LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg
LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg
Mainfranken Theater Würzburg, Spielzeit 2009/2010 Materialmappe zu „ Kohlhaas“ von Marco Baliani und Remo Rostagno nach Heinrich von Kleist Petra Paschinger (Dramaturgie Schauspiel) Telefon 0931 / 3908 – 158 E-Mail petra.paschinger@stadt.wuerzburg.de Daniela Scheuren (Theaterpädagogik) Telefon 0931 / 39 09 – 223 E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de Materialmappe zum Stück erhältlich bei Daniela Scheuren, Theaterpädagogin am Mainfranken Theater Würzburg oder zum Herunterladen unter www.theaterwuerzburg.de, Junges Theater, Downloads Redaktion: Daniela Scheuren
- Seite 2 und 3: Werte Pädagogen, Vorwort Heinrich
- Seite 4 und 5: Thematisches Das Außermoralische
- Seite 6 und 7: Bedingungen für den Besuch der Pro
- Seite 8 und 9: Text von Petra Paschinger Der Zorn
- Seite 10 und 11: Der Stückautor: Marco Baliani Lebe
- Seite 12 und 13: Der Körper Normalerweise denkt man
- Seite 14 und 15: In dieser Zeit arbeitete er an sein
- Seite 16 und 17: Literarische Einordnung Mit einer p
- Seite 18 und 19: Wiederaufnahme der Fehde und Ende v
- Seite 20 und 21: anderen die Begnadigung Kohlhaas'.
- Seite 22 und 23: Sache, aus der sie ihr Recht und ih
- Seite 24 und 25: Weitere Gemeinsamkeiten zwischen Ko
- Seite 26 und 27: Unterschiede Jeder Vergleich hinkt,
- Seite 28 und 29: „durchdreht“ und es sozusagen e
- Seite 30 und 31: Versprechungen, die zumal in Wahlze
- Seite 32 und 33: Die Eltern Georg R.s, ein geschiede
- Seite 34 und 35: Was sind „School Shootings“? Ei
- Seite 36 und 37: Lektüretipps zum Thema Amoklauf He
- Seite 38 und 39: eschäftige ich mich mit einem einz
- Seite 40 und 41: Übung für den Unterricht Situatio
- Seite 42 und 43: Fragen und Aufgaben zum Stück Bes
- Seite 44 und 45: Ein Psychologe redet auf mich ein,
- Seite 46: Literaturverzeichnis Amoklauf von A
<strong>Mainfranken</strong> <strong>Theater</strong> <strong>Würzburg</strong>, Spielzeit 2009/2010<br />
Materialmappe zu<br />
„ <strong>Kohlhaas</strong>“<br />
von Marco Baliani und Remo Rostagno<br />
nach Heinrich von Kleist<br />
Petra Paschinger (Dramaturgie Schauspiel)<br />
Telefon 0931 / 3908 – 158<br />
E-Mail petra.paschinger@stadt.wuerzburg.de<br />
Daniela Scheuren (<strong>Theater</strong>pädagogik)<br />
Telefon 0931 / 39 09 – 223<br />
E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de<br />
Materialmappe zum Stück erhältlich bei Daniela Scheuren, <strong>Theater</strong>pädagogin am <strong>Mainfranken</strong><br />
<strong>Theater</strong> <strong>Würzburg</strong> oder zum Herunterladen unter www.theaterwuerzburg.de, Junges <strong>Theater</strong>,<br />
Downloads<br />
Redaktion: Daniela Scheuren
Werte Pädagogen,<br />
Vorwort<br />
Heinrich von Kleists Novelle MICHAEL KOHLHAAS, die 1808 entstanden ist, stellt<br />
Fragen die immer noch brandaktuell sind:<br />
Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? Was sind meine Rechte? Wofür kämpfe<br />
ich? Wann fühle ich mich sicher und geschützt? Wann fühle ich mich ungerecht<br />
behandelt? Wie gehe ich damit um? Wann handele ich und welche Mittel stehen mir<br />
zur Verfügung? Wann bringt mich das Verhalten anderer völlig aus der Fassung? Ist<br />
im Kampf um Gerechtigkeit jedes Mittel erlaubt?<br />
Kleist war selbst ein Suchender nach der Wahrheit und nach Erkenntnis über die<br />
Strukturen dieser Welt. So wie Kleist mit der Novelle „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ Fragen, die<br />
ihn selbst umtrieben, aufgeworfen hat, so tut es das <strong>Theater</strong> und die Bühnenfassung<br />
von Marco Baliani und Remo Rostagno auch.<br />
Unser Ziel ist nicht, Antworten auf all diese Fragen zu geben, sondern Sie uns<br />
gemeinsam mit dem jungen Zuschauer zu stellen. Das <strong>Theater</strong> stellt die Fragen<br />
öffentlich und stellt sie zur Diskussion. Im Dialog finden wir Antworten. Das <strong>Theater</strong><br />
ist ein Forum für die Fragen, Ängste und Wünsche aller Zuschauer.<br />
Der Regisseur Christoph Diem ist an die Tatorte der Geschichte gefahren, an die<br />
Orte aus Kleists Novelle in Deutschland und hat sich der Geschichte auf diese<br />
Weise genähert. Er hat sich an authentischen Orten mit den Kernfragen des Stücks<br />
beschäftigt.<br />
Den Fall <strong>Kohlhaas</strong> haben sie detektivisch recherchiert und die Orte dokumentiert.<br />
Daraus ist ein Roadmovie entstanden, das nichts von seiner ursprünglichen Kraft<br />
eingebüßt, sondern nur an Aktualität gewonnen hat.<br />
Die Geschichte wird auf der Bühne oder in der Klasse durch einen einzigen Spieler<br />
erzählt. Er ist <strong>Kohlhaas</strong> und seine Einsamkeit auf der Bühne wird zum spürbaren<br />
Gefängnis seiner Gefühle und Taten.<br />
Diese gesammelten Texte dieser Mappe sollen Ihnen, werte Pädagogen, Hilfe sein,<br />
das Stück und die Novelle „<strong>Kohlhaas</strong>“ in der Klasse zu bearbeiten.<br />
Wir zeigen Ihnen Bezüge zur Lebenswirklichkeit der Schüler auf und stellen<br />
verschiedene Deutungsansätze zur Verfügung.<br />
Ob Michael <strong>Kohlhaas</strong> ein rechtschaffener Bürger, ein verletzter Mensch, ein Terrorist<br />
oder Amokläufer ist und wie viel „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ in jedem von uns steckt, gilt es<br />
herauszufinden.<br />
Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern viel Vergnügen dabei.<br />
Wir besuchen Sie gerne mit dem Stück in der Schule und führen im Anschluss ein<br />
Gespräch mit den Schülern.<br />
Ihre <strong>Theater</strong>pädagogin<br />
Daniela Scheuren<br />
2
Zum Stück und zur Inszenierung<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Besetzung S. 5<br />
Termine S. 5<br />
Bedingungen für den Besuch der Produktion in ihrer Schule S. 6<br />
Inhalt <strong>Kohlhaas</strong> S. 7<br />
Der Zorn des Gerechten? S. 8<br />
Der Stückautor: Marco Baliani<br />
Lebensdaten S. 10<br />
Allmähliche Reputation des <strong>Theater</strong>machers und<br />
Stückeschreibers Marco Baliani in Deutschland S. 10<br />
Das Staunen die Zeit und der Körper S. 11<br />
Heinrich von Kleist – <strong>Kohlhaas</strong><br />
Werkbeschreibung S. 13<br />
Biographie Heinrich von Kleists S. 13<br />
Literarische Einordnung S. 16<br />
Der historische <strong>Kohlhaas</strong> S. 17<br />
o Ausbruch der Fehde S. 17<br />
o Vergleichsbemühungen S. 17<br />
o Wiederaufnahme der Fehde und Ende<br />
des Hans Kolhase S. 18<br />
3
Thematisches<br />
Das Außermoralische S. 19<br />
o Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“. Die totale Rache S. 19<br />
Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute S. 22<br />
Empfindliches Rechtsgefühl auch bei „modernen“ Terroristen? S. 22<br />
o Mittel des Terrors bei <strong>Kohlhaas</strong> S. 22<br />
o <strong>Kohlhaas</strong> als vorbildhafter Kämpfer ums Recht? S. 23<br />
o Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und<br />
dem modernen Terrorismus S. 24<br />
o Unterschiede S. 26<br />
o <strong>Kohlhaas</strong> kein Vorbild als Kämpfer ums Recht! S. 27<br />
o Der Drang zum Recht als Schubkraft für <strong>Kohlhaas</strong>-Typen? S. 28<br />
o Übersteigertes Rechtsgefühl als Gefahr S. 29<br />
<strong>Kohlhaas</strong> als Amokläufer S. 30<br />
o Amoklauf von Ansbach S. 31<br />
o Stichwort: Amoklauf S. 33<br />
o Was sind „School Shootings“? S. 34<br />
o Lektüretipps S. 36<br />
<strong>Theater</strong>pädagogisches<br />
Hermann Hesse S. 36<br />
Stefan Zweig – Der Amokläufer S. 36<br />
Peter Handke S. 36<br />
Brigitte Blobel – Alessas Schuld S. 38<br />
Übung für den Unterricht S. 40<br />
Fragen und Aufgaben zum Stück S. 42<br />
Thema Widerstand S. 43<br />
Thema Amoklauf S. 43<br />
Literaturverzeichnis S. 46<br />
4
Zum Stück und zur Inszenierung<br />
Heinrich von Kleist<br />
Marco Baliani / Remo Rostagno<br />
<strong>Kohlhaas</strong><br />
Ostdeutsches <strong>Theater</strong> - Roadmovie (nach einer alten Chronik)<br />
Für Jugendliche ab 15 Jahren<br />
Besetzung<br />
Inszenierung: Christoph Diem<br />
Fotos: Karina Nölp<br />
Dramaturgie: Petra Paschinger<br />
<strong>Theater</strong>pädagogik Daniela Scheuren<br />
Regieassistenz/Abendspielleitung: Marcus Rehberger<br />
Ein Solo mit: Kai Christian Moritz<br />
Termine<br />
Oktober 2009<br />
Samstag 10. Oktober 20:00 Uhr Premiere<br />
Mittwoch 14. Oktober 20:00 Uhr<br />
Mittwoch 21. Oktober 20:00 Uhr<br />
Donnerstag 22. Oktober 11:00 Uhr<br />
Mittwoch 28. Oktober 20:00 Uhr<br />
November 2009<br />
Mittwoch 18. November 20:00 Uhr<br />
Dezember 2009<br />
Donnerstag 17. Dezember 20:00 Uhr<br />
Januar 2010<br />
Sonntag 10. Januar 20:00 Uhr<br />
Samstag 23. Januar 20:00 Uhr<br />
Februar 2010<br />
Donnerstag 18. Februar 20:00 Uhr<br />
März 2010<br />
Donnerstag 4. März 20:00 Uhr<br />
Freitag 5. März 11:00 Uhr<br />
5
Bedingungen für den Besuch der Produktion in Ihrer Schule<br />
Wir kommen gerne mit dem Stück in Ihre Schule. Das <strong>Theater</strong> macht sich auf den<br />
Weg zu Ihnen. Wir wünschen uns zu diesem Zweck, dass die Schüler sich ihrerseits<br />
bereits auf den Stoff eingestimmt und vielleicht vorbereitet haben, damit das<br />
<strong>Theater</strong>erlebnis in der Schule für alle Beteiligten zu einem wertvollen und<br />
erfolgreichen Moment werden kann. Im Anschluss an die Vorstellung stehen wir,<br />
wenn es zeitlich möglich ist, für ein Gespräch mit den Zuschauern zu Ihrer<br />
Verfügung. Wir freuen uns über zahlreiche Rückmeldungen und eine spannende<br />
Auseinandersetzung mit den Schülern. Der Dialog zwischen Schauspieler und<br />
Zuschauern rundet das Erlebnis ab und treibt die Auseinandersetzung mit Inhalt und<br />
Form des Gesehenen voran. Auch freuen wir uns über Post der Schüler.<br />
WAS UND FÜR WEN?<br />
Heinrich von Kleist<br />
<strong>Kohlhaas</strong><br />
Fassung: Marco Baliani / Remo Rostagno (Stückgutverlag, München)<br />
Für Schüler ab der 10. Klasse<br />
Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten<br />
Mit: Kai Christian Moritz<br />
Inszenierung: Christoph Diem<br />
WIR BRINGEN MIT<br />
2 lichtstarke Diaprojektoren mit Kabel-Fernbedienungen, Dias, Tuch/Leinwand<br />
(mind. 2x3 m), CD-Player, CD<br />
VORGABEN FÜR SCHULEN<br />
Buchbar ab 3. Schulstunde (Große Pause als Aufbauzeit)<br />
Weiße Fläche zum Projizieren bis zum Boden (oder Möglichkeit, das Tuch zu<br />
befestigen)<br />
Dauer: 1 Std. 15 min.<br />
Raum: Komplett verdunkelbarer Raum!! (am besten Medienraum)<br />
Wir spielen für bis zu drei Schulklassen (ca. 90 Schüler), wenn der Raum geeignet<br />
ist.<br />
Preis: 100 Euro pro Klasse<br />
Fahrtkosten: 50 Euro für Schulen außerhalb <strong>Würzburg</strong>s<br />
Ihr Kontakt<br />
Daniela Scheuren (<strong>Theater</strong>pädagogik)<br />
Telefon 0931 / 39 09 – 223<br />
E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de<br />
6
Inhalt <strong>Kohlhaas</strong><br />
Ein Stück Erzähltheater frei nach Motiven von Heinrich von Kleists Novelle Michael<br />
<strong>Kohlhaas</strong>.<br />
Aus dem Italienischen von Brigitte Korn-Wimmer.<br />
<strong>Kohlhaas</strong> ist Rosshändler, wie es schon zuvor sein Vater und Großvater waren. Sein<br />
Besitz ist groß, seine Ehe glücklich, sein Leben vollkommen. Eines Tages reitet er zu<br />
einem Großhandel nach Dresden und findet die Landstraße, die er schon immer<br />
bereist, wenige Kilometer vor dem Ziel mit einem Schlagbaum versperrt. Einen<br />
Passierschein hat er nicht, also lässt er dem Freiherrn von Tronka seine zwei besten<br />
Rappen zum Pfand. In Dresden angekommen, muss <strong>Kohlhaas</strong> erfahren, dass er auf<br />
einen üblen Spaß hereingefallen ist. In Erwartung einer Entschuldigung kehrt er zum<br />
Schloss des Freiherrn zurück. Seine beiden Vollblüter findet er zum Skelett<br />
abgemagert im Schweinestall vor, seinen Pferdeknecht bis aufs Blut misshandelt,<br />
vom Freiherrn weit und breit keine Spur. <strong>Kohlhaas</strong> will Recht erfahren, schreibt einen<br />
Brief an den Leipziger Gerichtshof. Doch die Advokaten wollen von dem Vorfall<br />
nichts wissen, Freiherr von Tronka ist ein einflussreicher Adliger. <strong>Kohlhaas</strong> Frau<br />
erkennt, wie wichtig die Angelegenheit für ihren Mann ist, und wendet sich mit<br />
einem Bittgesuch direkt an den Landesherren von Berlin.<br />
Durch ein furchtbares Missgeschick wird sie von den Wachen des Landesherren<br />
tödlich verletzt. <strong>Kohlhaas</strong> begräbt seine Frau, verkauft seinen gesamten Besitz, lässt<br />
seine Kinder bei Verwandten zurück. Von nun an lebt er im Zeichen der Rache, jagt<br />
dem Freiherrn von Tronka hinterher und verheert alle Städte, in denen dieser<br />
Zuflucht vor ihm sucht, mit Feuer und Schwert. Andere Rechtslose schließen sich<br />
ihm an. Wie ein Wirbelsturm braust sein immer größer werdendes Heer über<br />
Deutschland hinweg und hinterlässt eine breite Spur der Zerstörung. Ehe <strong>Kohlhaas</strong><br />
wieder zu Sinnen kommt, wird er zum „rechtschaffensten und zugleich<br />
entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ – und zum ersten Terroristen der Geschichte.<br />
Eine der kunstvollsten Novellen der deutschen Literatur als Solo für die Bühne:<br />
Die bekannten italienischen <strong>Theater</strong>macher Marco Baliani und Remo Rostagno<br />
haben mit ihrem <strong>Kohlhaas</strong> ein Stück Erzähltheater geschaffen, das gleichermaßen<br />
auf die Sprachgewalt der Vorlage wie auf die Kraft der Reduktion setzt. Die<br />
komplexe Handlung des Originals wird auf einfache Grundlinien zurückgeführt und<br />
das Augenmerk ganz auf die seelisch-moralische Entwicklung des Protagonisten<br />
und die zentralen Fragen der Geschichte gerichtet, die von erschreckender<br />
Aktualität sind: Darf ein Mensch anderen unschuldigen Menschen für eine gerechte<br />
Sache Leid zufügen, weil die Bedeutung der Sache über dem Schicksal des<br />
Einzelnen steht? Hebt sich Unrecht auf, wenn es im Namen des Rechts geschieht?<br />
7
Text von Petra Paschinger<br />
Der Zorn des Gerechten?<br />
Heinrich von Kleists Novelle „<strong>Kohlhaas</strong>“ als Solostück und theatrales Roadmovie<br />
Heinrich von Kleists vielleicht berühmteste Novelle, „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“, beeindruckt<br />
durch sprachliche Schärfe und - basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Figur des<br />
Michael <strong>Kohlhaas</strong>, der auf dem Weg nach Leipzig zwei seiner besten Rassepferde<br />
an den Junker Wenzel von Tronka verliert und fortan mit allen Mitteln um ihre<br />
Rückgabe kämpft, beruht auf der Lebensgeschichte des historischen Michael<br />
Kohlhase (ca. 1500 – 1540), Kaufmann in Cölln an der Spree (heute ein Teil Berlins).<br />
Kohlhase hatte nach einem ähnlichen Vorfall dem Land Sachsen die Fehde erklärt<br />
und wurde 1540 zusammen mit seinen Anhängern vor Gericht gestellt und zum<br />
Tode verurteilt.<br />
