Sohn<br />
Astyanax in der Ilias belegt, die zu den bewegendsten Szenen der frühen Weltliteratur<br />
gehören (Z 237-529, bes. 392 bis 493), was dem Begriff zusätzliches Gewicht und damit<br />
an dieser Stelle ein weiteres komisches Element verleiht.<br />
14 Bedeutungserweiterung gegenüber dem lateinischen Etymon: ursprünglich nur<br />
«auffallend, sichtbar»; zu einer Typologie der Latinismen bei Gadda vgl. Flores, E.:<br />
«Risonanze classiche ovvero il latino come componente linguistica ne <strong>«La</strong> cognizione<br />
del dolore» di C. E. Gadda», in: Filologia e letteratura X (1964), S. 381-398, u.a. mit<br />
folgender Charakterisierung dieser Gruppe von Latinismen: «[...] termini italiani che su<br />
di un piano strutturale-linguistico sono trascrizioni di corrispondenti voci latine, mentre il<br />
valore semantico originario qualche volta viene coartato in nuove direzioni» (S. 382).<br />
Eine genauere Betrachtung auch dieser indirekten Latinismen in San Giorgio in casa<br />
Brocchi nach dem Modell von Flores´ Analysen würde den Rahmen dieses Beitrages<br />
sprengen.<br />
15 Diese Wörter hingegen werden weniger in ihrer italienischen Bedeutung als vielmehr<br />
in der ihres lateinischen Etymons gebraucht (vgl. exemplarisch «furor» in Cic., 1. Cat.,<br />
2). Über die Koexistenz von Formen und Bedeutungen verschiedener Sprachstufen<br />
innerhalb seiner Texte hat sich Gadda wiederholt theoretisch geäußert, z.B. in «Lingua<br />
letteraria e lingua dell´uso» (1942) (in: I viaggi la morte, S. 489-494, bes. S. 490, 492f.<br />
(«Vita storica del vocabolo [...]. Impossibilità di astrarre da un riferimento storico <strong>della</strong><br />
lingua parlata e scritta») sowie in «Come lavoro» (in: op. cit., S. 419-443), wo er eine<br />
derartige Sprachverwendung in parodistischer Absicht («parodisticamente») als<br />
«spasmo» bzw. «impiego spastico» der Sprache bezeichnet (S. 437). Dieser Begriff kann<br />
oftmals auch auf intertextuelle Bezugnahmen bei Gadda angewandt werden (vgl. den<br />
Abschnitt über die lateinischen Zitate).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
«fausti», «dissimulare» (S. 662), «depravato» (S.<br />
695) usw. zunächst dazu, den Leser in eine Art<br />
antikisierende Umgebung zu versetzen, welche die<br />
Grundlage für die Parodie auf <strong>Cicero</strong> und letztlich<br />
für die Faschismuskritik bildet. Insofern sind sie in<br />
ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Neben<br />
Schlüsselwörter wie «furor», welche sich als Topoi<br />
des das Gemeinwesen zerstörenden Wahnsinns<br />
durch die römische Literatur ziehen und z.B. in<br />
den ciceronianischen Reden das gesellschaftliche<br />
Klima der untergehenden Republik<br />
charakterisieren, hier aber gleichzeitig die<br />
Haltung des Erzählers zur faschistischen<br />
Machtausübung durchscheinen lassen, treten in<br />
der Erzählung Wörter, welche auf Gegebenheiten<br />
der vom Faschismus glorifizierten Kaiserzeit<br />
verweisen (z.B. «augusto» (S. 693) oder<br />
«mecenatoide» (S. 683)). Die aus dem Bereich der<br />
römischen Kultur geschöpften Anspielungen<br />
weisen also auf die Übergangsphase zwischen<br />
Republik und Prinzipat; sie verstärken somit das<br />
Spannungsfeld zwischen verherrlichtem Ottocento<br />
und mehr oder minder bewußten<br />
Handlangerdiensten gegenüber dem Faschismus,
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
in dem sich die großbürgerlichen Protagonisten<br />
der Erzählung bewegen.<br />
Abgesehen von den auf besagte<br />
Umbruchphase verweisenden Bezugnahmen<br />
werden griechische und römische,<br />
republikanische und kaiserzeitliche Elemente<br />
bunt gemischt, so, wie sie sich gerade am<br />
günstigsten in den Kontext einbringen lassen - es<br />
wird eklektizistisch vorgegangen. Einer der<br />
gegenüber <strong>Cicero</strong> in der europäischen<br />
Geistesgeschichte immer wieder angebrachten<br />
Vorwürfe ist nun gerade der des Eklektizismus.<br />
Dieser Vorwurf ist durch die Vielfalt der<br />
Anspielungen während der ganzen Erzählung<br />
indirekt präsent und trägt zur Parodie auf den<br />
römischen Staatsmann bei. Gleichzeitig kann<br />
man darin eine Parodie auf den faschistischen,<br />
von Latinimsen durchsetzten und antikes<br />
Gedankengut nach Belieben interpretierenden 16<br />
(dazu s.u.) Sprachgebrauch sehen; man denke nur<br />
daran, daß durch die faschistische Sprachpolitik<br />
16 Vgl. Fornaca, R.: Pedagogia italiana del Novecento. Dall´inizio del secolo al primo<br />
dopoguerra. Neapel 1978. Er schreibt im Hinblick u.a. auf die faschistischen<br />
Philosophen: «Le distorsioni, i collages storici erano merce corrente» (S. 201f.) - genau<br />
das führt Gadda in der Erzählung anschaulich vor. Über die Funktion des Lateinischen
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
«braccianti» zu «coloni» wurden, «soldati» zu<br />
«legionari» 17 usw.<br />
3. «Non gli venne il terzo verbo»<br />
oder: Variationen über den Stil <strong>Cicero</strong>s<br />
Neben Latinismen im Vokabular finden sich<br />
in San Giorgio in casa Brocchi latinisierende<br />
Wendungen auch im syntaktischen und<br />
stilistischen Bereich. Insbesondere wird ganz<br />
bewußt mit dem rhetorischen Stil <strong>Cicero</strong>s gespielt.<br />
Bereits der Beginn der Erzählung erinnert<br />
an eine gewaltige ciceronianische Periode. 18 Wenn<br />
mit dieser Einleitung das Programm einer <strong>Cicero</strong>-<br />
Parodie durch den Erzähler bereits angelegt ist -<br />
vom Leser zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht<br />
als solche zu verstehen - so werden im folgenden<br />
im Faschismus: S. 203 (u.a. «[...] citazioni latine scolpite un po´ovunque, quasi a<br />
ingannare e a disorientare un popolo che trovava difficoltà a capire la lingua italiana»).<br />
17<br />
Vgl. z.B. Fornaca 1978, S. 203<br />
18<br />
Der nachdrückliche Einsatz der Anapher, die durch ihre Eindringlichkeit auf die<br />
Bedeutung des Gesagten aufmerksam macht, zählt zu den von <strong>Cicero</strong> meisterhaft<br />
beherrschten rhetorischen Figuren. So sei der Illustration halber z.B. aus der Rede für<br />
Cluentius (pro A. Cluentio, 78) folgende Passage zitiert: «iam cetera sunt nota omnibus:<br />
ut cum illis Opianicus egerit de pecunia, ut ille se redditurum esse dixit, ut eum sermonem<br />
audierint omnem viri boni qui tum consulto propter in occulto stetissent, ut res patefacta et<br />
in forum prolata et pecunia omnis Staieno extorta et erepta sit». Bereits in<br />
umgangssprachlichen Varietäten des Lateinischen wurde ut bekanntlich u.a. durch quid<br />
> che ersetzt. Auf die weitere inhaltliche und funktionale Bedeutung des einleitenden<br />
Absatzes wird hier nicht näher eingegangen, da diese erst kürzlich dargelegt wurde bei<br />
Kleinhans 1997, S. 41ff.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
rhetorische Kunstgriffe bzw. mißglückte<br />
Versuche, sich rednerisch gewandt auszudrücken,<br />
v.a. aus dem Munde des Onkels Agamènnone<br />
stammen, der ja auch in seiner Lebenseinstellung<br />
wiederholt mit <strong>Cicero</strong> auf eine Stufe gestellt wird.<br />
Die Parodie wird hier also sowohl auf formaler als<br />
auch auf inhaltlicher Ebene konsequent<br />
durchgeführt.<br />
Auffallend ist die Häufung der Trikola,<br />
welche bereits in der antiken Rhetorik ein<br />
bewährtes Stilmittel waren. 19 So denkt<br />
Agamènnone über Gigi, er sei «così promettente,<br />
così bello, così sano» (S. 651) und müsse sich in<br />
der «da tanta demenza! da tanto delirio! da così<br />
insano furore!» (ebd.) 20 durcheinandergebrachten<br />
Welt behaupten.<br />
Wenn diese Beispiele rhetorisch korrekt sind<br />
und nur in ihrem Kontext lächerlich wirken, so<br />
wird an anderer Stelle das Trikolon an sich und<br />
19 Überhaupt kommt der Dreizahl innerhalb der Erzählung eine gewisse Bedeutung zu<br />
(z.B. Dreiteilung der Erzählung, Personenkonstellation); vgl. Grosse, M.: «Der Käse auf<br />
den Makkaroni - Bemerkungen zu Sprachreflexion und Sprachgebrauch bei Gadda». In:<br />
Akzente 5 (Oktober) 1993, S. 463-496, hier S. 466f.; genauer Kleinhans, M.: «Carlo<br />
Emilio <strong>Gaddas</strong> Kampf zwischen San Giorgio und San Luigi Gonzaga. Versuch einer<br />
Symbolanalyse», in: Italienische Studien 16, 1995, S. 109-138, hier S. 118.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
damit jede gekünstelt stilisierte Rhetorik wie die<br />
des Faschismus parodiert. Als während der<br />
Teeszene die Gräfin eröffnet, daß Gian Carlo<br />
Vanzaghi ein entfernter Verwandter der Brocchi<br />
sei, liest man: <strong>«La</strong> signora Zanfrognini palpitò, il<br />
professor Frugoni sospirò, la domestica rientrò<br />
[...]», S. 667): Üblicherweise enthält das Trikolon<br />
eine inhaltliche Steigerung, nach den Verben<br />
«palpitare» und «sospirare» erwartet man im<br />
dritten Glied ein noch ausdrucksstärkeres Verb,<br />
