LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg

LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg LM Kohlhaas - Mainfranken Theater Würzburg

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31.05.2013 Aufrufe

Mainfranken Theater Würzburg, Spielzeit 2009/2010 Materialmappe zu „ Kohlhaas“ von Marco Baliani und Remo Rostagno nach Heinrich von Kleist Petra Paschinger (Dramaturgie Schauspiel) Telefon 0931 / 3908 – 158 E-Mail petra.paschinger@stadt.wuerzburg.de Daniela Scheuren (Theaterpädagogik) Telefon 0931 / 39 09 – 223 E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de Materialmappe zum Stück erhältlich bei Daniela Scheuren, Theaterpädagogin am Mainfranken Theater Würzburg oder zum Herunterladen unter www.theaterwuerzburg.de, Junges Theater, Downloads Redaktion: Daniela Scheuren

<strong>Mainfranken</strong> <strong>Theater</strong> <strong>Würzburg</strong>, Spielzeit 2009/2010<br />

Materialmappe zu<br />

„ <strong>Kohlhaas</strong>“<br />

von Marco Baliani und Remo Rostagno<br />

nach Heinrich von Kleist<br />

Petra Paschinger (Dramaturgie Schauspiel)<br />

Telefon 0931 / 3908 – 158<br />

E-Mail petra.paschinger@stadt.wuerzburg.de<br />

Daniela Scheuren (<strong>Theater</strong>pädagogik)<br />

Telefon 0931 / 39 09 – 223<br />

E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de<br />

Materialmappe zum Stück erhältlich bei Daniela Scheuren, <strong>Theater</strong>pädagogin am <strong>Mainfranken</strong><br />

<strong>Theater</strong> <strong>Würzburg</strong> oder zum Herunterladen unter www.theaterwuerzburg.de, Junges <strong>Theater</strong>,<br />

Downloads<br />

Redaktion: Daniela Scheuren


Werte Pädagogen,<br />

Vorwort<br />

Heinrich von Kleists Novelle MICHAEL KOHLHAAS, die 1808 entstanden ist, stellt<br />

Fragen die immer noch brandaktuell sind:<br />

Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? Was sind meine Rechte? Wofür kämpfe<br />

ich? Wann fühle ich mich sicher und geschützt? Wann fühle ich mich ungerecht<br />

behandelt? Wie gehe ich damit um? Wann handele ich und welche Mittel stehen mir<br />

zur Verfügung? Wann bringt mich das Verhalten anderer völlig aus der Fassung? Ist<br />

im Kampf um Gerechtigkeit jedes Mittel erlaubt?<br />

Kleist war selbst ein Suchender nach der Wahrheit und nach Erkenntnis über die<br />

Strukturen dieser Welt. So wie Kleist mit der Novelle „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ Fragen, die<br />

ihn selbst umtrieben, aufgeworfen hat, so tut es das <strong>Theater</strong> und die Bühnenfassung<br />

von Marco Baliani und Remo Rostagno auch.<br />

Unser Ziel ist nicht, Antworten auf all diese Fragen zu geben, sondern Sie uns<br />

gemeinsam mit dem jungen Zuschauer zu stellen. Das <strong>Theater</strong> stellt die Fragen<br />

öffentlich und stellt sie zur Diskussion. Im Dialog finden wir Antworten. Das <strong>Theater</strong><br />

ist ein Forum für die Fragen, Ängste und Wünsche aller Zuschauer.<br />

Der Regisseur Christoph Diem ist an die Tatorte der Geschichte gefahren, an die<br />

Orte aus Kleists Novelle in Deutschland und hat sich der Geschichte auf diese<br />

Weise genähert. Er hat sich an authentischen Orten mit den Kernfragen des Stücks<br />

beschäftigt.<br />

Den Fall <strong>Kohlhaas</strong> haben sie detektivisch recherchiert und die Orte dokumentiert.<br />

Daraus ist ein Roadmovie entstanden, das nichts von seiner ursprünglichen Kraft<br />

eingebüßt, sondern nur an Aktualität gewonnen hat.<br />

Die Geschichte wird auf der Bühne oder in der Klasse durch einen einzigen Spieler<br />

erzählt. Er ist <strong>Kohlhaas</strong> und seine Einsamkeit auf der Bühne wird zum spürbaren<br />

Gefängnis seiner Gefühle und Taten.<br />

Diese gesammelten Texte dieser Mappe sollen Ihnen, werte Pädagogen, Hilfe sein,<br />

das Stück und die Novelle „<strong>Kohlhaas</strong>“ in der Klasse zu bearbeiten.<br />

Wir zeigen Ihnen Bezüge zur Lebenswirklichkeit der Schüler auf und stellen<br />

verschiedene Deutungsansätze zur Verfügung.<br />

Ob Michael <strong>Kohlhaas</strong> ein rechtschaffener Bürger, ein verletzter Mensch, ein Terrorist<br />

oder Amokläufer ist und wie viel „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ in jedem von uns steckt, gilt es<br />

herauszufinden.<br />

Ich wünsche Ihnen und Ihren Schülern viel Vergnügen dabei.<br />

Wir besuchen Sie gerne mit dem Stück in der Schule und führen im Anschluss ein<br />

Gespräch mit den Schülern.<br />

Ihre <strong>Theater</strong>pädagogin<br />

Daniela Scheuren<br />

2


Zum Stück und zur Inszenierung<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Besetzung S. 5<br />

Termine S. 5<br />

Bedingungen für den Besuch der Produktion in ihrer Schule S. 6<br />

Inhalt <strong>Kohlhaas</strong> S. 7<br />

Der Zorn des Gerechten? S. 8<br />

Der Stückautor: Marco Baliani<br />

Lebensdaten S. 10<br />

Allmähliche Reputation des <strong>Theater</strong>machers und<br />

Stückeschreibers Marco Baliani in Deutschland S. 10<br />

Das Staunen die Zeit und der Körper S. 11<br />

Heinrich von Kleist – <strong>Kohlhaas</strong><br />

Werkbeschreibung S. 13<br />

Biographie Heinrich von Kleists S. 13<br />

Literarische Einordnung S. 16<br />

Der historische <strong>Kohlhaas</strong> S. 17<br />

o Ausbruch der Fehde S. 17<br />

o Vergleichsbemühungen S. 17<br />

o Wiederaufnahme der Fehde und Ende<br />

des Hans Kolhase S. 18<br />

3


Thematisches<br />

Das Außermoralische S. 19<br />

o Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“. Die totale Rache S. 19<br />

Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute S. 22<br />

Empfindliches Rechtsgefühl auch bei „modernen“ Terroristen? S. 22<br />

o Mittel des Terrors bei <strong>Kohlhaas</strong> S. 22<br />

o <strong>Kohlhaas</strong> als vorbildhafter Kämpfer ums Recht? S. 23<br />

o Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und<br />

dem modernen Terrorismus S. 24<br />

o Unterschiede S. 26<br />

o <strong>Kohlhaas</strong> kein Vorbild als Kämpfer ums Recht! S. 27<br />

o Der Drang zum Recht als Schubkraft für <strong>Kohlhaas</strong>-Typen? S. 28<br />

o Übersteigertes Rechtsgefühl als Gefahr S. 29<br />

<strong>Kohlhaas</strong> als Amokläufer S. 30<br />

o Amoklauf von Ansbach S. 31<br />

o Stichwort: Amoklauf S. 33<br />

o Was sind „School Shootings“? S. 34<br />

o Lektüretipps S. 36<br />

<strong>Theater</strong>pädagogisches<br />

Hermann Hesse S. 36<br />

Stefan Zweig – Der Amokläufer S. 36<br />

Peter Handke S. 36<br />

Brigitte Blobel – Alessas Schuld S. 38<br />

Übung für den Unterricht S. 40<br />

Fragen und Aufgaben zum Stück S. 42<br />

Thema Widerstand S. 43<br />

Thema Amoklauf S. 43<br />

Literaturverzeichnis S. 46<br />

4


Zum Stück und zur Inszenierung<br />

Heinrich von Kleist<br />

Marco Baliani / Remo Rostagno<br />

<strong>Kohlhaas</strong><br />

Ostdeutsches <strong>Theater</strong> - Roadmovie (nach einer alten Chronik)<br />

Für Jugendliche ab 15 Jahren<br />

Besetzung<br />

Inszenierung: Christoph Diem<br />

Fotos: Karina Nölp<br />

Dramaturgie: Petra Paschinger<br />

<strong>Theater</strong>pädagogik Daniela Scheuren<br />

Regieassistenz/Abendspielleitung: Marcus Rehberger<br />

Ein Solo mit: Kai Christian Moritz<br />

Termine<br />

Oktober 2009<br />

Samstag 10. Oktober 20:00 Uhr Premiere<br />

Mittwoch 14. Oktober 20:00 Uhr<br />

Mittwoch 21. Oktober 20:00 Uhr<br />

Donnerstag 22. Oktober 11:00 Uhr<br />

Mittwoch 28. Oktober 20:00 Uhr<br />

November 2009<br />

Mittwoch 18. November 20:00 Uhr<br />

Dezember 2009<br />

Donnerstag 17. Dezember 20:00 Uhr<br />

Januar 2010<br />

Sonntag 10. Januar 20:00 Uhr<br />

Samstag 23. Januar 20:00 Uhr<br />

Februar 2010<br />

Donnerstag 18. Februar 20:00 Uhr<br />

März 2010<br />

Donnerstag 4. März 20:00 Uhr<br />

Freitag 5. März 11:00 Uhr<br />

5


Bedingungen für den Besuch der Produktion in Ihrer Schule<br />

Wir kommen gerne mit dem Stück in Ihre Schule. Das <strong>Theater</strong> macht sich auf den<br />

Weg zu Ihnen. Wir wünschen uns zu diesem Zweck, dass die Schüler sich ihrerseits<br />

bereits auf den Stoff eingestimmt und vielleicht vorbereitet haben, damit das<br />

<strong>Theater</strong>erlebnis in der Schule für alle Beteiligten zu einem wertvollen und<br />

erfolgreichen Moment werden kann. Im Anschluss an die Vorstellung stehen wir,<br />

wenn es zeitlich möglich ist, für ein Gespräch mit den Zuschauern zu Ihrer<br />

Verfügung. Wir freuen uns über zahlreiche Rückmeldungen und eine spannende<br />

Auseinandersetzung mit den Schülern. Der Dialog zwischen Schauspieler und<br />

Zuschauern rundet das Erlebnis ab und treibt die Auseinandersetzung mit Inhalt und<br />

Form des Gesehenen voran. Auch freuen wir uns über Post der Schüler.<br />

WAS UND FÜR WEN?<br />

Heinrich von Kleist<br />

<strong>Kohlhaas</strong><br />

Fassung: Marco Baliani / Remo Rostagno (Stückgutverlag, München)<br />

Für Schüler ab der 10. Klasse<br />

Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten<br />

Mit: Kai Christian Moritz<br />

Inszenierung: Christoph Diem<br />

WIR BRINGEN MIT<br />

2 lichtstarke Diaprojektoren mit Kabel-Fernbedienungen, Dias, Tuch/Leinwand<br />

(mind. 2x3 m), CD-Player, CD<br />

VORGABEN FÜR SCHULEN<br />

Buchbar ab 3. Schulstunde (Große Pause als Aufbauzeit)<br />

Weiße Fläche zum Projizieren bis zum Boden (oder Möglichkeit, das Tuch zu<br />

befestigen)<br />

Dauer: 1 Std. 15 min.<br />

Raum: Komplett verdunkelbarer Raum!! (am besten Medienraum)<br />

Wir spielen für bis zu drei Schulklassen (ca. 90 Schüler), wenn der Raum geeignet<br />

ist.<br />

Preis: 100 Euro pro Klasse<br />

Fahrtkosten: 50 Euro für Schulen außerhalb <strong>Würzburg</strong>s<br />

Ihr Kontakt<br />

Daniela Scheuren (<strong>Theater</strong>pädagogik)<br />

Telefon 0931 / 39 09 – 223<br />

E-Mail daniela.scheuren@stadt.wuerzburg.de<br />

6


Inhalt <strong>Kohlhaas</strong><br />

Ein Stück Erzähltheater frei nach Motiven von Heinrich von Kleists Novelle Michael<br />

<strong>Kohlhaas</strong>.<br />

Aus dem Italienischen von Brigitte Korn-Wimmer.<br />

<strong>Kohlhaas</strong> ist Rosshändler, wie es schon zuvor sein Vater und Großvater waren. Sein<br />

Besitz ist groß, seine Ehe glücklich, sein Leben vollkommen. Eines Tages reitet er zu<br />

einem Großhandel nach Dresden und findet die Landstraße, die er schon immer<br />

bereist, wenige Kilometer vor dem Ziel mit einem Schlagbaum versperrt. Einen<br />

Passierschein hat er nicht, also lässt er dem Freiherrn von Tronka seine zwei besten<br />

Rappen zum Pfand. In Dresden angekommen, muss <strong>Kohlhaas</strong> erfahren, dass er auf<br />

einen üblen Spaß hereingefallen ist. In Erwartung einer Entschuldigung kehrt er zum<br />

Schloss des Freiherrn zurück. Seine beiden Vollblüter findet er zum Skelett<br />

abgemagert im Schweinestall vor, seinen Pferdeknecht bis aufs Blut misshandelt,<br />

vom Freiherrn weit und breit keine Spur. <strong>Kohlhaas</strong> will Recht erfahren, schreibt einen<br />

Brief an den Leipziger Gerichtshof. Doch die Advokaten wollen von dem Vorfall<br />

nichts wissen, Freiherr von Tronka ist ein einflussreicher Adliger. <strong>Kohlhaas</strong> Frau<br />

erkennt, wie wichtig die Angelegenheit für ihren Mann ist, und wendet sich mit<br />

einem Bittgesuch direkt an den Landesherren von Berlin.<br />

Durch ein furchtbares Missgeschick wird sie von den Wachen des Landesherren<br />

tödlich verletzt. <strong>Kohlhaas</strong> begräbt seine Frau, verkauft seinen gesamten Besitz, lässt<br />

seine Kinder bei Verwandten zurück. Von nun an lebt er im Zeichen der Rache, jagt<br />

dem Freiherrn von Tronka hinterher und verheert alle Städte, in denen dieser<br />

Zuflucht vor ihm sucht, mit Feuer und Schwert. Andere Rechtslose schließen sich<br />

ihm an. Wie ein Wirbelsturm braust sein immer größer werdendes Heer über<br />

Deutschland hinweg und hinterlässt eine breite Spur der Zerstörung. Ehe <strong>Kohlhaas</strong><br />

wieder zu Sinnen kommt, wird er zum „rechtschaffensten und zugleich<br />

entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ – und zum ersten Terroristen der Geschichte.<br />

Eine der kunstvollsten Novellen der deutschen Literatur als Solo für die Bühne:<br />

Die bekannten italienischen <strong>Theater</strong>macher Marco Baliani und Remo Rostagno<br />

haben mit ihrem <strong>Kohlhaas</strong> ein Stück Erzähltheater geschaffen, das gleichermaßen<br />

auf die Sprachgewalt der Vorlage wie auf die Kraft der Reduktion setzt. Die<br />

komplexe Handlung des Originals wird auf einfache Grundlinien zurückgeführt und<br />

das Augenmerk ganz auf die seelisch-moralische Entwicklung des Protagonisten<br />

und die zentralen Fragen der Geschichte gerichtet, die von erschreckender<br />

Aktualität sind: Darf ein Mensch anderen unschuldigen Menschen für eine gerechte<br />

Sache Leid zufügen, weil die Bedeutung der Sache über dem Schicksal des<br />

Einzelnen steht? Hebt sich Unrecht auf, wenn es im Namen des Rechts geschieht?<br />

7


Text von Petra Paschinger<br />

Der Zorn des Gerechten?<br />

Heinrich von Kleists Novelle „<strong>Kohlhaas</strong>“ als Solostück und theatrales Roadmovie<br />

Heinrich von Kleists vielleicht berühmteste Novelle, „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“, beeindruckt<br />

durch sprachliche Schärfe und - basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Figur des<br />

Michael <strong>Kohlhaas</strong>, der auf dem Weg nach Leipzig zwei seiner besten Rassepferde<br />

an den Junker Wenzel von Tronka verliert und fortan mit allen Mitteln um ihre<br />

Rückgabe kämpft, beruht auf der Lebensgeschichte des historischen Michael<br />

Kohlhase (ca. 1500 – 1540), Kaufmann in Cölln an der Spree (heute ein Teil Berlins).<br />

Kohlhase hatte nach einem ähnlichen Vorfall dem Land Sachsen die Fehde erklärt<br />

und wurde 1540 zusammen mit seinen Anhängern vor Gericht gestellt und zum<br />

Tode verurteilt.<br />

Held oder Verbrecher?<br />

Kleist macht seinen <strong>Kohlhaas</strong> zu „einem der rechtschaffensten und entsetzlichsten<br />

Mensch“ zugleich, der nur in einer Tugend ausgeschweift habe: „Das Rechtgefühl<br />

machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Mit dieser Einstellung befindet <strong>Kohlhaas</strong> sich<br />

durchaus in bester Gesellschaft: als Kämpfer für Gerechtigkeit steht er den<br />

modernen amerikanischen Superhelden Superman, Batman etc. in nichts nach.<br />

Auch sie kämpfen für Recht und Ordnung in der Welt – und nicht immer mit lauteren<br />

Mitteln. Dass <strong>Kohlhaas</strong> dennoch tragischer, kaputter erscheint als seine strahlenden<br />