Held oder Verbrecher?<br />
Kleist macht seinen <strong>Kohlhaas</strong> zu „einem der rechtschaffensten und entsetzlichsten<br />
Mensch“ zugleich, der nur in einer Tugend ausgeschweift habe: „Das Rechtgefühl<br />
machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Mit dieser Einstellung befindet <strong>Kohlhaas</strong> sich<br />
durchaus in bester Gesellschaft: als Kämpfer für Gerechtigkeit steht er den<br />
modernen amerikanischen Superhelden Superman, Batman etc. in nichts nach.<br />
Auch sie kämpfen für Recht und Ordnung in der Welt – und nicht immer mit lauteren<br />
Mitteln. Dass <strong>Kohlhaas</strong> dennoch tragischer, kaputter erscheint als seine strahlenden<br />
Helden-Kollegen, liegt an den Umständen, die ihn so lange scheitern lassen, bis es<br />
zu spät ist. Und natürlich an der Unbedingtheit und wütenden Vehemenz seines<br />
Kampfes, der sich bald nicht mehr nur gegen einzelne Schuldige richtet, sondern<br />
gegen die ganze Welt. Aus dem Kampf um Recht und Gerechtigkeit wird ein<br />
Amoklauf.<br />
Selbstjustiz<br />
<strong>Kohlhaas</strong> ist ein Outlaw, ein Gesetzloser, seit er aus dem Bereich des Rechts<br />
ausgeschieden ist: Da wo der Staat und das geregelte Rechtssystem nicht greifen<br />
(wollen), verlangt er sein Recht – notfalls auch im Alleingang und mit Gewalt. Auch in<br />
der Realität ist Selbstjustiz – so wohl der moderne Fachausdruck für <strong>Kohlhaas</strong>ens<br />
Auslegung des mittelalterlichen und bereits zu seiner Zeit veralteten Fehderechts -<br />
häufig die Konsequenz, wenn die Institutionen zu versagen scheinen. Nicht selten<br />
werden Opfer gewalttätig, wenn die Justiz - in ihren Augen – nicht hart genug<br />
vorgeht und das Unrecht angemessen bestraft. So griff etwa die 31jährige Marianne<br />
Bachmeier 1981 in einem aufsehenerregenden Fall in Lübeck zur Waffe und<br />
erschoss den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal. Weltweit bekannt<br />
wurde auch der Fall der indischen „Königin der Banditen“, Phoolan Devi, die sich für<br />
eine erlittene Vergewaltigung rächte, indem sie gemeinsam mit ihren Anhängern die<br />
Schuldigen, mehrere Männer aus einer höheren Kaste, erschoss. Der Anspruch auf<br />
Gerechtigkeit wird in vielen Fällen ausgeübter Selbstjustiz zum Anspruch auf Rache.<br />
In demokratischen Ländern mit Gewaltenteilung ist Selbstjustiz bei Strafe verboten.<br />
Amoklauf<br />
<strong>Kohlhaas</strong> verlangt Gerechtigkeit, seine Rache trifft aber nicht nur die vermeintlich<br />
Schuldigen, sondern auch Unschuldige. In einer alles verheerenden Wut setzt er<br />
ganze Dörfer und Städte in Brand. Wird hier aus dem Kampf um Gerechtigkeit ein<br />
Amoklauf? Nicht nur im ursprünglichen Sinn des Wortes – Amok ist eine<br />
8
indonesische Strategie der Kriegsführung, bei der eine beinahe verlorene Schlacht<br />
dadurch gewendet wird, dass eine kleine Gruppe verschworener Krieger ohne<br />
Rücksicht auf das eigene Leben blindwütig gegen den Feind anläuft, auch im<br />
heutigen Wortgebrauch läuft <strong>Kohlhaas</strong> Amok. Nach dem Versagen der staatlichen<br />
Gerichtsbarkeit versinkt <strong>Kohlhaas</strong> in das für Amokläufer typische Grübeln, in eine<br />
Phase des Rückzugs und des Schweigens, bevor er explodiert und mit einer Schar<br />
Gleichgesinnter ganz Ostdeutschland in Brand setzt. Sein Kampf um Gerechtigkeit<br />
wird stellvertretend zum Freiheitskampf, sein blindwütiges Anrennen gegen „die<br />
Schuldigen“ wird zum Kampf gegen gesetzliche Willkür und die herrschende<br />
Gesellschaftsordnung umgewidmet.<br />
Outlaw<br />
<strong>Kohlhaas</strong> steht – in vielerlei Hinsicht - jenseits aller Kategorien: er ist ein Outlaw, ein<br />
Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, ein Verbrecher und (tragischer) Held. In<br />
Kleists klarer, nüchterner Sprache entsteht das Bild eines Individuums, das auf<br />
nichts mehr hoffen darf und alles aufs Spiel setzt. Ein Klassiker.<br />
9
Der Stückautor: Marco Baliani<br />
Lebensdaten<br />
Geboren 1950 in Verbania<br />
Autor, <strong>Theater</strong>- und Filmschauspieler, Regisseur<br />
1975-1990: Gründer und künstlerischer Leiter, <strong>Theater</strong> „Ruotalibera“ in Rom<br />
Lebt seit 1991 - freiberuflich tätig - in Parma.<br />
KOHLHAAS wurde vom italienischen Fernsehen professionell auf Video<br />
aufgezeichnet.<br />
Allmähliche Reputation des <strong>Theater</strong>machers und Stückeschreibers<br />
Marco Baliani in Deutschland<br />
„Entdeckungen sind immer wieder zu machen, manchmal dauern sie aber eine<br />
gehörige Zeit. Die italienische Szene scheint den deutschen Kinder- und<br />
Jugendtheatermachern zwar nicht unbekannt, seit Carlo Formigoni hierzulande als<br />
Regisseur gastierte oder das Schauspielerduo Nino d’Introna und Giacomo<br />
Ravicchio mit „Robinson & Crusoe“ auftrat. Doch der neben Formigoni profilierteste<br />
Kindertheater-Macher Italiens, eben Marco Baliani, gerät nur allmählich in den Blick<br />
hiesiger <strong>Theater</strong>leute.<br />
Zwar entwickelte Baliani schon 1989 für den Steirischen Herbst in Graz das immer<br />
noch aktuelle, aber nie nachgespielte und nun hier vorgestellte Stück „Saturnus“.<br />
Und 1990 inszenierte Brigitte Dethier in Esslingen sein Stück „Oos“. Doch erst seit<br />
Balianis Auftritt beim Frankfurter Autorenforum 1992, wo sich regelmäßig die Kinder-<br />
und Jugendtheaterdramaturgen tummeln, wuchs das Interesse. Die gleichzeitige<br />
deutschsprachige Erstaufführung seines Stücks „Rosa und Celeste“ am Avanti-<br />
<strong>Theater</strong> in Aachen trug auch dazu bei. Zuletzt erreichte „Rosa und Celeste“<br />
immerhin ein gestandenes Stadttheater - die Dortmunder Dramaturgin Heike<br />
Langensiepen inszenierte es sinnigerweise in einem Eisenbahnwaggon am<br />
Hauptbahnhof.<br />
Dabei ist Baliani kein Newcomer in der europäischen Kinder- und Jugentheater-<br />
Szene. Schon 1975 gründete er in Rom das <strong>Theater</strong> Ruotalibera, das er bis 1990<br />
leitete. Seit 1983 schreibt er Stücke, die mehrfach mit dem Premio Stregagatto, dem<br />
höchsten italienischen Kindertheater-Preis, ausgezeichnet wurde. Seit 1991 arbeitet<br />
Baliani als freier Autor, Regisseur und Schauspieler. Mit seinem Selbstverständnis<br />
als „Geschichtenerzähler“ und seinem Konzept eines „epischen <strong>Theater</strong>s“ knüpft er<br />
nicht nur an alte Erzähltraditionen, wo wichtige Passagen vorgespielt werden, und<br />
an manche <strong>Theater</strong>tradition an, sondern ebenso daran, dass Kinder über lauter<br />
Eindrücke nur noch sinnentstellte Erfahrungen machen können, dass ihnen in der<br />
herrschenden Reizüberflutung kaum mehr ein sinnstiftender Zusammenhang zu<br />
erkennen gelingt. Doch kein trockenes Lehrtheater wird hier angestrebt; Baliani setzt<br />
vielmehr auf die kindliche Fähigkeit des „Staunens“, das er als „ein tiefes und<br />
aufrichtiges Fühlen“ definiert, „ein Zuhören, ein Schauen, ein Berühren der Dinge der<br />
Welt, als wären diese noch nicht durch einen einzigen Namen geordnet“, wie er in<br />
seinen „Gedanken eines Geschichtenerzählers“ notiert [...] Kein Wunder, dass<br />
10
Balianis Stücke, die auf Phantasie bei Spielern und Publikum setzen und auch auf<br />
die Magie der Geheimnisse der Wirklichkeit, weit über das ganz junge Publikum<br />
hinaus zu faszinieren vermögen. [...]“<br />
(Manfred Jahnke in: Die Deutsche Bühne 1/96)<br />
Das Staunen, die Zeit und der Körper<br />
Die Kunst der mündlichen Überlieferung<br />
Marco Baliani<br />
Die erste Begabung eines Erzählers ist eine besondere Fähigkeit zu staunen, als<br />
würde durch das Erzählen der kleinsten Dinge der Welt, aber auch der größten,<br />
diese in neuem Licht erstrahlen, sich in neuen nicht verbrauchten Formen zeigen. Im<br />
Akt des Erzählens ist es so, als würde die Zeit ständig neu aufgehen.<br />
Diese Qualität des Staunens ist eine für die Kindheit typische Erinnerung, etwas, das<br />
uns damals gehörte und uns jetzt nicht mehr gehört. Ich glaube, dass sich ein Kind<br />
aus diesem Grund so gerne ein Märchen erzählen lässt. In den Worten des<br />
Erzählers, und noch mehr in der Art, in der der Erzähler das Unsichtbare durch die<br />
Erzählung sichtbar macht, findet er einen Teil der eigenen Erfahrung wieder, eine Art<br />
auf die Welt zu schauen und sie wahrzunehmen, als wäre es eine ständige<br />
Entdeckung. Ich glaube, dass sich auch bei einem Erwachsenen, der einer<br />
Erzählung lauscht, dieselben Gefühle einstellen; doch für ihn ist dieses Staunen<br />
bereits ein nostalgischer Akt, bezogen auf eine Zeit seines Lebens, auf die er nicht<br />
mehr verfügt. (…)<br />
Die Zeit<br />
Das Problem des mündlichen Erzählers besteht nicht darin, die Folge der<br />
Ergebnisse wiederzugeben, sondern das Gefühl, das sie erwecken, ein Bewusstsein<br />
für die Ereignisse zu erzeugen. Dieses Gerinnen und die Verstärkung der Gefühle<br />
bewirkt im Schauspieler, aber auch im Zuhörer, eine Kenntnis der Zeit, ein Spüren<br />
der Zeit des Lebens als eine Form der Wiedergewinnung. Das Spüren dieser Zeit ist<br />
eine Form der Stille der Welt, eine Leere, eine Pause, die von unserer Kultur und in<br />
unserem sozialen Leben schwer zu akzeptieren ist. (…)<br />
11
Der Körper<br />
Normalerweise denkt man an eine Erzählung, als eine mündliche Übermittlung von<br />
Worten. Doch das Mittel der Erzählung ist der Körper, nicht nur die Stimme, auch<br />
wenn die Stimme eine wichtige körperliche Komponente ist, ist sie nicht die einzige.<br />
Es ist der Körper, der das Erzählen inszeniert.<br />
Wenn die Handlung, die Worte, das Wahrnehmen und das Kennenlernen durch die<br />
Gefühle einen Höhepunkt erreichen, über den es unmöglich scheint hinauszugehen,<br />
dann kann man doch noch tanzen oder singen. Der Tanz und der Gesang sind für<br />
mich die unüberwindbaren Momente; sie sind keine technischen und formalen<br />
Kategorien, sie sind vielmehr Formen, reine Formen eines extremen Zuhörens und<br />
Sprechens, eine Verlängerung des Körpers über die Physis an sich hinaus, auf einen<br />
Fluchtpunkt hin gerichtet. (…)<br />
„Der mündliche Erzähler muss den anderen zeigen, was gewöhnlich nicht sichtbar<br />
ist, und dabei muss er selbst als erster im Stande sein, die vielen Wunder und Dinge<br />
zu sehen, die zwischen Himmel und Erde kursieren und pulsieren, und mit denen wir<br />
normalerweise, immer abwesend, immer mit irgend etwas anderem beschäftigt,<br />
nicht in Berührung kommen. (…)<br />
Quelle: Beiträge zum Jugendtheater 1996 in der Zeitschrift Praxis Schule 5-10, Heft 3 / 1996<br />
12
Werkbeschreibung<br />
Heinrich von Kleist – <strong>Kohlhaas</strong><br />
Der Junker Wenzel von Tronka hat zwei Pferde des Pferdehändlers Michael<br />
<strong>Kohlhaas</strong> angeblich als Pfand sicher gestellt. <strong>Kohlhaas</strong> versucht sein Eigentum<br />
zunächst auf dem Rechtsweg zurück zu bekommen, doch die Angelegenheit wird<br />
durch Tronka immer wieder verzögert. <strong>Kohlhaas</strong> versucht schließlich im Übermaß<br />
des Zorns, das was er für sein Recht ansieht, mit Gewalt durchzusetzen, indem er<br />
Burg und Dörfer des Junkers verwüstet. Erst durch das Eingreifen des Kurfürsten<br />
wird die Gerechtigkeit wieder hergestellt: Der Junker wird verurteilt, aber auch<br />
<strong>Kohlhaas</strong> wird hingerichtet – ein Urteil, das er auch als gerecht ansieht.<br />
Auch hier stellt Kleist den Einzelnen in Gegensatz zur staatlichen Ordnung. Doch<br />
<strong>Kohlhaas</strong> verliert sich derartig in einem Übermaß rasender Wut, dass ihm nur noch<br />
Gerechtigkeit, nicht mehr Verzeihung gewährt werden kann.<br />
Ein interessanter Aspekt ist auch das Heranziehen des Zeitgenossen Luther als<br />
mögliche schlichtende Instanz.<br />
Biographie Heinrich von Kleist<br />
Heinrich von Kleist stammt aus einer alten adligen Familie, die traditionell im<br />
preußischen Militärwesen eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Seine Ausbildung<br />
begann mit Privatunterricht zu Hause, doch nach dem Tod des Vaters – Kleist war<br />
gerade sieben – wuchs er in Berlin auf. Mit 15 Jahren schon wurde er in dem<br />
berühmten preußischen Regiment Garde aufgenommen und nahm im folgenden<br />
Jahr auch an militärischen Aktionen, z. B. der Belagerung von Mainz, teil. Als 22jähriger<br />
war er Leutnant, schied dann aber aus dem Militärdienst aus und studierte 3<br />
Semester in seiner Geburtsstadt. Weil er sich über seine Zukunft klar werden wollte,<br />
unternahm er Reisen, darunter eine im Jahr 1800, jene mysteriöse nach <strong>Würzburg</strong>,<br />
über die er in seinem Brief unterschiedliche Ziele geheimnisvoll andeutete: ein<br />
Spionageauftrag, eine Operation – oder der Versuch, Schriftsteller zu werden?<br />
Mit Wilhelmine von Zenge blieb er nur kurz verlobt, die sog. Kant-Krise diente ihm<br />
zweifellos auch als Vorwand sich aus dieser Bindung zu lösen. Kleist hatte die<br />
kritische Philosophie des in Königsberg lehrenden Immanuel Kant kennen gelernt.<br />
Aus dessen Lehre von der Relativität menschlicher Erkenntnismöglichkeit zog er die<br />
Folgerung der Unmöglichkeit von Wahrheitserkenntnis: „Wir können nicht<br />
entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist (...)“.<br />
Kleist fand in Kants Lehre, die er nur teilweise aufnahm, eine Erklärung seiner<br />
eigenen Unsicherheit bezüglich eines festen Lebensplans wieder. Er flüchtete in<br />
vielerlei Reisen, die er nutzen wollte, um eine Antwort auf die Frage nach seiner<br />
wahren Lebensbestimmung zu bekommen. Solch intensive Beschäftigung mit<br />
seinem Lebensplan wird schon in dem Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu<br />
finden (1799) deutlich. Die Erfahrung der Stadt Paris, die er auf Reisen kennen<br />
lernte, erschien ihm schrecklich und er suchte in der Schweiz (1802) die ländliche<br />
Idylle – mit der Überlegung, Bauer zu werden.<br />
13
In dieser Zeit arbeitete er an seinem ersten Schauspiel „Die Familie Schroffenstein“,<br />
das 1803 erschien. Er zeigt hier am Schicksal zweier adliger Familien, wie Hass und<br />
Misstrauen eine mörderische Katastrophe auslösen, die auch die nachfolgende<br />
Generation einbezieht: Die Kinder der Familie, Agnes und Ottokar, können die<br />
Gegensätze nicht durch verstandesmäßige Argumentation aufklären und<br />
überbrücken, sondern sie werden schließlich irrtümlich jeweils von ihren Vätern<br />
getötet.<br />
Kleists Unsicherheit und Zweifel über die eigene Lebensbestimmung spiegeln sich<br />
im verhängnisvollen Geschehen dieses Schauspiels wieder – wie auch in Robert<br />
Guiskard, ein ebenfalls 1802 angefangenes Stück dessen Manuskript Kleist 1803<br />
verbrannte, aber fünf Jahre später noch einmal wiederherstellte. Immer deutlicher<br />
werden Unsicherheiten und Suche Kleists in der eigenen Lebensgestaltung: Er, der<br />