doch folgt ein abrupter Bruch von der Ebene des<br />
tief empfundenen Schmerzes auf die banale Ebene<br />
des Eintretens in einen Raum («rientrare»). Dieser<br />
Bruch ist bereits eingeleitet worden durch das<br />
Subjekt des dritten Gliedes, «la domestica». Indem<br />
die Stilfigur keine Steigerung mehr aufweist, wird<br />
sie vollkommen zweckentfremdet und<br />
ausdruckslos.<br />
Während dieser Verstoß gegen die<br />
rhetorische Konvention offensichtlich dem<br />
Erzähler zuzuschreiben ist, kann ein anderer dem<br />
20 Beim ersten Zitat handelt es sich um eine direkte Rede, beim zweiten um eine die<br />
Sichtweise des Onkels wiedergebende erlebte Rede.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Redner <strong>Cicero</strong> selbst zugeschrieben werden. 21 Als<br />
im Rahmen des biographischen Abrisses über<br />
<strong>Cicero</strong> von dessen Scheidung die Rede ist, wird<br />
vermerkt, daß «un po´ gli umori, un po´ le ossa, un<br />
po´ i tempi, un po´ tutto» ihn zu diesem Schritt<br />
veranlaßt hätten (S. 675). Während im oben<br />
analysierten Fall das Trikolon v.a. in seinem<br />
Innereren, d.h. auf semantischer Ebene<br />
aufgebrochen wird, liegt hier ein äußerer,<br />
formaler Bruch mit den Grundprinzipien der<br />
rhetorischen Figur vor: Beim Lesen des vierten<br />
«un po´» wird die Erwartung auf ein neuerliches<br />
Trikolon enttäuscht, der vollkommen<br />
nichtssagende Inhalt dieses vierten Gliedes läßt sie<br />
auch auf inhaltlicher Ebene platzen. Das Trikolon<br />
ist also völlig entstellt - und das durch den Meister<br />
der Redekunst selbst!<br />
Eine der wohl sarkastischsten<br />
Möglichkeiten, die klassische und damit die ihr<br />
nacheifernden neuzeitlichen Rhetoriken<br />
lächerlich zu machen, zeigt der Erzähler auf,<br />
wenn er über das vergebliche Bemühen des<br />
21 Vgl. freilich die Problematik der Erzählperspektive bei Gadda überhaupt und in San<br />
Giorgio in casa Brocchi besonders im historisch-biographischen Abschnitt über <strong>Cicero</strong>
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Agamènnone spricht, der diese nachzuahmen<br />
versucht: «Scrivendo quel libro, componendo quel<br />
libro, (non gli venne il terzo verbo, da far compiuto il<br />
suono <strong>della</strong> frase, tirata in finto «crescendo») [...]»<br />
(S. 651). 22 Alleine das Adjektiv «finto» drückt aus,<br />
daß dieser erfolglose Versuch, nicht vorhandenen<br />
Gehalt in großen Stilfiguren zu verhüllen, ein<br />
Ausdruck von Verlogenheit ist.<br />
Anhand dieser kurzen Bestandsaufnahme<br />
konnten verschiedene Formen aufgezeigt werden,<br />
mit denen in San Giorgio in casa Brocchi antike<br />
Rhetorik parodiert wird:<br />
1) Rhetorisch korrekte Sätze wirken in ihrem Kontext stilistisch<br />
unangemessen;<br />
2)<br />
3)<br />
Stilmittel (z.B. das Trikolon) werden bis zur Unkenntlichkeit entstellt;<br />
in einem (implizit) metasprachlichen Diskurs kommentiert der<br />
Erzähler die Versuche eines Epigonen, antike Rhetorik ins<br />
Zwanzigste Jahrhundert zu<br />
übertragen.<br />
Der Teilbereich der stilistischen Parodie<br />
kann wie die gesamte Erzählung auf mehreren<br />
(s.u.).<br />
22 Auch hier ist die Zuweisung der Erzählperspektive eine Frage der Interpretation:<br />
Zwar könnte es sich um eine erlebte Rede handeln (Vorwort des Onkels zu seiner<br />
Ethik), doch scheint es uns naheliegender, an einen Einwurf des Erzählers zu denken.<br />
Der Onkel würde dann unter dem Problem (zumindest zunächst) unbewußt leiden, und<br />
erst der Erzähler würde es in diese sprachliche Form bringen.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Ebenen gedeutet werden. Besonders zwei Lesarten<br />
scheinen besondere Beachtung zu verdienen:<br />
1)<br />
Die Funktion der (stilistischen) Parodie innerhalb der Erzählung (a) und<br />
im Bezug auf die in der Erzählung explizit genannten gesellschaftlichen<br />
Zusammenhänge (b):<br />
a) Die Sinnlosigkeit des Gesagten wird unterstrichen; <strong>Cicero</strong> wird<br />
lächerlich gemacht.<br />
b)<br />
Versuche, ciceronianische Rhetorik ins Mailand der zwanziger<br />
Jahre zu übertragen, scheitern; die Redekunst kann im<br />
Kontext der gesamten Erzählung als pars pro toto für antikes<br />
Gedankengut im allgemeinen gelten (Vorausdeutung auf das Scheitern<br />
der Ethik). Es wird Kritik an der Mailänder Oberschicht geäußert,<br />
welche durch Agamènnone verkörpert wird.<br />
2)<br />
Erzählung:<br />
Die Bedeutung der Parodie im gesellschaftshistorischen Kontext der<br />
Kritik auch am Faschismus, der durch die antike Rhetorik<br />
nachahmende Redekunst die Sinnlosigkeit seiner Ideologie zu verschleiern<br />
suchte. 23<br />
Auch hinsichtlich der Sprachverwendung<br />
wird deutlich, wie die bürgerliche Bildung dem<br />
Faschismus zunächst unbewußt die Bahn ebnete<br />
und allmählich selbst in den Sog des Faschismus<br />
geriet: Bildungsbeflissene epigonenhafte<br />
Anhänger des Ottocento wie Agamènnone<br />
23 Vgl. diesbezüglich auch die Forderung Gentiles aus dem Jahr 1925, die «nuova<br />
cultura» des Faschismus solle «non [...] contenuto, ma forma», «non [...] materia, ma<br />
stile» sein (Gentile, G.: Discorso inaugurale dell´Istituto Nazionale Fascista di Cultura<br />
(1925), in: Fascismo e cultura. Mailand: Treves 1928, S. 55f., zit. bei Mangoni, L.: «Il<br />
fascismo». In: Letteratura italiana I: Il letterato e le istituzioni. Asor Rosa, A. (dir.). Turin:<br />
Einaudi 1982, S. 521-548, hier S. 537.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
bedienen sich - hier zunächst nur auf stilistischer<br />
Ebene - gleicher Verfahren wie die neue Bewegung<br />
und leisten dieser damit (auch ungewollt)<br />
Vorschub (s.u.).<br />
4. «Maxima debetur puero reverentia» -<br />
Die Rolle der lateinischen Zitate in San<br />
Giorgio in casa Brocchi<br />
Ähnliches wie für die allgemeinen<br />
Anspielungen auf die Antike gilt auch für die<br />
längeren Zitate aus der antiken Literatur.<br />
Vordergründig verstärken sie jene antikisierende<br />
Grundstimmung, in welche die Parodie auf <strong>Cicero</strong><br />
eingebettet wird. Sie bieten jedoch antikes<br />
Gedankengut in konzentrierter Form und eröffnen<br />
von daher eine umso größere Zahl an möglichen<br />
Lesarten auf verschiedenen Ebenen. Auch bei der<br />
Auswahl der Zitate wird die eklektizistische<br />
Vorgehensweise u.a. der Kulturpolitik der<br />
zwanziger Jahre parodiert: Nicht nur werden die<br />
Jahrhunderte bunt gemischt (z.B. <strong>Cicero</strong> 24 ,<br />
24 Z.B. «qui omnia jura divina et humana pervertit» (S. 673): de off. I, 8. Das Werk de<br />
officiis wird in seiner Bedeutung gesondert betrachtet (s.u.).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Vergil 25 , Horaz 26 , Juvenal 27 ), sondern es wird<br />
auch bedenkenlos Heidnisches neben Christliches<br />
(z.B. Matthäus-Evangelium 28 ) gestellt. Ferner<br />
werden die antiken Schriften meist von sich für<br />
gebildet haltenden Mitgliedern der Mailänder<br />
Oberschicht in einem anderen als ihrem<br />
ursprünglichen Sinne bemüht.<br />
Verschiedene Interpretationsmöglichkeiten<br />
sollen anhand ausgewählter Beispiele<br />
veranschaulicht werden: So rät der Arzt<br />
Martuada der Mutter Gigis, die ihn überbesorgt<br />
wegen dessen kurzanhaltenden Kopfschmerzen<br />
25 Z.B. «fama volat» (S. 670): Aen. VIII, 554<br />
26 Allerdings in italienischer Übersetzung: «tutta la serie innumerabile degli anni, e la<br />
«vana» fuga dei tempi» (S. 673, im biographischen Exkurs über <strong>Cicero</strong>): vgl. Horaz,<br />
carmina III, 30 («Exegi monumentum [...]»), 4f. («innumerabilis annorum series et fuga<br />
temporum»); dazu Strocchi, F.: «Varianti di Gadda solariano», in: Filologia e critica<br />
VIII, fasc. III, 1983, S. 364-398, hier S. 376.<br />
27 Z.B. «mens sana in corpore sano» (S. 695): sat. X, 356: Dort - nach einer Liste der<br />
eitlen Wünsche der Menschheit - im Sinne der bloßen geistigen und körperlichen<br />
Gesundheit als einziger Bitte, die man an die Götter richten sollte (so bereits in Platons<br />
Gorgias, 479b angelegt). Dieses Zitat geht dem Gigi bei seiner Begegnung mit Jole<br />
beinahe in seiner ursprünglichen Bedeutung durch den Kopf. Insofern deutet auch dieser<br />
auf Vers die Überwindung der Brocchischen Erziehung durch sich selbst bzw. durch<br />
Gigi voraus. Denn eingetrichtert ist ihm das Zitat wohl eher hinsichtlich der im modernen<br />
Sprachgebrauch v.a. in totalitären Regimen überwiegenden körperlichen Ertüchtigung<br />
(für «in corpore sano») worden. Somit wird hier indirekt wieder der oberflächliche, den<br />
ursprünglichen Sinn entstellende Sprachgebrauch des Faschismus parodiert; mit ihm<br />
freilich auch die falsche Jugendverherrlichung der faschistischen Propaganda und einer<br />
Pädagogik, welche der Leibeserziehung höchsten Stellenwert einräumte (vgl. z.B.<br />
Fornaca 1978, S. 196, 204).<br />