Helden-Kollegen, liegt an den Umständen, die ihn so lange scheitern lassen, bis es<br />

zu spät ist. Und natürlich an der Unbedingtheit und wütenden Vehemenz seines<br />

Kampfes, der sich bald nicht mehr nur gegen einzelne Schuldige richtet, sondern<br />

gegen die ganze Welt. Aus dem Kampf um Recht und Gerechtigkeit wird ein<br />

Amoklauf.<br />

Selbstjustiz<br />

<strong>Kohlhaas</strong> ist ein Outlaw, ein Gesetzloser, seit er aus dem Bereich des Rechts<br />

ausgeschieden ist: Da wo der Staat und das geregelte Rechtssystem nicht greifen<br />

(wollen), verlangt er sein Recht – notfalls auch im Alleingang und mit Gewalt. Auch in<br />

der Realität ist Selbstjustiz – so wohl der moderne Fachausdruck für <strong>Kohlhaas</strong>ens<br />

Auslegung des mittelalterlichen und bereits zu seiner Zeit veralteten Fehderechts -<br />

häufig die Konsequenz, wenn die Institutionen zu versagen scheinen. Nicht selten<br />

werden Opfer gewalttätig, wenn die Justiz - in ihren Augen – nicht hart genug<br />

vorgeht und das Unrecht angemessen bestraft. So griff etwa die 31jährige Marianne<br />

Bachmeier 1981 in einem aufsehenerregenden Fall in Lübeck zur Waffe und<br />

erschoss den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal. Weltweit bekannt<br />

wurde auch der Fall der indischen „Königin der Banditen“, Phoolan Devi, die sich für<br />

eine erlittene Vergewaltigung rächte, indem sie gemeinsam mit ihren Anhängern die<br />

Schuldigen, mehrere Männer aus einer höheren Kaste, erschoss. Der Anspruch auf<br />

Gerechtigkeit wird in vielen Fällen ausgeübter Selbstjustiz zum Anspruch auf Rache.<br />

In demokratischen Ländern mit Gewaltenteilung ist Selbstjustiz bei Strafe verboten.<br />

Amoklauf<br />

<strong>Kohlhaas</strong> verlangt Gerechtigkeit, seine Rache trifft aber nicht nur die vermeintlich<br />

Schuldigen, sondern auch Unschuldige. In einer alles verheerenden Wut setzt er<br />

ganze Dörfer und Städte in Brand. Wird hier aus dem Kampf um Gerechtigkeit ein<br />

Amoklauf? Nicht nur im ursprünglichen Sinn des Wortes – Amok ist eine<br />

8


indonesische Strategie der Kriegsführung, bei der eine beinahe verlorene Schlacht<br />

dadurch gewendet wird, dass eine kleine Gruppe verschworener Krieger ohne<br />

Rücksicht auf das eigene Leben blindwütig gegen den Feind anläuft, auch im<br />

heutigen Wortgebrauch läuft <strong>Kohlhaas</strong> Amok. Nach dem Versagen der staatlichen<br />

Gerichtsbarkeit versinkt <strong>Kohlhaas</strong> in das für Amokläufer typische Grübeln, in eine<br />

Phase des Rückzugs und des Schweigens, bevor er explodiert und mit einer Schar<br />

Gleichgesinnter ganz Ostdeutschland in Brand setzt. Sein Kampf um Gerechtigkeit<br />

wird stellvertretend zum Freiheitskampf, sein blindwütiges Anrennen gegen „die<br />

Schuldigen“ wird zum Kampf gegen gesetzliche Willkür und die herrschende<br />

Gesellschaftsordnung umgewidmet.<br />

Outlaw<br />

<strong>Kohlhaas</strong> steht – in vielerlei Hinsicht - jenseits aller Kategorien: er ist ein Outlaw, ein<br />

Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, ein Verbrecher und (tragischer) Held. In<br />

Kleists klarer, nüchterner Sprache entsteht das Bild eines Individuums, das auf<br />

nichts mehr hoffen darf und alles aufs Spiel setzt. Ein Klassiker.<br />

9


Der Stückautor: Marco Baliani<br />

Lebensdaten<br />

Geboren 1950 in Verbania<br />

Autor, <strong>Theater</strong>- und Filmschauspieler, Regisseur<br />

1975-1990: Gründer und künstlerischer Leiter, <strong>Theater</strong> „Ruotalibera“ in Rom<br />

Lebt seit 1991 - freiberuflich tätig - in Parma.<br />

KOHLHAAS wurde vom italienischen Fernsehen professionell auf Video<br />

aufgezeichnet.<br />

Allmähliche Reputation des <strong>Theater</strong>machers und Stückeschreibers<br />

Marco Baliani in Deutschland<br />

„Entdeckungen sind immer wieder zu machen, manchmal dauern sie aber eine<br />

gehörige Zeit. Die italienische Szene scheint den deutschen Kinder- und<br />

Jugendtheatermachern zwar nicht unbekannt, seit Carlo Formigoni hierzulande als<br />

Regisseur gastierte oder das Schauspielerduo Nino d’Introna und Giacomo<br />

Ravicchio mit „Robinson & Crusoe“ auftrat. Doch der neben Formigoni profilierteste<br />

Kindertheater-Macher Italiens, eben Marco Baliani, gerät nur allmählich in den Blick<br />

hiesiger <strong>Theater</strong>leute.<br />

Zwar entwickelte Baliani schon 1989 für den Steirischen Herbst in Graz das immer<br />

noch aktuelle, aber nie nachgespielte und nun hier vorgestellte Stück „Saturnus“.<br />

Und 1990 inszenierte Brigitte Dethier in Esslingen sein Stück „Oos“. Doch erst seit<br />

Balianis Auftritt beim Frankfurter Autorenforum 1992, wo sich regelmäßig die Kinder-<br />

und Jugendtheaterdramaturgen tummeln, wuchs das Interesse. Die gleichzeitige<br />

deutschsprachige Erstaufführung seines Stücks „Rosa und Celeste“ am Avanti-<br />

<strong>Theater</strong> in Aachen trug auch dazu bei. Zuletzt erreichte „Rosa und Celeste“<br />

immerhin ein gestandenes Stadttheater - die Dortmunder Dramaturgin Heike<br />

Langensiepen inszenierte es sinnigerweise in einem Eisenbahnwaggon am<br />

Hauptbahnhof.<br />

Dabei ist Baliani kein Newcomer in der europäischen Kinder- und Jugentheater-<br />

Szene. Schon 1975 gründete er in Rom das <strong>Theater</strong> Ruotalibera, das er bis 1990<br />

leitete. Seit 1983 schreibt er Stücke, die mehrfach mit dem Premio Stregagatto, dem<br />

höchsten italienischen Kindertheater-Preis, ausgezeichnet wurde. Seit 1991 arbeitet<br />

Baliani als freier Autor, Regisseur und Schauspieler. Mit seinem Selbstverständnis<br />

als „Geschichtenerzähler“ und seinem Konzept eines „epischen <strong>Theater</strong>s“ knüpft er<br />

nicht nur an alte Erzähltraditionen, wo wichtige Passagen vorgespielt werden, und<br />

an manche <strong>Theater</strong>tradition an, sondern ebenso daran, dass Kinder über lauter<br />

Eindrücke nur noch sinnentstellte Erfahrungen machen können, dass ihnen in der<br />

herrschenden Reizüberflutung kaum mehr ein sinnstiftender Zusammenhang zu<br />

erkennen gelingt. Doch kein trockenes Lehrtheater wird hier angestrebt; Baliani setzt<br />

vielmehr auf die kindliche Fähigkeit des „Staunens“, das er als „ein tiefes und<br />

aufrichtiges Fühlen“ definiert, „ein Zuhören, ein Schauen, ein Berühren der Dinge der<br />

Welt, als wären diese noch nicht durch einen einzigen Namen geordnet“, wie er in<br />

seinen „Gedanken eines Geschichtenerzählers“ notiert [...] Kein Wunder, dass<br />

10


Balianis Stücke, die auf Phantasie bei Spielern und Publikum setzen und auch auf<br />

die Magie der Geheimnisse der Wirklichkeit, weit über das ganz junge Publikum<br />

hinaus zu faszinieren vermögen. [...]“<br />

(Manfred Jahnke in: Die Deutsche Bühne 1/96)<br />

Das Staunen, die Zeit und der Körper<br />

Die Kunst der mündlichen Überlieferung<br />

Marco Baliani<br />

Die erste Begabung eines Erzählers ist eine besondere Fähigkeit zu staunen, als<br />

würde durch das Erzählen der kleinsten Dinge der Welt, aber auch der größten,<br />

diese in neuem Licht erstrahlen, sich in neuen nicht verbrauchten Formen zeigen. Im<br />

Akt des Erzählens ist es so, als würde die Zeit ständig neu aufgehen.<br />

Diese Qualität des Staunens ist eine für die Kindheit typische Erinnerung, etwas, das<br />

uns damals gehörte und uns jetzt nicht mehr gehört. Ich glaube, dass sich ein Kind<br />

aus diesem Grund so gerne ein Märchen erzählen lässt. In den Worten des<br />

Erzählers, und noch mehr in der Art, in der der Erzähler das Unsichtbare durch die<br />

Erzählung sichtbar macht, findet er einen Teil der eigenen Erfahrung wieder, eine Art<br />

auf die Welt zu schauen und sie wahrzunehmen, als wäre es eine ständige<br />

Entdeckung. Ich glaube, dass sich auch bei einem Erwachsenen, der einer<br />

Erzählung lauscht, dieselben Gefühle einstellen; doch für ihn ist dieses Staunen<br />

bereits ein nostalgischer Akt, bezogen auf eine Zeit seines Lebens, auf die er nicht<br />

mehr verfügt. (…)<br />

Die Zeit<br />

Das Problem des mündlichen Erzählers besteht nicht darin, die Folge der<br />

Ergebnisse wiederzugeben, sondern das Gefühl, das sie erwecken, ein Bewusstsein<br />

für die Ereignisse zu erzeugen. Dieses Gerinnen und die Verstärkung der Gefühle<br />

bewirkt im Schauspieler, aber auch im Zuhörer, eine Kenntnis der Zeit, ein Spüren<br />

der Zeit des Lebens als eine Form der Wiedergewinnung. Das Spüren dieser Zeit ist<br />

eine Form der Stille der Welt, eine Leere, eine Pause, die von unserer Kultur und in<br />

unserem sozialen Leben schwer zu akzeptieren ist. (…)<br />

11


Der Körper<br />

Normalerweise denkt man an eine Erzählung, als eine mündliche Übermittlung von<br />

Worten. Doch das Mittel der Erzählung ist der Körper, nicht nur die Stimme, auch<br />

wenn die Stimme eine wichtige körperliche Komponente ist, ist sie nicht die einzige.<br />

Es ist der Körper, der das Erzählen inszeniert.<br />

Wenn die Handlung, die Worte, das Wahrnehmen und das Kennenlernen durch die<br />

Gefühle einen Höhepunkt erreichen, über den es unmöglich scheint hinauszugehen,<br />

dann kann man doch noch tanzen oder singen. Der Tanz und der Gesang sind für<br />

mich die unüberwindbaren Momente; sie sind keine technischen und formalen<br />

Kategorien, sie sind vielmehr Formen, reine Formen eines extremen Zuhörens und<br />

Sprechens, eine Verlängerung des Körpers über die Physis an sich hinaus, auf einen<br />

Fluchtpunkt hin gerichtet. (…)<br />

„Der mündliche Erzähler muss den anderen zeigen, was gewöhnlich nicht sichtbar<br />

ist, und dabei muss er selbst als erster im Stande sein, die vielen Wunder und Dinge<br />

zu sehen, die zwischen Himmel und Erde kursieren und pulsieren, und mit denen wir<br />

normalerweise, immer abwesend, immer mit irgend etwas anderem beschäftigt,<br />

nicht in Berührung kommen. (…)<br />

Quelle: Beiträge zum Jugendtheater 1996 in der Zeitschrift Praxis Schule 5-10, Heft 3 / 1996<br />

12


Werkbeschreibung<br />

Heinrich von Kleist – <strong>Kohlhaas</strong><br />

Der Junker Wenzel von Tronka hat zwei Pferde des Pferdehändlers Michael<br />

<strong>Kohlhaas</strong> angeblich als Pfand sicher gestellt. <strong>Kohlhaas</strong> versucht sein Eigentum<br />

zunächst auf dem Rechtsweg zurück zu bekommen, doch die Angelegenheit wird<br />

durch Tronka immer wieder verzögert. <strong>Kohlhaas</strong> versucht schließlich im Übermaß<br />

des Zorns, das was er für sein Recht ansieht, mit Gewalt durchzusetzen, indem er<br />

Burg und Dörfer des Junkers verwüstet. Erst durch das Eingreifen des Kurfürsten<br />

wird die Gerechtigkeit wieder hergestellt: Der Junker wird verurteilt, aber auch<br />

<strong>Kohlhaas</strong> wird hingerichtet – ein Urteil, das er auch als gerecht ansieht.<br />

Auch hier stellt Kleist den Einzelnen in Gegensatz zur staatlichen Ordnung. Doch<br />

<strong>Kohlhaas</strong> verliert sich derartig in einem Übermaß rasender Wut, dass ihm nur noch<br />

Gerechtigkeit, nicht mehr Verzeihung gewährt werden kann.<br />

Ein interessanter Aspekt ist auch das Heranziehen des Zeitgenossen Luther als<br />

mögliche schlichtende Instanz.<br />

Biographie Heinrich von Kleist<br />

Heinrich von Kleist stammt aus einer alten adligen Familie, die traditionell im<br />

preußischen Militärwesen eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Seine Ausbildung<br />

begann mit Privatunterricht zu Hause, doch nach dem Tod des Vaters – Kleist war<br />

gerade sieben – wuchs er in Berlin auf. Mit 15 Jahren schon wurde er in dem<br />

berühmten preußischen Regiment Garde aufgenommen und nahm im folgenden<br />

Jahr auch an militärischen Aktionen, z. B. der Belagerung von Mainz, teil. Als 22jähriger<br />

war er Leutnant, schied dann aber aus dem Militärdienst aus und studierte 3<br />

Semester in seiner Geburtsstadt. Weil er sich über seine Zukunft klar werden wollte,<br />

unternahm er Reisen, darunter eine im Jahr 1800, jene mysteriöse nach <strong>Würzburg</strong>,<br />

über die er in seinem Brief unterschiedliche Ziele geheimnisvoll andeutete: ein<br />

Spionageauftrag, eine Operation – oder der Versuch, Schriftsteller zu werden?<br />

Mit Wilhelmine von Zenge blieb er nur kurz verlobt, die sog. Kant-Krise diente ihm<br />

zweifellos auch als Vorwand sich aus dieser Bindung zu lösen. Kleist hatte die<br />

kritische Philosophie des in Königsberg lehrenden Immanuel Kant kennen gelernt.<br />

Aus dessen Lehre von der Relativität menschlicher Erkenntnismöglichkeit zog er die<br />

Folgerung der Unmöglichkeit von Wahrheitserkenntnis: „Wir können nicht<br />

entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist (...)“.<br />

Kleist fand in Kants Lehre, die er nur teilweise aufnahm, eine Erklärung seiner<br />

eigenen Unsicherheit bezüglich eines festen Lebensplans wieder. Er flüchtete in<br />

vielerlei Reisen, die er nutzen wollte, um eine Antwort auf die Frage nach seiner<br />

wahren Lebensbestimmung zu bekommen. Solch intensive Beschäftigung mit<br />

seinem Lebensplan wird schon in dem Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu<br />

finden (1799) deutlich. Die Erfahrung der Stadt Paris, die er auf Reisen kennen<br />

lernte, erschien ihm schrecklich und er suchte in der Schweiz (1802) die ländliche<br />

Idylle – mit der Überlegung, Bauer zu werden.<br />

13


In dieser Zeit arbeitete er an seinem ersten Schauspiel „Die Familie Schroffenstein“,<br />

das 1803 erschien. Er zeigt hier am Schicksal zweier adliger Familien, wie Hass und<br />

Misstrauen eine mörderische Katastrophe auslösen, die auch die nachfolgende<br />

Generation einbezieht: Die Kinder der Familie, Agnes und Ottokar, können die<br />

Gegensätze nicht durch verstandesmäßige Argumentation aufklären und<br />

überbrücken, sondern sie werden schließlich irrtümlich jeweils von ihren Vätern<br />

getötet.<br />

Kleists Unsicherheit und Zweifel über die eigene Lebensbestimmung spiegeln sich<br />

im verhängnisvollen Geschehen dieses Schauspiels wieder – wie auch in Robert<br />

Guiskard, ein ebenfalls 1802 angefangenes Stück dessen Manuskript Kleist 1803<br />

verbrannte, aber fünf Jahre später noch einmal wiederherstellte. Immer deutlicher<br />

werden Unsicherheiten und Suche Kleists in der eigenen Lebensgestaltung: Er, der<br />

preußische Leutnant, plante, in den französischen Kriegsdienst einzutreten und<br />

konnte nur fast gewaltsam durch Intervention des preußischen Gesandten davon<br />

abgehalten werden.<br />

1805 erhielt er eine Anstellung in der preußischen Verwaltung, gab sie jedoch im<br />

folgenden Jahr wieder auf und schriftstellerische Arbeit an Schauspiel und Erzählung<br />

trat in den Vordergrund. 1807 wurde er von den Franzosen (weite Teile<br />

Deutschlands standen damals unter der Oberherrschaft Napoleons) als Spion<br />

verhaftet und war monatelang in Gefangenschaft in Pontarlier, wo er allerdings zu<br />

seiner Freude literarisch arbeiten durfte. Hier entstand z. B. die Erzählung „Die<br />