preußische Leutnant, plante, in den französischen Kriegsdienst einzutreten und<br />
konnte nur fast gewaltsam durch Intervention des preußischen Gesandten davon<br />
abgehalten werden.<br />
1805 erhielt er eine Anstellung in der preußischen Verwaltung, gab sie jedoch im<br />
folgenden Jahr wieder auf und schriftstellerische Arbeit an Schauspiel und Erzählung<br />
trat in den Vordergrund. 1807 wurde er von den Franzosen (weite Teile<br />
Deutschlands standen damals unter der Oberherrschaft Napoleons) als Spion<br />
verhaftet und war monatelang in Gefangenschaft in Pontarlier, wo er allerdings zu<br />
seiner Freude literarisch arbeiten durfte. Hier entstand z. B. die Erzählung „Die<br />
Marquise von O...“, die damals skandalös mit einem Zeitungsartikel beginnt, in der<br />
die Marquise den Vater ihres noch nicht geborenen Kindes sucht. Im Verlauf der<br />
Handlung wird offen gelegt, dass ein Offizier, der die Marquise vor Feinden gerettet<br />
hatte, die Ohnmächtige sogleich vergewaltigt hatte. Im Widerstreit zwischen<br />
Dankbarkeit, Zuneigung und Abscheu jenem „Engel und Teufel zugleich“ gegenüber<br />
siegen schließlich das Verzeihen und die Liebe. Im gleichen Jahr erscheint noch das<br />
Lustspiel „Amphitryon“. In Anknüpfung an den schon bei Molière vorhandenen Stoff<br />
gestaltet Kleist hier ein glückliches Ende: Alkmene, die Frau des Amphityon, wird<br />
durch den Göttervater Zeus in existenzielle Gefühlsverwirrungen getrieben, doch sie<br />
behält auf der Basis der Sicherheit ihres Gefühls, nicht des Verstandes, letztlich ihre<br />
autonome ruhige Selbstgewissheit. Ganz anders endet das 1808 in der von Kleist<br />
inzwischen herausgegebenen literarischen Zeitschrift Phöbus erschienene<br />
Trauerspiel „Penthesilea“: Die Titelheldin, eine Amazonenkönigin, ist den alten<br />
Gesetzen ihres Staates unterworfen, die ihr eine Liebe nur unter einem Mann<br />
erlauben, den sie im Kampf besiegt hat. Obwohl der Grieche Achilles bei den<br />
kriegerischen Auseinandersetzungen sie besiegt hat, verlieben sich beide<br />
ineinander. Als Achilles von den Gesetzen des Amazonenstaates erfährt, ist er –<br />
ohne Penthesilea davon weiß – bereit, sich zum Schein von ihr besiegen zu lassen<br />
und lässt ihr eine Kampfaufforderung übermitteln. Sie jedoch versteht dies nicht,<br />
glaubt sich in ihrer Liebe zu ihm verspottet und reagiert mit Hass. In totaler<br />
Gefühlsverwirrung tötet sie schließlich ihn und sich.<br />
Goethe gefiel diese Art und Weise, wie Kleist antike Mythologie verarbeitete, nicht,<br />
und als es 1808 in Weimar zu einem Misserfolg der Uraufführung von Kleists „Der<br />
zerbrochene Krug“ kam, dessen Inszenierung Goethe zu verantworten hatte,<br />
bedeutete dies das Ende der Bekanntschaft. 1807 war Kleist erneut monatelang auf<br />
Reisen in verschiedenen Staaten – der möglicherweise auch diesmal politische<br />
Hintergrund ist undurchsichtig. 1810 erschien ein Band Erzählungen, der u. a. „Das<br />
Erdbeben von Chili“ enthält. In dieser Novelle werden Jeronimo und die Novizin<br />
14
Josephe durch die hereinbrechende Naturkatastrophe vor der Bestrafung ihrer<br />
verbotenen Liebe gerettet. Aber die gesellschaftliche Toleranz und scheinbare<br />
Gemeinschaft nach dem Unglück trügt: Hass auf die beiden angeblich Schuldigen<br />
wird inszeniert und führt dazu, dass beide durch eine wütende Menschenmenge<br />
getötet werden. Nur ihr Kind wird gerettet durch einen Mann, der sich vom blinden<br />
Hass nicht hat mitreißen lassen.<br />
Auch das Schauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ wird in diesem Jahr<br />
uraufgeführt. Es handelt von der Gefühlssicherheit, mit der sich Käthchen, Tochter<br />
eines Handwerkers, an den adligen Grafen Wetter von Strahl gebunden sieht. Ein<br />
Traum hat ihr das Bild des Grafen vermittelt, dem sie nun – trotz Hindernissen und<br />
Intrigen – folgt. Der Graf fühlt sich ebenfalls zu Käthchen hingezogen, doch sein<br />
Standesdenken und eine Vision, die ihm eine Kaisertochter zur Frau vorhersagte,<br />
hindern ihn, seinem Gefühl zu folgen. Er wendet sich der intriganten Kunigunde zu.<br />
Doch Käthchens beharrliche Zuneigung überwindet die Gegensätze, und als sie sich<br />
schließlich als uneheliche Tochter des Kaisers herausstellt, endet das Stück<br />
märchenhaft.<br />
Mit den „Berliner Abendblättern“, die er 1810-1811 herausgab, versuchte Kleist<br />
noch einmal auf journalistischem Gebiet Fuß zu fassen. Die Abendblätter boten eine<br />
damals neuartige Mischung von Information, politischer Meinungsbildung,<br />
Unterhaltung und ein wenig Klatsch. Hier veröffentlichte Kleist auch eine Reihe<br />
seiner Anekdoten und Erzählungen, z.B. die bekannte Anekdote aus dem letzten<br />
preußischen Krieg, in der er einen verwegenen preußischen Reiter als Sieger über<br />
eine Reihe französischer Soldaten herausstellt. Doch gefiel der preußischen<br />
Regierung Kleists Vorstellung von Patriotismus nicht, und so wurde nach einigen<br />
einschränkenden Maßnahmen der Zensur die Zeitung schon bald wieder eingestellt.<br />
Wieder bemühte sich Kleist vergeblich um eine Anstellung; die Familie,<br />
insbesondere die Schwestern, bestärkten sein Gefühl, ein „nichtsnutziges Glied“ der<br />
Gesellschaft zu sein. Aus dieser Stimmung heraus kam es am Kleinen Wannsee bei<br />
Berlin zur Selbsttötung, die er als eine Art Selbstbestrafung empfand und in die er<br />
die ältere, todkranke und von ihm verehrte Henriette Vogel mit hinein nahm.<br />
15
Literarische Einordnung<br />
Mit einer pauschalen Einordnung Kleists in die Zeit der Romantik ist wenig<br />
Charakteristisches gesagt. Zu groß sind auf den ersten Blick die Unterschiede der<br />
„typischen“ romantischen Texte etwa Ludwig von Eichendorffs oder Ludwig Tiecks<br />
zu Kleists Werken.<br />
Romantisch ist bei Kleist die Grundlegung menschlichen Handelns in der Sicherheit<br />
des Gefühls, die oft verstandesmäßigen Überlegungen zuwiderläuft. Kleist erprobt<br />
an den Gestalten seiner Texte diese Sicherheit, indem er sie Verwirrungen aussetzt,<br />
die sich nicht rational entschlüsseln lassen und die die Autonomie des Gefühls in<br />
Frage stellen können. Dies Grundmuster der Handlungsführung und<br />
Personengestaltung, das in seinen Texten immer wieder auftaucht und oben schon<br />
z. B. „An der Marquise von O...“, in Amphityron oder im Käthchen von Heilbronn<br />
sichtbar geworden ist, thematisiert auch sein Essay Über das Marionettentheater<br />
von 1810.<br />
Kleist entwirft hier ein Modell menschlichen Verhaltens im Vergleich zwischen Tier,<br />
Marionette und Gott. Instinktmäßig handelt das Tier aus seiner Natur heraus<br />
„richtig“, die Grazie der Bewegung der Marionette wird im Text erklärt durch ihren<br />
rein mechanischen Bewegungsablauf, der sich allein nach natürlichen Gesetzen der<br />
Schwerkraft richte. Der Mensch jedoch ist nur ausnahmsweise in der Lage, aus dem<br />
Zustand naturhafter paradiesischer „Unschuld“ heraus zu handeln; durch sein<br />
Bewusstsein, das ständig reflektierend und beurteilend eingreift, wird er gestört und<br />
aus der selbstverständlichen Sicherheit des Handelns, wie sie Tier und Marionette<br />
zu eigen ist, herausgerissen. Erst das Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg, das<br />
zu Lebzeiten Kleists nicht veröffentlicht wurde, zeigt hier eine Lösung: Das utopische<br />
Bild vom gerechten Staat, verdeutlicht durch den weisen, verzeihenden Herrscher,<br />
entwirft die Möglichkeit, zur Sicherheit des Handelns zurückzufinden.<br />
Gefährdung der menschlichen Identität ist somit das große Thema Kleists, das sich<br />
auch im Lebenslauf des Autors widerspiegelt. Er widerspricht damit dem<br />
optimistischen Menschenbild, das die Literatur der Aufklärung und Klassik<br />
herausgestellt hat, und weist mit solcher Thematik auf die Moderne voraus. Die<br />
Zeitgenossen von Kleist haben für Dichter und Werk wenig Interesse gezeigt; erst<br />
nach seinem Tod setzt durch Ludwig Tiecks Gesamtausgabe der Werke von 1821<br />
das Interesse ein. Die oft wiederholte Meinung, mit Kleist sei einer der besten<br />
deutschen Dichter am Unverständnis seiner Zeitgenossen zugrunde gegangen,<br />
gründet auf diesen Fakten.<br />
[Quelle: Heyde, Hartmut von der: Heinrich von Kleist. In: Lexikon Deutsch. Autoren und Werke. Hrsg.<br />
von Hartmut von der Heyde. Freising 2002.]<br />
16
Der historische <strong>Kohlhaas</strong><br />
Ausbruch der Fehde<br />
Die Quellen überliefern als eines der ersten Ereignisse, wie der Kaufmann Hans<br />
Kolhase am 1. Oktober 1532 von seinem Wohnort in Kölln an der Spree im<br />
Kurfürstentum Brandenburg nach Leipzig auf den Michaelis-Markt zieht.<br />
Hans Kolhase wird ungefähr 30 Kilometer vor seinem Reiseziel Leipzig in der<br />
Ortschaft Wellaune von Bauern angehalten. Auf Geheiß ihres Herrn, des<br />
Landadeligen Günther von Zaschwitz zu Schnaditz, fragen die Bauern Kolhase über<br />
die Herkunft seiner Pferde aus, weil in der Gegend vor nicht langer Zeit Pferde<br />
gestohlen worden sind. Es kommt zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung<br />
zwischen Kolhase und den Bauern. Kolhase muss ohne seine Pferde nach Leipzig<br />
weiterziehen. Er macht auf dem Leipziger Markt keine guten Geschäfte und kommt<br />
im Anschluss daran in finanzielle Schwierigkeiten. Auf dem Rückweg nach Kölln<br />
versucht er erfolglos, die Pferde von den Untertanen Günthers von Zaschwitz<br />
wiederzuerlangen. Kolhase verlegt sich zuerst auf den Rechtsweg. Unter Vermittlung<br />
des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg wird 1533 ein Rechtstag in sächsischen<br />
Düben angesetzt.<br />
Im Jahre 1534, als Kolhase erkennt, dass seine Forderung mit rechtlichen Behelfen<br />
nicht durchsetzen kann, schreibt er einen Absagebrief an Günther von Zaschwitz.<br />
Als erste Fehdenhandlung legt er Feuer in Wittenberg und dem nahen Dorf<br />
Schützberg.<br />
Vergleichsbemühungen<br />
Der Kurfürst von Brandenburg verweigert Kursachsen die nachbarschaftliche Hilfe<br />
gegen seinen Untertanen Kolhase mit dem Hinweis auf den Raubritter Nickel von<br />
Minchwitz, der wenige Jahre zuvor aus dem sächsischen Gebiet ungehindert eine<br />
Fehde gegen Brandenburg hat führen können. Der Fehdengegner Günther von<br />
Zaschwitz stirbt. Auf einem ersten Rechtstag in Jütebog am 6. Dezember 1534<br />
vergleichen sich die Parteien, Kolhase 600 Gulden Schadensersatz zu zahlen. Auf<br />
Ersuchen der Witwe des Günther von Zaschwitz erhebt der sächsische Kurfürst<br />
Johann Friedrich Einspruch gegen den Vergleich, weil die Abgesandten seine<br />
Instruktionen überschritten haben. Kolhase schreibt in seiner Not Luther um Hilfe an,<br />
der ihm zurät, Frieden anzunehmen.<br />
Als das Scheitern der Verhandlungen offenbar wird, beginnt die sächsische Seite<br />
fieberhaft nach Kolhase und seinen Helfern zu fahnden. Im Mai 1535 setzt Kolhase<br />
seine Fehde fort, indem er Dörfer im nördlichen Gebiet Sachsens (im Grenzraum<br />
Brandenburg) ausraubt und Schadenfeuer legt.<br />
Der Landadelige Eustachius von Schlieben, Amtmann zu Zossen, verständigt sich<br />
mit den beiden Parteien anfangs 1537 auf einen zweiten Rechtstag in Jütebog. Doch<br />
die sächsische Seite tritt nicht auf die Entschädigungsforderungen von Kolhase ein.<br />
Auch der Rechtstag zu Zerbst 1538 führt zu keinem Ergebnis. Der Nachfolger des<br />
brandenburgischen Kurfürsten, Joachim der Jüngere oder Zweite, weigert sich, auf<br />
das sächsische Gesuch um Verhaftung von Kolhase einzutreten und diesem das<br />
Geleit zu brechen.<br />
17
Wiederaufnahme der Fehde und Ende von Hans Kolhase<br />
Mit Blick auf die Verweigerung einer Entschädigung durch die kursächsische Seite<br />
erneuert Kolhase seine Fehde […].<br />
Für den Fortgang der Ereignisse bis zur Hinrichtung von Kolhase ist man auf die<br />
Schilderungen in den drei erwähnten Chroniken von Mentz, Leutinger sowie Haftiz<br />
angewiesen. Danach überfällt Kolhase einen brandenburgischen Silbertransport auf<br />
dem Weg zwischen den Mansfeldischen Bergwerken und Berlin, um seinen<br />
Kurfürsten zum aktiven Eingreifen zu bewegen. Die Haltung von Joachim II. wie auch<br />
die der Bevölkerung Brandenburgs scheint mit dieser Fehdehandlung definitiv<br />
umzuschlagen. Die Suche nach Kolhase und seinen Anhängern wird intensiviert, und<br />
bei einer Hausdurchsuchung findet man Kolhase, seine Frau und bald auch alle<br />
einflussreichen Fehdenhelfer. Am 8. März 1540 beginnt die Untersuchung gegen<br />
Kolhase in Berlin, die wie folgt endet:<br />
Anno Christi 1540. Montags nach Palmarum, ist Hans Kolhase, ein Bürger zu Cölln<br />
an der Spree, mit samt seinen Mitgesellen, Georg Nagelschmidt, und einem Küster,<br />
der sie gehauset, von Berlin aufs Radt gelegt.<br />
[Quelle: Müller-Tragin, Christoph: Die Fehde des Hans Kolhase. Zürich 1997.]<br />
18
Das Außermoralische<br />
Thematisches<br />
Das „Außermoralische“ meint weder Amoralisches noch Unmoralisches. Vielmehr<br />
wird es der Tragik der Moralität gerecht, die darin liegt, dass sich das Gute nicht für<br />
gut halten kann, ohne es schon weniger zu sein. Und es ist der Titel für solche<br />
Phänomene, die nicht entweder gut oder böse, sondern beides zugleich sind.<br />
Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“. Die totale Rache<br />
Eine literarische Moralkritik, von der überhaupt nur unter Vorbehalt die Rede sein<br />
kann, ist von der diskursiven klar unterschieden. Gibt es einen moralkritischen<br />
Gehalt in Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“, dann findet er sich nicht im Einzelnen<br />
ausgesagt, sondern kann nur aus dem Ganzen entfaltet werden. Dieses Ganze aber<br />
bleibt ambivalent genug, um jede Proposition zu dementieren. So kann kein letztes<br />
Urteil über Recht und Schuld in <strong>Kohlhaas</strong>' Kompensationsanspruch gefällt werden,<br />
und gerade so trifft Kleist die komplizierte Sachlage von der Rechtmäßigkeit des<br />
moralischen Anspruchs und der gleichstarken Berechtigung der Moralkritik. Er führt<br />
das Verhältnis von Recht und Unrecht in eine Paradoxie, die hier zu einer<br />
selbstständigen Kategorie wird.<br />
Der Fall <strong>Kohlhaas</strong> ist insofern paradox, als <strong>Kohlhaas</strong> nur durch äußerstes Unrecht zu<br />
seinem Recht kommt, selbst schuldig werden muss, um die Schuld des Junkers<br />
Wenzel von Tronka gesühnt, das korrumpierte Recht rehabilitiert und den Tod seiner<br />
Frau gerächt zu sehen. Die Paradoxie ist hier keine der Gegensatzkoinzidenz,<br />
sondern wird erst im Hinblick auf den Gang der Erzählung in der Unrechtsbedingung<br />
des Rechts, in dem kontingenten Auslöser der Kompensationsforderung und<br />
schließlich auch in der problematischen Hypergenauigkeit der Gesetzeserfüllung<br />
deutlich.<br />
Das Unrecht von <strong>Kohlhaas</strong>' brandschatzendem Rachefeldzug ist im Gang der Dinge<br />