28 «Date a Cesare quel che è di Cesare» (S. 670): Mt. 22, 21. Bezeichnend ist, daß selbst<br />
die Mönche, welche der Gräfin ihre Bildung vermittelten, sich nicht über den biblischen<br />
Ursprung des Zitates bewußt waren bzw. es vollkommen unpassend verwendeten; nicht<br />
nur, daß es die in dieser Form nichts sagende Krönung einer nichts sagenden Periode<br />
darstellt: Die Mönche waren auch noch selbstzufrieden, diese Weisheit ausgesprochen<br />
zu haben («e avevano sorriso, felici di cavarsela con una citazione così ricca di<br />
significato», S. 670).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
konsultiert, daß eine sorgfältig ausgewählte<br />
Lektüre wohl die beste Medizin für ihren Sohn<br />
darstellen dürfte: «[...] per il suo Luigi [...] ci<br />
sarebbe voluta oramai [...] qualche ... lettura ...<br />
adatta, ma non troppo [...]» (S. 652); das Buch soll<br />
den Jugendlichen also sehr behutsam<br />
informieren, d.h., auch Martuada erkennt Gigi<br />
nicht als jungen Erwachsenen an. Deshalb läßt er<br />
seine Ausführungen mit den wohlklingenden<br />
lateinischen Worten enden: «... Maxima debetur<br />
puero reverentia ...»; höchste Achtung gebühre<br />
also dem Knaben: Auf einer ersten Lektüreebene<br />
kann man darin einfach ein weiteres lateinisches<br />
Zitat im oben beleuchteten Sinne verstehen. Auf<br />
einer zweiten Ebene wird man feststellen, daß es<br />
sich um einen Teilvers aus Juvenal (sat. XIV, 47)<br />
handelt. Betrachtet man diesen in seinem<br />
Kontext, so ergibt sich geradezu eine tragische<br />
Ironie: Die Satire des Juvenal handelt nämlich<br />
von der Kindererziehung, ihr Grundtenor besagt,<br />
daß man Kinder ernst nehmen und wie<br />
Erwachsene behandeln muß, damit sie später<br />
sittlich gut werden. Genau das aber meint der<br />
Arzt aber nicht, wenn er dieses Zitat gebraucht -<br />
er erstrebt heuchlerische Behütung des
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
heranwachsenden Luigi vor der Realität des<br />
Lebens. 29 In dem Zitat kann man auch die<br />
Verherrlichung der Jugend im Faschismus<br />
subsumiert sehen, wie sie in der Hymne der<br />
faschistischen Bewegung mit dem Titel<br />
«Giovinezza» zum Ausdruck kommt. 30<br />
In intertextueller 31 Hinsicht ähnlich verhält<br />
es sich mit einem lateinischen Hexameter kurz<br />
vor Ende des längeren biographischen Exkurses<br />
über <strong>Cicero</strong>: «Sed fugit interea, fugit inreparabile<br />
tempus» (S. 676). 32 Dieses einzige in dieser<br />
Erzählung deutlich eingerückte und so<br />
hervorgehobene Zitat stammt aus Vergils<br />
Lehrgedicht über das Landwesen (Georgica III,<br />
284) 33 : Dort ermahnt sich der Erzähler selbst, sich<br />
29 Innerhalb einer <strong>Cicero</strong>-Parodie kann man dem Zitat eine weitergehende Bedeutung<br />
zumessen: Wie Martuada durch ein Zitat den Gigi, so hat <strong>Cicero</strong> den jungen Octavian<br />
zunächst als «puer» unterschätzt (vgl. z.B. Grimal, P.: <strong>Cicero</strong> - Philosoph, Politiker,<br />
Rhetor. Dt. Stamm, E. von. München: Südwest Verlag 1988, S. 503).<br />
30 Vgl. z.B. Lill 1988, S. 318 (und 302) und Whittam, J.: Fascist Italy. Manchester/ New<br />
York: Manchester University Press 1995, S. 66ff. («Education and youth movements»).<br />
31 Eingeschränkter Intertextualitätsbegriff wie bei Genette, G.: Palimpsestes. La<br />
littérature au second degré. Paris: Seuil 1982, S. 8<br />
32 Auf die Frage nach der Erzählperspektive im fraglichen Abschnitt kann an dieser<br />
Stelle nicht vertieft eingegangen werden. Übrigens wurde dieser lateinische Einschub<br />
erst in die für die Sammlung Novelle dal ducato in fiamme (1953) überarbeitete Fassung<br />
der Erzählung aufgenommen (Strocchi 1983, S. 375).<br />
33 Auf die Quelle wird indirekt hingedeutet, indem es u.a. respektlos heißt, daß sich zur<br />
Zeit der geschilderten Ereignisse ein Mantuaner anschickte, «seine brüllenden Kälber zu<br />
beheulen» («piangere i suoi mugolanti vitelli», vgl. den Anklang an den Phraseologismus<br />
«piangere come un vitello»). Ferner wird der Dichter als «futuro spossessato»<br />
bezeichnet: In der Tat ist wohl um das Jahr 40 v. Chr. das Gut Vergils (bzw. dessen<br />
Vaters) enteignet worden - der Erzähler erweist sich hier als allwissend. Zu den<br />
Hypotexten <strong>Gaddas</strong>: Georgica III wird auch in «Eros e Priapo» (V. 33: S. 230) sowie in
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
nicht zu ausführlich im Detail zu verlieren - die<br />
vordergründige, pragmatische Funktion des<br />
Satzes ist also in San Giorgio in casa Brocchi<br />
durchaus analog. Für <strong>Gaddas</strong> Satire liefert aber<br />
der Kontext im vergilianischen Werk (v.a. 242-<br />
265) einen Schlüssel zum besseren Verständnis -<br />
und deutet gleichzeitig dem vergilkundigen Leser<br />
das Ende der Erzählung voraus. Der Vers folgt<br />
nämlich unmittelbar auf eine lange Passage mit<br />
Anweisungen zur Viehzucht (Georg., III, 49ff.):<br />
Jungtiere sollen so lange wie möglich dem<br />
schädlichen Einfluß der Venus entzogen werden<br />
(209-241). Dennoch gehorcht die ganze Natur<br />
dem Amor (242-265), was vor allem bei Stuten<br />
besondere Ausmaße annimmt (266-283) - hierauf<br />
schließt sich bei Vergil unvermittelt das fragliche<br />
Zitat an. 34 Die Parallele zu Gigis Erziehung und<br />
späterer Entwicklung ist unverkennbar; zum<br />
betreffenden Zeitpunkt in der Erzählung übt das<br />
<strong>«La</strong> cognizione del dolore» (V. 26: S. 692 («i battenti istoriati d´oro e d´avorio<br />
massiccio») wiederholt zitiert bzw. paraphrasiert (die Seitenangaben beziehen sich auf<br />
die Ausgaben: Gadda, C.E.: Saggi,giornali, favole e altri scritti II. Vela, C. et al. (Hrsg.).<br />
Mailand: Garzanti 1992 bzw. Gadda, C.E.: Romanzi e racconti I. Rotondi, R. et al.<br />
(Hrsg.). Mailand: Garzanti 1988).<br />
34 Dies ist für die Technik der intertextuellen Bezugnahme bei Gadda interessant, der<br />
selbst dem bis zu Vergil durchgedrungenen Leser den Zugang zu seiner Aussageabsicht<br />
nicht leicht macht: Das Zitat erhält seinen tieferen Sinn für die Erzählung nicht durch<br />
den unmittelbaren Kontext im Original, sondern durch den gesamten vorausgehenden<br />
Teil des betreffenden Werkes. Die bloße Kenntnis(nahme) der folgenden Passagen<br />
beispielsweise würde nichts funktional Relevantes erscheinen lassen.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Zitat in dieser Hinsicht die Funktion eines<br />
vorausdeutenden Moments aus. 35<br />
Der Ausgang der Erzählung wird also nicht<br />
nur durch allgemeine Anspielungen (s.o.),<br />
sondern auch durch intertextuelle Bezugnahmen<br />
angedeutet, und zwar durch indirekt in Zitaten<br />
vermittelte Isotopien aus dem Bereich der<br />
Erziehung und des Erotischen 36 .<br />
Die Subtilität der Schreibweise <strong>Gaddas</strong> läßt<br />
sich anhand der längeren Zitate insofern<br />
besonders gut nachvollziehen, als diese nicht nur<br />
an sich Bestandteile seines Textes werden, sondern<br />
in ihrem ursprünglichen antiken Kontext eine<br />
neue Bedeutung für seine Erzählung erhalten.<br />
Auf einer weiteren Lektüreebene erkennt<br />
man in ihnen eine Parodie auf das Vorgehen der<br />
35 Zu diesem Zitat bereits kurz Kleinhans 1995, S. 121. Am Rande sei bemerkt, daß<br />
offiziell Auszüge aus den Georgica nach der riforma Gentile zu dem bereits für die<br />
Aufnahmeprüfung in das liceo vorausgesetzten Lektürekanon gehörten (vgl. bei<br />
Charnitzky, J.: Die Schulpolitik des faschistischen Regimes in Italien (1922-1943).<br />
Tübingen: Niemeyer 1994, S. 91).<br />
36 Derartige Anspielungen betreffen vor allem das Motiv der Unzucht bei Pferden: Es<br />
tritt bereits bei der Mailänder Triennale auf («cavalle», «centauri», S. 658) sowie<br />
versteckt im «Ritratto <strong>della</strong> Marchesa Cavalli» (S. 657, vgl. «le occhiaie amorose») oder<br />
im Verb «galoppare», welches die Fortbewegungsart der automobilen Sänfte, der<br />
«autolettiga <strong>della</strong> Croce verde» bezeichnet, mit der eine Kunststudentin abtransportiert<br />
wird (S.684). Zur Funktion des Wortfeldes «Pferd» vgl. auch Kleinhans 1995, S. 119ff.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
faschistischen Ideologen, die Anleihen an<br />
klassisches Kulturgut in ihrem Sinne geschickt in<br />
neue Kontexte einfügten.<br />
5. Das Verhältnis der einzelner Figuren zu<br />
<strong>Cicero</strong><br />
Nur andeutungsweise kann im Rahmen<br />
dieses Beitrages die Einstellung der einzelnen<br />
Personen zu <strong>Cicero</strong> untersucht werden; sie soll<br />
auch als Spiegel des Spannungsfeldes zwischen<br />
Ottocento und Faschismus gelesen werden, in dem<br />
sich die Protagonisten der Erzählung bewegen.<br />
Besonders schillernd ist die Figur des<br />
Lateinlehrers Frugoni. 37 Einerseits identifiziert er<br />
sich voll mit <strong>Cicero</strong>, andererseits verstößt auch er<br />