Marquise von O...“, die damals skandalös mit einem Zeitungsartikel beginnt, in der<br />

die Marquise den Vater ihres noch nicht geborenen Kindes sucht. Im Verlauf der<br />

Handlung wird offen gelegt, dass ein Offizier, der die Marquise vor Feinden gerettet<br />

hatte, die Ohnmächtige sogleich vergewaltigt hatte. Im Widerstreit zwischen<br />

Dankbarkeit, Zuneigung und Abscheu jenem „Engel und Teufel zugleich“ gegenüber<br />

siegen schließlich das Verzeihen und die Liebe. Im gleichen Jahr erscheint noch das<br />

Lustspiel „Amphitryon“. In Anknüpfung an den schon bei Molière vorhandenen Stoff<br />

gestaltet Kleist hier ein glückliches Ende: Alkmene, die Frau des Amphityon, wird<br />

durch den Göttervater Zeus in existenzielle Gefühlsverwirrungen getrieben, doch sie<br />

behält auf der Basis der Sicherheit ihres Gefühls, nicht des Verstandes, letztlich ihre<br />

autonome ruhige Selbstgewissheit. Ganz anders endet das 1808 in der von Kleist<br />

inzwischen herausgegebenen literarischen Zeitschrift Phöbus erschienene<br />

Trauerspiel „Penthesilea“: Die Titelheldin, eine Amazonenkönigin, ist den alten<br />

Gesetzen ihres Staates unterworfen, die ihr eine Liebe nur unter einem Mann<br />

erlauben, den sie im Kampf besiegt hat. Obwohl der Grieche Achilles bei den<br />

kriegerischen Auseinandersetzungen sie besiegt hat, verlieben sich beide<br />

ineinander. Als Achilles von den Gesetzen des Amazonenstaates erfährt, ist er –<br />

ohne Penthesilea davon weiß – bereit, sich zum Schein von ihr besiegen zu lassen<br />

und lässt ihr eine Kampfaufforderung übermitteln. Sie jedoch versteht dies nicht,<br />

glaubt sich in ihrer Liebe zu ihm verspottet und reagiert mit Hass. In totaler<br />

Gefühlsverwirrung tötet sie schließlich ihn und sich.<br />

Goethe gefiel diese Art und Weise, wie Kleist antike Mythologie verarbeitete, nicht,<br />

und als es 1808 in Weimar zu einem Misserfolg der Uraufführung von Kleists „Der<br />

zerbrochene Krug“ kam, dessen Inszenierung Goethe zu verantworten hatte,<br />

bedeutete dies das Ende der Bekanntschaft. 1807 war Kleist erneut monatelang auf<br />

Reisen in verschiedenen Staaten – der möglicherweise auch diesmal politische<br />

Hintergrund ist undurchsichtig. 1810 erschien ein Band Erzählungen, der u. a. „Das<br />

Erdbeben von Chili“ enthält. In dieser Novelle werden Jeronimo und die Novizin<br />

14


Josephe durch die hereinbrechende Naturkatastrophe vor der Bestrafung ihrer<br />

verbotenen Liebe gerettet. Aber die gesellschaftliche Toleranz und scheinbare<br />

Gemeinschaft nach dem Unglück trügt: Hass auf die beiden angeblich Schuldigen<br />

wird inszeniert und führt dazu, dass beide durch eine wütende Menschenmenge<br />

getötet werden. Nur ihr Kind wird gerettet durch einen Mann, der sich vom blinden<br />

Hass nicht hat mitreißen lassen.<br />

Auch das Schauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ wird in diesem Jahr<br />

uraufgeführt. Es handelt von der Gefühlssicherheit, mit der sich Käthchen, Tochter<br />

eines Handwerkers, an den adligen Grafen Wetter von Strahl gebunden sieht. Ein<br />

Traum hat ihr das Bild des Grafen vermittelt, dem sie nun – trotz Hindernissen und<br />

Intrigen – folgt. Der Graf fühlt sich ebenfalls zu Käthchen hingezogen, doch sein<br />

Standesdenken und eine Vision, die ihm eine Kaisertochter zur Frau vorhersagte,<br />

hindern ihn, seinem Gefühl zu folgen. Er wendet sich der intriganten Kunigunde zu.<br />

Doch Käthchens beharrliche Zuneigung überwindet die Gegensätze, und als sie sich<br />

schließlich als uneheliche Tochter des Kaisers herausstellt, endet das Stück<br />

märchenhaft.<br />

Mit den „Berliner Abendblättern“, die er 1810-1811 herausgab, versuchte Kleist<br />

noch einmal auf journalistischem Gebiet Fuß zu fassen. Die Abendblätter boten eine<br />

damals neuartige Mischung von Information, politischer Meinungsbildung,<br />

Unterhaltung und ein wenig Klatsch. Hier veröffentlichte Kleist auch eine Reihe<br />

seiner Anekdoten und Erzählungen, z.B. die bekannte Anekdote aus dem letzten<br />

preußischen Krieg, in der er einen verwegenen preußischen Reiter als Sieger über<br />

eine Reihe französischer Soldaten herausstellt. Doch gefiel der preußischen<br />

Regierung Kleists Vorstellung von Patriotismus nicht, und so wurde nach einigen<br />

einschränkenden Maßnahmen der Zensur die Zeitung schon bald wieder eingestellt.<br />

Wieder bemühte sich Kleist vergeblich um eine Anstellung; die Familie,<br />

insbesondere die Schwestern, bestärkten sein Gefühl, ein „nichtsnutziges Glied“ der<br />

Gesellschaft zu sein. Aus dieser Stimmung heraus kam es am Kleinen Wannsee bei<br />

Berlin zur Selbsttötung, die er als eine Art Selbstbestrafung empfand und in die er<br />

die ältere, todkranke und von ihm verehrte Henriette Vogel mit hinein nahm.<br />

15


Literarische Einordnung<br />

Mit einer pauschalen Einordnung Kleists in die Zeit der Romantik ist wenig<br />

Charakteristisches gesagt. Zu groß sind auf den ersten Blick die Unterschiede der<br />

„typischen“ romantischen Texte etwa Ludwig von Eichendorffs oder Ludwig Tiecks<br />

zu Kleists Werken.<br />

Romantisch ist bei Kleist die Grundlegung menschlichen Handelns in der Sicherheit<br />

des Gefühls, die oft verstandesmäßigen Überlegungen zuwiderläuft. Kleist erprobt<br />

an den Gestalten seiner Texte diese Sicherheit, indem er sie Verwirrungen aussetzt,<br />

die sich nicht rational entschlüsseln lassen und die die Autonomie des Gefühls in<br />

Frage stellen können. Dies Grundmuster der Handlungsführung und<br />

Personengestaltung, das in seinen Texten immer wieder auftaucht und oben schon<br />

z. B. „An der Marquise von O...“, in Amphityron oder im Käthchen von Heilbronn<br />

sichtbar geworden ist, thematisiert auch sein Essay Über das Marionettentheater<br />

von 1810.<br />

Kleist entwirft hier ein Modell menschlichen Verhaltens im Vergleich zwischen Tier,<br />

Marionette und Gott. Instinktmäßig handelt das Tier aus seiner Natur heraus<br />

„richtig“, die Grazie der Bewegung der Marionette wird im Text erklärt durch ihren<br />

rein mechanischen Bewegungsablauf, der sich allein nach natürlichen Gesetzen der<br />

Schwerkraft richte. Der Mensch jedoch ist nur ausnahmsweise in der Lage, aus dem<br />

Zustand naturhafter paradiesischer „Unschuld“ heraus zu handeln; durch sein<br />

Bewusstsein, das ständig reflektierend und beurteilend eingreift, wird er gestört und<br />

aus der selbstverständlichen Sicherheit des Handelns, wie sie Tier und Marionette<br />

zu eigen ist, herausgerissen. Erst das Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg, das<br />

zu Lebzeiten Kleists nicht veröffentlicht wurde, zeigt hier eine Lösung: Das utopische<br />

Bild vom gerechten Staat, verdeutlicht durch den weisen, verzeihenden Herrscher,<br />

entwirft die Möglichkeit, zur Sicherheit des Handelns zurückzufinden.<br />

Gefährdung der menschlichen Identität ist somit das große Thema Kleists, das sich<br />

auch im Lebenslauf des Autors widerspiegelt. Er widerspricht damit dem<br />

optimistischen Menschenbild, das die Literatur der Aufklärung und Klassik<br />

herausgestellt hat, und weist mit solcher Thematik auf die Moderne voraus. Die<br />

Zeitgenossen von Kleist haben für Dichter und Werk wenig Interesse gezeigt; erst<br />

nach seinem Tod setzt durch Ludwig Tiecks Gesamtausgabe der Werke von 1821<br />

das Interesse ein. Die oft wiederholte Meinung, mit Kleist sei einer der besten<br />

deutschen Dichter am Unverständnis seiner Zeitgenossen zugrunde gegangen,<br />

gründet auf diesen Fakten.<br />

[Quelle: Heyde, Hartmut von der: Heinrich von Kleist. In: Lexikon Deutsch. Autoren und Werke. Hrsg.<br />

von Hartmut von der Heyde. Freising 2002.]<br />

16


Der historische <strong>Kohlhaas</strong><br />

Ausbruch der Fehde<br />

Die Quellen überliefern als eines der ersten Ereignisse, wie der Kaufmann Hans<br />

Kolhase am 1. Oktober 1532 von seinem Wohnort in Kölln an der Spree im<br />

Kurfürstentum Brandenburg nach Leipzig auf den Michaelis-Markt zieht.<br />

Hans Kolhase wird ungefähr 30 Kilometer vor seinem Reiseziel Leipzig in der<br />

Ortschaft Wellaune von Bauern angehalten. Auf Geheiß ihres Herrn, des<br />

Landadeligen Günther von Zaschwitz zu Schnaditz, fragen die Bauern Kolhase über<br />

die Herkunft seiner Pferde aus, weil in der Gegend vor nicht langer Zeit Pferde<br />

gestohlen worden sind. Es kommt zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung<br />

zwischen Kolhase und den Bauern. Kolhase muss ohne seine Pferde nach Leipzig<br />

weiterziehen. Er macht auf dem Leipziger Markt keine guten Geschäfte und kommt<br />

im Anschluss daran in finanzielle Schwierigkeiten. Auf dem Rückweg nach Kölln<br />

versucht er erfolglos, die Pferde von den Untertanen Günthers von Zaschwitz<br />

wiederzuerlangen. Kolhase verlegt sich zuerst auf den Rechtsweg. Unter Vermittlung<br />

des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg wird 1533 ein Rechtstag in sächsischen<br />

Düben angesetzt.<br />

Im Jahre 1534, als Kolhase erkennt, dass seine Forderung mit rechtlichen Behelfen<br />

nicht durchsetzen kann, schreibt er einen Absagebrief an Günther von Zaschwitz.<br />

Als erste Fehdenhandlung legt er Feuer in Wittenberg und dem nahen Dorf<br />

Schützberg.<br />

Vergleichsbemühungen<br />

Der Kurfürst von Brandenburg verweigert Kursachsen die nachbarschaftliche Hilfe<br />

gegen seinen Untertanen Kolhase mit dem Hinweis auf den Raubritter Nickel von<br />

Minchwitz, der wenige Jahre zuvor aus dem sächsischen Gebiet ungehindert eine<br />

Fehde gegen Brandenburg hat führen können. Der Fehdengegner Günther von<br />

Zaschwitz stirbt. Auf einem ersten Rechtstag in Jütebog am 6. Dezember 1534<br />

vergleichen sich die Parteien, Kolhase 600 Gulden Schadensersatz zu zahlen. Auf<br />

Ersuchen der Witwe des Günther von Zaschwitz erhebt der sächsische Kurfürst<br />

Johann Friedrich Einspruch gegen den Vergleich, weil die Abgesandten seine<br />

Instruktionen überschritten haben. Kolhase schreibt in seiner Not Luther um Hilfe an,<br />

der ihm zurät, Frieden anzunehmen.<br />

Als das Scheitern der Verhandlungen offenbar wird, beginnt die sächsische Seite<br />

fieberhaft nach Kolhase und seinen Helfern zu fahnden. Im Mai 1535 setzt Kolhase<br />

seine Fehde fort, indem er Dörfer im nördlichen Gebiet Sachsens (im Grenzraum<br />

Brandenburg) ausraubt und Schadenfeuer legt.<br />

Der Landadelige Eustachius von Schlieben, Amtmann zu Zossen, verständigt sich<br />

mit den beiden Parteien anfangs 1537 auf einen zweiten Rechtstag in Jütebog. Doch<br />

die sächsische Seite tritt nicht auf die Entschädigungsforderungen von Kolhase ein.<br />

Auch der Rechtstag zu Zerbst 1538 führt zu keinem Ergebnis. Der Nachfolger des<br />

brandenburgischen Kurfürsten, Joachim der Jüngere oder Zweite, weigert sich, auf<br />

das sächsische Gesuch um Verhaftung von Kolhase einzutreten und diesem das<br />

Geleit zu brechen.<br />

17


Wiederaufnahme der Fehde und Ende von Hans Kolhase<br />

Mit Blick auf die Verweigerung einer Entschädigung durch die kursächsische Seite<br />

erneuert Kolhase seine Fehde […].<br />

Für den Fortgang der Ereignisse bis zur Hinrichtung von Kolhase ist man auf die<br />

Schilderungen in den drei erwähnten Chroniken von Mentz, Leutinger sowie Haftiz<br />

angewiesen. Danach überfällt Kolhase einen brandenburgischen Silbertransport auf<br />

dem Weg zwischen den Mansfeldischen Bergwerken und Berlin, um seinen<br />

Kurfürsten zum aktiven Eingreifen zu bewegen. Die Haltung von Joachim II. wie auch<br />

die der Bevölkerung Brandenburgs scheint mit dieser Fehdehandlung definitiv<br />

umzuschlagen. Die Suche nach Kolhase und seinen Anhängern wird intensiviert, und<br />

bei einer Hausdurchsuchung findet man Kolhase, seine Frau und bald auch alle<br />

einflussreichen Fehdenhelfer. Am 8. März 1540 beginnt die Untersuchung gegen<br />

Kolhase in Berlin, die wie folgt endet:<br />

Anno Christi 1540. Montags nach Palmarum, ist Hans Kolhase, ein Bürger zu Cölln<br />

an der Spree, mit samt seinen Mitgesellen, Georg Nagelschmidt, und einem Küster,<br />

der sie gehauset, von Berlin aufs Radt gelegt.<br />

[Quelle: Müller-Tragin, Christoph: Die Fehde des Hans Kolhase. Zürich 1997.]<br />

18


Das Außermoralische<br />

Thematisches<br />

Das „Außermoralische“ meint weder Amoralisches noch Unmoralisches. Vielmehr<br />

wird es der Tragik der Moralität gerecht, die darin liegt, dass sich das Gute nicht für<br />

gut halten kann, ohne es schon weniger zu sein. Und es ist der Titel für solche<br />

Phänomene, die nicht entweder gut oder böse, sondern beides zugleich sind.<br />

Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“. Die totale Rache<br />

Eine literarische Moralkritik, von der überhaupt nur unter Vorbehalt die Rede sein<br />

kann, ist von der diskursiven klar unterschieden. Gibt es einen moralkritischen<br />

Gehalt in Kleists „Michael <strong>Kohlhaas</strong>“, dann findet er sich nicht im Einzelnen<br />

ausgesagt, sondern kann nur aus dem Ganzen entfaltet werden. Dieses Ganze aber<br />

bleibt ambivalent genug, um jede Proposition zu dementieren. So kann kein letztes<br />

Urteil über Recht und Schuld in <strong>Kohlhaas</strong>' Kompensationsanspruch gefällt werden,<br />

und gerade so trifft Kleist die komplizierte Sachlage von der Rechtmäßigkeit des<br />

moralischen Anspruchs und der gleichstarken Berechtigung der Moralkritik. Er führt<br />

das Verhältnis von Recht und Unrecht in eine Paradoxie, die hier zu einer<br />

selbstständigen Kategorie wird.<br />

Der Fall <strong>Kohlhaas</strong> ist insofern paradox, als <strong>Kohlhaas</strong> nur durch äußerstes Unrecht zu<br />

seinem Recht kommt, selbst schuldig werden muss, um die Schuld des Junkers<br />

Wenzel von Tronka gesühnt, das korrumpierte Recht rehabilitiert und den Tod seiner<br />

Frau gerächt zu sehen. Die Paradoxie ist hier keine der Gegensatzkoinzidenz,<br />

sondern wird erst im Hinblick auf den Gang der Erzählung in der Unrechtsbedingung<br />

des Rechts, in dem kontingenten Auslöser der Kompensationsforderung und<br />

schließlich auch in der problematischen Hypergenauigkeit der Gesetzeserfüllung<br />

deutlich.<br />

Das Unrecht von <strong>Kohlhaas</strong>' brandschatzendem Rachefeldzug ist im Gang der Dinge<br />

die Brücke zur Wiederherstellung des Rechts, es kann aber nicht als Mittel<br />

gerechtfertigt werden. Deshalb muss sich das Recht schließlich durch die<br />

Hinrichtung <strong>Kohlhaas</strong>' bestätigen, ohne doch seine Unrechtskonditionen loswerden<br />

zu können. Auch <strong>Kohlhaas</strong> muss sein Unrecht, seinen Terrorismus sühnen und tut<br />

dies mit der vollen Zustimmung einer doppelten Genugtuung, der, die er bekommt<br />

und der, die er geben soll. Der doppelte Gesetzesbruch führt am Ende zu einem<br />

triumphalen Sieg des Gesetzes, in dem die Balance von Schaden und<br />

Entschädigung, Schuld und Sühne wiederhergestellt ist.<br />

Der Triumph dieses Sieges spiegelt zwar die volle Genugtuung, die die Gerechtigkeit<br />

geben kann, aber unter fragwürdigen Bedingungen und im Hinblick auf seinen Sinn<br />

mit ebenso fragwürdigem Erfolg. So führt das großangelegte Finale, das das<br />

Alphabet der Kompensation bis zum Z durchbuchstabiert hat, auch in einen<br />

Widersinn, der gerade aus der peinlichen Genauigkeit, mit der alle Forderungen<br />

erfüllt werden, hervorgeht. Die Kompensation, die das Recht und auch den Sinn<br />

garantiert, schließt selbst eine Unrechtsdimension ein, in der auch sie sinnlos wird.<br />