die Brücke zur Wiederherstellung des Rechts, es kann aber nicht als Mittel<br />
gerechtfertigt werden. Deshalb muss sich das Recht schließlich durch die<br />
Hinrichtung <strong>Kohlhaas</strong>' bestätigen, ohne doch seine Unrechtskonditionen loswerden<br />
zu können. Auch <strong>Kohlhaas</strong> muss sein Unrecht, seinen Terrorismus sühnen und tut<br />
dies mit der vollen Zustimmung einer doppelten Genugtuung, der, die er bekommt<br />
und der, die er geben soll. Der doppelte Gesetzesbruch führt am Ende zu einem<br />
triumphalen Sieg des Gesetzes, in dem die Balance von Schaden und<br />
Entschädigung, Schuld und Sühne wiederhergestellt ist.<br />
Der Triumph dieses Sieges spiegelt zwar die volle Genugtuung, die die Gerechtigkeit<br />
geben kann, aber unter fragwürdigen Bedingungen und im Hinblick auf seinen Sinn<br />
mit ebenso fragwürdigem Erfolg. So führt das großangelegte Finale, das das<br />
Alphabet der Kompensation bis zum Z durchbuchstabiert hat, auch in einen<br />
Widersinn, der gerade aus der peinlichen Genauigkeit, mit der alle Forderungen<br />
erfüllt werden, hervorgeht. Die Kompensation, die das Recht und auch den Sinn<br />
garantiert, schließt selbst eine Unrechtsdimension ein, in der auch sie sinnlos wird.<br />
Indirekt fordert sie selbst ihre Ausnahme, denn in zwei Punkten drängen sich andere<br />
Möglichkeiten auf: das ist zum einen die Verzeihung gegenüber dem Junker, zum<br />
19
anderen die Begnadigung <strong>Kohlhaas</strong>'. Denn „alles wohl erwogen“, wie das im Text<br />
ausgerechnet Luther formuliert, macht <strong>Kohlhaas</strong> Insistenz auf Entschädigung, über<br />
den Buchstaben des Gesetzes hinaus, ebenso wenig Sinn wie seine Hinrichtung.<br />
Denn die Kompensation wird letztlich zur Demonstration ihrer bloßen<br />
Selbstbefriedigung, und das heißt, sie, die bloßes Mittel sein soll, wird zum Zweck.<br />
Das Ungenügen an ihrer Verabsolutierung wird zum einen in dem Gespräch mit<br />
Luther, der trotz Anerkennung der berechtigten Klage, zur Vergebung auffordert,<br />
deutlich, und zum anderen zeigt es sich in der allgemeinen Klage des Volks an<br />
<strong>Kohlhaas</strong>' Sarg und in dem Verlangen des brandenburgischen Kurfürsten, mit dem<br />
Ritterschlag der beiden Söhne des <strong>Kohlhaas</strong>' über das „schlichte Rechttun“<br />
hinauszugehen.<br />
Immer wieder stellt sich das Problem der angemessenen Relationen, die sich rein<br />
rechnerisch nicht bestimmen lassen. So stehen vor allem der eigentliche Grund des<br />
Rechtsstreits – die von dem Junker widerrechtlich einbehaltenen und<br />
abgewirtschafteten Pferde und die schwere Körperverletzung des Knechts Herse –<br />
in keinem Verhältnis mehr zum kriegerischen Ausmaß, das der Streit annimmt. Der<br />
Stein, der ins Rollen kommt, der Grund, der schließlich einen ganzen Staat ins<br />
Wanken bringt, wird lächerlich gering in Relation zu der Sicherheit und Ordnung, die<br />
auf dem Spiel stehen. Aber am Anfang ist er längst groß genug, um nicht einfach<br />
nach den ersten Misserfolgen in der Klage hingenommen werden zu können. Kleist<br />
hält mit der Konstruktion des Verbrechens im Haus Tronka genau die Balance, die<br />
einerseits eine starke Motivation für <strong>Kohlhaas</strong>' Vorgehen gibt, andererseits aber<br />
wiederum so geringfügig ist, dass sie eben dieses Vorgehen nicht rechtfertigen<br />
kann. Dass <strong>Kohlhaas</strong> noch nach seinen Anschlägen auf der Entschädigung, der<br />
Wiederherstellung der Pferde durch den Junker selbst und der Erstattung der<br />
Kurkosten für Herse besteht, wird zu einer ungerechtfertigten und fast unerfüllbaren<br />
Forderung der Rache. Die Kompensation wird allein zu einer Frage des Prinzips.<br />
Und das Prinzip, das Gesetz ist es auch, was für <strong>Kohlhaas</strong> am schwersten verletzt<br />
ist, wesentlich schwerer als sein Besitzstand und seine Fürsorgepflicht und<br />
Verantwortung für Herse.<br />
Der ordentliche Rechtsweg, den <strong>Kohlhaas</strong> durch alle Instanzen zu gehen bereit ist,<br />
ist unbegehbar. Die Justiz ist korrupt, nennt ihn, obwohl seine Rechtssache<br />
zunächst völlig eindeutig und sein Anspruch klar und stark ist, einen „unnützen<br />
Querulanten“, der sie in Zukunft „mit solchen Plackereien und Stänkereien<br />
verschonen“ solle. Der Staat verweigert ihm die Entschädigung, er verweigert den<br />
Schutz der Gesetze. Das ist der zweite Grund seiner Rache, die immer weniger dem<br />
Junker als dem gebrochenen Staatsvertrag gilt. In einem Land, das ihn in seinen<br />
Rechten nicht schützen will, mag er nicht bleiben. „Lieber ein Hund sein, wenn ich<br />
von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch!“ – Und wie ein Hund wird er sich<br />
nach langer Geduld benehmen. Aber zum Ausbruch seines Terrorismus, seines<br />
mordbrennerischen „Geschäfts der Rache“ ist noch ein weiteres Ereignis nötig.<br />
Der Grund seiner Klage und die Missachtung seines Rechtsanspruchs treten<br />
gegenüber diesem Ereignis in den Hintergrund. Sie rechtfertigen allein noch die<br />
Rede von der Rache, für die der eigentliche Auslöser dieser Rache nicht aufkommen<br />
kann. – Dieser Auslöser ist der Tod von <strong>Kohlhaas</strong>' Frau. Das wird an folgender Stelle<br />
deutlich: nachdem <strong>Kohlhaas</strong> Wittenberg zum dritten Mal in Brand gesetzt und damit<br />
grausame Vergeltung an Unschuldigen genommen hat, schaltet sich Luther, zu<br />
dessen „eben damals aufkeimendem Glauben“ sich <strong>Kohlhaas</strong> bekannt hatte, ein<br />
und wirft ihm per Plakat seine unerhörte Ungerechtigkeit vor. <strong>Kohlhaas</strong> hält ein,<br />
20
sucht Luther auf und gibt ihm die letzte Begründung für seine unerbittliche Rache.<br />
Auf die Frage Luthers, warum er auch jetzt noch, das heißt nach seiner<br />
brandschatzenden Selbstjustiz, auf der Dickfütterung der Rappen durch den Junker<br />
bestehe, antwortet er, „indem ihm eine Träne über die Wange rollte: hochwürdiger<br />
Herr! Es hat mich meine Frau gekostet; <strong>Kohlhaas</strong> will der Welt zeigen, dass sie in<br />
keinem ungerechten Handel umgekommen ist“. Und auch die Antwort auf Luthers<br />
zweite Frage, ob er, „alles wohl erwogen“, nicht besser getan hätte, dem Junker zu<br />
vergeben und die Pferde selbst dick zu füttern, macht die Ausschlaggebende<br />
Bedeutung des Tods von <strong>Kohlhaas</strong>' Frau deutlich. <strong>Kohlhaas</strong> antwortet: „Hätte ich<br />
gewusst, dass ich sie mit Blut aus dem Herzen meiner lieben Frau würde auf die<br />
Beine bringen müssen: kann sein, ich hätte getan, wie Ihr gesagt, hochwürdiger<br />
Herr, und ein Scheffel Hafer nicht gescheut! Doch, weil sie mir einmal so teuer zu<br />
stehen gekommen sind, so habe es denn, meine ich, seinen Lauf: lasst das<br />
Erkenntnis, wie es mir zukommt, sprechen, und den Junker mir die Rappen<br />
auffüttern“.<br />
Die Begründung für <strong>Kohlhaas</strong>' Unerbittlichkeit verschiebt sich also immer weiter,<br />
und zwar fatalerweise auf einen Grund, der selbst kein moralisches und<br />
kompensierbares Vergehen darstellt, der eigentlich kein Grund mehr, sondern „nur“<br />
noch Anlass und Auslöser ist. Die Tat des Junkers war ein eindeutiger<br />
Rechtsverstoß, ebenso die Korruption in der sächsischen Justiz, aber der Tod der<br />
Frau ist es nicht.<br />
Dass ihm der Rechtsstreit seine Frau „gekostet“ hat, ist eine Tatsache, die <strong>Kohlhaas</strong><br />
niemandem zurechnen kann, sie wird dadurch freilich nicht weniger wirksam.<br />
Lisbeth stirbt, als sie in <strong>Kohlhaas</strong>' Sache tätig wird, und zwar in der Folge ihres<br />
unglücklichen Versuchs, dem brandenburgischen Kurfürsten eine Bittschrift ihres<br />
Mannes zu überbringen. <strong>Kohlhaas</strong> selbst hatte sie auf den unheilvollen Weg<br />
geschickt, und das ganze Unternehmen geht auf ihren Vorschlag zurück. Die<br />
Umstände ihres Todes sind unklar und zufällig, auch waren für eine solche Mission<br />
keine Gefahren vorauszusehen. Alles deutet auf einen Unfall, nicht auf böse Absicht<br />
hin. Der Kastellan, auf dessen Vermittlung Lisbeth gerechnet hatte, ist nicht zu<br />
Hause – ein zufälliger Umstand, der sie davon abhält, bei dem Kurfürsten vorstellig<br />
zu werden, was an sich auch unbedenklich ist, aber: „Es schien, sie hatte sich zu<br />
dreist an die Person des Landsherrn vorgedrängt, und, ohne Verschulden<br />
desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß,<br />
mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten“.<br />
Die Schuld am Tod seiner Frau trägt niemand. <strong>Kohlhaas</strong>' Verlangen nach Kausalität,<br />
Vernünftigkeit, Ordnung und Rechenschaft muss hier am stärksten enttäuscht<br />
werden, umso absurder wird die Kleinlichkeit seiner Rache. Aber sie wird, gerade<br />
weil sie juristisch unangemessen ist, zwingend. Dass niemand für das Schlimmste,<br />
was <strong>Kohlhaas</strong> zustoßen konnte, verantwortlich ist, macht die Leere und Ohnmacht<br />
aus, die das enorme Potenzial seiner Rache freisetzen. Seine Verzweiflung ist so<br />
nachvollziehbar, gerade weil sie eigentlich keine zuzurechnende Ursache hat,<br />
sondern in diesem Fall zwar eine Folge der Gesetzverstöße ist, aber keine<br />
ursächliche, sondern eine kontingente. Der Bruch in der Mechanik der<br />
Kompensation muss hier die Kompensationsnot noch verstärken. Es ist die Situation<br />
des Unglücks, die jenseits der Kausalitäten, inmitten schwerkraftbedingter<br />
Schuldzusammenhänge eine Lücke reißt, die in keiner Weise angefüllt werden kann.<br />
Und dennoch ist genau dieses Unglück der schwerwiegendste Anlass für die<br />
Kompensationsforderung. So ist <strong>Kohlhaas</strong>' Rache zwar durch eine bestimmte<br />
21
Sache, aus der sie ihr Recht und ihren Schub bezieht, zu erklären, im Grunde aber<br />
gilt sie der Kontingenz und Sinnlosigkeit überhaupt, und eben dafür gibt es keine<br />
Vergeltung.<br />
[Quelle: Ewertowski, Ruth: Das Außermoralische. Friedrich Nietzsche – Simon Weil – Heinrich von<br />
Kleist – Franz Kafka. Heidelberg 1994 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik 28).]<br />
Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute<br />
Empfindliches Rechtsgefühl auch bei „modernen“ Terroristen?<br />
Ein ähnlich empfindliches Rechtsgefühl wird nicht selten unseren modernen<br />
Kämpfern für größere Gerechtigkeit und eine bessere Welt nachgerühmt; auch sie<br />
leiden wegen der Ungerechtigkeit der Welt an ihrer Seele und treten überdies mit<br />
dem Anspruch auf, „auf Erden Frieden, Freiheit und eine neue rechtliche Ordnung<br />
einzuführen, kurz: für die Wiederherstellung eines irdischen Paradieses zu arbeiten“.<br />
Die Praxis des Terrors bezieht ihre Legitimität unmittelbar aus unseren höchsten<br />
Zwecken, sozusagen aus den höchsten Gütern der Nation, die es dem Terroristen<br />
denn auch nicht schwer machen, das gute Gewissen reinzuhalten, indem er sich auf<br />
höchste Prinzipien wie etwa die Verwirklichung der Gerechtigkeit beruft. Das<br />
Entspricht just dem Unternehmen Robespierres, der Tugend durch Terror zur<br />
Herrschaft zu verhelfen. So kennzeichnet es sicher einen Teil seines Wesens, wenn<br />
<strong>Kohlhaas</strong> ein verfrühter Jakobiner genannt worden ist.<br />
Beide, Michael <strong>Kohlhaas</strong> und die modernen Terroristen, verbindet eine „radikale<br />
Rechtsleidenschaft“; in beiden sind denn auch Existenzformen eines Märtyrertums<br />
entdeckt und über den Begriff der Protest-Dichtung Brücken zur literarischen<br />
Gegenwart gebaut worden.<br />
Mittel des Terrors bei <strong>Kohlhaas</strong><br />
Dieses empfindliche, äußerst verletzbare und leicht verletzte Rechtsgefühl hindert<br />
weder <strong>Kohlhaas</strong> noch moderne Weltverbesserer, sondern treibt sie eher dazu, zu<br />
Mitteln ähnlicher Qualität zu greifen. Beide bedienen sich der Mittel des Terrors.<br />
Beide stimmen überein „in den von ihnen angewandten totalen Kampfmethoden und<br />
in der willkürlichen Auswahl ihrer Opfer“.<br />
Das beginnt bei <strong>Kohlhaas</strong> noch mit einem gleichsam individuellen Terror; so, wenn<br />
er den ersten, der ihm bei seinem Kampf gegen den von ihm befehdeten Junker in<br />
dessen Burg entgegenkam, „in den Winkeln des Saals schleuderte, dass er sein Hirn<br />
an den Steinen versprützte“; man sollte sich das einmal ganz konkret vorstellen; ein<br />
Film, der diesen Vorgang wirklich realistisch – natürlich in Farbe – darstellte, wäre<br />
wohl kaum für die heranwachsende Jugend zu empfehlen. Auf ähnlicher Ebene liegt<br />
es, wenn bei demselben Gemetzel unter dem Jubel des besten Knechts von<br />
<strong>Kohlhaas</strong> „aus dem offenen Fenster der Vogtei, die Leichen des Schlossvogts und<br />
22
Verwalters, mit Weib und Kindern“, herab flogen. Vollends ungezielt erfasst der<br />
Terror jedermann, wenn <strong>Kohlhaas</strong> wenige Tage später als „entsetzlicher Wüterich“<br />
Wittenberg, „während die Bewohner im tiefsten Schlaf lagen, an mehreren Ecken<br />
zugleich, in Brand steckte“ ohne jede Rücksicht darauf, welche Opfer dieses noch<br />
zweimal und überdies auch in Leipzig wiederholte Unternehmen werde fordern<br />
müssen; und dies alles nur, weil <strong>Kohlhaas</strong> vermutete – keineswegs wusste –, dass<br />
der ihm verhasste Junker sich in den Mauern der Stadt aufhalte, und das mit der<br />
ausdrücklichen Drohung, er werde die Stadt einäschern dergestalt, dass er „hinter<br />
keine Wand werde zu sehen brauchen, um ihn zu finden“. Man kann solches tun als<br />
„unmenschlich und unnatürlich“, als „wahrhaft inhuman“ bezeichnen, als „von<br />
humanem Empfinden unberührt, bedenkenlos in der Wahl der Mittel zum angeblich<br />
guten Ziel“ - noch dazu gegenüber gänzlich Unschuldigen.<br />
<strong>Kohlhaas</strong> als vorbildhafter Kämpfer ums Recht?<br />
Kann man unter diesen Umständen wirklich davon sprechen, <strong>Kohlhaas</strong> führe „keinen<br />
ziellosen Vernichtungskrieg“, sondern richte ihn „nur gegen den Schuldigen und alle<br />
diejenigen, die mit ihm gemeinschaftliche Sache machen“? So jedenfalls Rudolf von<br />
Ibering in seiner Hymne auf <strong>Kohlhaas</strong>. Oder sollte Ibering jene und noch manch<br />
andere Textstelle nur übersehen haben, weil sie mit seiner These von <strong>Kohlhaas</strong> als<br />
vorbildlichen Kämpfer ums Recht bei besten Willen nicht in Übereinstimmung zu<br />
bringen ist? Oder sah <strong>Kohlhaas</strong> vielleicht das ganze damalige Sachsen, sozusagen<br />
die ganze Welt als seine schuldigen Widersacher an?“ Aber einen solchen Zustand<br />
der „Verrückung“, von dem noch zu sprechen sein wird, hat Ibering gewiss nicht<br />
gemeint.<br />
23
Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und dem modernen Terrorismus<br />
Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und den modernen Terroristen<br />
drängen sich auf. Ich will nicht weiter darüber reden, dass dergleichen „Vorbilder“<br />