selbst gegen die Ideale der Enthaltsamkeit, die er<br />
gerade an <strong>Cicero</strong> festzumachen versucht (z.B. S.<br />
677, 680). Er hält <strong>Cicero</strong> für den idealen Autor<br />
zur Erziehung Jugendlicher (S. 669), versteht ihn<br />
37 Man beachte die Namensgleichheit mit dem Dichter Frugoni (1692-1768), dem man<br />
ähnliche Eigenschaften vorwarf, wie sie dem Lateinlehrer zukommen: «[...] Il Frugoni<br />
fu ritenuto prototipo dei «versiscioltai» inconcludenti, poeta facile e vuoto; «padre<br />
incorrotto di corrotti figli» lo disse per difenderlo il Monti [...]» (Dizionario Enciclopedico<br />
Italiano. Vol. V. Rom: Istituto Poligrafico dello Stato 1956, S. 127); zu Textproben vgl.<br />
Galletti, A./ Chiorboli, E.: Antologia <strong>della</strong> letteratura italiana. Edizione minore. Vol. III.<br />
Bologna 1960, S. 213-216.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
aber ebenso falsch wie die Mailänder Oberschicht<br />
und legt ihn wie einen christlichen Text aus<br />
(«l´esegesi» im Kontext S. 678). 38 Für Frugoni<br />
steht Pflichterfüllung über allem (S. 669),<br />
deshalb ist er von <strong>Cicero</strong>s de officiis besonders<br />
angetan (ebd.). Von seinem Enthusiasmus kann<br />
er nichts auf seinen Schüler Gigi übertragen (vgl.<br />
S. 668), was ihn noch lächerlicher erscheinen<br />
läßt, als er schon vorher dargestellt worden ist.<br />
Mit ihm wird auch der Stoff, mit dem er sich<br />
identifiziert, die «<strong>grande</strong> <strong>etica</strong> <strong>della</strong> <strong>latinità»</strong>, ins<br />
Lächerliche gezogen. 39 Insofern erscheint Frugoni<br />
als ein ebenso Ottocento-treuer Traditionalist wie<br />
die Mailänder Patrizierfamilie, welche ihn als<br />
Privatlehrer beschäftigt. 40<br />
Trägt man aber seine im Text genannten<br />
Eigenschaften zusammen, so wird deutlich, daß<br />
seine «<strong>grande</strong> <strong>etica</strong> <strong>della</strong> <strong>latinità»</strong> nicht nur die des<br />
38 So hieß es über ihn im Trattato di morale, einer Vorstudie zur später in Solaria<br />
veröffentlichten Erzählung: «Del De Officiis il professor Frugoni non aveva mai capito<br />
nulla, come la maggior parte dei suoi colleghi [...]» (zit. bei Pinotti, G.: «Per la storia di<br />
«San Giorgio in casa Brocchi», in: Strumenti critici IX, 2, maggio 1994, S. 247-265, hier<br />
S. 249).<br />
39 Frugoni wird in seiner Ungeschicklichkeit immer wieder komisch gezeichnet, er<br />
verkörpert also zudem den clichéhaften Typus des Lateinlehrers schlechthin.<br />
40 So redet auch Frugoni in sinnleeren Phrasen. Als sich die contessa z.B. für die<br />
Nähmaschine in Gigis Arbeitszimmer entschuldigt, antwortet Frugoni mit einem noch<br />
überflüssigeren «[...] ma ci fa anzi compagnia!» und spielt dabei auch auf das Gedicht<br />
<strong>«La</strong> macchina da cucire» von Guido Mazzoni an (z.B. in: Muscetta, C./ Sormari, E.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
hinterweltlerischen, der Bildungstradition des<br />
Ottocento nachtrauernden Altphilologen ist,<br />
sondern daß er mit derjenigen Bewegung in<br />
Beziehung gebracht werden kann, die im Italien<br />
der zwanziger und dreißiger Jahre eine ebensolche<br />
Ethik zu verbreiten vorgab: Er ist um die fünfzig<br />
Jahre alt, trägt einen riesigen Schnauzbart, hat<br />
kurze, dicke Arme, zeigt verächtliches,<br />
gebieterisches Gehabe, stellt eine übertriebene,<br />
lächerlich wirkende Mimik zur Schau und verfügt<br />
über eine donnernde Stimme 41 - kurzum, er hat<br />
alle Qualitäten eines faschistischen Diktators.<br />
Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn der Erzähler<br />
Frugonis als «virtù loricata» (S. 680), als mit der<br />
römischen Schutzrüstung, dem Leder- bzw.<br />
Kettenpanzer lorica, versehene Tugend bezeichnet.<br />
Sein Oszillieren zwischen Ottocento und<br />
Faschismus läßt sich u.a. an folgenden<br />
Beobachtungen festmachen: Wenn es um seine<br />
klassische Bildung geht, ist er tendenziell eher<br />
Traditionalist (so wettert er mit einem «sdegno<br />
neoclassico» (S. 681) gegen den über <strong>Cicero</strong><br />
(Hrsg.): Poesia dell´Ottocento. Vol. II. Turin 1968 (= Parnasso italiano X, 2), S.<br />
2135ff.).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
spottenden Novecento-Maler Penella (auch S.<br />
679)), und die virtù loricata bezieht sich in der Tat<br />
zunächst auf den Widerstand gegen diesen<br />
Künstler (übrigens gemeinsam mit Gigi)).<br />
Andererseits lassen ihn seine Verherrlichung der<br />
Römer als Herren der Welt («E´ l´<strong>etica</strong>, è il credo<br />
sublime dei dominatori del mondo», S. 669), seine<br />
körperlichen Anlagen und die vom Erzähler<br />
beobachtete Dummheit als leicht vom<br />
Faschismus instrumentalisierbar erscheinen. 42<br />
Die verblendeten Väter, die Frugoni als<br />
Privatlehrer engagieren, sind der Meinung, dieser<br />
sei gerade der richtige Mann, um eine<br />
«humanistische» Bildung zu vermitteln (««era<br />
l´uomo che ci voleva»: risoluto! energico! senza tanti<br />
sofismi! senza tante complicazioni! (S. 669f.)). In<br />
diesen Gedanken läßt sich deren (vielleichtb noch<br />
unterbewußte) Sehnsucht nach einer<br />
Führerpersönlichkeit erkennen.<br />
Im Gegensatz zu Frugoni ist Agamènnone,<br />
analog zum an der untergehenden Staatsform der<br />
41 S. 667, 669, 677f., 680.<br />
42 Vgl. die Charakterisierung: «ed era arrivato ai cinquanta con tanta salute in corpo e<br />
con dei polmoni così temibili, da lasciar facilmente intuire come la nevrastenia<br />
de´cerebrali, al solo suono di quei polmoni, avesse battuto ogni qual volta in precipitosa
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Republik festhaltenden <strong>Cicero</strong>, ein Vertreter des<br />
«ritardatario Ottocento» (S. 658): Wie <strong>Cicero</strong>, so<br />
schreibt auch er eine Ethik für einen nahe<br />
verwandten Jugendlichen. 43 Wenn die<br />
Verherrlichung der Antike innerhalb der<br />
Erzählung auch stellvertretend für die<br />
faschistische Propaganda gesehen wird, steht<br />
Agamènnone auch für den verblendeten,<br />
unfreiwilligen Handlanger der Faschisten. 44<br />
Das doppelgesichtige Verhältnis des<br />
Agamènnone zu <strong>Cicero</strong> und zur Antike, dessen sich<br />
der Graf selbst tragi-komischer Weise nicht<br />
bewußt ist, läßt sich wie folgt veranschaulichen:<br />
+ Rom<br />
-<br />
 als Idee Ê<br />
ritirata», ebd.) Diese Charakterisierung fehlt im Trattato di morale noch (Pinotti 1994, S.<br />
253).<br />
43<br />
Mit dem bezeichnenden Titel: «Educazione razionale <strong>della</strong> gioventù secondo i concetti<br />
etici moderni» (S. 691).<br />
44<br />
Die Gefährdung Agamènnones, von der ihn umgebenden Gesellschaft auf die Seite<br />
des Faschismus gezogen zu werden, manifestiert sich in der Tatsache, daß er dem<br />
Organisationskomitee für die Novecento-Ausstellung (!) aus Prestigegründen beitritt (S.<br />
658) und ein Bild besagter Kunstrichtung erwirbt (S. 660, dazu bereits Kleinhans 1997, S.<br />
37). Allerdings ist er im Unterschied zu den anderen Mitgliedern der Mailänder<br />
Oberschicht noch nicht routiniert im Umgang mit den novecentisti (so beim Empfang für<br />
deren Haupt, Sarfatti) und spielt im Organisationsgremium eher eine Außenseiterrolle (S.<br />
660). Angesichts der Tatsache, daß weite Teile des Mailänder Großbürgertums bereits<br />
die Gründung des ersten «fascio di combattimento» im Jahre 1919 begrüßt hatten<br />
(Carocci, G.: Storia del fascismo. Roma: Newton 1994, S. 16), erscheinen die Brocchi als<br />
eine besonders traditionalistische, dem Zeitgeist widerstrebende Familie, die aber Ende<br />
der zwanziger Jahre vom Sog der Zeit mitgerissen zu werden droht.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
ottocentistisch interpretierter 45<br />
faschistisch uminterpretierter<br />
Ethik und Moral Weltmacht<br />
.........................................................................<br />
.....................................<br />
=> <strong>Cicero</strong> als => <strong>Cicero</strong><br />
als<br />
Vorbild für Agamènnone Gegner des<br />
Agamènnone<br />
(als Verfasser einer Ethik) (de off.-<br />
Lektüre als auslösendes<br />
Moment<br />
bei Gigi)<br />
=> Etica =============><br />
«Scheitern» der Erziehung<br />
bei Übergabe<br />
der Etica<br />
<strong>Cicero</strong> ist also für Agamènnone Vorbild und<br />
Gegner zugleich; de officiis und die Etica des<br />
Grafen sind in ihrer Bedeutung für Gigi<br />
komplementär: Beide sind in pädagogischer<br />
Absicht gewählte Lesestoffe, beide tragen zur<br />
tatsächlichen Erziehung des Gigi bei, indem die<br />
bei der Lektüreauswahl durch die Erwachsenen<br />
entscheidenden Motive durch ihn überwunden<br />
werden.<br />
45 Vgl. die Idee der purga-Fassungen (S. 670) und die fatale Ansicht der Gräfin:<br />
«<strong>Cicero</strong>ne non aveva neanche bisogno di purga» (ebd.)