Indirekt fordert sie selbst ihre Ausnahme, denn in zwei Punkten drängen sich andere<br />

Möglichkeiten auf: das ist zum einen die Verzeihung gegenüber dem Junker, zum<br />

19


anderen die Begnadigung <strong>Kohlhaas</strong>'. Denn „alles wohl erwogen“, wie das im Text<br />

ausgerechnet Luther formuliert, macht <strong>Kohlhaas</strong> Insistenz auf Entschädigung, über<br />

den Buchstaben des Gesetzes hinaus, ebenso wenig Sinn wie seine Hinrichtung.<br />

Denn die Kompensation wird letztlich zur Demonstration ihrer bloßen<br />

Selbstbefriedigung, und das heißt, sie, die bloßes Mittel sein soll, wird zum Zweck.<br />

Das Ungenügen an ihrer Verabsolutierung wird zum einen in dem Gespräch mit<br />

Luther, der trotz Anerkennung der berechtigten Klage, zur Vergebung auffordert,<br />

deutlich, und zum anderen zeigt es sich in der allgemeinen Klage des Volks an<br />

<strong>Kohlhaas</strong>' Sarg und in dem Verlangen des brandenburgischen Kurfürsten, mit dem<br />

Ritterschlag der beiden Söhne des <strong>Kohlhaas</strong>' über das „schlichte Rechttun“<br />

hinauszugehen.<br />

Immer wieder stellt sich das Problem der angemessenen Relationen, die sich rein<br />

rechnerisch nicht bestimmen lassen. So stehen vor allem der eigentliche Grund des<br />

Rechtsstreits – die von dem Junker widerrechtlich einbehaltenen und<br />

abgewirtschafteten Pferde und die schwere Körperverletzung des Knechts Herse –<br />

in keinem Verhältnis mehr zum kriegerischen Ausmaß, das der Streit annimmt. Der<br />

Stein, der ins Rollen kommt, der Grund, der schließlich einen ganzen Staat ins<br />

Wanken bringt, wird lächerlich gering in Relation zu der Sicherheit und Ordnung, die<br />

auf dem Spiel stehen. Aber am Anfang ist er längst groß genug, um nicht einfach<br />

nach den ersten Misserfolgen in der Klage hingenommen werden zu können. Kleist<br />

hält mit der Konstruktion des Verbrechens im Haus Tronka genau die Balance, die<br />

einerseits eine starke Motivation für <strong>Kohlhaas</strong>' Vorgehen gibt, andererseits aber<br />

wiederum so geringfügig ist, dass sie eben dieses Vorgehen nicht rechtfertigen<br />

kann. Dass <strong>Kohlhaas</strong> noch nach seinen Anschlägen auf der Entschädigung, der<br />

Wiederherstellung der Pferde durch den Junker selbst und der Erstattung der<br />

Kurkosten für Herse besteht, wird zu einer ungerechtfertigten und fast unerfüllbaren<br />

Forderung der Rache. Die Kompensation wird allein zu einer Frage des Prinzips.<br />

Und das Prinzip, das Gesetz ist es auch, was für <strong>Kohlhaas</strong> am schwersten verletzt<br />

ist, wesentlich schwerer als sein Besitzstand und seine Fürsorgepflicht und<br />

Verantwortung für Herse.<br />

Der ordentliche Rechtsweg, den <strong>Kohlhaas</strong> durch alle Instanzen zu gehen bereit ist,<br />

ist unbegehbar. Die Justiz ist korrupt, nennt ihn, obwohl seine Rechtssache<br />

zunächst völlig eindeutig und sein Anspruch klar und stark ist, einen „unnützen<br />

Querulanten“, der sie in Zukunft „mit solchen Plackereien und Stänkereien<br />

verschonen“ solle. Der Staat verweigert ihm die Entschädigung, er verweigert den<br />

Schutz der Gesetze. Das ist der zweite Grund seiner Rache, die immer weniger dem<br />

Junker als dem gebrochenen Staatsvertrag gilt. In einem Land, das ihn in seinen<br />

Rechten nicht schützen will, mag er nicht bleiben. „Lieber ein Hund sein, wenn ich<br />

von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch!“ – Und wie ein Hund wird er sich<br />

nach langer Geduld benehmen. Aber zum Ausbruch seines Terrorismus, seines<br />

mordbrennerischen „Geschäfts der Rache“ ist noch ein weiteres Ereignis nötig.<br />

Der Grund seiner Klage und die Missachtung seines Rechtsanspruchs treten<br />

gegenüber diesem Ereignis in den Hintergrund. Sie rechtfertigen allein noch die<br />

Rede von der Rache, für die der eigentliche Auslöser dieser Rache nicht aufkommen<br />

kann. – Dieser Auslöser ist der Tod von <strong>Kohlhaas</strong>' Frau. Das wird an folgender Stelle<br />

deutlich: nachdem <strong>Kohlhaas</strong> Wittenberg zum dritten Mal in Brand gesetzt und damit<br />

grausame Vergeltung an Unschuldigen genommen hat, schaltet sich Luther, zu<br />

dessen „eben damals aufkeimendem Glauben“ sich <strong>Kohlhaas</strong> bekannt hatte, ein<br />

und wirft ihm per Plakat seine unerhörte Ungerechtigkeit vor. <strong>Kohlhaas</strong> hält ein,<br />

20


sucht Luther auf und gibt ihm die letzte Begründung für seine unerbittliche Rache.<br />

Auf die Frage Luthers, warum er auch jetzt noch, das heißt nach seiner<br />

brandschatzenden Selbstjustiz, auf der Dickfütterung der Rappen durch den Junker<br />

bestehe, antwortet er, „indem ihm eine Träne über die Wange rollte: hochwürdiger<br />

Herr! Es hat mich meine Frau gekostet; <strong>Kohlhaas</strong> will der Welt zeigen, dass sie in<br />

keinem ungerechten Handel umgekommen ist“. Und auch die Antwort auf Luthers<br />

zweite Frage, ob er, „alles wohl erwogen“, nicht besser getan hätte, dem Junker zu<br />

vergeben und die Pferde selbst dick zu füttern, macht die Ausschlaggebende<br />

Bedeutung des Tods von <strong>Kohlhaas</strong>' Frau deutlich. <strong>Kohlhaas</strong> antwortet: „Hätte ich<br />

gewusst, dass ich sie mit Blut aus dem Herzen meiner lieben Frau würde auf die<br />

Beine bringen müssen: kann sein, ich hätte getan, wie Ihr gesagt, hochwürdiger<br />

Herr, und ein Scheffel Hafer nicht gescheut! Doch, weil sie mir einmal so teuer zu<br />

stehen gekommen sind, so habe es denn, meine ich, seinen Lauf: lasst das<br />

Erkenntnis, wie es mir zukommt, sprechen, und den Junker mir die Rappen<br />

auffüttern“.<br />

Die Begründung für <strong>Kohlhaas</strong>' Unerbittlichkeit verschiebt sich also immer weiter,<br />

und zwar fatalerweise auf einen Grund, der selbst kein moralisches und<br />

kompensierbares Vergehen darstellt, der eigentlich kein Grund mehr, sondern „nur“<br />

noch Anlass und Auslöser ist. Die Tat des Junkers war ein eindeutiger<br />

Rechtsverstoß, ebenso die Korruption in der sächsischen Justiz, aber der Tod der<br />

Frau ist es nicht.<br />

Dass ihm der Rechtsstreit seine Frau „gekostet“ hat, ist eine Tatsache, die <strong>Kohlhaas</strong><br />

niemandem zurechnen kann, sie wird dadurch freilich nicht weniger wirksam.<br />

Lisbeth stirbt, als sie in <strong>Kohlhaas</strong>' Sache tätig wird, und zwar in der Folge ihres<br />

unglücklichen Versuchs, dem brandenburgischen Kurfürsten eine Bittschrift ihres<br />

Mannes zu überbringen. <strong>Kohlhaas</strong> selbst hatte sie auf den unheilvollen Weg<br />

geschickt, und das ganze Unternehmen geht auf ihren Vorschlag zurück. Die<br />

Umstände ihres Todes sind unklar und zufällig, auch waren für eine solche Mission<br />

keine Gefahren vorauszusehen. Alles deutet auf einen Unfall, nicht auf böse Absicht<br />

hin. Der Kastellan, auf dessen Vermittlung Lisbeth gerechnet hatte, ist nicht zu<br />

Hause – ein zufälliger Umstand, der sie davon abhält, bei dem Kurfürsten vorstellig<br />

zu werden, was an sich auch unbedenklich ist, aber: „Es schien, sie hatte sich zu<br />

dreist an die Person des Landsherrn vorgedrängt, und, ohne Verschulden<br />

desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß,<br />

mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten“.<br />

Die Schuld am Tod seiner Frau trägt niemand. <strong>Kohlhaas</strong>' Verlangen nach Kausalität,<br />

Vernünftigkeit, Ordnung und Rechenschaft muss hier am stärksten enttäuscht<br />

werden, umso absurder wird die Kleinlichkeit seiner Rache. Aber sie wird, gerade<br />

weil sie juristisch unangemessen ist, zwingend. Dass niemand für das Schlimmste,<br />

was <strong>Kohlhaas</strong> zustoßen konnte, verantwortlich ist, macht die Leere und Ohnmacht<br />

aus, die das enorme Potenzial seiner Rache freisetzen. Seine Verzweiflung ist so<br />

nachvollziehbar, gerade weil sie eigentlich keine zuzurechnende Ursache hat,<br />

sondern in diesem Fall zwar eine Folge der Gesetzverstöße ist, aber keine<br />

ursächliche, sondern eine kontingente. Der Bruch in der Mechanik der<br />

Kompensation muss hier die Kompensationsnot noch verstärken. Es ist die Situation<br />

des Unglücks, die jenseits der Kausalitäten, inmitten schwerkraftbedingter<br />

Schuldzusammenhänge eine Lücke reißt, die in keiner Weise angefüllt werden kann.<br />

Und dennoch ist genau dieses Unglück der schwerwiegendste Anlass für die<br />

Kompensationsforderung. So ist <strong>Kohlhaas</strong>' Rache zwar durch eine bestimmte<br />

21


Sache, aus der sie ihr Recht und ihren Schub bezieht, zu erklären, im Grunde aber<br />

gilt sie der Kontingenz und Sinnlosigkeit überhaupt, und eben dafür gibt es keine<br />

Vergeltung.<br />

[Quelle: Ewertowski, Ruth: Das Außermoralische. Friedrich Nietzsche – Simon Weil – Heinrich von<br />

Kleist – Franz Kafka. Heidelberg 1994 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik 28).]<br />

Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute<br />

Empfindliches Rechtsgefühl auch bei „modernen“ Terroristen?<br />

Ein ähnlich empfindliches Rechtsgefühl wird nicht selten unseren modernen<br />

Kämpfern für größere Gerechtigkeit und eine bessere Welt nachgerühmt; auch sie<br />

leiden wegen der Ungerechtigkeit der Welt an ihrer Seele und treten überdies mit<br />

dem Anspruch auf, „auf Erden Frieden, Freiheit und eine neue rechtliche Ordnung<br />

einzuführen, kurz: für die Wiederherstellung eines irdischen Paradieses zu arbeiten“.<br />

Die Praxis des Terrors bezieht ihre Legitimität unmittelbar aus unseren höchsten<br />

Zwecken, sozusagen aus den höchsten Gütern der Nation, die es dem Terroristen<br />

denn auch nicht schwer machen, das gute Gewissen reinzuhalten, indem er sich auf<br />

höchste Prinzipien wie etwa die Verwirklichung der Gerechtigkeit beruft. Das<br />

Entspricht just dem Unternehmen Robespierres, der Tugend durch Terror zur<br />

Herrschaft zu verhelfen. So kennzeichnet es sicher einen Teil seines Wesens, wenn<br />

<strong>Kohlhaas</strong> ein verfrühter Jakobiner genannt worden ist.<br />

Beide, Michael <strong>Kohlhaas</strong> und die modernen Terroristen, verbindet eine „radikale<br />

Rechtsleidenschaft“; in beiden sind denn auch Existenzformen eines Märtyrertums<br />

entdeckt und über den Begriff der Protest-Dichtung Brücken zur literarischen<br />

Gegenwart gebaut worden.<br />

Mittel des Terrors bei <strong>Kohlhaas</strong><br />

Dieses empfindliche, äußerst verletzbare und leicht verletzte Rechtsgefühl hindert<br />

weder <strong>Kohlhaas</strong> noch moderne Weltverbesserer, sondern treibt sie eher dazu, zu<br />

Mitteln ähnlicher Qualität zu greifen. Beide bedienen sich der Mittel des Terrors.<br />

Beide stimmen überein „in den von ihnen angewandten totalen Kampfmethoden und<br />

in der willkürlichen Auswahl ihrer Opfer“.<br />

Das beginnt bei <strong>Kohlhaas</strong> noch mit einem gleichsam individuellen Terror; so, wenn<br />

er den ersten, der ihm bei seinem Kampf gegen den von ihm befehdeten Junker in<br />

dessen Burg entgegenkam, „in den Winkeln des Saals schleuderte, dass er sein Hirn<br />

an den Steinen versprützte“; man sollte sich das einmal ganz konkret vorstellen; ein<br />

Film, der diesen Vorgang wirklich realistisch – natürlich in Farbe – darstellte, wäre<br />

wohl kaum für die heranwachsende Jugend zu empfehlen. Auf ähnlicher Ebene liegt<br />

es, wenn bei demselben Gemetzel unter dem Jubel des besten Knechts von<br />

<strong>Kohlhaas</strong> „aus dem offenen Fenster der Vogtei, die Leichen des Schlossvogts und<br />

22


Verwalters, mit Weib und Kindern“, herab flogen. Vollends ungezielt erfasst der<br />

Terror jedermann, wenn <strong>Kohlhaas</strong> wenige Tage später als „entsetzlicher Wüterich“<br />

Wittenberg, „während die Bewohner im tiefsten Schlaf lagen, an mehreren Ecken<br />

zugleich, in Brand steckte“ ohne jede Rücksicht darauf, welche Opfer dieses noch<br />

zweimal und überdies auch in Leipzig wiederholte Unternehmen werde fordern<br />

müssen; und dies alles nur, weil <strong>Kohlhaas</strong> vermutete – keineswegs wusste –, dass<br />

der ihm verhasste Junker sich in den Mauern der Stadt aufhalte, und das mit der<br />

ausdrücklichen Drohung, er werde die Stadt einäschern dergestalt, dass er „hinter<br />

keine Wand werde zu sehen brauchen, um ihn zu finden“. Man kann solches tun als<br />

„unmenschlich und unnatürlich“, als „wahrhaft inhuman“ bezeichnen, als „von<br />

humanem Empfinden unberührt, bedenkenlos in der Wahl der Mittel zum angeblich<br />

guten Ziel“ - noch dazu gegenüber gänzlich Unschuldigen.<br />

<strong>Kohlhaas</strong> als vorbildhafter Kämpfer ums Recht?<br />

Kann man unter diesen Umständen wirklich davon sprechen, <strong>Kohlhaas</strong> führe „keinen<br />

ziellosen Vernichtungskrieg“, sondern richte ihn „nur gegen den Schuldigen und alle<br />

diejenigen, die mit ihm gemeinschaftliche Sache machen“? So jedenfalls Rudolf von<br />

Ibering in seiner Hymne auf <strong>Kohlhaas</strong>. Oder sollte Ibering jene und noch manch<br />

andere Textstelle nur übersehen haben, weil sie mit seiner These von <strong>Kohlhaas</strong> als<br />

vorbildlichen Kämpfer ums Recht bei besten Willen nicht in Übereinstimmung zu<br />

bringen ist? Oder sah <strong>Kohlhaas</strong> vielleicht das ganze damalige Sachsen, sozusagen<br />

die ganze Welt als seine schuldigen Widersacher an?“ Aber einen solchen Zustand<br />

der „Verrückung“, von dem noch zu sprechen sein wird, hat Ibering gewiss nicht<br />

gemeint.<br />

23


Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und dem modernen Terrorismus<br />

Weitere Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und den modernen Terroristen<br />

drängen sich auf. Ich will nicht weiter darüber reden, dass dergleichen „Vorbilder“<br />

Nachfolgetäter zu ähnlichem Tun geradezu animieren müssen, Täter, die sich<br />

ihrerseits – ohne die edlere Gesinnung ihrer Vorbilder – terroristischer Mittel<br />

bedienen, um ihr ganz privates Süppchen zu kochen. Das ging dem Kleistschen<br />