Nachfolgetäter zu ähnlichem Tun geradezu animieren müssen, Täter, die sich<br />
ihrerseits – ohne die edlere Gesinnung ihrer Vorbilder – terroristischer Mittel<br />
bedienen, um ihr ganz privates Süppchen zu kochen. Das ging dem Kleistschen<br />
<strong>Kohlhaas</strong> so, dem die „Aussicht auf Beute unter dem Gesindel... Zulauf in Menge<br />
verschaffte“; das ist heute nicht anders.<br />
Entscheidender und gefährlicher ist eine immerhin vergleichbare geistige Haltung,<br />
die ihnen gemeinsam ist und sie in manchem auch Kleist selbst verwandt sein lässt.<br />
Auch Kleist, „ein Grübler von der verbohrtesten Unbedingtheit“, hat sich „an der<br />
gesellschaftlichen Realität wund gestoßen“, ist von einer „ebenso faszinierenden wie<br />
gefährlichen Maßlosigkeit“, von „Untergangsseligkeit“, „störrischer<br />
Selbstbefangenheit“ besessen, erschreckend in seiner selbst zerstörerischen Glut“,<br />
„befeuert vom Willen zum“ (selbstverantworteten) „Absoluten“, gefangen in einem<br />
„Radikalismus seines Wesens, das nur unbedingte Verwirklichungen anerkennt“,<br />
„pathologisch“ durch „die Gewaltsamkeit der Entschlüsse, das Hindrängen zum<br />
Katastrophalen“, durch „die Überspitzung und das Absolutsetzen des Ichs“. Das<br />
kennzeichnet Kleist – natürlich nur partiell, aber immerhin – und manche seiner<br />
Gestalten, die an der eigenen Besessenheit zugrunde gehen – so auch <strong>Kohlhaas</strong>; es<br />
ist bezeichnend aber auch für die modernen Weltverbesserer. Dem entspricht ein<br />
Absolutheitsanspruch, ein Anspruch der als absoluter auch mit absoluten Mitteln<br />
durchgesetzt und nicht relativiert wird durch andere Dinge, die dem<br />
Absolutheitsfanatiker mindergewichtig erscheinen müssen.<br />
Doch nicht einmal das Recht ist eine absolute Größe und darf es nicht sein. Es steht<br />
in Relation zu anderen Werten; auch bei seiner Durchsetzung dürfen Zweck und<br />
Mittel nicht außer Verhältnis geraten. Ein totaler Rechtsstaat, der das Recht um<br />
jeden Preis durchsetzen wollte, wäre so schlimm und so gefährlich wie jeder totale<br />
Staat; ein Fanatiker der Gerechtigkeit ist nicht besser als alle anderen Fanatiker. Die<br />
„Diktatur der Gerechtigkeit“, so ist in einer noch heute lesenswerten <strong>Kohlhaas</strong>-<br />
Studie aus dem Jahre 1937 gewarnt worden, wäre ein Dispotiephantom, das<br />
notwendigerweise nicht zum Recht, sondern zu willkürlichen Entscheidungen eines<br />
irdischen Gottes führte, dem sich jeder einzelne Unterzuordnen hätte“. Was aber<br />
nicht einmal dem Staat erlaubt sein darf, das kann – jedenfalls in dem hier<br />
maßgeblichen Zusammenhang – beim einzelnen erst recht nicht geduldet werden.<br />
So gewinnt denn zwar <strong>Kohlhaas</strong> seinen Kampf ums Recht – aber um welchen Preis!<br />
Der Preis seines Lebens mag als selbstverantworteter und selbst zu erbringender<br />
die Sache wert sein; beim Preis, den seine Familie zu entrichten hat, sieht es schon<br />
ganz anders aus; unerträglich wird es aber, wenn man an all die vielen denkt, die<br />
<strong>Kohlhaas</strong> seinen Willküraktionen zum Opfer fallen lässt – Kleist erwähnt sie gar nicht<br />
–, obwohl sie mit seiner Sache nichts zu schaffen haben. Sein Drang nach Rache,<br />
geboren aus seinem einer Goldwaage gleichenden Rechtsgefühl, kennt kein Maß<br />
und keine Grenze; <strong>Kohlhaas</strong> verletzt – in der juristischen Terminologie von heute –<br />
offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die, die ihm nachfolgen, tun<br />
nichts anderes.<br />
Dies und das Bewusstsein, an rechtliche Grenzen nicht mehr gebunden zu sein,<br />
zeigen sich in einer nur scheinbaren Äußerlichkeit. <strong>Kohlhaas</strong> nennt sich in einem<br />
seiner Mandate, die er in seiner „Sache gegen den Junker von Tronka, als dem<br />
24
allgemeinen Feind aller Christen“, erlässt, „einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein<br />
unterworfenen Herrn“, bei Kleist als dem Chronisten wird dies als eine „Schwärmerei<br />
krankhafter und missgeschaffener Art“ qualifiziert. Ein anderes Mal setzt <strong>Kohlhaas</strong> –<br />
„mit einer Art von Verrückung“ – unter eines seiner Mandate „Gegeben auf dem Sitz<br />
unserer provisorischen Weltregierung“. Ist es nicht auch eine Art von Verrückung,<br />
wenn festgenommene terroristische Straftäter den Status von Kriegsgefangenen für<br />
sich in Anspruch nehmen?<br />
Dabei handeln <strong>Kohlhaas</strong> und die Kriegsgefangenenaspiranten durchaus konsequent.<br />
Indem sie sich in einen anderen Status „verrücken“, spielen sie keineswegs nur<br />
verrückt, sondern beanspruchen gleichzeitig noch die Rechte oder Befugnisse<br />
derer, deren Stellung sie sich anmaßen: die des Souveräns bei <strong>Kohlhaas</strong> und die<br />
des Soldaten bei unseren „Kriegsgefangenen“. Soldaten im Krieg dürfen nun einmal<br />
Dinge tun, für die sie als zur Friedlichkeit verpflichtete Bürger höchste Strafen<br />
riskierten; und der Souverän, als den sich <strong>Kohlhaas</strong> gerierte, steht – jedenfalls in<br />
gewissem Umfang – jenseits von Gut und Böse und bestimmt selbst, was Recht und<br />
was Unrecht ist: „Quod licet Jovi, non licet bovi“.<br />
Das wird vollends deutlich, wenn man den Fall ein klein wenig abändert. Man stelle<br />
sich vor, der Kurfürst von Brandenburg hätte sich rechtzeitig – und nicht erst, wie<br />
bei Kleist, reichlich spät – für die Rechte seines Untertans <strong>Kohlhaas</strong> eingesetzt; er<br />
hätte, um den unerhörten Rechtsfrevel an seinem Untertan zu ahnden und diesem<br />
sein Recht zu verschaffen, entsprechende Kriegserklärungen wie die von <strong>Kohlhaas</strong><br />
abgegeben, dabei freilich eine Etage höher und gleich auf den Kurfürsten von<br />
Sachsen zielen müssen; schließlich hätte er Sachsen mit Krieg überzogen und dabei<br />
jene Mittel angewandt, die auch <strong>Kohlhaas</strong> gebrauchte. Dann wären alle die von<br />
diesem begangenen Mordbrennereien gewiss noch schlimmere als<br />
Kriegshandlungen gerechtfertigt gewesen; leider bietet die Gegenwart Beispiele<br />
vergleichbarer Art durchaus. Wahrscheinlich wäre ein solcher Herrscher in die<br />
Geschichte eingegangen als jemand, der nicht um nichtigen Gutes und schnöden<br />
Gewinstes willen – etwa wegen Schlesien – einen Krieg begonnen hätte, sondern um<br />
das Recht – selbst des letzten seiner Untertanen – zu schützen. Als einziges<br />
Ungemach wäre einem solchen Herrscher vielleicht nur widerfahren, dass ihm<br />
Skeptiker ein so hehres Kriegsziel nicht geglaubt und dieses nur als Vorwand für ein<br />
ganz anderes vermutet hätten. So dicht können jedenfalls Recht und Unrecht<br />
beieinander liegen.<br />
Es ist schon schlimm genug, dass das Völkerrecht es duldet, oder jedenfalls nicht<br />
verhindern kann, wenn Kriege überhaupt und nicht selten um geringfügigere Anlässe<br />
willen geführt werden. Eher noch gefährlicher wäre es, wenn wir in den Zustand von<br />
Schaffung des modernen Staates der Neuzeit zurückfielen und wenn in das<br />
Gewaltmonopol des Staates von denen eingegriffen werden dürfte, die sich im<br />
Besitz ewiger Wahrheit und der absoluten Gerechtigkeit zu wissen glauben. Das<br />
bedeutet nicht nur Revolution, sondern – schlimmer noch – Anarchie. <strong>Kohlhaas</strong> ist<br />
sozusagen die Vorstufe dazu; sein Handeln enthält zugleich die Warnung davor;<br />
diese Warnung ist von den modernen Terroristen glänzend bestätigt worden.<br />
Es ist wohl kein Zufall, dass ein so nüchterner Verfassungshistoriker wie Fritz<br />
Hartung den Deutschen keine besondere Anlage zur Staatsbildung zuschrieb und<br />
dafür unsere „Eigenbrötelei“, die „Sehnsucht nach einer Extrawurst“ und „unser<br />
individualistisches Rechtsgefühl à la Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ mit verantwortlich machte.<br />
25
Unterschiede<br />
Jeder Vergleich hinkt, so auch der zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und den modernen<br />
Terroristen. Trotz mancher Parallelität, die eben nur einen Aspekt seiner<br />
vielschichtigen Gestalt ausmacht, ist er in anderen Punkten weit von ihnen entfernt.<br />
<strong>Kohlhaas</strong> ist nicht von vornherein ohne Maß; damit mag er im Ausgangspunkt sogar<br />
mit manch idealistischem Vertreter des neueren Terrorismus übereinstimmen, etwa<br />
mit Ulrike Meinhof. <strong>Kohlhaas</strong> weiß um die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ – ein<br />
häufig vorkommendes Wort bei Kleist. Ihm ist klar, dass die Welt ungerecht ist und<br />
dies in gewissem Umfang einkalkuliert, ja nachsichtig und gelassen hingenommen<br />
werden muss; das zeigt deutlich sein Langmut und seine Bereitwilligkeit zu<br />
Nachgiebigkeit und Zugeständnissen beim Beginn seines Kampfes ums Recht.<br />
Jenen Umstand rechnet er erkennbar „der allgemeinen Not der Welt“ zu; sie ändern<br />
zu wollen, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Er weiß auch, dass sich, wie die Dinge<br />
nun einmal angesichts dieser gebrechlichen Einrichtung der Welt liegen, an einem<br />
gewissen Maß von Ungerechtigkeit mit den notwendig unvollkommenen<br />
menschlichen Mitteln nicht viel ändern lässt.<br />
Unsere modernen Terroristen werden hingegen von dem Ziel beflügelt, die<br />
Ungerechtigkeit und das Unrecht schlechthin zu vertreiben. Für sie gibt es keine<br />
notwendige gebrechliche Einrichtung der Welt; sie gilt es vielmehr mit entsprechend<br />
harten und drastischen Mitteln – da anderes nicht hilft, auch mit terroristischen – zu<br />
verändern. Konkrete Vorstellungen, wie dieses gleichsam eschatologische Ziel<br />
aussieht, wohin die Reise gehen soll, darf man bei ihnen nicht erwarten; die Frage<br />
danach wäre aus ihrer Sicht schon illegitim. Sie wollen sozusagen etwas ganz<br />
anderes, ohne angeben oder sich wohl selbst vorstellen zu können, was dieses ganz<br />
andere ist; ja sie berühmen sich sogar, dass sie dieses ganz andere noch gar nicht<br />
wissen können und sie dafür eines Blankoschecks bedürfen.<br />
Nicht so <strong>Kohlhaas</strong>. Er weiß um den Wert der Institutionen als der Garanten des<br />
Rechts und will daher weder jene noch dieses ändern; er will das Recht nur befolgt<br />
und vom Staat geschützt, also vermieden wissen, dass – wie in seinem Fall – Willkür<br />
an die Stelle des Rechts tritt. Er will also weder die Gesellschaft noch die Staatsform<br />
noch das Recht umkrempeln, ist also gewiss kein Revolutionär. Nach dem Dienst an<br />
einer abstrakten Idee steht ihm nicht oder allenfalls insoweit der Sinn, als er in<br />
seinem subjektiven Recht generell die Rechtsordnung, die Ordnung der Welt,<br />
verletzt sieht. Seine Hybris beginnt erst, nachdem alle sehr überlegt und wiederholt<br />
auf verschiedenen Wegen vorgenommenen Versuche scheitern, sein eigenes, ganz<br />
konkretes Recht zu erlangen, und der dabei schließlich als „unnützer Querulant“<br />
beschimpft wird, der die Staatskanzlei „mit solchen Plackereien und Stänkereien<br />
verschonen“ solle. Erst angesichts solcher besonders nachhaltiger Rechtskränkung<br />
empfindet er den „Schmerz, der die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu<br />
erblicken“, und übernimmt – nachdem auch seine Frau, Mutter von fünf Kindern, bei<br />
einem jener Versuche ums Leben gekommen war – „sodann das Geschäft der<br />
Rache“.<br />
Wohlgemerkt: das Geschäft der Rache, nicht der Gerechtigkeit; immerhin ist das ein<br />
Geschäft mit bestimmtem Ziel vor Augen, kein bloßer Amoklauf, der ohne Sinn und<br />
Verstand und ohne Zielsetzung drauf los wütet. In dem Moment, da <strong>Kohlhaas</strong><br />
sozusagen durchdreht, mit terroristischen Mitteln arbeitet und selbst Terrorist wird,<br />
geht es ihm nicht um sein Recht, sondern um Rache, um Rache freilich immerhin als<br />
Rechtsersatz, wenn auch nicht um Ersatz für künftiges ewiges, in den Sternen<br />
26
stehendes, dunkel erahntes, nebelhaftes Recht, sondern um Ersatz – „nur“ – für ihm<br />
vorenthaltenes geltendes Recht.<br />
Das wird deutlich, als ihm Luther nach ihrem Gespräch die Amnestie für seine<br />
Mordbrennereien verschafft und er die Überprüfung seines Falls auf Grund des<br />
geltenden Rechts erwarten und gute Hoffnung haben kann, damit zu seinem Recht<br />
zu kommen. Denn als die Aussicht winkt, aus seinem Verfahren aus dem<br />
außerrechtlichen Zustand in den des Rechts übergeführt wird, kehrt auch <strong>Kohlhaas</strong><br />
aus dem Zustand des Außersichseins in den der völligen Normalität zurück und wird<br />
gleichsam wieder lammfromm, so dass man kaum mehr versteht, wie der selbe<br />
Mensch nur wenig vorher als rasender Drache das Land verwüsten konnte.<br />
Ganz anders bei modernen Terroristen. Ihm fehlen alle Voraussetzungen eines<br />
solchen nahezu übergangslosen Umschwungs vom terroristischen Wüten in<br />
vollkommene Friedfertigkeit. Gerechtigkeit im Einzelfall hat voraussetzungsgemäß<br />
keine Chance, einen Gesinnungswandel von Terroristen zu bewirken, weil<br />
Gerechtigkeit im Einzelfall auf Grund geltenden Rechts gar nicht ihr Begehr ist und<br />
schwerlich Damaskus-Erschütterung wie bei <strong>Kohlhaas</strong> auslösen kann. Sie wollen ja<br />
gerade das geltende Recht ändern. Es liegt also wohl nicht nur daran, dass wir<br />
heute keinen Luther mehr haben, wenn Männer wie Heinrich Albertz, Helmut<br />
Gollwitzer und ähnliche Größen der heutigen Kirche nicht im Stande waren und sind,<br />
moderne Terroristen so schnell auf den Pfad der Tugend der Rechtlichkeit<br />
zurückzuführen, wie dies Luther mit <strong>Kohlhaas</strong> gelang.<br />
Weil <strong>Kohlhaas</strong> das geltende Recht anerkennt, ist er auch bereit, sich unter sein Joch<br />
zu beugen. Er hat zwar schwerstes Unrecht begangen, um sein Recht<br />
durchzusetzen. Für beides zahlt er aber bereitwillig mit dem Leben; das mag<br />
versöhnlich stimmen. Er übernimmt wirklich die Verantwortung für sein Tun im<br />
Gegensatz zu jenen, die weitgehend anonym bleiben und nur mit Worten aus dem<br />
Untergrund die sogenannte Verantwortung übernehmen. Nachdem ihm sein Recht<br />
zuteil geworden ist, seine beiden Rappen wieder aufgefüttert worden sind,<br />
Schadensersatz geleistet und sein Gegner gar bestraft worden ist, erkennt er die<br />
Todesstrafe als gerecht an und nimmt sie ohne Murren hin. Von terroristischen<br />
Revolutionären oder Anarchisten kann man dergleichen nicht erhoffen; denn<br />
Respekt vor einem Recht, das als ungerecht bekämpft oder gar als nicht geltend<br />
behandelt wird, lässt sich nicht erwarten. Kurz: <strong>Kohlhaas</strong> ist einsichtsfähig, sie in der<br />
Regel nicht; er kehrt bereitwillig in die menschliche Ordnung zurück, sobald sich<br />
Anzeichen dafür finden, da es ein Recht innerhalb jener Ordnung gibt.<br />
Wenn man vor möglichen Missverständnissen nicht zurückschreckt, mag man in<br />