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Das <strong>Cicero</strong>-Bild der Mutter Gigis ist von<br />
naiver, geradezu religiöser Bewunderung geprägt<br />
(z.B. S. 670, <strong>Cicero</strong> als «Vangelo degli antichi<br />
Romani»). 46 Wenn <strong>Cicero</strong> von einer als dumm<br />
gezeichneten<br />
Person hochgelobt wird, wird seiner Würde<br />
dadurch indirekt Abbruch getan. Auf einer ersten<br />
Lektüreebene ist die contessa eine großbürgerliche<br />
Vertreterin des dem vorigen Jahrhundert<br />
nachtrauernden Epigonentums. Ferner kann sie<br />
auch als Versinnbildlichung blinder Begeisterung<br />
und karikierend gezeichneten Mitläufertums im<br />
ventennio gesehen werden. So bewundert sie nicht<br />
nur die Römer im allgemeinen für ihren Kult um<br />
Familie und Vaterland («E «avevano» davvero<br />
quelli, il culto <strong>della</strong> famiglia, la religione <strong>della</strong> patria»,<br />
S. 671), sondern auch den Eroberer Cäsar: «Come<br />
uomo, è stato un gran generale» (S. 670).<br />
Die Bildungsbemühungen der erwachsenen<br />
Brocchi können Parallel zur Bildungsreform<br />
Gentiles gesehen werden: In bürgerlich-<br />
46 Zur Religiosität der Gräfin vgl. z.B. S. 647, 655 (Sticken der Altardecke); vgl. auch<br />
die Isotopien aus dem Bereich der Religion (S. 668 im Bezug auf Geschirr; S. 670, 678 in<br />
Bezug auf <strong>Cicero</strong>). Außer auf die bigotte Religiosität des Bürgertums kann man mittelbar<br />
auch darauf schließen, daß die contessa als stark religiöse Frau dem Faschismus seit der<br />
Conciliazione im Frühjahr 1929 zumindest aufgeschlossener gegenüberstand.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
traditionalistischen Werten entsprechendem,<br />
neoidealistischem Gedankengut verwurzelt, kann<br />
die riforma Gentile von den Faschisten in ihrem<br />
Sinne derart funktionalisiert werden, daß sie<br />
später als «la più fascista delle riforme fasciste»<br />
gelten wird. 47<br />
Alle Versuche, Gigi 48 durch <strong>Cicero</strong> zum<br />
ethisch rechten Handeln im Sinne der<br />
Erwachsenen zu bringen, gehen ins Leere. 49 Von<br />
47 So läßt sich auch in Agamènnones Charakterisierung seiner Ethik («Il mio libro è<br />
un´Etica e una Stilistica [vgl. de off. I, 37f.]... perché, nei prodotti-tipo, la virtù deve<br />
anche avere uno stile», S. 652), unter Abzug der für ihn noch bedeutenden Begriffe der<br />
«Etica» und der «virtù», die o. zit. spätere Forderung Gentiles nach einer Kultur einzig<br />
und allein der «forma» und des «stile» angelegt sehen, womit die dramatische Rolle der<br />
traditionellen Bildungsauffassung als (zunächst unfreiwillige) Wegbereiterin des<br />
Faschismus verdeutlicht werden kann. Vgl. z.B. Charnitzky 1994, S. 76, 126, 144.<br />
Humanistische Bildung diente der Bewahrung einer kleinen Elite (S. 80), z.B. 1924 in<br />
Mailand mit einer Durchfallquote von 75% im Abitur (bzw. fast 95%: private licei<br />
classici) (S. 166). Auch an fast allen anderen Schularten im Sekundarbereich war Latein<br />
ein wichtiges Unterrichtsfach (z.B. S. 93, 96f., 151). Selbst am istituto tecnico standen<br />
nunmehr sieben Wochenstunden Latein nur zwei Stunden Mathematik gegenüber (S.<br />
92); dagegen richtet sich Gadda in «Il latino nel sangue» (aus: I viaggi la morte): «Una<br />
scuola di lavoro o di avviamento al lavoro non può regalare <strong>Cicero</strong>ne agli apprendisti.<br />
[...] Do palla nera al latino». (Gadda, C.E.: Saggi, giornali, favole e altri scritti I. Orlando,<br />
L. et al. (Hrsg.). Mailand (Garzanti) 1991, S. 1153-1162, hier S. 1156).<br />
48 Besonders im Falle Gigis kommt dem Namen im Rahmen der Erzählung eine<br />
bedeutungstragende Funktion zu: Gigi < Luigi deutet auf die Ebene des Widerstreites<br />
«San Luigi Gonzaga - San Giorgio» (Geburtstag Gigis): Kleinhans 1995, bes. S. 121f.;<br />
außerdem erlaubt die Assonanz der Kurzform Gigi mit giglio (vgl. S. 651) die<br />
Assoziation mit der Lilie, welche der Aphrodite wegen ihrer Reinheit verhaßt war<br />
(Ziegler, K., in: Der kleine Pauly. Bd. 3. München: Deutscher Taschenbuch Verlag<br />
1979, 651). Außerdem ist im Falle der Jole festzuhalten, daß es sich um einen Namen<br />
ohne heiligen Schutzpatron handelt. (vgl. Tagliavini, C.: Un nome al giorno. Vol. II.<br />
Bologna: Pàtron 1972, S. 76f. und Vol. I. Bologna: Pàtron 1972, S. 142). Jole ist in der<br />
antiken Mythologie eine Frauengestalt, die sogar den tapferen und tugendhaften<br />
Herakles durch Liebe verweichlicht hat. Man denke an die bekannte Parabel von<br />
Herakles am Scheideweg (überliefert bei Xenophon, Memorabilien). Vgl. z.B. Ovid,<br />
Met. IX, 140 passim und bes. die Ausgestaltung bei Boccaccio, G: De claris mulieribus<br />
(«De Yole Etholorum regis filia»), S. 71ff. in der Ausgabe von I. Erfen und P. Schmitt.<br />
Stuttgart: Reclam 1995.<br />
49 Gigi liest lediglich dann freiwillig antike Text, wenn ihm nichts Besseres einfällt und<br />
er deprimiert ist: «nelle ore di compunzione» (S. 650 - dann freilich in italienischer
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Gigi wird <strong>Cicero</strong> mit dem traditionalistischen<br />
Gedankengut seiner Erzieher gleichgesetzt:<br />
«<strong>Cicero</strong>ne era il classico, lo zio era il neoclasico» (S.<br />
690). Lediglich die Stelle I, 35 aus de officiis (s.u.)<br />
macht Eindruck auf ihn und bedingt letztlich sein<br />
Handeln im entscheidenden Moment der<br />
Erzählung - die Lektüre erzielt also bei Gigi genau<br />
das Gegenteil der von Frugoni und der Mutter mit<br />
der Zuteilung des Lesestoffes bezweckten Wirkung.<br />
Als Gigi der Jole gegenüber bekennt: «Sono un<br />
uomo anch´io» (S. 696) und der Erzähler<br />
das mit den Worten «E la verità, finalmente!, parlò<br />
con le parole <strong>della</strong><br />
verità» (ebd.) kommentiert, wird auf der Ebene<br />
der <strong>Cicero</strong>-Parodie die engültige Überwindung des<br />
Brocchischen <strong>Cicero</strong> in Aussicht gestellt;<br />
schließlich gibt es für den Skeptiker <strong>Cicero</strong> keine<br />
Wahrheit, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeit<br />
(vgl. S. 691: «il probabile»). Liest man den Text<br />
konsequent als Spiegel der Zeitgeschichte, kann<br />
man in Gigi den Widerstand v.a. gegen<br />
großbürgerliche Pseudo-Moral, letzten Endes aber<br />
Übersetzung: «bigini», S. 683). Ansonsten steht er der römischen Kultur gleichgültig bis<br />
abneigend gegenüber: Während der begeisterten Unterhaltung über <strong>Cicero</strong> zwischen<br />
Frugoni und seiner Mutter langweilt er sich («[...] tagliuzzava una gomma con la punta<br />
del temperino», S. 669), ja er erweckt den Anschein, nicht einmal zu wissen, was de
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
auch die 1931 nur zu erhoffende Überwindung des<br />
u.a. aus ihr resultierenden Faschismus verkörpert<br />
sehen.<br />
<strong>Cicero</strong> hat für die einzelnen Figuren in<br />
deren Bewußtsein zum einen und in deren<br />
Unterbewußtsein zum anderen jeweils eine<br />
verschiedene Bedeutung. Diesen lassen sich u.a.<br />
folgende Lesarten der Erzählung zuordnen: Für<br />
Agamènnone ist <strong>Cicero</strong> der Verteidiger des sittlich<br />
Guten; insofern liest sich der Text zunächst als<br />
Satire auf die Bildungsideale des überlebten<br />
Mailänder Großbürgertums zu Beginn unseres<br />
Jahrhunderts. Für Frugoni steht <strong>Cicero</strong><br />
darüberhinaus stellvertretend für die Römer als<br />
Beherrscher eines Weltreiches; ausgehend von<br />
dieser Beobachtung kann man in San Giorgio in<br />
casa Brocchi auch eine kritische Satire auf den<br />
Faschismus sehen. Für Gigi wird <strong>Cicero</strong> letzten<br />
Endes der entscheidende Erzieher; in dieser<br />
Hinsicht ist die Erzählung außerdem eine<br />
Initiationsgeschichte.<br />
officiis sei (vgl. die tadelnde Frage des Lehrers: «Ma non sa lei cosa è il «De Officiis»?»,<br />
ebd.).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
6. Die Haltung des Erzählers zu <strong>Cicero</strong><br />
und das Kernstück der <strong>Cicero</strong>-Parodie<br />
Das Verhältnis des Erzählers zu <strong>Cicero</strong><br />
kommt besonders im biographischen Exkurs über<br />
<strong>Cicero</strong> zum Ausdruck: Dieser ergibt sich aus einem<br />
Gespräch zwischen Frugoni und der Mutter Gigis,<br />
in das Informationen über die Entstehung von de<br />
officiis eingeschoben werden (S. 670-677). 50<br />
Spätestens hier wird dem Leser deutlich, daß<br />
<strong>Cicero</strong> im Rahmen der Erzählung eine besondere<br />
Bedeutung zukommt. In dieser Passage hat der<br />
Erzähler die Möglichtkeit, <strong>Cicero</strong> - und mit ihm<br />
die Erziehung der Mailänder Patrizierfamilie - auf<br />
größerem Raum ins Lächerliche zu ziehen. 51<br />
50 Der Exkurs wird eingefügt, als sich die Familie zum Essen begibt; vor dem<br />
biographischen Abschnitt: «E si avviarono [...] verso la gran sala dorata» (S. 669), am<br />
Ende: «Gigi, seguendo la madre [...] verso la <strong>grande</strong> sala» (S. 677).<br />