<strong>Kohlhaas</strong> so, dem die „Aussicht auf Beute unter dem Gesindel... Zulauf in Menge<br />

verschaffte“; das ist heute nicht anders.<br />

Entscheidender und gefährlicher ist eine immerhin vergleichbare geistige Haltung,<br />

die ihnen gemeinsam ist und sie in manchem auch Kleist selbst verwandt sein lässt.<br />

Auch Kleist, „ein Grübler von der verbohrtesten Unbedingtheit“, hat sich „an der<br />

gesellschaftlichen Realität wund gestoßen“, ist von einer „ebenso faszinierenden wie<br />

gefährlichen Maßlosigkeit“, von „Untergangsseligkeit“, „störrischer<br />

Selbstbefangenheit“ besessen, erschreckend in seiner selbst zerstörerischen Glut“,<br />

„befeuert vom Willen zum“ (selbstverantworteten) „Absoluten“, gefangen in einem<br />

„Radikalismus seines Wesens, das nur unbedingte Verwirklichungen anerkennt“,<br />

„pathologisch“ durch „die Gewaltsamkeit der Entschlüsse, das Hindrängen zum<br />

Katastrophalen“, durch „die Überspitzung und das Absolutsetzen des Ichs“. Das<br />

kennzeichnet Kleist – natürlich nur partiell, aber immerhin – und manche seiner<br />

Gestalten, die an der eigenen Besessenheit zugrunde gehen – so auch <strong>Kohlhaas</strong>; es<br />

ist bezeichnend aber auch für die modernen Weltverbesserer. Dem entspricht ein<br />

Absolutheitsanspruch, ein Anspruch der als absoluter auch mit absoluten Mitteln<br />

durchgesetzt und nicht relativiert wird durch andere Dinge, die dem<br />

Absolutheitsfanatiker mindergewichtig erscheinen müssen.<br />

Doch nicht einmal das Recht ist eine absolute Größe und darf es nicht sein. Es steht<br />

in Relation zu anderen Werten; auch bei seiner Durchsetzung dürfen Zweck und<br />

Mittel nicht außer Verhältnis geraten. Ein totaler Rechtsstaat, der das Recht um<br />

jeden Preis durchsetzen wollte, wäre so schlimm und so gefährlich wie jeder totale<br />

Staat; ein Fanatiker der Gerechtigkeit ist nicht besser als alle anderen Fanatiker. Die<br />

„Diktatur der Gerechtigkeit“, so ist in einer noch heute lesenswerten <strong>Kohlhaas</strong>-<br />

Studie aus dem Jahre 1937 gewarnt worden, wäre ein Dispotiephantom, das<br />

notwendigerweise nicht zum Recht, sondern zu willkürlichen Entscheidungen eines<br />

irdischen Gottes führte, dem sich jeder einzelne Unterzuordnen hätte“. Was aber<br />

nicht einmal dem Staat erlaubt sein darf, das kann – jedenfalls in dem hier<br />

maßgeblichen Zusammenhang – beim einzelnen erst recht nicht geduldet werden.<br />

So gewinnt denn zwar <strong>Kohlhaas</strong> seinen Kampf ums Recht – aber um welchen Preis!<br />

Der Preis seines Lebens mag als selbstverantworteter und selbst zu erbringender<br />

die Sache wert sein; beim Preis, den seine Familie zu entrichten hat, sieht es schon<br />

ganz anders aus; unerträglich wird es aber, wenn man an all die vielen denkt, die<br />

<strong>Kohlhaas</strong> seinen Willküraktionen zum Opfer fallen lässt – Kleist erwähnt sie gar nicht<br />

–, obwohl sie mit seiner Sache nichts zu schaffen haben. Sein Drang nach Rache,<br />

geboren aus seinem einer Goldwaage gleichenden Rechtsgefühl, kennt kein Maß<br />

und keine Grenze; <strong>Kohlhaas</strong> verletzt – in der juristischen Terminologie von heute –<br />

offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die, die ihm nachfolgen, tun<br />

nichts anderes.<br />

Dies und das Bewusstsein, an rechtliche Grenzen nicht mehr gebunden zu sein,<br />

zeigen sich in einer nur scheinbaren Äußerlichkeit. <strong>Kohlhaas</strong> nennt sich in einem<br />

seiner Mandate, die er in seiner „Sache gegen den Junker von Tronka, als dem<br />

24


allgemeinen Feind aller Christen“, erlässt, „einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein<br />

unterworfenen Herrn“, bei Kleist als dem Chronisten wird dies als eine „Schwärmerei<br />

krankhafter und missgeschaffener Art“ qualifiziert. Ein anderes Mal setzt <strong>Kohlhaas</strong> –<br />

„mit einer Art von Verrückung“ – unter eines seiner Mandate „Gegeben auf dem Sitz<br />

unserer provisorischen Weltregierung“. Ist es nicht auch eine Art von Verrückung,<br />

wenn festgenommene terroristische Straftäter den Status von Kriegsgefangenen für<br />

sich in Anspruch nehmen?<br />

Dabei handeln <strong>Kohlhaas</strong> und die Kriegsgefangenenaspiranten durchaus konsequent.<br />

Indem sie sich in einen anderen Status „verrücken“, spielen sie keineswegs nur<br />

verrückt, sondern beanspruchen gleichzeitig noch die Rechte oder Befugnisse<br />

derer, deren Stellung sie sich anmaßen: die des Souveräns bei <strong>Kohlhaas</strong> und die<br />

des Soldaten bei unseren „Kriegsgefangenen“. Soldaten im Krieg dürfen nun einmal<br />

Dinge tun, für die sie als zur Friedlichkeit verpflichtete Bürger höchste Strafen<br />

riskierten; und der Souverän, als den sich <strong>Kohlhaas</strong> gerierte, steht – jedenfalls in<br />

gewissem Umfang – jenseits von Gut und Böse und bestimmt selbst, was Recht und<br />

was Unrecht ist: „Quod licet Jovi, non licet bovi“.<br />

Das wird vollends deutlich, wenn man den Fall ein klein wenig abändert. Man stelle<br />

sich vor, der Kurfürst von Brandenburg hätte sich rechtzeitig – und nicht erst, wie<br />

bei Kleist, reichlich spät – für die Rechte seines Untertans <strong>Kohlhaas</strong> eingesetzt; er<br />

hätte, um den unerhörten Rechtsfrevel an seinem Untertan zu ahnden und diesem<br />

sein Recht zu verschaffen, entsprechende Kriegserklärungen wie die von <strong>Kohlhaas</strong><br />

abgegeben, dabei freilich eine Etage höher und gleich auf den Kurfürsten von<br />

Sachsen zielen müssen; schließlich hätte er Sachsen mit Krieg überzogen und dabei<br />

jene Mittel angewandt, die auch <strong>Kohlhaas</strong> gebrauchte. Dann wären alle die von<br />

diesem begangenen Mordbrennereien gewiss noch schlimmere als<br />

Kriegshandlungen gerechtfertigt gewesen; leider bietet die Gegenwart Beispiele<br />

vergleichbarer Art durchaus. Wahrscheinlich wäre ein solcher Herrscher in die<br />

Geschichte eingegangen als jemand, der nicht um nichtigen Gutes und schnöden<br />

Gewinstes willen – etwa wegen Schlesien – einen Krieg begonnen hätte, sondern um<br />

das Recht – selbst des letzten seiner Untertanen – zu schützen. Als einziges<br />

Ungemach wäre einem solchen Herrscher vielleicht nur widerfahren, dass ihm<br />

Skeptiker ein so hehres Kriegsziel nicht geglaubt und dieses nur als Vorwand für ein<br />

ganz anderes vermutet hätten. So dicht können jedenfalls Recht und Unrecht<br />

beieinander liegen.<br />

Es ist schon schlimm genug, dass das Völkerrecht es duldet, oder jedenfalls nicht<br />

verhindern kann, wenn Kriege überhaupt und nicht selten um geringfügigere Anlässe<br />

willen geführt werden. Eher noch gefährlicher wäre es, wenn wir in den Zustand von<br />

Schaffung des modernen Staates der Neuzeit zurückfielen und wenn in das<br />

Gewaltmonopol des Staates von denen eingegriffen werden dürfte, die sich im<br />

Besitz ewiger Wahrheit und der absoluten Gerechtigkeit zu wissen glauben. Das<br />

bedeutet nicht nur Revolution, sondern – schlimmer noch – Anarchie. <strong>Kohlhaas</strong> ist<br />

sozusagen die Vorstufe dazu; sein Handeln enthält zugleich die Warnung davor;<br />

diese Warnung ist von den modernen Terroristen glänzend bestätigt worden.<br />

Es ist wohl kein Zufall, dass ein so nüchterner Verfassungshistoriker wie Fritz<br />

Hartung den Deutschen keine besondere Anlage zur Staatsbildung zuschrieb und<br />

dafür unsere „Eigenbrötelei“, die „Sehnsucht nach einer Extrawurst“ und „unser<br />

individualistisches Rechtsgefühl à la Michael <strong>Kohlhaas</strong>“ mit verantwortlich machte.<br />

25


Unterschiede<br />

Jeder Vergleich hinkt, so auch der zwischen <strong>Kohlhaas</strong> und den modernen<br />

Terroristen. Trotz mancher Parallelität, die eben nur einen Aspekt seiner<br />

vielschichtigen Gestalt ausmacht, ist er in anderen Punkten weit von ihnen entfernt.<br />

<strong>Kohlhaas</strong> ist nicht von vornherein ohne Maß; damit mag er im Ausgangspunkt sogar<br />

mit manch idealistischem Vertreter des neueren Terrorismus übereinstimmen, etwa<br />

mit Ulrike Meinhof. <strong>Kohlhaas</strong> weiß um die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ – ein<br />

häufig vorkommendes Wort bei Kleist. Ihm ist klar, dass die Welt ungerecht ist und<br />

dies in gewissem Umfang einkalkuliert, ja nachsichtig und gelassen hingenommen<br />

werden muss; das zeigt deutlich sein Langmut und seine Bereitwilligkeit zu<br />

Nachgiebigkeit und Zugeständnissen beim Beginn seines Kampfes ums Recht.<br />

Jenen Umstand rechnet er erkennbar „der allgemeinen Not der Welt“ zu; sie ändern<br />

zu wollen, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Er weiß auch, dass sich, wie die Dinge<br />

nun einmal angesichts dieser gebrechlichen Einrichtung der Welt liegen, an einem<br />

gewissen Maß von Ungerechtigkeit mit den notwendig unvollkommenen<br />

menschlichen Mitteln nicht viel ändern lässt.<br />

Unsere modernen Terroristen werden hingegen von dem Ziel beflügelt, die<br />

Ungerechtigkeit und das Unrecht schlechthin zu vertreiben. Für sie gibt es keine<br />

notwendige gebrechliche Einrichtung der Welt; sie gilt es vielmehr mit entsprechend<br />

harten und drastischen Mitteln – da anderes nicht hilft, auch mit terroristischen – zu<br />

verändern. Konkrete Vorstellungen, wie dieses gleichsam eschatologische Ziel<br />

aussieht, wohin die Reise gehen soll, darf man bei ihnen nicht erwarten; die Frage<br />

danach wäre aus ihrer Sicht schon illegitim. Sie wollen sozusagen etwas ganz<br />

anderes, ohne angeben oder sich wohl selbst vorstellen zu können, was dieses ganz<br />

andere ist; ja sie berühmen sich sogar, dass sie dieses ganz andere noch gar nicht<br />

wissen können und sie dafür eines Blankoschecks bedürfen.<br />

Nicht so <strong>Kohlhaas</strong>. Er weiß um den Wert der Institutionen als der Garanten des<br />

Rechts und will daher weder jene noch dieses ändern; er will das Recht nur befolgt<br />

und vom Staat geschützt, also vermieden wissen, dass – wie in seinem Fall – Willkür<br />

an die Stelle des Rechts tritt. Er will also weder die Gesellschaft noch die Staatsform<br />

noch das Recht umkrempeln, ist also gewiss kein Revolutionär. Nach dem Dienst an<br />

einer abstrakten Idee steht ihm nicht oder allenfalls insoweit der Sinn, als er in<br />

seinem subjektiven Recht generell die Rechtsordnung, die Ordnung der Welt,<br />

verletzt sieht. Seine Hybris beginnt erst, nachdem alle sehr überlegt und wiederholt<br />

auf verschiedenen Wegen vorgenommenen Versuche scheitern, sein eigenes, ganz<br />

konkretes Recht zu erlangen, und der dabei schließlich als „unnützer Querulant“<br />

beschimpft wird, der die Staatskanzlei „mit solchen Plackereien und Stänkereien<br />

verschonen“ solle. Erst angesichts solcher besonders nachhaltiger Rechtskränkung<br />

empfindet er den „Schmerz, der die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu<br />

erblicken“, und übernimmt – nachdem auch seine Frau, Mutter von fünf Kindern, bei<br />

einem jener Versuche ums Leben gekommen war – „sodann das Geschäft der<br />

Rache“.<br />

Wohlgemerkt: das Geschäft der Rache, nicht der Gerechtigkeit; immerhin ist das ein<br />

Geschäft mit bestimmtem Ziel vor Augen, kein bloßer Amoklauf, der ohne Sinn und<br />

Verstand und ohne Zielsetzung drauf los wütet. In dem Moment, da <strong>Kohlhaas</strong><br />

sozusagen durchdreht, mit terroristischen Mitteln arbeitet und selbst Terrorist wird,<br />

geht es ihm nicht um sein Recht, sondern um Rache, um Rache freilich immerhin als<br />

Rechtsersatz, wenn auch nicht um Ersatz für künftiges ewiges, in den Sternen<br />

26


stehendes, dunkel erahntes, nebelhaftes Recht, sondern um Ersatz – „nur“ – für ihm<br />

vorenthaltenes geltendes Recht.<br />

Das wird deutlich, als ihm Luther nach ihrem Gespräch die Amnestie für seine<br />

Mordbrennereien verschafft und er die Überprüfung seines Falls auf Grund des<br />

geltenden Rechts erwarten und gute Hoffnung haben kann, damit zu seinem Recht<br />

zu kommen. Denn als die Aussicht winkt, aus seinem Verfahren aus dem<br />

außerrechtlichen Zustand in den des Rechts übergeführt wird, kehrt auch <strong>Kohlhaas</strong><br />

aus dem Zustand des Außersichseins in den der völligen Normalität zurück und wird<br />

gleichsam wieder lammfromm, so dass man kaum mehr versteht, wie der selbe<br />

Mensch nur wenig vorher als rasender Drache das Land verwüsten konnte.<br />

Ganz anders bei modernen Terroristen. Ihm fehlen alle Voraussetzungen eines<br />

solchen nahezu übergangslosen Umschwungs vom terroristischen Wüten in<br />

vollkommene Friedfertigkeit. Gerechtigkeit im Einzelfall hat voraussetzungsgemäß<br />

keine Chance, einen Gesinnungswandel von Terroristen zu bewirken, weil<br />

Gerechtigkeit im Einzelfall auf Grund geltenden Rechts gar nicht ihr Begehr ist und<br />

schwerlich Damaskus-Erschütterung wie bei <strong>Kohlhaas</strong> auslösen kann. Sie wollen ja<br />

gerade das geltende Recht ändern. Es liegt also wohl nicht nur daran, dass wir<br />

heute keinen Luther mehr haben, wenn Männer wie Heinrich Albertz, Helmut<br />

Gollwitzer und ähnliche Größen der heutigen Kirche nicht im Stande waren und sind,<br />

moderne Terroristen so schnell auf den Pfad der Tugend der Rechtlichkeit<br />

zurückzuführen, wie dies Luther mit <strong>Kohlhaas</strong> gelang.<br />

Weil <strong>Kohlhaas</strong> das geltende Recht anerkennt, ist er auch bereit, sich unter sein Joch<br />

zu beugen. Er hat zwar schwerstes Unrecht begangen, um sein Recht<br />

durchzusetzen. Für beides zahlt er aber bereitwillig mit dem Leben; das mag<br />

versöhnlich stimmen. Er übernimmt wirklich die Verantwortung für sein Tun im<br />

Gegensatz zu jenen, die weitgehend anonym bleiben und nur mit Worten aus dem<br />

Untergrund die sogenannte Verantwortung übernehmen. Nachdem ihm sein Recht<br />

zuteil geworden ist, seine beiden Rappen wieder aufgefüttert worden sind,<br />

Schadensersatz geleistet und sein Gegner gar bestraft worden ist, erkennt er die<br />

Todesstrafe als gerecht an und nimmt sie ohne Murren hin. Von terroristischen<br />

Revolutionären oder Anarchisten kann man dergleichen nicht erhoffen; denn<br />

Respekt vor einem Recht, das als ungerecht bekämpft oder gar als nicht geltend<br />

behandelt wird, lässt sich nicht erwarten. Kurz: <strong>Kohlhaas</strong> ist einsichtsfähig, sie in der<br />

Regel nicht; er kehrt bereitwillig in die menschliche Ordnung zurück, sobald sich<br />

Anzeichen dafür finden, da es ein Recht innerhalb jener Ordnung gibt.<br />

Wenn man vor möglichen Missverständnissen nicht zurückschreckt, mag man in<br />

<strong>Kohlhaas</strong> nur einen „halben“, meinetwegen auch einen „querulatorischen“<br />

Terroristen sehen: Das Recht als solches akzeptiert er, nicht aber die Mängel seiner<br />