<strong>Kohlhaas</strong> nur einen „halben“, meinetwegen auch einen „querulatorischen“<br />
Terroristen sehen: Das Recht als solches akzeptiert er, nicht aber die Mängel seiner<br />
Durchsetzung; insofern hat er manch entfernte Ähnlichkeit mit Querulanten, deren<br />
querulatorische Betriebsamkeit häufig ebenfalls ihren Ausgangspunkt nimmt von<br />
einer wirklichen oder vermeintlichen, mehr oder weniger geringfügigen<br />
Rechtsanwendung zu ihren Ungunsten.<br />
<strong>Kohlhaas</strong> kein Vorbild als Kämpfer ums Recht!<br />
Trotz dieser Unterschiede, die <strong>Kohlhaas</strong> von den Terroristen unserer Zeit vorteilhaft<br />
unterscheiden: Ein Vorbild als Kämpfer ums Recht kann er nicht sein angesichts<br />
seiner Maßlosigkeit zumindest während seiner „Verrückung“, also in der Zeit, da er<br />
27
„durchdreht“ und es sozusagen ernst wird. Dafür sind die Opfer zu groß, die sein<br />
Kampf ums Recht forderte.<br />
Dennoch kann man eigentlich nicht wünschen, dass er dem triumphierenden<br />
Unrecht des gegnerischen Junkers und des ihn stützenden Staatsapparats seinen<br />
Lauf hätte lassen und sich still hätte zufriedengeben sollen. Jedenfalls wünscht sich<br />
Kleist mit seiner Erzählung wohl kaum, dass der Leser dies wünsche. Gerade darin<br />
liegt die Tragik von <strong>Kohlhaas</strong> begründet, dass er – unverschuldet in eine Zwickmühle<br />
geraten (und die Zwickmühle ist ja, salopp formuliert, das Wesen des Tragischen) –<br />
sich nur falsch entscheiden, nur schuldig werden kann, entweder gegenüber sich<br />
selbst oder gegenüber anderen.<br />
Gewiss hat <strong>Kohlhaas</strong> zumindest zeitweise seinen Verstand verloren. Aber<br />
mindestens seit Lessings Emilia Galotti ist bekannt, dass, wer über gewisse Dinge<br />
seinen Verstand nicht verliert, keinen zu verlieren hat. Streiten lässt sich nur darüber,<br />
ob im Fall des <strong>Kohlhaas</strong> diese „gewissen Dinge“ schon erreicht und die Grenzen<br />
überschritten waren, jenseits derer man seinen Verstand verlieren darf oder gar<br />
muss; ich neige eher zur Verneigung.<br />
Aber man kann auch anderer Auffassung sein und mag das Verständnis für die<br />
tragische Verstrickung des <strong>Kohlhaas</strong> und des hinter ihm stehenden Kleist in so<br />
nüchtern-saloppe Formulierungen kleiden wir Heinrich Heine: „Vor kurzem hab ich<br />
auch den <strong>Kohlhaas</strong> von Heinrich von Kleist gelesen, bin voller Bewunderung für den<br />
Verfasser, kann nicht genug bedauern, dass er sich tot geschossen, kann aber sehr<br />
gut begreifen, warum er es getan.“ Die Gefahr liegt eben zu nahe, an der<br />
Gebrechlichkeit der Welt und d. h. natürlich auch der eigenen zu scheitern, wenn<br />
und je mehr man das Absolute und die absolute Gerechtigkeit will. In <strong>Kohlhaas</strong><br />
steckt eben auch ein Stück jenes Rechtsbrechers, der wegen Verzweiflung über<br />
geltendes Recht als „Erneuerer des Gesetzes aus dem Ungesetzlichen“ künftigem<br />
Recht den Weg bereitet: hier der Achtung und dem Schutz des geltenden Rechts<br />
durch den Staat auch gegen die Kräfte, die ihn tragen – und das ist von höchster<br />
Bedeutung, auch und gerade noch heute, wie die Erfahrungen der letzten Tage<br />
beweisen.<br />
Der Drang zum Recht als Schubkraft für <strong>Kohlhaas</strong>-Typen?<br />
Vielleicht kommt es aber doch nicht von ungefähr, wenn mein verehrter Vorgänger<br />
Fritz Werner glaubte feststellen zu können, es habe noch nie so viele Menschen<br />
gegeben, die dem Michael <strong>Kohlhaas</strong> verwandt sind, und zwar deswegen, weil in<br />
unserer Zeit ein mächtiger Drang zum Recht, jedenfalls zum Rechthaben bestehe.<br />
Denn der Drang zum Recht war gewiss die mächtige Schubkraft für die Aktivitäten<br />
von <strong>Kohlhaas</strong>. Heute hat dieser Drang in der Tat neue, früher ungeahnte<br />
Dimensionen angenommen, die das Vorbild von <strong>Kohlhaas</strong> – wenn es denn eines<br />
wäre- zusätzlich gefährlich machen. Der Staat soll nicht lediglich, was <strong>Kohlhaas</strong> nur<br />
wollte, die Rechte des einzelnen vor der Verletzung durch andere schützen; er soll<br />
vielmehr auch Rechte zum Ausgleich von Schicksalsschlägen gewähren. Das kann<br />
in einem dem sozialen Gedanken verpflichteten Staat gewiss nur bejaht werden.<br />
Bedenklich wird es erst, wenn das einer Goldwaage gleichende Rechtsgefühl so<br />
empfindlich reagiert, dass es schon in einer mehr oder weniger geringfügigen<br />
Beeinträchtigung einen ausgleichsbedürftigen Schicksalsschlag ausmachen zu<br />
können meint.<br />
28
Übersteigertes Rechtsgefühl als Gefahr<br />
Eine solche Überempfindlichkeit gegenüber dem Recht und der Gerechtigkeit<br />
mitsamt der damit verbundenen Erwartungshaltung verkennt, was diese zu leisten<br />
vermögen, und müsste zwangsläufig zu deren Überanstrengung führen.<br />
Das allzu ausgeprägte, der Goldwaage vergleichbare und höchste Gerechtigkeit im<br />
Einzelfall anstrebende Rechtsgefühl gerät allzu leicht in Gefahr,<br />
Ungleichgewichtigkeit im ganzen zu produzieren und einen Zustand ähnlich dem<br />
eines rein gestimmten Klaviers hervorzubringen, das bekanntlich sauber nur in<br />
wenigen Tonarten bespielbar, im ganzen aber unstimmig ist; ein Klavier bedarf<br />
vielmehr der geringfügig unsauberen, der wohltemperierten Stimmung, wenn es in<br />
allen Tonarten für den normalen Menschen rein klingen soll, für den, der<br />
bedauerlicherweise zu empfindliche Ohren hat, freilich unsauber klingt. Dieses<br />
Wohltemperierte fehlt denen, die mit zu genauen Ohren und einem zu empfindlichen<br />
Rechtsgefühl geplagt sind. Das übersteigerte Rechtsgefühl kann partiell rechtsblind<br />
oder genauer: unrechtsblind machen, nämlich blind gegenüber dem<br />
selbstbegangenen Unrecht; <strong>Kohlhaas</strong> ist ein gutes Beispiel für diese schlechte<br />
Sache.<br />
Es ist einmal davon gesprochen worden, Bulldogge wie Zwergpinscher – wohl als<br />
Sinnbild für Arme und Reiche – verdienten beide Schutz wenn ihnen das Fell über<br />
die Ohren gezogen werden solle, müsste aber den Mückenstich gleichermaßen<br />
erdulden. Heute hat man oft den Eindruck, als habe sich die Schmerzensgrenze all<br />
zu sehr in Richtung auf den Mückenstich verschoben, gegen den man dann – in nur<br />
scheinbarer <strong>Kohlhaas</strong>-Manier – mit verbissener, querulantorischer Energie anrennt,<br />
so etwa, wenn ein Amtsrichter wegen Kosten von 30 DM durch alle Instanzen bis<br />
zum Bundesverfassungsgericht wandert, um dort scheinheilig-dümmlich, aber<br />
vielleicht besten Glaubens, zu versichern, es gehe ihm natürlich nicht um die 30 DM<br />
oder gar um Prinzipienreiterei, sondern ums Prinzip; bekümmern muss, dass mache<br />
unsinnigen Rechtsmittel und Verfassungsbeschwerden ohne den Rat und die tätige<br />
Mithilfe von Rechtsanwälten wahrscheinlich nicht eingelegt worden wären.<br />
Ein solches Verhalten hat sicher viele Gründe, so wohl z. B. auch den, dass wir<br />
allmählich eine recht wehleidige und unruhig-unzufriedene, gegen individuelle<br />
Schicksalsschläge überempfindliche Generation herangezogen haben. Das mag<br />
auch damit zusammenhängen, dass es nachgerade als Ausweis der Mündigkeit des<br />
Bürgers galt und gilt, wenn dieser sich gegen Handlungen der Verwaltung, die ja oft<br />
von sich volksnahe gebenden Politikern geradezu verteufelt wird, vor Gericht zur<br />
Wehr setzt oder gegen sie Forderungen erhebt. Wenn manchmal der Staat – auch<br />
von Politikern – als besserer Selbstbedienungsladen behandelt wird, wobei manches<br />
als zumindest milde Korruption erscheinen kann, zugleich aber die allgemeine<br />
Sensibilität gegenüber solchen Erscheinungen mit Recht gewachsen ist und<br />
wiederum von Staats wegen gefördert wird, wenn andererseits die hehren<br />
29
Versprechungen, die zumal in Wahlzeiten gegeben zu werden pflegen, sich immer<br />
weniger erfüllen lassen, also die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer<br />
weiter auseinanderklafft, dann steht ein äußerst fruchtbarer Nährboden für die<br />
Aufzucht eines Heeres von kleinen Kohlhasen – oder auch von Aussteigern – bereit.<br />
Deren vereinigter Ruf nach größerer und absoluter Gerechtigkeit – so töricht er ist,<br />
weil mit dem Wunsch nach dem Unmöglichen meist auch das Mögliche verfehlt wird<br />
– wird notwendig enttäuscht werden müssen.<br />
[Quelle: Sendler, Horst: Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute. Berlin/New York 1985 (=<br />
Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 92).]<br />
<strong>Kohlhaas</strong> als Amokläufer<br />
Neben dem von Horst Sendler erörterten Zusammenspiel zwischen <strong>Kohlhaas</strong>'<br />
„Mordbrennerei“ und dem „modernen“ Terrorismus findet sich in seiner<br />
Vorgehensweise in gewisser Weise auch das psychologische Phänomen des<br />
Amoklaufs wieder.<br />
Sendler bemerkt zwar durchaus nachvollziehbar, dass <strong>Kohlhaas</strong> „ein Geschäft mit<br />
bestimmtem Ziel vor Augen“ und „kein bloßer Amoklauf, der ohne Sinn und<br />
Verstand und ohne Zielsetzung drauf los wütet“, betreibt. Nichtsdestotrotz kann<br />
man in dem ohnmächtigen Schmerz, der sich nach dem Tod seiner Frau entlädt,<br />
den Moment ausmachen, in dem er jede Vernunft und das Vertrauen auf eine<br />
schnelle rechtmäßige Einigung sausen lässt und sich in seinem affekthaften Angriff<br />
auf die Burg des Junkers von Tronka nichts anderes als ein Amoklauf <strong>Kohlhaas</strong>'<br />
ereignet.<br />
30
Spiegel Online<br />
18. September 2009, 15:02 Uhr<br />
Amoklauf von Ansbach<br />
Georg R. stürmte Schule mit fünf Molotow-Cocktails<br />
Der Amokläufer von Ansbach führte mehr Waffen mit sich als anfangs bekannt:<br />
neben einem Beil und vier Messern sogar fünf Brandsätze. Sein jetzt gefundenes<br />
Testament hatte er mit dem Datum 9/11 versehen. Die bei der Tat schwerverletzte<br />
Schülerin ist inzwischen außer Lebensgefahr.<br />
Ansbach - Sein Beil maß 40 Zentimeter, er hatte fünf Molotow-Cocktails bei sich,<br />
drei feststehende Messer, ein Butterfly-Messer: Der Abiturient, der am Donnerstag<br />
sein Gymnasium im mittelfränkischen Ansbach stürmte und mehrere Menschen<br />
verletzte, war im Besitz von mehr Waffen als bislang vermutet. Das gab<br />
Oberstaatsanwältin Gudrun Lehnberger auf einer Pressekonferenz bekannt.<br />
Zehn Menschen wurden bei der Amoktat verletzt, zwei 15-jährige Schülerinnen<br />
schwer. Beide sind mittlerweile außer Lebensgefahr. Dies teilte das Klinikum<br />
Nürnberg am Freitag mit. Die Zehntklässlerin, die der Täter Georg R. mit dem Beil<br />
schwer am Kopf verletzt hatte, wurde sieben Stunden lang operiert. Eine weitere,<br />
ebenfalls 15 Jahre alte Schülerin hatte schwerste Brandwunden erlitten. Beide<br />
befänden sich mittlerweile auf dem Wege der Besserung.<br />
"Die behandelnden Ärzte sind mit dem Gesundheitszustand ihrer jungen<br />
Patientinnen sehr zufrieden", teilte das Klinikum mit. Die Eltern hätten ihre Kinder<br />
mittlerweile besuchen können.<br />
Eine Sonderkommission, bestehend aus 25 Ermittlern, soll nun klären, was Georg<br />
R., 18 Jahre alt und im dritten Semester des Abiturjahrgang des Carolinums, zu der<br />
Tat getrieben hat.<br />
"Er galt als introvertierter Schüler", sagte der Direktor des Gymnasiums, Franz Stark.<br />
Georg R. habe als ersten Leistungskurs Deutsch belegt, sei "mitgeschwommen" in<br />
der Schar der 600 Schüler und nie auffällig gewesen. Mitschüler beschrieben Georg<br />
R. als ruhigen und verschlossenen Außenseiter. Sein Verhalten sei "komisch" und<br />
"zurückhaltend" gewesen, hieß es. Er soll wegen seines Aussehens von Mädchen<br />
gehänselt worden sein. Eine Mitschülerin sprach sogar von Mobbing.<br />
Im Haus der Familie stellten Ermittler inzwischen den Computer des 18-Jährigen<br />
sicher. Die Auswertung, so die Oberstaatsanwältin, laufe noch, Erkenntnisse lägen<br />
bislang nicht vor.<br />
Ein erster Anhaltspunkt, aus dem sich zumindest schließen lässt, dass die Tat seit<br />
längerer Zeit geplant war, sind Schriftstücke, die die Ermittler im Zimmer von Georg<br />
R. fanden. Auf einem Kalenderblatt war unter dem Datum 17. September<br />
"Apocalypse Today" eingetragen, zudem habe Georg R. ein Testament gemacht,<br />
das mit 9/11, dem Datum der Terroranschläge in New York, gekennzeichnet war.<br />
Spekulationen, dass sich der Amoklauf gezielt gegen eine der Schülerinnen gerichtet<br />
habe, konnte Oberstaatsanwältin Lehnberger nicht bestätigten. Darüber lägen keine<br />
Erkenntnisse vor. Es habe, soweit bekannt, keine Drohungen gegen konkrete<br />
Personen von R.s Seite aus gegeben.<br />
31
Die Eltern Georg R.s, ein geschiedenes Paar, verweigern bislang die Aussage, "sie<br />
machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch", hieß es. Intensiv befragt<br />
würden jetzt aber alle Schüler, die Zeugen des Amoklaufs wurden oder auch davon<br />
betroffen waren.<br />
Bestätigt wurde erneut, dass sich Georg R. in psychotherapeutischer Behandlung<br />
befand, aus welchem Grund und seit wann, sei "Gegenstand der Ermittlungen".<br />
Georg R., den fünf Schüsse eines Polizisten trafen, liegt im Krankenhaus und ist<br />
noch nicht vernehmungsfähig. Der Haftbefehl gegen R. werde noch am Freitag<br />
erlassen, hieß es.<br />
Das Schulgebäude, das von Ermittlern immer noch untersucht wird, soll am<br />
kommenden Montag wieder freigegeben werden, der Unterricht, so die Ansbacher<br />
Bürgermeisterin Carda Seidel, werde jedoch noch nicht wieder aufgenommen.<br />
Zwischen 100 und 150 Schüler fanden sich am Freitagmorgen in der Turnhalle der<br />
Schule ein, wo sie von Seelsorgern betreut wurden. Der Notfallseelsorger Thomas<br />
Barkowski beschrieb die Stimmung als sehr ernst, viele Schüler lägen sich in den<br />
Armen, einige weinten. "Viele realisieren erst schrittweise, was wirklich passiert ist",<br />
sagte er.<br />
pad/dpa<br />
Ansbach Täter handelte aus Menschenhass (Stand: 21.09.2009)<br />
Neue Erkenntnisse der Ermittler bringen die Motive des 18-Jährigen zu Tage, der im<br />
Ansbacher Carolinum neun Menschen teils lebensgefährlich verletzt hat. Nach<br />
Angaben der Staatsanwaltschaft empfand der junge Mann Hass auf die Menschheit<br />
und insbesondere auf die Schule.<br />
Wiederhergestellte Dateien auf der gelöschten Festplatte im Computer des Schülers<br />
hätten ergeben, dass Hass das Motiv des 18-Jährigen war, erklärte Staatsanwältin<br />
Gudrun Lehnberger in einer Pressekonferenz in Ansbach. Außerdem habe der<br />
Schüler unter starken Belastungen gestanden. So fühlte er sich in der Schule<br />
ungerecht behandelt und nicht anerkannt. In der sechsten Klasse sei er einmal im<br />
Bus geschlagen worden und niemand habe ihm geholfen. Er fürchtete zudem, an<br />
einer unheilbaren Krankheit zu erkranken und das Abitur nicht zu schaffen. Für diese<br />
Befürchtungen habe es allerdings keinen Anlass gegeben, so Lehnberger weiter.<br />