51 Im wesentlichen werden hier historische Fakten referiert, die teilweise wohl in<br />
dichterischer Freiheit abgeändert wurden bzw. gängigen Clichés folgen, was sich u.U.<br />
der den Zeitgeist parodierenden Haltung des belesenen Misanthropen Gadda<br />
zuschreiben läßt. Nur bedingt sind von daher Fälle wie S. 672 «la curia subitamente
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Betrachtet man die Haltung des Erzählers,<br />
so ergibt sich im gesamten Text das Problem der<br />
fließenden Übergänge von Figuren- zu<br />
Erzählerrede. 52 Hier wird als Erzählerrede all das<br />
aufgefaßt, was dem Kontext zufolge mit aller<br />
Wahrscheinlichkeit nicht einer bestimmten Figur<br />
zuzuschreiben ist. 53 Es handelt sich im<br />
vorliegenden Falle wohl nach der Terminologie<br />
<strong>Gaddas</strong> um ein gioco indiretto d´autore. 54<br />
Zu Beginn des biographischen Exkurses wird<br />
<strong>Cicero</strong> zunächst erneut in rhetorischem Stil<br />
verherrlicht: «un animo [...] incline alla filosofia,<br />
deserta» - die fragliche Senatssitzung fand bekanntlich nicht in der Kurie statt - als<br />
«sachliche Ungenauigkeiten» zu bezeichnen.<br />
52 Man denke z.B. an den Ausruf «Peccato quella terribile manìa <strong>della</strong> guerra!» (S. 671)<br />
- er könnte aufrichtiges Bedauern der schlichten Gräfin ausdrücken; es könnte sich aber<br />
auch um einen sarkastischen Erzählerkommentar handeln, der sich darüber mokiert, daß<br />
die Gräfin in ihrem Glauben an die römische Tugendhaftigkeit eben diese «manìa <strong>della</strong><br />
guerra» überhaupt nicht erkennt.<br />
53 Rein äußerlich scheint der Bericht über das Leben <strong>Cicero</strong>s in der Zeit nach Cäsars<br />
Ermordung noch der erlebten Rede der Gräfin zuzuschreiben zu sein; der<br />
Informationsreichtum würde aber in markantem Widerspruch zu ihrer sonstigen<br />
Dummheit und Unbelesenheit stehen - die Passage kann also unmöglich die Gedanken<br />
der Gräfin widerspiegeln. Spätestens die den Inhalt erläuternde Fußnote auf S. 673 oder<br />
die Wissenschaftlichkeit vorgebende Klammerangabe auf S. 684 (lateinisches<br />
Originalzitat) legen die Existenz einer Art allwissenden Erzählers nahe.<br />
54 Dabei überschneiden sich «gioco ab interiore» und «gioco ab exteriore», der Erzähler<br />
mischt sich in Figurenrede ein (vgl. Gadda, C.E.: Racconto italiano di ignoto del<br />
Novecento - Cahier d´Etudes II., S. 480 ff. in: Gadda, C.E.: Scritti vari e postumi.<br />
Silvestri, A. et al. (Hrsg.). Mailand: Garzanti 1993). Man könnte auch mit Segre von<br />
«polifonia» sprechen (vgl. Segre, C.: Punto di vista, polifonia ed espressivismo nel<br />
romanzo italiano (1940-1970)., in: Atti dei convegni Lincei 71. Roma (Accademia dei<br />
Lincei) 1984, S. 181-194, bes. S. 187 (dazu bereits Kleinhans 1995, S. 122); vgl. auch die<br />
Feststellung Baldis, daß Gadda «forti resistenze dinanzi ad un´integrale relativizzazione<br />
prospettica» habe (Baldi, G.: Carlo Emilio Gadda. Milano 2 1988, S. 186).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
alla legalità, e al giusto equilibrio» (S. 671).<br />
Unmittelbar angefügt wird, daß eine Reihe<br />
politischer Morde von <strong>Cicero</strong> verantwortet<br />
wurden - diese seien aber im Dienste des<br />
Allgemeinwohls verübt worden, fügt der Erzähler<br />
ironisch hinzu. Oft wird im Nachsatz eine eben<br />
erwähnte große Leistung dadurch gemindert, daß<br />
ihr eine weitere, die schnöden Eigeninteressen<br />
<strong>Cicero</strong>s betreffende Tat hinzugefügt wird. 55<br />
Zunächst auf komische Wirkung zielt auch<br />
in diesem Abschnitt die Sprachkunst <strong>Gaddas</strong>:<br />
Neben Latinismen (s.o.) treten Lombardismen<br />
und Anachronismen im Sprachgebrauch, z.B.<br />
habe es <strong>Cicero</strong> bei der Nachricht von Cäsars<br />
Ermordung wie eine «scarica elettrica»<br />
durchfahren; die modernisierende Wortwahl steht<br />
wiederum in markantem Kontrast zu einem sich<br />
unmittelbar anschließenden lateinischen Zitat: «<br />
[...] telegrafò a Basilo un «Tibi gratulor! Mihi<br />
55<br />
Z.B. «aveva sempre difeso la costituzione contro l´insurrezione [vgl. die Catilinarische<br />
Verschwörung], la legge contro l´eslège, il patron di casa contro l´inquilino moroso » (S.<br />
671). Das Stichwort «inquilino» läßt eine intertextuelle Beziehung zu Sallust, Catilina 31,<br />
7 herstellen, wo Catilina dem nicht aus Rom stammenden <strong>Cicero</strong> vorwirft, nur ein<br />
«inquilinus urbis Romae» zu sein. Ein weiteres Beispiel: «Ma egli aveva sempre usato<br />
dell´autorità, <strong>della</strong> energia, dell´ingegno non ad «opprimere i diversi popoli <strong>della</strong> terra»,<br />
sibbene a «comporre» delle operette morali, ad amministrare i suoi fondi [...]» (S. 671).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
gaudeo»» (S. 671). 56 Die Lombardismen 57 können<br />
auch als Seitenhieb gegen die seit den zwanziger<br />
Jahren immer dialektfeindlichere Sprachpolitik<br />
des Faschismus gesehen werden, durch den ab<br />
1931 sogar der Druck von Texten in den<br />
Mundarten verboten wurde. 58<br />
Auf inhaltlicher Ebene wird die Person des<br />
<strong>Cicero</strong> unter verschiedenen Aspekten lächerlich<br />
gemacht, was hier nur an ausgewählten Passagen<br />
illustriert werden kann 59 :<br />
56 Es wird auf den Brief ad fam. 6, 15 angespielt (von dem freilich nicht klar ist, ob er<br />
tatsächlich zu diesem Anlaß verfaßt wurde: vgl. z.B. <strong>Cicero</strong>: Epistulae ad familiares. Vol.<br />
II. Shackleton Baily, D.R. (Hrsg.). Cambridge: Cambridge University Press 1977, S. 461f.<br />
57 Beispielsweise wenden sich die Klienten aus den Provinzen «tremebondi «al scior<br />
avocatt»» (S. 671).<br />
58 Vgl. z.B. Klein, G.: La politica linguistica del fascismo. Bologna: Il Mulino. 1986, S.<br />
52f..<br />
59 Nur am Rande kann hier ein nicht interpretierender Überblick über die Antonomasien<br />
gegeben werden, mit denen der Erzähler <strong>Cicero</strong> v.a. im Exkurs benennt, und die<br />
großteils ironischen Beigeschmack haben: «infatigabile araldo del legittimismo<br />
oligarchico» (S. 672), «moralista-padron di casa » (S. 673), «onesta vedova del<br />
moralismo fondiario e dell´oligarchia repubblicana» (ebd.), «avvocato filosofo» (S. 674),<br />
«discettatore dell´utile e dell´onesto» (ebd.), «avvocato de´provinciali» (S. 675),<br />
«Azzeccagarbugli urbano» (ebd.), «Padre <strong>della</strong> Patria» (S. 676), «vecchio procedurista»<br />
(S. 677), «rigutinizzato moralista» (S. 684) (Anspielung auf den Übersetzer und<br />
Lexikographen Rigutini, vgl. S. 680. Rigutini hat in Zusammenarbeit mit Fanfani ein<br />
«Vocabolario <strong>della</strong> lingua parlata» (1875f.), letzterer allein ein «Lessico dell´infima e<br />
corrotta italianità» (1877) herausgegeben! (vgl. Dizionario Enciclopedico Italiano. Vol.<br />
IV. Rom: Istituto Poligrafico dello Stato 1956, S. 617 sowie Vol. X. ebd. 1959, S. 377)<br />
und S. 690f. beim Geburtstagsessen <strong>«La</strong> humana societas gli sembrò [...u]na bestia<br />
infinitamente più scema <strong>della</strong> Luigia [die Köchin], perché la Luigia, alla sua fame, gli<br />
recava risotto e bistecche, e gli uomini invece, per quell´altra disperazione, gli servivano<br />
un piatto di <strong>Cicero</strong>ne rigutinizzato»; vgl. die Anklänge an den mittelalterlichen Ovide<br />
moralisé (syntagmatisch) und die Nudelsorte rigatoni (phonetisch). Auf die<br />
Essensmetaphorik kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Als Privatmann wird der für die<br />
erziehenden Brocchi moralisch so herausragende<br />
<strong>Cicero</strong> in der retrospektivischen 60 Ehestreit-Szene<br />
(S. 674f.) als ganz einfacher Ehemann mit mehr<br />
als «normalen» Problemen dargestellt. Dabei<br />
kommt vor allem den geschilderten Details und<br />
der stilistischen Ausarbeitung der Ehekrise<br />
Beachtung zu (z.B. «gli volarono dalla finestra<br />
Panezio e tutti gli stoici [...]» (S. 674), «la fulgidezza<br />
degli ideali politici e gli uragani <strong>della</strong> menopausa» (S.<br />
675) usw.). Ferner wird hervorgehoben, daß der<br />
den prüden Brocchi vorbildlich scheinende<br />
Philosoph nicht nur eine, sondern gar mehrere<br />
Scheidungen hinter sich hat. 61 Damit spielt der<br />
Erzähler später, wenn er «ciceroniano» wieder im<br />
Sinne des Brocchischen <strong>Cicero</strong>-Begriffes verwendet<br />
(z.B. «scrupoli ciceroniani», S. 686, «[violare] ogni<br />
più ciceroniano elemento del dessous», S. 687,<br />
s.u.).<br />
Dem Philosophen <strong>Cicero</strong> wird erneut sein<br />
Eklektizismus vorgehalten, wenn innerhalb einer<br />
60 Vgl. «per il passato» (S. 674); vgl. auch Gelzer, M.: <strong>Cicero</strong> - Ein biographischer<br />
Versuch. Wiesbaden: Steiner 1983 (= Nachdruck 1969), S. 287: Die Scheidung von<br />
Terentia wurde 46 v. Chr. vollzogen.<br />
61 «[le] doti e [le] controdoti delle donne di casa» (S. 675); vgl. auch Gelzer (1983), S.<br />