Durchsetzung; insofern hat er manch entfernte Ähnlichkeit mit Querulanten, deren<br />

querulatorische Betriebsamkeit häufig ebenfalls ihren Ausgangspunkt nimmt von<br />

einer wirklichen oder vermeintlichen, mehr oder weniger geringfügigen<br />

Rechtsanwendung zu ihren Ungunsten.<br />

<strong>Kohlhaas</strong> kein Vorbild als Kämpfer ums Recht!<br />

Trotz dieser Unterschiede, die <strong>Kohlhaas</strong> von den Terroristen unserer Zeit vorteilhaft<br />

unterscheiden: Ein Vorbild als Kämpfer ums Recht kann er nicht sein angesichts<br />

seiner Maßlosigkeit zumindest während seiner „Verrückung“, also in der Zeit, da er<br />

27


„durchdreht“ und es sozusagen ernst wird. Dafür sind die Opfer zu groß, die sein<br />

Kampf ums Recht forderte.<br />

Dennoch kann man eigentlich nicht wünschen, dass er dem triumphierenden<br />

Unrecht des gegnerischen Junkers und des ihn stützenden Staatsapparats seinen<br />

Lauf hätte lassen und sich still hätte zufriedengeben sollen. Jedenfalls wünscht sich<br />

Kleist mit seiner Erzählung wohl kaum, dass der Leser dies wünsche. Gerade darin<br />

liegt die Tragik von <strong>Kohlhaas</strong> begründet, dass er – unverschuldet in eine Zwickmühle<br />

geraten (und die Zwickmühle ist ja, salopp formuliert, das Wesen des Tragischen) –<br />

sich nur falsch entscheiden, nur schuldig werden kann, entweder gegenüber sich<br />

selbst oder gegenüber anderen.<br />

Gewiss hat <strong>Kohlhaas</strong> zumindest zeitweise seinen Verstand verloren. Aber<br />

mindestens seit Lessings Emilia Galotti ist bekannt, dass, wer über gewisse Dinge<br />

seinen Verstand nicht verliert, keinen zu verlieren hat. Streiten lässt sich nur darüber,<br />

ob im Fall des <strong>Kohlhaas</strong> diese „gewissen Dinge“ schon erreicht und die Grenzen<br />

überschritten waren, jenseits derer man seinen Verstand verlieren darf oder gar<br />

muss; ich neige eher zur Verneigung.<br />

Aber man kann auch anderer Auffassung sein und mag das Verständnis für die<br />

tragische Verstrickung des <strong>Kohlhaas</strong> und des hinter ihm stehenden Kleist in so<br />

nüchtern-saloppe Formulierungen kleiden wir Heinrich Heine: „Vor kurzem hab ich<br />

auch den <strong>Kohlhaas</strong> von Heinrich von Kleist gelesen, bin voller Bewunderung für den<br />

Verfasser, kann nicht genug bedauern, dass er sich tot geschossen, kann aber sehr<br />

gut begreifen, warum er es getan.“ Die Gefahr liegt eben zu nahe, an der<br />

Gebrechlichkeit der Welt und d. h. natürlich auch der eigenen zu scheitern, wenn<br />

und je mehr man das Absolute und die absolute Gerechtigkeit will. In <strong>Kohlhaas</strong><br />

steckt eben auch ein Stück jenes Rechtsbrechers, der wegen Verzweiflung über<br />

geltendes Recht als „Erneuerer des Gesetzes aus dem Ungesetzlichen“ künftigem<br />

Recht den Weg bereitet: hier der Achtung und dem Schutz des geltenden Rechts<br />

durch den Staat auch gegen die Kräfte, die ihn tragen – und das ist von höchster<br />

Bedeutung, auch und gerade noch heute, wie die Erfahrungen der letzten Tage<br />

beweisen.<br />

Der Drang zum Recht als Schubkraft für <strong>Kohlhaas</strong>-Typen?<br />

Vielleicht kommt es aber doch nicht von ungefähr, wenn mein verehrter Vorgänger<br />

Fritz Werner glaubte feststellen zu können, es habe noch nie so viele Menschen<br />

gegeben, die dem Michael <strong>Kohlhaas</strong> verwandt sind, und zwar deswegen, weil in<br />

unserer Zeit ein mächtiger Drang zum Recht, jedenfalls zum Rechthaben bestehe.<br />

Denn der Drang zum Recht war gewiss die mächtige Schubkraft für die Aktivitäten<br />

von <strong>Kohlhaas</strong>. Heute hat dieser Drang in der Tat neue, früher ungeahnte<br />

Dimensionen angenommen, die das Vorbild von <strong>Kohlhaas</strong> – wenn es denn eines<br />

wäre- zusätzlich gefährlich machen. Der Staat soll nicht lediglich, was <strong>Kohlhaas</strong> nur<br />

wollte, die Rechte des einzelnen vor der Verletzung durch andere schützen; er soll<br />

vielmehr auch Rechte zum Ausgleich von Schicksalsschlägen gewähren. Das kann<br />

in einem dem sozialen Gedanken verpflichteten Staat gewiss nur bejaht werden.<br />

Bedenklich wird es erst, wenn das einer Goldwaage gleichende Rechtsgefühl so<br />

empfindlich reagiert, dass es schon in einer mehr oder weniger geringfügigen<br />

Beeinträchtigung einen ausgleichsbedürftigen Schicksalsschlag ausmachen zu<br />

können meint.<br />

28


Übersteigertes Rechtsgefühl als Gefahr<br />

Eine solche Überempfindlichkeit gegenüber dem Recht und der Gerechtigkeit<br />

mitsamt der damit verbundenen Erwartungshaltung verkennt, was diese zu leisten<br />

vermögen, und müsste zwangsläufig zu deren Überanstrengung führen.<br />

Das allzu ausgeprägte, der Goldwaage vergleichbare und höchste Gerechtigkeit im<br />

Einzelfall anstrebende Rechtsgefühl gerät allzu leicht in Gefahr,<br />

Ungleichgewichtigkeit im ganzen zu produzieren und einen Zustand ähnlich dem<br />

eines rein gestimmten Klaviers hervorzubringen, das bekanntlich sauber nur in<br />

wenigen Tonarten bespielbar, im ganzen aber unstimmig ist; ein Klavier bedarf<br />

vielmehr der geringfügig unsauberen, der wohltemperierten Stimmung, wenn es in<br />

allen Tonarten für den normalen Menschen rein klingen soll, für den, der<br />

bedauerlicherweise zu empfindliche Ohren hat, freilich unsauber klingt. Dieses<br />

Wohltemperierte fehlt denen, die mit zu genauen Ohren und einem zu empfindlichen<br />

Rechtsgefühl geplagt sind. Das übersteigerte Rechtsgefühl kann partiell rechtsblind<br />

oder genauer: unrechtsblind machen, nämlich blind gegenüber dem<br />

selbstbegangenen Unrecht; <strong>Kohlhaas</strong> ist ein gutes Beispiel für diese schlechte<br />

Sache.<br />

Es ist einmal davon gesprochen worden, Bulldogge wie Zwergpinscher – wohl als<br />

Sinnbild für Arme und Reiche – verdienten beide Schutz wenn ihnen das Fell über<br />

die Ohren gezogen werden solle, müsste aber den Mückenstich gleichermaßen<br />

erdulden. Heute hat man oft den Eindruck, als habe sich die Schmerzensgrenze all<br />

zu sehr in Richtung auf den Mückenstich verschoben, gegen den man dann – in nur<br />

scheinbarer <strong>Kohlhaas</strong>-Manier – mit verbissener, querulantorischer Energie anrennt,<br />

so etwa, wenn ein Amtsrichter wegen Kosten von 30 DM durch alle Instanzen bis<br />

zum Bundesverfassungsgericht wandert, um dort scheinheilig-dümmlich, aber<br />

vielleicht besten Glaubens, zu versichern, es gehe ihm natürlich nicht um die 30 DM<br />

oder gar um Prinzipienreiterei, sondern ums Prinzip; bekümmern muss, dass mache<br />

unsinnigen Rechtsmittel und Verfassungsbeschwerden ohne den Rat und die tätige<br />

Mithilfe von Rechtsanwälten wahrscheinlich nicht eingelegt worden wären.<br />

Ein solches Verhalten hat sicher viele Gründe, so wohl z. B. auch den, dass wir<br />

allmählich eine recht wehleidige und unruhig-unzufriedene, gegen individuelle<br />

Schicksalsschläge überempfindliche Generation herangezogen haben. Das mag<br />

auch damit zusammenhängen, dass es nachgerade als Ausweis der Mündigkeit des<br />

Bürgers galt und gilt, wenn dieser sich gegen Handlungen der Verwaltung, die ja oft<br />

von sich volksnahe gebenden Politikern geradezu verteufelt wird, vor Gericht zur<br />

Wehr setzt oder gegen sie Forderungen erhebt. Wenn manchmal der Staat – auch<br />

von Politikern – als besserer Selbstbedienungsladen behandelt wird, wobei manches<br />

als zumindest milde Korruption erscheinen kann, zugleich aber die allgemeine<br />

Sensibilität gegenüber solchen Erscheinungen mit Recht gewachsen ist und<br />

wiederum von Staats wegen gefördert wird, wenn andererseits die hehren<br />

29


Versprechungen, die zumal in Wahlzeiten gegeben zu werden pflegen, sich immer<br />

weniger erfüllen lassen, also die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer<br />

weiter auseinanderklafft, dann steht ein äußerst fruchtbarer Nährboden für die<br />

Aufzucht eines Heeres von kleinen Kohlhasen – oder auch von Aussteigern – bereit.<br />

Deren vereinigter Ruf nach größerer und absoluter Gerechtigkeit – so töricht er ist,<br />

weil mit dem Wunsch nach dem Unmöglichen meist auch das Mögliche verfehlt wird<br />

– wird notwendig enttäuscht werden müssen.<br />

[Quelle: Sendler, Horst: Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute. Berlin/New York 1985 (=<br />

Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 92).]<br />

<strong>Kohlhaas</strong> als Amokläufer<br />

Neben dem von Horst Sendler erörterten Zusammenspiel zwischen <strong>Kohlhaas</strong>'<br />

„Mordbrennerei“ und dem „modernen“ Terrorismus findet sich in seiner<br />

Vorgehensweise in gewisser Weise auch das psychologische Phänomen des<br />

Amoklaufs wieder.<br />

Sendler bemerkt zwar durchaus nachvollziehbar, dass <strong>Kohlhaas</strong> „ein Geschäft mit<br />

bestimmtem Ziel vor Augen“ und „kein bloßer Amoklauf, der ohne Sinn und<br />

Verstand und ohne Zielsetzung drauf los wütet“, betreibt. Nichtsdestotrotz kann<br />

man in dem ohnmächtigen Schmerz, der sich nach dem Tod seiner Frau entlädt,<br />

den Moment ausmachen, in dem er jede Vernunft und das Vertrauen auf eine<br />

schnelle rechtmäßige Einigung sausen lässt und sich in seinem affekthaften Angriff<br />

auf die Burg des Junkers von Tronka nichts anderes als ein Amoklauf <strong>Kohlhaas</strong>'<br />

ereignet.<br />

30


Spiegel Online<br />

18. September 2009, 15:02 Uhr<br />

Amoklauf von Ansbach<br />

Georg R. stürmte Schule mit fünf Molotow-Cocktails<br />

Der Amokläufer von Ansbach führte mehr Waffen mit sich als anfangs bekannt:<br />

neben einem Beil und vier Messern sogar fünf Brandsätze. Sein jetzt gefundenes<br />

Testament hatte er mit dem Datum 9/11 versehen. Die bei der Tat schwerverletzte<br />

Schülerin ist inzwischen außer Lebensgefahr.<br />

Ansbach - Sein Beil maß 40 Zentimeter, er hatte fünf Molotow-Cocktails bei sich,<br />

drei feststehende Messer, ein Butterfly-Messer: Der Abiturient, der am Donnerstag<br />

sein Gymnasium im mittelfränkischen Ansbach stürmte und mehrere Menschen<br />

verletzte, war im Besitz von mehr Waffen als bislang vermutet. Das gab<br />

Oberstaatsanwältin Gudrun Lehnberger auf einer Pressekonferenz bekannt.<br />

Zehn Menschen wurden bei der Amoktat verletzt, zwei 15-jährige Schülerinnen<br />

schwer. Beide sind mittlerweile außer Lebensgefahr. Dies teilte das Klinikum<br />

Nürnberg am Freitag mit. Die Zehntklässlerin, die der Täter Georg R. mit dem Beil<br />

schwer am Kopf verletzt hatte, wurde sieben Stunden lang operiert. Eine weitere,<br />

ebenfalls 15 Jahre alte Schülerin hatte schwerste Brandwunden erlitten. Beide<br />

befänden sich mittlerweile auf dem Wege der Besserung.<br />

"Die behandelnden Ärzte sind mit dem Gesundheitszustand ihrer jungen<br />

Patientinnen sehr zufrieden", teilte das Klinikum mit. Die Eltern hätten ihre Kinder<br />

mittlerweile besuchen können.<br />

Eine Sonderkommission, bestehend aus 25 Ermittlern, soll nun klären, was Georg<br />

R., 18 Jahre alt und im dritten Semester des Abiturjahrgang des Carolinums, zu der<br />

Tat getrieben hat.<br />

"Er galt als introvertierter Schüler", sagte der Direktor des Gymnasiums, Franz Stark.<br />

Georg R. habe als ersten Leistungskurs Deutsch belegt, sei "mitgeschwommen" in<br />

der Schar der 600 Schüler und nie auffällig gewesen. Mitschüler beschrieben Georg<br />

R. als ruhigen und verschlossenen Außenseiter. Sein Verhalten sei "komisch" und<br />

"zurückhaltend" gewesen, hieß es. Er soll wegen seines Aussehens von Mädchen<br />

gehänselt worden sein. Eine Mitschülerin sprach sogar von Mobbing.<br />

Im Haus der Familie stellten Ermittler inzwischen den Computer des 18-Jährigen<br />

sicher. Die Auswertung, so die Oberstaatsanwältin, laufe noch, Erkenntnisse lägen<br />

bislang nicht vor.<br />

Ein erster Anhaltspunkt, aus dem sich zumindest schließen lässt, dass die Tat seit<br />

längerer Zeit geplant war, sind Schriftstücke, die die Ermittler im Zimmer von Georg<br />

R. fanden. Auf einem Kalenderblatt war unter dem Datum 17. September<br />

"Apocalypse Today" eingetragen, zudem habe Georg R. ein Testament gemacht,<br />

das mit 9/11, dem Datum der Terroranschläge in New York, gekennzeichnet war.<br />

Spekulationen, dass sich der Amoklauf gezielt gegen eine der Schülerinnen gerichtet<br />

habe, konnte Oberstaatsanwältin Lehnberger nicht bestätigten. Darüber lägen keine<br />

Erkenntnisse vor. Es habe, soweit bekannt, keine Drohungen gegen konkrete<br />

Personen von R.s Seite aus gegeben.<br />

31


Die Eltern Georg R.s, ein geschiedenes Paar, verweigern bislang die Aussage, "sie<br />

machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch", hieß es. Intensiv befragt<br />

würden jetzt aber alle Schüler, die Zeugen des Amoklaufs wurden oder auch davon<br />

betroffen waren.<br />

Bestätigt wurde erneut, dass sich Georg R. in psychotherapeutischer Behandlung<br />

befand, aus welchem Grund und seit wann, sei "Gegenstand der Ermittlungen".<br />

Georg R., den fünf Schüsse eines Polizisten trafen, liegt im Krankenhaus und ist<br />

noch nicht vernehmungsfähig. Der Haftbefehl gegen R. werde noch am Freitag<br />

erlassen, hieß es.<br />

Das Schulgebäude, das von Ermittlern immer noch untersucht wird, soll am<br />

kommenden Montag wieder freigegeben werden, der Unterricht, so die Ansbacher<br />

Bürgermeisterin Carda Seidel, werde jedoch noch nicht wieder aufgenommen.<br />

Zwischen 100 und 150 Schüler fanden sich am Freitagmorgen in der Turnhalle der<br />

Schule ein, wo sie von Seelsorgern betreut wurden. Der Notfallseelsorger Thomas<br />

Barkowski beschrieb die Stimmung als sehr ernst, viele Schüler lägen sich in den<br />

Armen, einige weinten. "Viele realisieren erst schrittweise, was wirklich passiert ist",<br />

sagte er.<br />

pad/dpa<br />

Ansbach Täter handelte aus Menschenhass (Stand: 21.09.2009)<br />

Neue Erkenntnisse der Ermittler bringen die Motive des 18-Jährigen zu Tage, der im<br />

Ansbacher Carolinum neun Menschen teils lebensgefährlich verletzt hat. Nach<br />

Angaben der Staatsanwaltschaft empfand der junge Mann Hass auf die Menschheit<br />

und insbesondere auf die Schule.<br />

Wiederhergestellte Dateien auf der gelöschten Festplatte im Computer des Schülers<br />

hätten ergeben, dass Hass das Motiv des 18-Jährigen war, erklärte Staatsanwältin<br />

Gudrun Lehnberger in einer Pressekonferenz in Ansbach. Außerdem habe der<br />

Schüler unter starken Belastungen gestanden. So fühlte er sich in der Schule<br />

ungerecht behandelt und nicht anerkannt. In der sechsten Klasse sei er einmal im<br />

Bus geschlagen worden und niemand habe ihm geholfen. Er fürchtete zudem, an<br />

einer unheilbaren Krankheit zu erkranken und das Abitur nicht zu schaffen. Für diese<br />

Befürchtungen habe es allerdings keinen Anlass gegeben, so Lehnberger weiter.<br />