Eigenen Tod offenbar eingeplant<br />
Für seinen Gefühlszustand machte der Amokläufer großteils die Schule<br />
verantwortlich. Deshalb ließ er sich eigens ein T-Shirt mit der Aufschrift "Made in<br />
school" anfertigen, das er auch beim Amoklauf trug. In den sichergestellten<br />
Schriftstücken äußerte der Schüler auch, dass er nicht mehr leben wolle und<br />
kalkulierte bewusst den eigenen Tod mit ein.<br />
32
Stichwort: Amoklauf<br />
Der Begriff Amok kommt aus dem Malaiischen und bedeutet „wütend“ oder<br />
„rasend“. Als Amoklauf bezeichnet man eine psychische Ausnahmesituation, die<br />
von Unzurechnungsfähigkeit, blindwütiger Aggression und absoluter<br />
Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist.<br />
Wissenschaftler wurden zuerst in Südostasien auf Fälle von plötzlich auftretenden<br />
psychischen Störungen mit aggressivem Aktionsdrang aufmerksam, die sie als<br />
Amoklauf bezeichneten. Die Befallenen zogen unvermittelt den Dolch und stachen<br />
im Laufen auf andere ein, bis sie selbst zusammenbrachen. Im Malaiischen wird das<br />
Wort Amok auch benutzt, um einen Zustand äußerster Demütigung und somit des<br />
Gesichtsverlusts zu kennzeichnen.<br />
Als Auslöser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene psychosoziale<br />
Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit,<br />
Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie<br />
Partnerschaftskonflikte. Oft baut sich ein Amoklauf über längere Zeit auf und entlädt<br />
sich nach einem Wutanfall ohne ersichtliches Motiv.<br />
In der westlichen Kultur sind vor allem Amokläufe in Form von „school shootings“,<br />
etwa 1999 an der Columbine Highschool in den USA, 2002 am Gutenberg-<br />
Gymnasium in Erfurt oder in diesem Jahr in Winnenden. Diese Art von Amok ist<br />
jedoch selten als „blindwütige Raserei“ angelegt, die sich schnell und impulsiv aus<br />
einer entsprechenden Situation heraus aufbaut, wie Psychiater erklären. Fast alle<br />
Täter hatten sich zuvor bereits gedanklich mit der bevorstehenden Gewalttat<br />
beschäftigt und diese oft auch geplant.<br />
Zudem wurden teilweise Opfer bewusst ausgewählt und regelrecht hingerichtet,<br />
oder es existierten sogar „Todeslisten“.<br />
Der Schul-Amok ist somit zu einer besonderen Form des Amoklaufs geworden, bei<br />
der sich jugendliche Täter ausgegrenzt fühlen und sich an einer abweisenden Welt<br />
durch ein blutiges Finale rächen.<br />
[Quelle: Heinz, Philip: Stichwort: Amoklauf. In: Lohrer Echo Nr. 215, 18. September 2009.]<br />
33
Was sind „School Shootings“?<br />
Einen anderen Menschen zu töten, gilt universell als extremste Form von Gewalt.<br />
Daher wird das Gebot, »nicht zu töten«, prinzipiell in allen Kulturen mit hohem<br />
Aufwand verteidigt. Ebenso universell bestehen aber Ausnahmen, die diese Norm<br />
außer Kraft setzen. Seit jeher werden Tötungen in großem Ausmaß zum Gewinn und<br />
Erhalt der Macht Einzelner genutzt, sei es in antiken Ritualen, mittelalterlichen<br />
Glaubensstreitigkeiten oder in neuzeitlichen Kriegen. In einigen Staaten werden<br />
Tötungen immer noch als schwerste Form der Bestrafung angewandt. Ebenso gibt<br />
es zwischen einzelnen Menschen Ausnahmeregelungen, die das Tötungsverbot<br />
außer Kraft setzen – man denke nur an Notwehrrechte oder den in einigen<br />
Bundesländern erlaubten finalen Rettungsschuss der Polizei. Ob die Tötung eines<br />
anderen Menschen als verwerflich angesehen wird, ist also auch von Kultur und<br />
Kontext abhängig, in denen sie geschieht. Durch die komplexen Definitionen und<br />
Abwägungen von Vorsatz und Motiv hängt zudem die Höhe der Strafe für eine<br />
Tötung von ihrer Bewertung ab (Infobox). In Deutschland wird beispielsweise<br />
zwischen einer Tötung als Körperverletzung mit Todesfolge, Totschlag oder Mord<br />
unterschieden. Dies wiederum ist oft nur durch über die Analyse des Tathergangs<br />
hinausgehende Wertungs- und Zuschreibungsprozesse möglich.<br />
Sind Tötungen nicht staatlich legitimierte und außerhalb von Kriegen auftretende,<br />
zielgerichtete Taten, so gelten sie in aller Regel als schwere Normbrüche. Kommt es<br />
zu derartigen Vorfällen, so bemüht sich eine Gesellschaft üblicherweise darum, die<br />
Ursachen dieser Tötungen schnellstmöglich festzustellen und ihnen<br />
entgegenzuwirken.<br />
An dieser Stelle wird der Blick auf eine Tötungsform gerichtet, die seit 30 Jahren<br />
bekannt ist, aber erst in der letzten Dekade weltweit erheblich zugenommen hat: die<br />
zielgerichtete Tötung von Schülern oder Lehrern durch Jugendliche an Schulen –<br />
sog. School Shootings.<br />
Bei School Shootings handelt es sich ausdrücklich nicht um die Tötung eines<br />
einzelnen Menschen, die im Rahmen von heftigen Konflikten oder von<br />
überbordenden Emotionen aufgetreten ist, sich aber nur zufällig an einer Schule<br />
zugetragen hat. Wenn etwa ein 14-Jähriger in einem Wutanfall mit der Bastelschere<br />
auf einen Klassenkameraden einsticht oder der 17-Jährige auf dem Schulhof seinen<br />
Nebenbuhler erschießen will, dann handelt es sich in diesen Fällen um Taten, die<br />
auch an einem anderen Ort hätten passieren können.<br />
Ebenso werden keine Schießereien mit einbezogen, die aus bewaffneten<br />
Gruppenstreitigkeiten hervorgegangen sind, wie sie unter dem Schlagwort »Gangrelated<br />
Incident« oder »Gang Shooting Spree« vor allem in einigen sozial schwach<br />
strukturierten Stadtteilen der USA häufiger auftreten. Diese besitzen für deutsche<br />
Verhältnisse kaum Relevanz und folgen anderen kausalen Bedingungen.<br />
Bei School Shootings wurde die Schule bewusst als Ort der Tötungen ausgesucht.<br />
Täter waren stets Schüler oder ehemalige Schüler der als Tatort ausgewählten<br />
Schule. Dabei waren entweder mehrere Schüler bzw. Lehrer Ziel der<br />
Tötungsabsicht, oder einzelne Opfer sind vom Täter wegen ihrer Funktion an einer<br />
Schule ausgesucht worden. Eine Bezeichnung für diese Form der Tötungen zu<br />
finden, gestaltet sich im Deutschen als schwierig. Massenmedien sprechen<br />
aufgrund der tiefgreifenden Konsequenzen solcher Taten oft reißerisch von einem<br />
»Schulmassaker« oder gar von einem »Blutbad«.<br />
34
Gleichzeitig treffen die gemäßigteren Begriffe »Amoklauf« und »Massenmord«<br />
zumindest aus wissenschaftlicher Sicht nicht mit der notwendigen Genauigkeit zu.<br />
Allenfalls können jene schweren Gewalttaten an Schulen als ungewöhnliche<br />
Unterkategorie von »Amokläufen« oder »Massenmorden« angesehen werden, denn<br />
sie weichen in einigen wesentlichen Aspekten, wie Opferwahl, Tatort und Alter der<br />
Täter, deutlich von diesen ab. Auf internationalen Fachtagungen und in<br />
wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist man mittlerweile dazu übergegangen, jene<br />
schweren Gewalttaten als »School Shootings« zu bezeichnen. Nicht nur handelt es<br />
sich dabei um einen Anglizismus, der ins Deutsche übersetzt als<br />
»Schulschießereien« erneut an eine Berichterstattung der Regenbogenpresse<br />
erinnern würde; auch besitzt der Terminus eine gewisse Unschärfe. Nicht alle Taten<br />
werden mit Schusswaffen begangen, während Massenschießereien im<br />
Gruppenkontext eben gerade keine School Shootings darstellen. Einzelne<br />
Wissenschaftler benutzen daher sperrige Umschreibungen, darunter »vorsätzliche<br />
Massentötungen an Schulen« und »zielgerichtete, tödliche Gewalt an Schulen«.<br />
Während diese Begriffe sachlich durchaus korrekt sind, erweisen sie sich für die<br />
konstante Nutzung im Kontext eines Buches als zu unhandlich. Daher werden im<br />
Folgenden die Überbegriffe »Amoklauf« und »Massenmord« durch Jugendliche an<br />
Schulen ebenso wie die Umschreibung »schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen«<br />
entsprechend der öffentlichen Diskussion synonym benutzt. In der Regel wird<br />
jedoch der Begriff »School Shooting« verwendet.<br />
[Quelle: Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere<br />
Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007.]<br />
35
Lektüretipps zum Thema Amoklauf<br />
Hermann Hesse: Klein und Wagner<br />
Der Familienvater und Bankbeamte Friedrich Klein flieht, nachdem er<br />
eine Summe Geldes veruntreut, Urkunden gefälscht und sich einen<br />
Revolver besorgt hat, mit dem Zug Richtung Süden. Voller Verzweifelung<br />
versucht er seine Tat zu verstehen, denkt zwanghaft nach und landet<br />
schließlich wie zufällig in einer italienischen Stadt. Hier trifft der<br />
Flüchtige bald auf die Tänzerin Teresina, an der das Pendeln zwischen<br />
seinen tiefen Wünschen und seiner bürgerlichen-moralischen Prägung<br />
besonders deutlich wird. Immer wieder befällt Klein der Gedanke an<br />
einen Schullehrer, Ernst August Wagner, der in einem Amoklauf seine<br />
Familie umgebracht hatte, und mit dem er sich "irgendwie...verknüpft"<br />
fühlt. Klein hat mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen; seine<br />
späten Bemühungen, seine Identität zu finden und nach dem eigenen<br />
innersten Selbst (im Sinne von Carl Gustav Jung) zu leben, sind aber<br />
vergebens. Immer wieder gerät er ins Zweifeln, gefolgt von Angst- und<br />
Schuldgefühlen. Schließlich gibt Klein seinem langgehegten<br />
Selbstmordwunsch nach und ertränkt sich eine Woche nach seiner Flucht<br />
im naheliegenden See. Die Erzählung endet mit Kleins letzten<br />
epiphanienhaften Augenblicken.<br />
Stefan Zweig: Amok. Novellen einer Leidenschaft<br />
Beim Verlag Insel in Leipzig erscheint der Band »Amok. Novellen einer<br />
Leidenschaft« von Stefan Zweig (* 1881, † 1942). In diesen<br />
Erzählungen, die von Menschen handeln, die jeweils von einer einzigen,<br />
meist selbst zerstörerischen Leidenschaft erfasst sind, verbindet Zweig<br />
eine an der Psychoanalyse Sigmund Freuds geschulte Kunst der<br />
Psychologisierung mit der von Theodor Storm überkommenen Gattung der<br />
Rahmen- und Bekenntnisnovellen. Außer der Titelnovelle enthält der<br />
Band die Geschichten »Die Frau und die Landschaft«, »Fantastische<br />
Nacht«, »Brief einer Unbekannten« und »Die Mondscheingasse«.<br />
Peter Handke: Anleitung zum Amoklauf. Gedicht<br />
ratschläge für einen amoklauf vorübungen machst du auf dem freien<br />
land, indem du durch ein mannshohes maisfeld läufst. / vorübungen<br />
machst du in einer leeren konzerthalle, indem du von einem ende zum<br />
andern durch die leeren stuhlreihen läufst. / vorübungen machst du,<br />
indem du aus deinem bewußtsein ein pflichtbewußtsein machst.<br />
bist du dann fähig, wenn du auf die straße trittst, nur noch<br />
geistesgegenwärtig zu sein? / bist du fähig, wenn du auf die straße<br />
getreten bist, dich nur noch zu betätigen? / bist du fähig, wenn der<br />
entschluss gefasst ist, keinen anderen entschluss mehr zu fassen? / bist<br />
du fähig, niemanden spüren zu lassen, dass du erst anfängst, wenn du<br />
anfängst? / bist du fähig, nicht mehr von selber aufzuhören, wenn du<br />
36
angefangen hast? / bist du fähig, nicht mehr die gegenstände zu sehen,<br />
sondern die bewegungen der gegenstände? / bist du fähig, nicht mehr<br />
einzelheiten zu unterscheiden, sondern bewegungen? / bist du fähig,<br />
dich jeder bewegung nur einmal zu widmen? / bist du fähig zu allem?<br />
wo versammeln sich leute? - leute versammeln sich, wo sich schon leute<br />
versammeln. / wo versammeln sich leute, bevor sich dort leute<br />
versammelt haben? - leute versammeln sich vor ausgehängten<br />
zeitungen. / wo versammeln sich leute? - leute versammeln sich vor<br />
verkehrsampeln. / wo noch versammeln sich leute? - leute versammeln<br />
sich vor schaltern. / wo noch? - vor telefonzellen. / wo noch? - vor<br />
bahnschranken. / wo noch? - vor einem mann, der auf offener straße<br />
seine wäre anbietet. / wo noch? - vor einem mann, der auf offener<br />
straße eine heilsbotschaft verkündet. / wo noch? - vor einem mann, der<br />
auf offener straße nicht vorwärts, sondern rückwärts, zu boden oder in<br />
die luft schaut. / wo noch? - unter markisen und in hauseingängen,<br />
wenn es unversehens zu regnen anfängt.<br />
wo gehst du hin? - zuerst gehe ich zu einer ampel und warte, bis rot<br />
kommt. / und dann? - dann stoße ich einen obstkarren um und warte, bis<br />
genug kinder herbeilaufen, um das obst aufzuheben. / und dann? - dann<br />
sorge ich für eine Verzögerung der Straßenbahn und warte an der<br />
Station, bis sich genug leute versammelt haben. / und dann? — dann<br />
warte ich vor dem kinoeingang, bis die leute aus dem kino kommen. /<br />
und dann? — dann verkünde ich an einer straßenecke eine frohe<br />
botschaft und warte, bis genug leute stehengeblieben sind. / und dann?<br />
- dann gehe ich die reihe der wartenden autos entlang zu geschlossenen<br />
bahnschranken. / und dann? - dann schaue ich zum himmel und warte, bis<br />
sich genug leute versammelt haben. / und dann? - dann warte ich<br />
darauf, dass genug leute für jemanden ein spalier bilden. / und dann? -<br />
dann sorge ich dafür, dass jemand spießruten laufen muss, und warte, bis<br />
sich genug leute versammelt haben. / und dann? - dann stelle ich mich<br />
tot und springe auf, wenn sich genug leute versammelt haben. / und<br />
dann? - dann treibe ich eine wette hoch, wieviele leute in ein auto<br />
passen, und warte, bis genug leute im auto sind. / und dann? - dann<br />
warte ich vor einem möglichst hohen haus, bis der aufzug mit möglichst<br />
vielen leuten herunterkommt. / und dann? - dann werbe ich für<br />
führungen und warte, bis sich genug leute versammelt haben. / und<br />
dann? - dann lade ich eine gesellschaft ein und warte, bis die<br />
gesellschaft vollzählig ist / und dann? - dann veröffentliche ich ein<br />
Preisausschreiben, bei dem jeder teilnehmet einen preis gewinnt, und<br />
warte, bis sich möglichst viele teilnehmer gemeldet haben. / und dann?<br />
- zur gerade ausgehängten zeitung. / und dann? - zu den<br />
telefonzellen. / und dann? - zu den pissoirs in der stauzeit. / und<br />
dann? - bahnhofssperren. / und dann? - rolltreppen in kaufhäusern. /<br />
und dann? -geisterbahnen. / und dann? - landebrücken. / und dann? -<br />
heimkehrerzüge. / und dann? - schießbuden. / und dann? -<br />
aussichtstürme. / und dann? - kurorte. / und? - ausfallstraßen. / und?<br />
-passhöhen bei strahlendem sonnenschein. / und? - beliebte<br />
ausflugsziele. / und? - parkbänke in den büropausen. / und dann? -<br />
fenster in vororten bei feierabend. / und zuallererst? - zuallererst<br />
37
eschäftige ich mich mit einem einzelnen und warte, bis sich genug<br />
leute um den einzelnen versammelt haben.<br />
die erste schrecksekunde nützt du also dazu aus, für eine zweite<br />
schrecksekunde zu sorgen, und die zweite schrecksekunde, für noch eine<br />
schrecksekunde zu sorgen, damit du, weil du ja selber von keiner<br />
schrecksekunde betroffen bist, ihnen immer, wenn sie sich gerade von<br />