288.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
ciceronianischen Periode von Stoikern, deren<br />
«cathékon téleion» und «cathékon méson», von<br />
Peripatetikern, Akademikern und deren<br />
platonischen Kardinaltugenden gesprochen wird -<br />
und gleichzeitig auf <strong>Cicero</strong>s Scherereien mit<br />
seinen Mietern 62 und seinen Haß auf Cäsar 63<br />
angespielt wird (S.673). Im Rahmen einer<br />
Essensmetapher, die ihren Ausgangspunkt in der<br />
pythagoreischen Lehre findet, welche es ihren<br />
Anhängern verbietet, Bohnen zu essen, da die<br />
Seele des Pythagoras einmal in einer Bohne gelebt<br />
haben soll, wird erneut im Topf des Eklektizismus<br />
gerührt. De officiis wird dargestellt als «un tal<br />
minestrone di fagioli stoici, verze accademiche e<br />
carote peripatetiche da leccarsi i baffi tutta la<br />
posterità infinita»: Es werden also nicht nur die<br />
Bohnen der falschen der drei klassischen<br />
Philosophenschulen zugewiesen, sondern es<br />
62 Vgl. «la stizza dell´aver dovuto condonare quei fitti» (S. 673): Hätte man ihnen ihre<br />
Sünden erlassen (vgl. «i loro peccati», ebd.), wäre das dem Moralisten ja noch<br />
eingegangen, aber sobald es um das eigene Geld geht, wird der Philosoph zum<br />
Sterblichen! Dabei ist anzumerken, daß <strong>Cicero</strong> zeitweise hochverschuldet war (vgl. z.B.<br />
Gelzer 1983, S. 288). Vgl. dazu das scheinbar mitfühlende «Ma i denari! Era un affar<br />
serio anche quello!» (S. 675), wobei der Erzähler die Gelegenheit nicht ausläßt, auf den<br />
ursprünglichen Spottnamen «<strong>Cicero</strong>» aus «cicer» («Kichererbse») anzuspielen: «si<br />
grattò la pera sessantaduenne, o per dir meglio, il cece» (ebd.) (vgl. dazu z.B. Fuhrmann,<br />
M.: <strong>Cicero</strong> und die römische Republik. München/ Zürich: Piper 2 1994, S. 16).<br />
63 Dieser wird mit einem Zitat aus de officiis I, 8 als «colui, qui omnia jura divina et<br />
humana pervertit» benannt.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
werden auch noch Wirsing und Karotten ins Spiel<br />
gebracht ...<br />
Der sich gerne als Retter des Staates<br />
gebärdende Politiker <strong>Cicero</strong> erscheint hier eher als<br />
ein Feigling: Als ihm das Klima in der Stadt unter<br />
Antonius zu unruhig wird, verläßt er aus<br />
Sicherheitsgründen die Stadt. Dies wird mit dem<br />
banalisierenden, elliptischen Satz «partenza<br />
anticipata per i bagni.» (S. 672) ins Lächerliche<br />
gezogen (vgl. die «anticipata stagione» und die<br />
romantische Schilderung des Golfes von Neapel,<br />
ebd.); die Brisanz der Zeitumstände, in denen de<br />
officiis entstanden ist, wird herabgespielt. So liest<br />
man von <strong>Cicero</strong>, dem designierten Konsul Hirtius,<br />
Pansa sowie Balbus, die sich in Puteoli/ Pozzuoli<br />
aufhalten: «non sanno che pesci pigliare» (S. 673).<br />
Zum einen wird damit deren Ratlosigkeit nicht<br />
etwa in ciceronianischer Rhetorik, sondern auf<br />
umgangssprachliche Weise unverblümt<br />
ausgedrückt; zum anderen sieht man aber die<br />
Herren Staatsoberhäupter wörtlich vor sich, wie<br />
sie Pobleme beim «Sportangeln» haben. 64<br />
64 In der Tat nahm das Freizeitangeln bei reichen Römern bisweilen karikaturale Züge<br />
an: Man gab Unsummen aus, um künstliche Fischteiche anzulegen, oft tatsächlich am
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Weitere Parallelen zwischen der<br />
untergehenden römischen Republik und dem<br />
Mailänder Großbürgertum der späten zwanziger<br />
Jahre stellt der Erzähler her, indem er die Briefe,<br />
welche <strong>Cicero</strong> von seinen Klienten erhält, als<br />
«lettere [...] perfettamente inconcludenti, fra il sì e il<br />
no, il forse e il magari» (S. 674) bezeichnet, wobei<br />
er sich wohl bewußt an Formulierungen anlehnt,<br />
die er zuvor als im Mailänder Großbürgertum<br />
typische Verhaltensweisen eingeführt hat («Dire e<br />
non dire! Tastare senza toccare! [...]», S. 652f.).<br />
Die Funktion des biographischen Exkurses<br />
läßt sich wie folgt umreißen: <strong>Cicero</strong> tritt hier kurz<br />
vor dem entscheidenden Höhepunkt der<br />
Handlung in den Vordergrund. Mit ihm wird der<br />
Erziehungsstil der Brocchi lächerlich gemacht.<br />
Der Erzähler gestaltet die biographische Passage<br />
über <strong>Cicero</strong> als konzentrierte Parodie, welche im<br />
vorausgehenden Teil der Erzählung durch die<br />
Ausarbeitung einer antikisierenden Atmosphäre<br />
Golf von Neapel: So berichtet Varro (r.r. III, 9f., 17, 5/9) von dem reichen Angler<br />
Hortensius, der keinen einzigen Fisch getötet hat, und von Lucullus, der einen ganzen<br />
Berg hat durchstechen lassen, um echtes Meerwasser in seine an Land liegenden<br />
Fischteiche zu leiten. Die Tatsache, daß <strong>Cicero</strong> selbst über solche «piscinarii» lästerte
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
vorbereitet worden ist; er unterstreicht so indirekt<br />
seine Distanzhaltung zu den erwachsenen Brocchi.<br />
Ferner führt die Schilderung der<br />
Lebensumstände <strong>Cicero</strong>s nach Cäsars Tod zum<br />
Wendepunkt der Erzählung hin, indem in ihr auf<br />
die Entstehungsgeschichte von de officiis<br />
eingegangen wird. Erstmals wird auf S. 675 der<br />
«figlio Marco» namentlich erwähnt; dieser ist<br />
während seines Studienaufenthaltes in<br />
Griechenland auf moralische Abwege geraten;<br />
deswegen schreibt ihm der Vater eine Art<br />
Lehrbuch der rechten Lebensführung - der<br />
Erzähler läßt seine Meinung darüber<br />
unzweideutig erkennen: «certo, [Marco] ne<br />
avrebbe fatto tesoro, non sarebbe più rotolato sotto<br />
la tavola» (S. 677).<br />
Die Parallelität zwischen der Idee <strong>Cicero</strong>s<br />
und der des ihm nacheifernden Agamènnone<br />
konnte wiederholt festgestellt werden. Auch der<br />
Schluß des Exkurses, der bezeichnenderweise mit<br />
dem Namen des Protagonisten «Gigi» beendet wird<br />
(z.B. Att. I 19,6; 20, 3; vgl. II 9,1), verleiht der Gaddianischen Ironie an zusätzlicher<br />
Schärfe; für den sachkundigen Leser ergibt sich eine weitere komische Brechung.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
(S. 677, s.o., Fußnote 50), weist über die<br />
Beziehungsebene «<strong>Cicero</strong> - Marcus» hinaus auf die<br />
Ebene «Agamènnone - Gigi»: Im sich<br />
anschließenden Ende der Erzählung wird die<br />
Ethik des Onkels ihr Ziel verfehlen, ja geradezu<br />
(Mit-) Ursache der Initiation des Gigi werden.<br />
7. «Il subligàculum» - Die Rolle von de officiis<br />
(I, 35)<br />
De officiis 65 als wichtige Lektüre Gigis und<br />
als Vorbild für das Buch des Agamènnone ist<br />
während der ganzen Erzählung präsent, u.a.<br />
durch Zitate. 66 Die Lektüre des Kapitels I, 35<br />
65 De officiis ist das letzte große philosophische Werk <strong>Cicero</strong>s; es ist seinem Sohn<br />
Marcus gewidmet (s.o.). Im ersten Buch beschreibt <strong>Cicero</strong> das sittlich Gute<br />
(«honestum»), im zweiten Buch wird der Begriff des Nützlichen («utile») eingeführt und<br />
anschließend im dritten Buch erörtert, inwiefern beide Pole miteinander vereinbart<br />
werden können.<br />
66 Bei der ersten Erwähnung (S. 665) wird de officiis mit dem Projekt des Agamènnone<br />
parallelgesetzt. Zitate finden sich z.B. auch aus de off. I, 8 (über Cäsar) S. 673 (s.o.), aus<br />
de off. II, 24 («Tanta in eo peccandi libido fuit, ut hoc ipsum eum delectaret peccare,<br />
etiam si causa non esset», S. 673: <strong>Cicero</strong> über Cäsar) oder mit der «infamia dei macellai
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
durch Gigi (S. 684) darf als eine der<br />
Schlüsselszenen der Erzählung gelten: Bei<br />
grundlegenden Reflexionen über das Schickliche<br />
kommt <strong>Cicero</strong> darauf zu sprechen, daß die Natur<br />
bestimmte Körperteile verdeckt, worin der<br />
Mensch sie durch Kleidung unterstützt. Weiterhin<br />
stellt er fest, daß Fortpflanzung der Sache nach<br />
etwas Ehrenvolles, das Wort dafür aber verpönt<br />
sei. Diese Zeilen, sowie die später folgende Stelle, in<br />
der es heißt, Schauspieler würden nie ohne<br />
Untergewänder («subligàculum») auftreten (vom<br />
Erzähler ebenfalls mit lateinischem Zitat<br />
«beglaubigt»), versetzen Gigi in einen Zustand<br />
höchster Verwirrung. Der gesamte weitere<br />
Verlauf der Erzählung kann als Folge dieses durch<br />
Lektüre der betreffenden Stellen aus de officiis<br />
hervorgerufenen Zustandes gesehen werden.<br />
Spontane Assoziationen Gigis 67 werden zwar<br />
wiederholt kurz unterbrochen (Telephonanruf der<br />
Tante, andere Lektüre (S. 686f.), Mittagessen),<br />
kehren aber immer wieder zurück («Ma su quel<br />
Carcano le girls di Gian Carlo vi si torcevano sopra,<br />
e pescivendoli» (ebd., mit Zitat aus de off. I, 42 in Fußnote des Erzählers) und v.a. in der<br />
Schlußszene (v.a. aus I, 35).<br />
67 Es handelt sich um Szenen, die er selbst erlebt hat bzw. von denen ihm erzählt worden<br />
ist, z.B. «la studentessa di belle arti» oder «Gian Carlo [...] al Casino de Paris» (S. 684).