Eigenen Tod offenbar eingeplant<br />

Für seinen Gefühlszustand machte der Amokläufer großteils die Schule<br />

verantwortlich. Deshalb ließ er sich eigens ein T-Shirt mit der Aufschrift "Made in<br />

school" anfertigen, das er auch beim Amoklauf trug. In den sichergestellten<br />

Schriftstücken äußerte der Schüler auch, dass er nicht mehr leben wolle und<br />

kalkulierte bewusst den eigenen Tod mit ein.<br />

32


Stichwort: Amoklauf<br />

Der Begriff Amok kommt aus dem Malaiischen und bedeutet „wütend“ oder<br />

„rasend“. Als Amoklauf bezeichnet man eine psychische Ausnahmesituation, die<br />

von Unzurechnungsfähigkeit, blindwütiger Aggression und absoluter<br />

Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist.<br />

Wissenschaftler wurden zuerst in Südostasien auf Fälle von plötzlich auftretenden<br />

psychischen Störungen mit aggressivem Aktionsdrang aufmerksam, die sie als<br />

Amoklauf bezeichneten. Die Befallenen zogen unvermittelt den Dolch und stachen<br />

im Laufen auf andere ein, bis sie selbst zusammenbrachen. Im Malaiischen wird das<br />

Wort Amok auch benutzt, um einen Zustand äußerster Demütigung und somit des<br />

Gesichtsverlusts zu kennzeichnen.<br />

Als Auslöser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene psychosoziale<br />

Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit,<br />

Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie<br />

Partnerschaftskonflikte. Oft baut sich ein Amoklauf über längere Zeit auf und entlädt<br />

sich nach einem Wutanfall ohne ersichtliches Motiv.<br />

In der westlichen Kultur sind vor allem Amokläufe in Form von „school shootings“,<br />

etwa 1999 an der Columbine Highschool in den USA, 2002 am Gutenberg-<br />

Gymnasium in Erfurt oder in diesem Jahr in Winnenden. Diese Art von Amok ist<br />

jedoch selten als „blindwütige Raserei“ angelegt, die sich schnell und impulsiv aus<br />

einer entsprechenden Situation heraus aufbaut, wie Psychiater erklären. Fast alle<br />

Täter hatten sich zuvor bereits gedanklich mit der bevorstehenden Gewalttat<br />

beschäftigt und diese oft auch geplant.<br />

Zudem wurden teilweise Opfer bewusst ausgewählt und regelrecht hingerichtet,<br />

oder es existierten sogar „Todeslisten“.<br />

Der Schul-Amok ist somit zu einer besonderen Form des Amoklaufs geworden, bei<br />

der sich jugendliche Täter ausgegrenzt fühlen und sich an einer abweisenden Welt<br />

durch ein blutiges Finale rächen.<br />

[Quelle: Heinz, Philip: Stichwort: Amoklauf. In: Lohrer Echo Nr. 215, 18. September 2009.]<br />

33


Was sind „School Shootings“?<br />

Einen anderen Menschen zu töten, gilt universell als extremste Form von Gewalt.<br />

Daher wird das Gebot, »nicht zu töten«, prinzipiell in allen Kulturen mit hohem<br />

Aufwand verteidigt. Ebenso universell bestehen aber Ausnahmen, die diese Norm<br />

außer Kraft setzen. Seit jeher werden Tötungen in großem Ausmaß zum Gewinn und<br />

Erhalt der Macht Einzelner genutzt, sei es in antiken Ritualen, mittelalterlichen<br />

Glaubensstreitigkeiten oder in neuzeitlichen Kriegen. In einigen Staaten werden<br />

Tötungen immer noch als schwerste Form der Bestrafung angewandt. Ebenso gibt<br />

es zwischen einzelnen Menschen Ausnahmeregelungen, die das Tötungsverbot<br />

außer Kraft setzen – man denke nur an Notwehrrechte oder den in einigen<br />

Bundesländern erlaubten finalen Rettungsschuss der Polizei. Ob die Tötung eines<br />

anderen Menschen als verwerflich angesehen wird, ist also auch von Kultur und<br />

Kontext abhängig, in denen sie geschieht. Durch die komplexen Definitionen und<br />

Abwägungen von Vorsatz und Motiv hängt zudem die Höhe der Strafe für eine<br />

Tötung von ihrer Bewertung ab (Infobox). In Deutschland wird beispielsweise<br />

zwischen einer Tötung als Körperverletzung mit Todesfolge, Totschlag oder Mord<br />

unterschieden. Dies wiederum ist oft nur durch über die Analyse des Tathergangs<br />

hinausgehende Wertungs- und Zuschreibungsprozesse möglich.<br />

Sind Tötungen nicht staatlich legitimierte und außerhalb von Kriegen auftretende,<br />

zielgerichtete Taten, so gelten sie in aller Regel als schwere Normbrüche. Kommt es<br />

zu derartigen Vorfällen, so bemüht sich eine Gesellschaft üblicherweise darum, die<br />

Ursachen dieser Tötungen schnellstmöglich festzustellen und ihnen<br />

entgegenzuwirken.<br />

An dieser Stelle wird der Blick auf eine Tötungsform gerichtet, die seit 30 Jahren<br />

bekannt ist, aber erst in der letzten Dekade weltweit erheblich zugenommen hat: die<br />

zielgerichtete Tötung von Schülern oder Lehrern durch Jugendliche an Schulen –<br />

sog. School Shootings.<br />

Bei School Shootings handelt es sich ausdrücklich nicht um die Tötung eines<br />

einzelnen Menschen, die im Rahmen von heftigen Konflikten oder von<br />

überbordenden Emotionen aufgetreten ist, sich aber nur zufällig an einer Schule<br />

zugetragen hat. Wenn etwa ein 14-Jähriger in einem Wutanfall mit der Bastelschere<br />

auf einen Klassenkameraden einsticht oder der 17-Jährige auf dem Schulhof seinen<br />

Nebenbuhler erschießen will, dann handelt es sich in diesen Fällen um Taten, die<br />

auch an einem anderen Ort hätten passieren können.<br />

Ebenso werden keine Schießereien mit einbezogen, die aus bewaffneten<br />

Gruppenstreitigkeiten hervorgegangen sind, wie sie unter dem Schlagwort »Gangrelated<br />

Incident« oder »Gang Shooting Spree« vor allem in einigen sozial schwach<br />

strukturierten Stadtteilen der USA häufiger auftreten. Diese besitzen für deutsche<br />

Verhältnisse kaum Relevanz und folgen anderen kausalen Bedingungen.<br />

Bei School Shootings wurde die Schule bewusst als Ort der Tötungen ausgesucht.<br />

Täter waren stets Schüler oder ehemalige Schüler der als Tatort ausgewählten<br />

Schule. Dabei waren entweder mehrere Schüler bzw. Lehrer Ziel der<br />

Tötungsabsicht, oder einzelne Opfer sind vom Täter wegen ihrer Funktion an einer<br />

Schule ausgesucht worden. Eine Bezeichnung für diese Form der Tötungen zu<br />

finden, gestaltet sich im Deutschen als schwierig. Massenmedien sprechen<br />

aufgrund der tiefgreifenden Konsequenzen solcher Taten oft reißerisch von einem<br />

»Schulmassaker« oder gar von einem »Blutbad«.<br />

34


Gleichzeitig treffen die gemäßigteren Begriffe »Amoklauf« und »Massenmord«<br />

zumindest aus wissenschaftlicher Sicht nicht mit der notwendigen Genauigkeit zu.<br />

Allenfalls können jene schweren Gewalttaten an Schulen als ungewöhnliche<br />

Unterkategorie von »Amokläufen« oder »Massenmorden« angesehen werden, denn<br />

sie weichen in einigen wesentlichen Aspekten, wie Opferwahl, Tatort und Alter der<br />

Täter, deutlich von diesen ab. Auf internationalen Fachtagungen und in<br />

wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist man mittlerweile dazu übergegangen, jene<br />

schweren Gewalttaten als »School Shootings« zu bezeichnen. Nicht nur handelt es<br />

sich dabei um einen Anglizismus, der ins Deutsche übersetzt als<br />

»Schulschießereien« erneut an eine Berichterstattung der Regenbogenpresse<br />

erinnern würde; auch besitzt der Terminus eine gewisse Unschärfe. Nicht alle Taten<br />

werden mit Schusswaffen begangen, während Massenschießereien im<br />

Gruppenkontext eben gerade keine School Shootings darstellen. Einzelne<br />

Wissenschaftler benutzen daher sperrige Umschreibungen, darunter »vorsätzliche<br />

Massentötungen an Schulen« und »zielgerichtete, tödliche Gewalt an Schulen«.<br />

Während diese Begriffe sachlich durchaus korrekt sind, erweisen sie sich für die<br />

konstante Nutzung im Kontext eines Buches als zu unhandlich. Daher werden im<br />

Folgenden die Überbegriffe »Amoklauf« und »Massenmord« durch Jugendliche an<br />

Schulen ebenso wie die Umschreibung »schwere zielgerichtete Gewalt an Schulen«<br />

entsprechend der öffentlichen Diskussion synonym benutzt. In der Regel wird<br />

jedoch der Begriff »School Shooting« verwendet.<br />

[Quelle: Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere<br />

Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007.]<br />

35


Lektüretipps zum Thema Amoklauf<br />

Hermann Hesse: Klein und Wagner<br />

Der Familienvater und Bankbeamte Friedrich Klein flieht, nachdem er<br />

eine Summe Geldes veruntreut, Urkunden gefälscht und sich einen<br />

Revolver besorgt hat, mit dem Zug Richtung Süden. Voller Verzweifelung<br />

versucht er seine Tat zu verstehen, denkt zwanghaft nach und landet<br />

schließlich wie zufällig in einer italienischen Stadt. Hier trifft der<br />

Flüchtige bald auf die Tänzerin Teresina, an der das Pendeln zwischen<br />

seinen tiefen Wünschen und seiner bürgerlichen-moralischen Prägung<br />

besonders deutlich wird. Immer wieder befällt Klein der Gedanke an<br />

einen Schullehrer, Ernst August Wagner, der in einem Amoklauf seine<br />

Familie umgebracht hatte, und mit dem er sich "irgendwie...verknüpft"<br />

fühlt. Klein hat mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen; seine<br />

späten Bemühungen, seine Identität zu finden und nach dem eigenen<br />

innersten Selbst (im Sinne von Carl Gustav Jung) zu leben, sind aber<br />

vergebens. Immer wieder gerät er ins Zweifeln, gefolgt von Angst- und<br />

Schuldgefühlen. Schließlich gibt Klein seinem langgehegten<br />

Selbstmordwunsch nach und ertränkt sich eine Woche nach seiner Flucht<br />

im naheliegenden See. Die Erzählung endet mit Kleins letzten<br />

epiphanienhaften Augenblicken.<br />

Stefan Zweig: Amok. Novellen einer Leidenschaft<br />

Beim Verlag Insel in Leipzig erscheint der Band »Amok. Novellen einer<br />

Leidenschaft« von Stefan Zweig (* 1881, † 1942). In diesen<br />

Erzählungen, die von Menschen handeln, die jeweils von einer einzigen,<br />

meist selbst zerstörerischen Leidenschaft erfasst sind, verbindet Zweig<br />

eine an der Psychoanalyse Sigmund Freuds geschulte Kunst der<br />

Psychologisierung mit der von Theodor Storm überkommenen Gattung der<br />

Rahmen- und Bekenntnisnovellen. Außer der Titelnovelle enthält der<br />

Band die Geschichten »Die Frau und die Landschaft«, »Fantastische<br />

Nacht«, »Brief einer Unbekannten« und »Die Mondscheingasse«.<br />

Peter Handke: Anleitung zum Amoklauf. Gedicht<br />

ratschläge für einen amoklauf vorübungen machst du auf dem freien<br />

land, indem du durch ein mannshohes maisfeld läufst. / vorübungen<br />

machst du in einer leeren konzerthalle, indem du von einem ende zum<br />

andern durch die leeren stuhlreihen läufst. / vorübungen machst du,<br />

indem du aus deinem bewußtsein ein pflichtbewußtsein machst.<br />

bist du dann fähig, wenn du auf die straße trittst, nur noch<br />

geistesgegenwärtig zu sein? / bist du fähig, wenn du auf die straße<br />

getreten bist, dich nur noch zu betätigen? / bist du fähig, wenn der<br />

entschluss gefasst ist, keinen anderen entschluss mehr zu fassen? / bist<br />

du fähig, niemanden spüren zu lassen, dass du erst anfängst, wenn du<br />

anfängst? / bist du fähig, nicht mehr von selber aufzuhören, wenn du<br />

36


angefangen hast? / bist du fähig, nicht mehr die gegenstände zu sehen,<br />

sondern die bewegungen der gegenstände? / bist du fähig, nicht mehr<br />

einzelheiten zu unterscheiden, sondern bewegungen? / bist du fähig,<br />

dich jeder bewegung nur einmal zu widmen? / bist du fähig zu allem?<br />

wo versammeln sich leute? - leute versammeln sich, wo sich schon leute<br />

versammeln. / wo versammeln sich leute, bevor sich dort leute<br />

versammelt haben? - leute versammeln sich vor ausgehängten<br />

zeitungen. / wo versammeln sich leute? - leute versammeln sich vor<br />

verkehrsampeln. / wo noch versammeln sich leute? - leute versammeln<br />

sich vor schaltern. / wo noch? - vor telefonzellen. / wo noch? - vor<br />

bahnschranken. / wo noch? - vor einem mann, der auf offener straße<br />

seine wäre anbietet. / wo noch? - vor einem mann, der auf offener<br />

straße eine heilsbotschaft verkündet. / wo noch? - vor einem mann, der<br />

auf offener straße nicht vorwärts, sondern rückwärts, zu boden oder in<br />

die luft schaut. / wo noch? - unter markisen und in hauseingängen,<br />

wenn es unversehens zu regnen anfängt.<br />

wo gehst du hin? - zuerst gehe ich zu einer ampel und warte, bis rot<br />

kommt. / und dann? - dann stoße ich einen obstkarren um und warte, bis<br />

genug kinder herbeilaufen, um das obst aufzuheben. / und dann? - dann<br />

sorge ich für eine Verzögerung der Straßenbahn und warte an der<br />

Station, bis sich genug leute versammelt haben. / und dann? — dann<br />

warte ich vor dem kinoeingang, bis die leute aus dem kino kommen. /<br />

und dann? — dann verkünde ich an einer straßenecke eine frohe<br />

botschaft und warte, bis genug leute stehengeblieben sind. / und dann?<br />

- dann gehe ich die reihe der wartenden autos entlang zu geschlossenen<br />

bahnschranken. / und dann? - dann schaue ich zum himmel und warte, bis<br />

sich genug leute versammelt haben. / und dann? - dann warte ich<br />

darauf, dass genug leute für jemanden ein spalier bilden. / und dann? -<br />

dann sorge ich dafür, dass jemand spießruten laufen muss, und warte, bis<br />

sich genug leute versammelt haben. / und dann? - dann stelle ich mich<br />

tot und springe auf, wenn sich genug leute versammelt haben. / und<br />

dann? - dann treibe ich eine wette hoch, wieviele leute in ein auto<br />

passen, und warte, bis genug leute im auto sind. / und dann? - dann<br />

warte ich vor einem möglichst hohen haus, bis der aufzug mit möglichst<br />

vielen leuten herunterkommt. / und dann? - dann werbe ich für<br />

führungen und warte, bis sich genug leute versammelt haben. / und<br />

dann? - dann lade ich eine gesellschaft ein und warte, bis die<br />

gesellschaft vollzählig ist / und dann? - dann veröffentliche ich ein<br />

Preisausschreiben, bei dem jeder teilnehmet einen preis gewinnt, und<br />

warte, bis sich möglichst viele teilnehmer gemeldet haben. / und dann?<br />

- zur gerade ausgehängten zeitung. / und dann? - zu den<br />

telefonzellen. / und dann? - zu den pissoirs in der stauzeit. / und<br />

dann? - bahnhofssperren. / und dann? - rolltreppen in kaufhäusern. /<br />

und dann? -geisterbahnen. / und dann? - landebrücken. / und dann? -<br />

heimkehrerzüge. / und dann? - schießbuden. / und dann? -<br />

aussichtstürme. / und dann? - kurorte. / und? - ausfallstraßen. / und?<br />

-passhöhen bei strahlendem sonnenschein. / und? - beliebte<br />

ausflugsziele. / und? - parkbänke in den büropausen. / und dann? -<br />

fenster in vororten bei feierabend. / und zuallererst? - zuallererst<br />

37


eschäftige ich mich mit einem einzelnen und warte, bis sich genug<br />

leute um den einzelnen versammelt haben.<br />

die erste schrecksekunde nützt du also dazu aus, für eine zweite<br />

schrecksekunde zu sorgen, und die zweite schrecksekunde, für noch eine<br />

schrecksekunde zu sorgen, damit du, weil du ja selber von keiner<br />

schrecksekunde betroffen bist, ihnen immer, wenn sie sich gerade von<br />

einer schrecksekunde erholt haben, gerade um die weitere<br />

schrecksekunde voraus bist, für die du gesorgt hattest, während sie<br />

sich noch von der ersten schrecksekunde erholten, so dass schließlich<br />

die schrecksekunden kein ende mehr nehmen. und wie? - kurzen prozess<br />

machen. / ausmerzen. / erledigen. / beiseite. / nieder. / weg damit. /<br />

niemanden zählen lassen, nicht einmal bis drei.<br />

und zuguterletzt? - zuguterletzt lasse ich jemanden übrig, der später<br />

die tradition fortsetzen kann.- Peter Handke, in: Tintenfisch 1.<br />

Jahrbuch für Literatur. Berlin 1968<br />

Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs. Roman<br />

Blobel, Brigitte<br />

Rezension von Tobias Thieme<br />

Die fünfzehnjährige Alessa zieht mit ihren Eltern vom Starnberger See nach<br />

Offenbach, wo ihr Vater einen neuen Job als Leiter eines Baumarkts angenommen<br />

hat. Alessa ist zunächst todtraurig über diesen Umzug und muss sich erst mit der<br />

neuen Situation zurechtfinden. So steht wenig später auch der erste Schultag an<br />

und Alessa muss zugeben, dass es vielleicht doch gar nicht so schlecht ist in<br />