einer schrecksekunde erholt haben, gerade um die weitere<br />
schrecksekunde voraus bist, für die du gesorgt hattest, während sie<br />
sich noch von der ersten schrecksekunde erholten, so dass schließlich<br />
die schrecksekunden kein ende mehr nehmen. und wie? - kurzen prozess<br />
machen. / ausmerzen. / erledigen. / beiseite. / nieder. / weg damit. /<br />
niemanden zählen lassen, nicht einmal bis drei.<br />
und zuguterletzt? - zuguterletzt lasse ich jemanden übrig, der später<br />
die tradition fortsetzen kann.- Peter Handke, in: Tintenfisch 1.<br />
Jahrbuch für Literatur. Berlin 1968<br />
Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs. Roman<br />
Blobel, Brigitte<br />
Rezension von Tobias Thieme<br />
Die fünfzehnjährige Alessa zieht mit ihren Eltern vom Starnberger See nach<br />
Offenbach, wo ihr Vater einen neuen Job als Leiter eines Baumarkts angenommen<br />
hat. Alessa ist zunächst todtraurig über diesen Umzug und muss sich erst mit der<br />
neuen Situation zurechtfinden. So steht wenig später auch der erste Schultag an<br />
und Alessa muss zugeben, dass es vielleicht doch gar nicht so schlecht ist in<br />
Offenbach. Natürlich vermisst sie ihre beste Freundin Tini, dafür freundet sie sich in<br />
der Schule aber mit ihrer Banknachbarin Vicky an und außerdem gibt es ja noch<br />
Philipp, den gutaussehenden Jungen aus ihrer Klasse. Doch zunächst hat Alessa mit<br />
einem anderen Jungen zu tun, mit Ulf. Der sechzehnjährige geht in die neunte<br />
Klasse und ist ein klassischer Außenseiter. Er trägt immer eine schwarze<br />
Pudelmütze, weil er abstehende Ohren hat und niemand gibt sich mit ihm ab. Vor<br />
allem letzteres nimmt Alessa zum Anlass sich ein bisschen näher mit ihm zu<br />
beschäftigen, da sie ja so gesehen beide Außenseiter sind. So kommt es also das<br />
Alessa von nun an ihren Schulweg immer zusammen mit Ulf absolviert und die<br />
beiden auch abends etwas unternehmen. Die Eltern von Ulf sind völlig hin und weg<br />
von Alessa und sie beginnt sich langsam bei ihm wohlzufühlen, obwohl er sehr oft<br />
Äußerungen fallen lässt, die Alessa nicht gefallen.<br />
Doch nach und nach wird Vicky zu Alessas bester Freundin und auch mit Philipp<br />
und seiner Clique versteht sie sich immer besser. Eine Entwicklung die Ulf gar nicht<br />
gefällt. Ulf ist nämlich total auf Alessa fixiert. Doch als Alessa sich in Philipp verliebt,<br />
traut sie sich endlich Ulf abzuweisen. Ein Schritt mit ungeahnten Folgen...<br />
„Alessas Schuld“ beschreibt einen Amoklauf eines sechzehnjährigen Jungen. Von<br />
solchen Büchern gab es zugegebenermaßen schon einige, aber Brigitte Blobel<br />
38
ingt in diesem Buch sehr gut die Emotionen ihrer Charaktere ein. Mit Alessa und<br />
Ulf zeichnet sie zwei Hauptcharaktere die zum einen sehr durchdacht, auf der<br />
anderen Seite aber auch durchaus realistisch sind. Und die Emotionen der Personen<br />
werden in diesem Buch wirklich sehr gut und realistisch geschildert. Die Frage, die<br />
über dem ganzen Buch steht ist – wie der Titel schon sagt – wer die Schuld an<br />
diesem Amoklauf hat. Das Alessa Ulf abgewiesen hat war der Auslöser für diesen<br />
Amoklauf und mit dieser Schuld muss Alessa nun leben, was ein sehr schwieriges<br />
Schicksal für eine Jugendliche darstellt. Sie muss praktisch damit leben eine<br />
Mitschuld an dem Tod zweier Menschen zu haben. Auch dies ist ein Punkt der am<br />
Ende des Buches wirklich sehr emotional geschildert wird und wirklich ergreifend ist.<br />
Fazit: Brigitte Blobel erzählt in „Alessas Schuld“ mithilfe von Zeitungsmeldungen, E-<br />
Mails und Polizeiprotokollen die Geschichte eines Amoklaufs, der eigentlich aus<br />
Liebe oder zumindest aus tiefer Zuneigung begangen wird. Das Buch ist wirklich<br />
emotional erzählt und kann diese Gefühle an den Leser weitergeben. Insgesamt ein<br />
ergreifendes und trauriges Jugendbuch, das wirklich sehr zu empfehlen ist.<br />
39
Übung für den Unterricht<br />
Situation<br />
<strong>Theater</strong>pädagogisches<br />
<strong>Kohlhaas</strong> steht kurz vor der Hinrichtung. Eine Begnadigung ist möglich. Deshalb<br />
erhalten betroffene Personen die Möglichkeit zu einer begründeten Stellungnahme:<br />
Wenzel von Tronka<br />
Luther<br />
ein invalider Anhänger <strong>Kohlhaas</strong>ens, der sich freiwillig dem Rachefeldzug<br />
angeschlossen hat<br />
die Verlobte eines toten Soldaten<br />
Lisbeths Eltern<br />
<strong>Kohlhaas</strong>ens Knecht Sternbald (Freund Herses), der bereits auf der<br />
Tronkenburg dabei gewesen ist<br />
ein Bürger aus Wittenberg, der seinen ganzen Besitz verloren hat<br />
Nagelschmidt<br />
<strong>Kohlhaas</strong><br />
Arbeitsauftrag<br />
1. Sie stellen die Ihnen zugewiesene Person dar. Sammeln Sie in Einzelarbeit<br />
Stichpunkte für eine Stellungnahme und belegen Sie diese durch Verweise auf<br />
entsprechende Textstellen, die auch mit Volltextsuche gefunden werden können<br />
(http://gutenberg.spiegel.de/kleist/kohlhaas/kohlhaas.htm oder<br />
http://www.michaelkohlhaas.de/).<br />
2. Schließen Sie sich mit den Mitschüler/innen zusammen, die dieselbe Person<br />
vertreten. Vergleichen und ergänzen Sie Ihre Stichpunkte und formulieren Sie<br />
gemeinsam eine Stellungnahme, die auch in kopierbarer Form (z.B. Word-<br />
Dokument) vorliegen muss. Formulieren Sie eine Hauptthese auf einem Plakat,<br />
die Ihren Standpunkt vor der Abstimmung nochmals veranschaulicht.<br />
3. Bestimmen Sie in Ihrer Gruppe eine Person, die Ihren Standpunkt frei vorträgt.<br />
Veranschaulichung am Beispiel des Amtmanns, <strong>Kohlhaas</strong>ens Nachbar:<br />
(Reclam, ab S. 22ff.: „Er lud einen Amtmann, seinen Nachbar, zu sich,..“)<br />
- Der Amtmann hält <strong>Kohlhaas</strong> für einen rechtschaffenen Menschen und guten<br />
Nachbarn, wundert sich aber seit der Sache mit den Pferden über ihn<br />
(„befremdet“ S. 22, Z. 24; „sonderbare Gedanken“ S. 22, Z. 24f).<br />
- Er ist überrascht, dass <strong>Kohlhaas</strong> ihm Haus und Hof so günstig überlassen will,<br />
lässt sich aber durch dessen „Heiterkeit“ (S. 22, Z. 25) und Begründung (er „sei<br />
auf große Dinge gestellt“, S. 23, Z. 3) beruhigen.<br />
40
Stellungnahme<br />
„Früher war der <strong>Kohlhaas</strong> immer ein guter Nachbar und rechtschaffener Mensch.<br />
Nach der Sache mit den Pferden wurde er aber von Tag zu Tag seltsamer. Zum<br />
ersten Mal fiel mir das auf, als er mir plötzlich Haus und Hof zum Spottpreis anbot.<br />
Ich wollte zwar schon lange einen Teil seines Grundstücks kaufen, aber das<br />
Angebot konnte ich doch nicht annehmen! Er ließ jedoch nicht locker, war fröhlich,<br />
scherzte und sagte, er habe Großes vor. Hätte ich damals geahnt, was er meinte, ich<br />
hätte bestimmt versucht, ihn davon abzuhalten ...“<br />
[Dieses Beispiel stellt nur den Anfang der Er- und Ausarbeitung dar und dient lediglich als Erläuterung<br />
der Aufgabenstellung)<br />
Variante mit Spielauftrag<br />
Schreiben Sie die Erzählung aus der Perspektive einer weiteren Figur der<br />
Geschichte, zum Beispiel aus der Perspektive der Frau von <strong>Kohlhaas</strong>, seines<br />
Knechtes Herse, aus der Perspektive der Pferde, Luthers, Wenzel von Tronkas, der<br />
Verlobten eines toten Soldaten, des Richters, eines Kunden von <strong>Kohlhaas</strong>!<br />
Überlegen Sie sich, wem Sie die Geschichte erzählen und warum!<br />
Finden Sie einen Schwerpunkt in ihrer Erzählung. Erzählen Sie einen Moment der<br />
Geschichte genauer in der Figur!<br />
Erzählen sie in der Ich-Form!<br />
Finden Sie einen Charakter für die Figur, einen Tick, einen typischen Gang, eine<br />
wiederkehrende Geste.<br />
=> Spielen Sie es den Mitschülern vor!<br />
41
Fragen und Aufgaben zum Stück<br />
Beschreibe Michael <strong>Kohlhaas</strong>!<br />
Wie sieht er aus?<br />
Welchen Beruf hat er?<br />
In welchen Verhältnissen lebt er?<br />
Beschreibe seinen Charakter!<br />
Wer ist Wenzel von Tronka?<br />
Warum beschlagnahmt er <strong>Kohlhaas</strong>’ Pferde?<br />
Was ist seine Motivation?<br />
Beschreibe <strong>Kohlhaas</strong> Frau!<br />
Warum muss sie sterben?<br />
Welche Rolle spielt Luther in der Geschichte?<br />
Ist <strong>Kohlhaas</strong> Widerständler oder Terrorist und warum?<br />
Beschreibe den Moment, in dem <strong>Kohlhaas</strong> die Fassung verliert?<br />
Handelt <strong>Kohlhaas</strong> richtig? Warum ja und warum nein?<br />
Kennst du Rachegefühle?<br />
Bekommt <strong>Kohlhaas</strong> sein Recht?<br />
Wie sieht dies aus?<br />
Gibt es Recht und Unrecht?<br />
Welche Möglichkeiten kennt ihr, euch gegen Unrecht zu wehren?<br />
Ab wann siehst du rot?<br />
Was ist dir wertvoll wie <strong>Kohlhaas</strong> seine Pferde?<br />
Würdest du in einem Geschworenengericht für oder gegen <strong>Kohlhaas</strong><br />
stimmen? Warum?<br />
Findest du die Hinrichtung von Michael <strong>Kohlhaas</strong> gerechtfertigt?<br />
Wie denkst du über die Todesstrafe?<br />
42
Thema Widerstand<br />
Das Recht auf Widerstand ist ein Thema, das seit der Antike immer weiter entwickelt<br />
wurde. Diskutieren Sie mit ihrer Klasse: Ist <strong>Kohlhaas</strong> ’Widerstand’ wirklich<br />
gerechtfertigt. Er rebelliert, weil einzelne einflussreiche Personen das Recht gebeugt<br />
haben. Hat er deshalb gänzlich sein Recht verloren?<br />
Was macht es mit einem, wenn man sein Recht nicht einfordert?<br />
Welche Möglichkeiten des Widerstands haben wir heute?<br />
Ab wann wird Widerstand zum Terrorismus?<br />
Wogegen kämpfen heutige Widerständler?<br />
Ab wann ist Widerstand nötig?<br />
Was glauben Sie, wogegen ist Widerstand wichtig?<br />
Wie kann man ein Anliegen friedlich durchsetzen?<br />
Wo sind hierfür Möglichkeiten und Grenzen?<br />
Thema Amoklauf<br />
Liedtext der Band “Mono für alle“<br />
Mono für Alle! (kurz: MfA!) ist eine deutsche Electropunk-Band. Sie treten seit 2000 unter diesem<br />
Namen auf und kommen aus Gießen.<br />
Amoklauf<br />
Heute halte ich es nicht mehr aus<br />
Mit einer Waffe verlasse ich das Haus<br />
Mein Herz schlägt etwas schneller als normal<br />
Denn ich weiß, die Folgen sind fatal<br />
Ich werde von euch gehen, am heutigen Tag<br />
Doch nicht allein, nein das ist nicht meine Art<br />
In diesem Magazin sind 16 Schuss<br />
Und ich weiß genau, was ich damit machen muss<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />
Irgendein Platz, wo viele Leute sind<br />
Egal, ob Alte, Kranke oder Frau mit Kind<br />
Schieße ich einfach in die Menge rein<br />
Die Menschen sind entsetzt und sie fangen an zu schreien<br />
Direkt vor mir stirbt ein Mann<br />
Und dort liegt eine Frau, die sich nicht mehr bewegen kann<br />
Ihr kleines Kind, das ängstlich schaut<br />
Versteht noch nicht, ich hab sein Leben so eben versaut<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />
Mit lauter Fahrt da kommt die Polizei<br />
Sie haben für Leute wie mich Spezialisten dabei<br />
43
Ein Psychologe redet auf mich ein,<br />
das nichts bringt und ich soll doch vernünftig sein<br />
Er weiß nicht, dass er mich damit provoziert,<br />
ich habe doch selber mal Psychologie studiert<br />
Sein Gequatschte regt mich noch mehr auf<br />
Ich drücke ab und ich schieß ihm in den Bauch<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />
Endlich wird das SEK gebracht,<br />
das so lange dauert hätt’ ich niemals gedacht<br />
Die Scharfschützen beziehen Position<br />
Jetzt wird es ernst und zack, da passiert es auch schon<br />
Ein Schütze hat mich an meinem Bein erwischt<br />
Doch dem Schützen treff ich selber mitten in sein Gesicht<br />
Der grüne Anzug färbt sich langsam rot<br />
Der Mann vom SEK ist auf der Stelle tot<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />
Mit letzter Kraft hab ich’s geschafft<br />
Einsam sitze ich in einem Belüftungsschacht<br />
Hab große Schmerzen, doch ich mache kein Geschrei<br />
Mein Leben zieht wie ein Film an mir vorbei<br />
Eine Träne rollt über mein Gesicht<br />
Wie konnte das passieren- Ich weiß es nicht<br />
Eine letzte Kugel hab ich noch<br />
Langsam drück ich ab und ich schieß mir in den Kopf<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />
Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei.<br />
44
Weitere Aufgaben und Fragen zum Lied<br />
Hören Sie sich gemeinsam das Lied an und beschreiben Sie Gefühle, die das Lied<br />
weckt!<br />
Was bringt jeden einzelnen zur Verzweiflung?<br />
Lassen Sie im Gespräch Gründe für Amoklauf finden!<br />
Lassen Sie Gründe gegen Amoklauf finden!<br />
Was unterscheidet Widerstand und Amok?<br />
Sammeln Sie Alternativen zu Amok in Form von Stichworten, die auf Karten stehen<br />
und an die Tafel gehängt werden.<br />
Lassen Sie die Begriffe gruppieren:<br />
Teilen Sie die Klasse in vier Gruppen. Jede Gruppe wählt eines der gesammelten<br />
Stichworte und entwirft einen Text; ein Gedicht ein Bild dazu.<br />
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Literaturverzeichnis<br />
Amoklauf von Ansbach. In: Spiegel Online, 18. September 2009, 15:02 Uhr.<br />
Heinz, Philip: Stichwort: Amoklauf. In: Lohrer Echo Nr. 215, 18. September 2009.<br />
Ewertowski, Ruth: Das Außermoralische. Friedrich Nietzsche – Simon Weil –<br />
Heinrich von Kleist – Franz Kafka. Heidelberg 1994 (= Frankfurter Beiträge zur<br />
Germanistik 28).<br />
Müller-Tragin, Christoph: Die Fehde des Hans Kolhase. Zürich 1997.<br />
Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und<br />
schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007.<br />
Sendler, Horst: Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute. Berlin/New York 1985<br />
(= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 92).<br />
Heyde, Hartmut von der: Heinrich von Kleist. In: Lexikon Deutsch. Autoren und<br />
Werke. Hrsg. von Hartmut von der Heyde. Freising 2002<br />
Baliani, Marco : Das Staunen, die Zeit und der Körper. Die Kunst der mündlichen<br />
Erzählung<br />
Beiträge zum Jugendtheater 1996 in der Zeitschrift Praxis Schule 5-10, Heft 3 / 1996<br />
Fischer-Lichte, Erika : Grundlagen und Gedanken zum Verständnis. Erzählender<br />
Literatur, Frankfurt am Main 1991.<br />
Gräf, Thomas : Klett Lektürehilfen, Michael <strong>Kohlhaas</strong>.<br />
Kleist, Heinrich von: Michael <strong>Kohlhaas</strong>. Aus einer alten Chronik; mit Materialien;<br />
ausgewählt und eingeleitet von Rainer Siegle, Stuttgart: Klett 1997<br />
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: in H.V.K. Das<br />
Erdbeben in Chili und andere Prosastücke, Stuttgart: Reclam 1973<br />
Blöcker, Günter: Heinrich von Kleist oder das absolute ich, Berlin 1960<br />
Hagedorn, Günther (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart: Reclam 1983<br />
Hermes, Eberhard: Abiturwissen Erzählende Prosa, Stuttgart: Klett 1985<br />
Sembdner, Helmut (Hrsg.) Heinrich Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte.<br />
Frankfurt, Insel 1984<br />
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