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
in una figurazione ossessiva <strong>della</strong> voluttà» (S. 687))<br />
und münden schließlich in eine Reflexion über den<br />
Sinn seines Lebens: «E la vita sarebbe sempre stata<br />
così? Con il «De officiis» sul tavolino e [...] le<br />
occhiate <strong>della</strong> mamma?» (S. 689). Als Leitmotiv<br />
taucht in diesem Abschnitt der Erzählung<br />
wiederholt das Wort «subligàculum» aus de off. I,<br />
35 auf (S. 684, 692). Gigis spontane Reaktion Jole<br />
gegenüber ist letztendlich auf dieses Reflektieren<br />
und damit auf die Lektüre jener Stelle in de officiis<br />
zurückzuführen. Der Lesestoff erzielt also eine der<br />
von Frugoni und der contessa bezweckten<br />
entgegengesetzte Wirkung: «Una sola idea gli<br />
sembrò valida, nel filosofante mondo: trattenere la<br />
Jole» (S. 694).<br />
8. Abschließende Überlegungen: Die<br />
Bedeutung der <strong>Cicero</strong>-Parodie<br />
Das Netz der parodierenden Anspielungen<br />
spannt sich, ausgehend von der griechisch-<br />
römischen Antike im allgemeinen, immer enger<br />
um <strong>Cicero</strong>, um den ihn zu vermitteln suchenden<br />
Lateinlehrer sowie um den Onkel Gigis, schließlich
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
um die Mailänder Oberschicht und mittelbar um<br />
das faschistische Regime im Italien der späten<br />
zwanziger Jahre.<br />
Wiederholt werden Parallelen zwischen der<br />
untergehenden römischen Republik und dem<br />
Großbürgertum in der italienischen Großstadt zur<br />
Zeit des Faschismus gezeichnet, vor allem<br />
zwischen <strong>Cicero</strong> und der besonders<br />
traditionalistischen Adelsfamilie Brocchi. Dies<br />
kommt insbesondere im biographischen Exkurs<br />
über <strong>Cicero</strong> zum Ausdruck.<br />
Es besteht eine Wechselwirkung zwischen<br />
den Erziehenden und dem von ihnen<br />
verherrlichten <strong>Cicero</strong>, die sich im Grunde<br />
gegenseitig lächerlich machen. Dies gipfelt darin,<br />
daß der Versuch, Gigi zur «virtù» im<br />
(vermeintlich) römischen Sinne zu erziehen,<br />
darin endet, daß dieser zur «virilità» findet - gerade<br />
dieses der römischen «virtus» etymologisch<br />
grundlegend innewohnende Bedeutungselement<br />
(«vir») wird aber von Agamènnone, Giuseppina<br />
und Frugoni aus ihrem virtus-Begriff<br />
ausgeklammert!
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Komik entsteht durch Brechungen sowohl<br />
auf sprachlicher Ebene (z.B. Latinismen neben<br />
Wortneuschöpfungen des Zwanzigsten<br />
Jahrhunderts) als auch auf inhaltlicher Ebene<br />
(z.B. Überlappungen Antike - Gegenwart);<br />
bisweilen überschneiden sich beide Ebenen (z.B.<br />
antikisierend rhetorischer Stil - banaler<br />
gegenwartsbezogener Inhalt). Dabei erweist sich<br />
Gadda einmal mehr als Meister gelehrter<br />
Anspielungen und als Stilkünstler, wie in diesem<br />
Beitrag insbesondere im Hinblick auf antikes<br />
Gedanken- und Kulturgut zu zeigen versucht<br />
wurde.<br />
Mindestens zwei Parodien überlagern sich in<br />
San Giorgio in casa Brocchi: Eine Parodie auf das<br />
Leben und Werk <strong>Cicero</strong>s stellt den Kern der<br />
satirischen Erzählung dar, in welcher die<br />
vordergründig zunächst nur konservative und<br />
prüde pädagogische Auffassung der Mailänder<br />
Oberschicht in den zwanziger Jahren ad absurdum<br />
geführt wird. Im sprachlichen Duktus der<br />
Erzählung kann gleichzeitig eine Parodie<br />
faschistischer Rhetorik gesehen werden, mit der
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
eine der tragenden Säulen des autoritären<br />
Staatsapparates bloßgestellt wird.<br />
Die <strong>Cicero</strong>-Parodie hat demnach eine<br />
zweifache Funktion: Innerhalb des Textes führt sie<br />
zum Ende der Handlung hin (insbesondere der<br />
biographische Exkurs mit der<br />
Entstehungsgeschichte von de officiis als<br />
Kernstück). Außerdem weist sie nach außen in<br />
den gesellschaftsgeschichtlichen Kontext der<br />
Erzählung und trägt auf inhaltlicher (Philosophie<br />
und Pädagogik) wie auf stilistisch-formaler Ebene<br />
(Rhetorik) außer zu einer weiteren der<br />
facettenreichen antibürgerlichen Polemiken<br />
<strong>Gaddas</strong> auch zu einer frühen satirischen<br />
Abrechnung mit dem Faschismus bei.
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
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<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
Abstract<br />
Abstract<br />
In una lettera a Bonaventura Tecchi datata<br />
7/5/1931, riferendosi al progetto di un racconto il<br />
quale recherà il titolo San Giorgio in casa Brocchi,<br />
Carlo Emilio Gadda scrive che «nella seconda parte<br />
[sc. del racconto] è tirato in scena un benpensante<br />
dell´antichità classica, anzi il re dei benpensanti, e<br />
cioè Marco Tullio <strong>Cicero</strong>ne, nonché il «De Officiis»».<br />
Il contributo qui presente si è proposto, tra l´altro,<br />
di riflettere sulla funzione <strong>della</strong> lunga divagazione<br />
sulla vita di <strong>Cicero</strong>ne inserita poco prima <strong>della</strong><br />
peripezia del racconto. Quest´ultima è scatenata<br />
proprio dalla lettura da parte del protagonista Gigi<br />
di un passaggio del «De Officiis», appunto. La<br />
trama si svolge in un´atmosfera anticheggiante<br />
evocata da frequenti latinismi, allusioni, citazioni,<br />
che vengono attinti un po´ovunque alla cultura<br />
classica. In alcuni esempi si avrà modo di<br />
illustrare i rapporti intertestuali presenti in
<strong>Daniel</strong> <strong>Reimann</strong><br />
questo racconto (p. es. citazioni da Virgilio e<br />
Giovenale che fuori del loro contesto originario<br />
danno un nuovo senso al testo gaddiano). Le nostre<br />
considerazioni sulla funzione <strong>della</strong> parodia di<br />
<strong>Cicero</strong>ne nonché sul radicamento storico del<br />
racconto situato nel 1928/29 ci indurranno a<br />
leggerlo non unicamente come una satira<br />
dell´educazione perbenista e passatistico-<br />
ottocentesca <strong>della</strong> famiglia signorile Brocchi, ma<br />
anche come una satira precoce <strong>della</strong> cultura<br />
fascista che, come ben si sa, si servì anch´essa di<br />
citazioni classiche scelte a discrezione al fine di<br />
disorientare le masse popolari, rivelandosi così<br />
erede e manipolatrice di certa tradizione borghese.<br />
erschienen in:<br />
Marx, Barbara (Hrsg.): Komik der Renaissance –<br />
Renaissance der Komik. Frankfurt am Main et al.:<br />
Peter Lang 2000, 203-232