Offenbach. Natürlich vermisst sie ihre beste Freundin Tini, dafür freundet sie sich in<br />

der Schule aber mit ihrer Banknachbarin Vicky an und außerdem gibt es ja noch<br />

Philipp, den gutaussehenden Jungen aus ihrer Klasse. Doch zunächst hat Alessa mit<br />

einem anderen Jungen zu tun, mit Ulf. Der sechzehnjährige geht in die neunte<br />

Klasse und ist ein klassischer Außenseiter. Er trägt immer eine schwarze<br />

Pudelmütze, weil er abstehende Ohren hat und niemand gibt sich mit ihm ab. Vor<br />

allem letzteres nimmt Alessa zum Anlass sich ein bisschen näher mit ihm zu<br />

beschäftigen, da sie ja so gesehen beide Außenseiter sind. So kommt es also das<br />

Alessa von nun an ihren Schulweg immer zusammen mit Ulf absolviert und die<br />

beiden auch abends etwas unternehmen. Die Eltern von Ulf sind völlig hin und weg<br />

von Alessa und sie beginnt sich langsam bei ihm wohlzufühlen, obwohl er sehr oft<br />

Äußerungen fallen lässt, die Alessa nicht gefallen.<br />

Doch nach und nach wird Vicky zu Alessas bester Freundin und auch mit Philipp<br />

und seiner Clique versteht sie sich immer besser. Eine Entwicklung die Ulf gar nicht<br />

gefällt. Ulf ist nämlich total auf Alessa fixiert. Doch als Alessa sich in Philipp verliebt,<br />

traut sie sich endlich Ulf abzuweisen. Ein Schritt mit ungeahnten Folgen...<br />

„Alessas Schuld“ beschreibt einen Amoklauf eines sechzehnjährigen Jungen. Von<br />

solchen Büchern gab es zugegebenermaßen schon einige, aber Brigitte Blobel<br />

38


ingt in diesem Buch sehr gut die Emotionen ihrer Charaktere ein. Mit Alessa und<br />

Ulf zeichnet sie zwei Hauptcharaktere die zum einen sehr durchdacht, auf der<br />

anderen Seite aber auch durchaus realistisch sind. Und die Emotionen der Personen<br />

werden in diesem Buch wirklich sehr gut und realistisch geschildert. Die Frage, die<br />

über dem ganzen Buch steht ist – wie der Titel schon sagt – wer die Schuld an<br />

diesem Amoklauf hat. Das Alessa Ulf abgewiesen hat war der Auslöser für diesen<br />

Amoklauf und mit dieser Schuld muss Alessa nun leben, was ein sehr schwieriges<br />

Schicksal für eine Jugendliche darstellt. Sie muss praktisch damit leben eine<br />

Mitschuld an dem Tod zweier Menschen zu haben. Auch dies ist ein Punkt der am<br />

Ende des Buches wirklich sehr emotional geschildert wird und wirklich ergreifend ist.<br />

Fazit: Brigitte Blobel erzählt in „Alessas Schuld“ mithilfe von Zeitungsmeldungen, E-<br />

Mails und Polizeiprotokollen die Geschichte eines Amoklaufs, der eigentlich aus<br />

Liebe oder zumindest aus tiefer Zuneigung begangen wird. Das Buch ist wirklich<br />

emotional erzählt und kann diese Gefühle an den Leser weitergeben. Insgesamt ein<br />

ergreifendes und trauriges Jugendbuch, das wirklich sehr zu empfehlen ist.<br />

39


Übung für den Unterricht<br />

Situation<br />

<strong>Theater</strong>pädagogisches<br />

<strong>Kohlhaas</strong> steht kurz vor der Hinrichtung. Eine Begnadigung ist möglich. Deshalb<br />

erhalten betroffene Personen die Möglichkeit zu einer begründeten Stellungnahme:<br />

Wenzel von Tronka<br />

Luther<br />

ein invalider Anhänger <strong>Kohlhaas</strong>ens, der sich freiwillig dem Rachefeldzug<br />

angeschlossen hat<br />

die Verlobte eines toten Soldaten<br />

Lisbeths Eltern<br />

<strong>Kohlhaas</strong>ens Knecht Sternbald (Freund Herses), der bereits auf der<br />

Tronkenburg dabei gewesen ist<br />

ein Bürger aus Wittenberg, der seinen ganzen Besitz verloren hat<br />

Nagelschmidt<br />

<strong>Kohlhaas</strong><br />

Arbeitsauftrag<br />

1. Sie stellen die Ihnen zugewiesene Person dar. Sammeln Sie in Einzelarbeit<br />

Stichpunkte für eine Stellungnahme und belegen Sie diese durch Verweise auf<br />

entsprechende Textstellen, die auch mit Volltextsuche gefunden werden können<br />

(http://gutenberg.spiegel.de/kleist/kohlhaas/kohlhaas.htm oder<br />

http://www.michaelkohlhaas.de/).<br />

2. Schließen Sie sich mit den Mitschüler/innen zusammen, die dieselbe Person<br />

vertreten. Vergleichen und ergänzen Sie Ihre Stichpunkte und formulieren Sie<br />

gemeinsam eine Stellungnahme, die auch in kopierbarer Form (z.B. Word-<br />

Dokument) vorliegen muss. Formulieren Sie eine Hauptthese auf einem Plakat,<br />

die Ihren Standpunkt vor der Abstimmung nochmals veranschaulicht.<br />

3. Bestimmen Sie in Ihrer Gruppe eine Person, die Ihren Standpunkt frei vorträgt.<br />

Veranschaulichung am Beispiel des Amtmanns, <strong>Kohlhaas</strong>ens Nachbar:<br />

(Reclam, ab S. 22ff.: „Er lud einen Amtmann, seinen Nachbar, zu sich,..“)<br />

- Der Amtmann hält <strong>Kohlhaas</strong> für einen rechtschaffenen Menschen und guten<br />

Nachbarn, wundert sich aber seit der Sache mit den Pferden über ihn<br />

(„befremdet“ S. 22, Z. 24; „sonderbare Gedanken“ S. 22, Z. 24f).<br />

- Er ist überrascht, dass <strong>Kohlhaas</strong> ihm Haus und Hof so günstig überlassen will,<br />

lässt sich aber durch dessen „Heiterkeit“ (S. 22, Z. 25) und Begründung (er „sei<br />

auf große Dinge gestellt“, S. 23, Z. 3) beruhigen.<br />

40


Stellungnahme<br />

„Früher war der <strong>Kohlhaas</strong> immer ein guter Nachbar und rechtschaffener Mensch.<br />

Nach der Sache mit den Pferden wurde er aber von Tag zu Tag seltsamer. Zum<br />

ersten Mal fiel mir das auf, als er mir plötzlich Haus und Hof zum Spottpreis anbot.<br />

Ich wollte zwar schon lange einen Teil seines Grundstücks kaufen, aber das<br />

Angebot konnte ich doch nicht annehmen! Er ließ jedoch nicht locker, war fröhlich,<br />

scherzte und sagte, er habe Großes vor. Hätte ich damals geahnt, was er meinte, ich<br />

hätte bestimmt versucht, ihn davon abzuhalten ...“<br />

[Dieses Beispiel stellt nur den Anfang der Er- und Ausarbeitung dar und dient lediglich als Erläuterung<br />

der Aufgabenstellung)<br />

Variante mit Spielauftrag<br />

Schreiben Sie die Erzählung aus der Perspektive einer weiteren Figur der<br />

Geschichte, zum Beispiel aus der Perspektive der Frau von <strong>Kohlhaas</strong>, seines<br />

Knechtes Herse, aus der Perspektive der Pferde, Luthers, Wenzel von Tronkas, der<br />

Verlobten eines toten Soldaten, des Richters, eines Kunden von <strong>Kohlhaas</strong>!<br />

Überlegen Sie sich, wem Sie die Geschichte erzählen und warum!<br />

Finden Sie einen Schwerpunkt in ihrer Erzählung. Erzählen Sie einen Moment der<br />

Geschichte genauer in der Figur!<br />

Erzählen sie in der Ich-Form!<br />

Finden Sie einen Charakter für die Figur, einen Tick, einen typischen Gang, eine<br />

wiederkehrende Geste.<br />

=> Spielen Sie es den Mitschülern vor!<br />

41


Fragen und Aufgaben zum Stück<br />

Beschreibe Michael <strong>Kohlhaas</strong>!<br />

Wie sieht er aus?<br />

Welchen Beruf hat er?<br />

In welchen Verhältnissen lebt er?<br />

Beschreibe seinen Charakter!<br />

Wer ist Wenzel von Tronka?<br />

Warum beschlagnahmt er <strong>Kohlhaas</strong>’ Pferde?<br />

Was ist seine Motivation?<br />

Beschreibe <strong>Kohlhaas</strong> Frau!<br />

Warum muss sie sterben?<br />

Welche Rolle spielt Luther in der Geschichte?<br />

Ist <strong>Kohlhaas</strong> Widerständler oder Terrorist und warum?<br />

Beschreibe den Moment, in dem <strong>Kohlhaas</strong> die Fassung verliert?<br />

Handelt <strong>Kohlhaas</strong> richtig? Warum ja und warum nein?<br />

Kennst du Rachegefühle?<br />

Bekommt <strong>Kohlhaas</strong> sein Recht?<br />

Wie sieht dies aus?<br />

Gibt es Recht und Unrecht?<br />

Welche Möglichkeiten kennt ihr, euch gegen Unrecht zu wehren?<br />

Ab wann siehst du rot?<br />

Was ist dir wertvoll wie <strong>Kohlhaas</strong> seine Pferde?<br />

Würdest du in einem Geschworenengericht für oder gegen <strong>Kohlhaas</strong><br />

stimmen? Warum?<br />

Findest du die Hinrichtung von Michael <strong>Kohlhaas</strong> gerechtfertigt?<br />

Wie denkst du über die Todesstrafe?<br />

42


Thema Widerstand<br />

Das Recht auf Widerstand ist ein Thema, das seit der Antike immer weiter entwickelt<br />

wurde. Diskutieren Sie mit ihrer Klasse: Ist <strong>Kohlhaas</strong> ’Widerstand’ wirklich<br />

gerechtfertigt. Er rebelliert, weil einzelne einflussreiche Personen das Recht gebeugt<br />

haben. Hat er deshalb gänzlich sein Recht verloren?<br />

Was macht es mit einem, wenn man sein Recht nicht einfordert?<br />

Welche Möglichkeiten des Widerstands haben wir heute?<br />

Ab wann wird Widerstand zum Terrorismus?<br />

Wogegen kämpfen heutige Widerständler?<br />

Ab wann ist Widerstand nötig?<br />

Was glauben Sie, wogegen ist Widerstand wichtig?<br />

Wie kann man ein Anliegen friedlich durchsetzen?<br />

Wo sind hierfür Möglichkeiten und Grenzen?<br />

Thema Amoklauf<br />

Liedtext der Band “Mono für alle“<br />

Mono für Alle! (kurz: MfA!) ist eine deutsche Electropunk-Band. Sie treten seit 2000 unter diesem<br />

Namen auf und kommen aus Gießen.<br />

Amoklauf<br />

Heute halte ich es nicht mehr aus<br />

Mit einer Waffe verlasse ich das Haus<br />

Mein Herz schlägt etwas schneller als normal<br />

Denn ich weiß, die Folgen sind fatal<br />

Ich werde von euch gehen, am heutigen Tag<br />

Doch nicht allein, nein das ist nicht meine Art<br />

In diesem Magazin sind 16 Schuss<br />

Und ich weiß genau, was ich damit machen muss<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />

Irgendein Platz, wo viele Leute sind<br />

Egal, ob Alte, Kranke oder Frau mit Kind<br />

Schieße ich einfach in die Menge rein<br />

Die Menschen sind entsetzt und sie fangen an zu schreien<br />

Direkt vor mir stirbt ein Mann<br />

Und dort liegt eine Frau, die sich nicht mehr bewegen kann<br />

Ihr kleines Kind, das ängstlich schaut<br />

Versteht noch nicht, ich hab sein Leben so eben versaut<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />

Mit lauter Fahrt da kommt die Polizei<br />

Sie haben für Leute wie mich Spezialisten dabei<br />

43


Ein Psychologe redet auf mich ein,<br />

das nichts bringt und ich soll doch vernünftig sein<br />

Er weiß nicht, dass er mich damit provoziert,<br />

ich habe doch selber mal Psychologie studiert<br />

Sein Gequatschte regt mich noch mehr auf<br />

Ich drücke ab und ich schieß ihm in den Bauch<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />

Endlich wird das SEK gebracht,<br />

das so lange dauert hätt’ ich niemals gedacht<br />

Die Scharfschützen beziehen Position<br />

Jetzt wird es ernst und zack, da passiert es auch schon<br />

Ein Schütze hat mich an meinem Bein erwischt<br />

Doch dem Schützen treff ich selber mitten in sein Gesicht<br />

Der grüne Anzug färbt sich langsam rot<br />

Der Mann vom SEK ist auf der Stelle tot<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei drauf<br />

Mit letzter Kraft hab ich’s geschafft<br />

Einsam sitze ich in einem Belüftungsschacht<br />

Hab große Schmerzen, doch ich mache kein Geschrei<br />

Mein Leben zieht wie ein Film an mir vorbei<br />

Eine Träne rollt über mein Gesicht<br />

Wie konnte das passieren- Ich weiß es nicht<br />

Eine letzte Kugel hab ich noch<br />

Langsam drück ich ab und ich schieß mir in den Kopf<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei-<br />

Amoklauf, Amoklauf, Menschenleben gehen dabei.<br />

44


Weitere Aufgaben und Fragen zum Lied<br />

Hören Sie sich gemeinsam das Lied an und beschreiben Sie Gefühle, die das Lied<br />

weckt!<br />

Was bringt jeden einzelnen zur Verzweiflung?<br />

Lassen Sie im Gespräch Gründe für Amoklauf finden!<br />

Lassen Sie Gründe gegen Amoklauf finden!<br />

Was unterscheidet Widerstand und Amok?<br />

Sammeln Sie Alternativen zu Amok in Form von Stichworten, die auf Karten stehen<br />

und an die Tafel gehängt werden.<br />

Lassen Sie die Begriffe gruppieren:<br />

Teilen Sie die Klasse in vier Gruppen. Jede Gruppe wählt eines der gesammelten<br />

Stichworte und entwirft einen Text; ein Gedicht ein Bild dazu.<br />

45


Literaturverzeichnis<br />

Amoklauf von Ansbach. In: Spiegel Online, 18. September 2009, 15:02 Uhr.<br />

Heinz, Philip: Stichwort: Amoklauf. In: Lohrer Echo Nr. 215, 18. September 2009.<br />

Ewertowski, Ruth: Das Außermoralische. Friedrich Nietzsche – Simon Weil –<br />

Heinrich von Kleist – Franz Kafka. Heidelberg 1994 (= Frankfurter Beiträge zur<br />

Germanistik 28).<br />

Müller-Tragin, Christoph: Die Fehde des Hans Kolhase. Zürich 1997.<br />

Robertz, Frank J. u. Wickenhäuser, Ruben: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und<br />

schwere Gewalt in der Schule. Heidelberg 2007.<br />

Sendler, Horst: Über Michael <strong>Kohlhaas</strong> – damals und heute. Berlin/New York 1985<br />

(= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 92).<br />

Heyde, Hartmut von der: Heinrich von Kleist. In: Lexikon Deutsch. Autoren und<br />

Werke. Hrsg. von Hartmut von der Heyde. Freising 2002<br />

Baliani, Marco : Das Staunen, die Zeit und der Körper. Die Kunst der mündlichen<br />

Erzählung<br />

Beiträge zum Jugendtheater 1996 in der Zeitschrift Praxis Schule 5-10, Heft 3 / 1996<br />

Fischer-Lichte, Erika : Grundlagen und Gedanken zum Verständnis. Erzählender<br />

Literatur, Frankfurt am Main 1991.<br />

Gräf, Thomas : Klett Lektürehilfen, Michael <strong>Kohlhaas</strong>.<br />

Kleist, Heinrich von: Michael <strong>Kohlhaas</strong>. Aus einer alten Chronik; mit Materialien;<br />

ausgewählt und eingeleitet von Rainer Siegle, Stuttgart: Klett 1997<br />

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: in H.V.K. Das<br />

Erdbeben in Chili und andere Prosastücke, Stuttgart: Reclam 1973<br />

Blöcker, Günter: Heinrich von Kleist oder das absolute ich, Berlin 1960<br />

Hagedorn, Günther (Hrsg.): Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart: Reclam 1983<br />

Hermes, Eberhard: Abiturwissen Erzählende Prosa, Stuttgart: Klett 1985<br />

Sembdner, Helmut (Hrsg.) Heinrich Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte.<br />

Frankfurt, Insel 1984<br />

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