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Stabat Mater - REVART

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Nr. 2 / 2010<br />

GIOACHINO ROSSINI ALS KIRCHENMUSIKER (II)<br />

<strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong><br />

Reto MÜLLER<br />

Deutsche Rossini Gesellschaft<br />

Das <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> bildet seit seiner Entstehung das bekannteste geistliche<br />

Werk Rossinis. Es entstand gemäß einer „Geometrie des Schicksals“ (um einen<br />

Begriff von Paolo Isotta zu verwenden, der das ganze Dasein Rossinis charakterisiert<br />

1) ziemlich genau in der Mitte seines Lebens. Den Anstoß dazu erhielt<br />

Rossini im Februar 1831 anlässlich einer Spanienreise, die er auf Einladung<br />

seines Bankierfreundes Alejandro María Aguado unternahm. In Madrid lernte er<br />

den einflussreichen Prälaten mit den Ämtern eines Erzdiakons und Staatsrates<br />

Manuel Fernandez Varela kennen. Doktor Véron berichtete: „Son Excellence<br />

don Emmanuel Fernandez Varela, commissaire de la Crusada, grand dignitaire<br />

de l’Église espagnole, alors célèbre à Madrid par son goût pour les arts et par le<br />

luxe de son palais, donna un jour la plus brillante fête toute en l’honneur de<br />

Rossini. Dans la salle à manger, les titres de toutes les partitions de Rossini<br />

étaient écrits avec des fleurs. La piété et la passion musicale de Son Excellence<br />

don Emmanuel n’hésitèrent pas à demander à Rossini un morceau de musique<br />

religieuse“ („Seine Exzellenz Don Emmanuel Fernandez Varela, Kommissar der<br />

Crusada, großer Würdenträger der spanischen Kirche, der seinerzeit in Madrid<br />

bekannt war für seinen Kunstgeschmack und den Luxus seines Hauses, gab<br />

eines Tages das glänzendste Fest zu Ehren von Rossini. Im Speisesaal waren die<br />

Titel aller seiner Opern aus Blumen geschrieben. Die Frömmigkeit und die<br />

Musikbegeisterung ließen Seine Exzellenz Don Emmanuel nicht zögern, Rossini<br />

um ein geistliches Stück zu bitten“) 2. Tatsächlich rühmte sich der Prälat in<br />

seinem Dankesschreiben an Rossini, dass er ihm den Gedanken eingeflößt<br />

1 PAOLO ISOTTA, I diamanti della corona. Grammatica del Rossini napoletano, in<br />

GIOACCHINO ROSSINI, Mosè in Egitto – Moïse et Pharaon – Mosè, Torino, UTET 1974<br />

(Opera - Collana di Guide musicali, Serie Prima, 4), S. 143-346: 252.<br />

2 LE D R L[OUIS] VERON, Mémoires d’un bourgeois de Paris, Bd. I, Paris, Librairie<br />

nouvelle 1856, S. 293-294.


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habe 3. Rossini erklärte gegenüber seinem Freund Ferdinand Hiller 1855 in<br />

Trouville: „Es war rein eine Sache der Gefälligkeit, und ich hatte nicht daran<br />

gedacht, es zu veröffentlichen. [...] Schon die große Berühmtheit des <strong>Stabat</strong> mater<br />

von Pergolese würde mich abgehalten haben, denselben Text für die<br />

Oeffentlichkeit zu bearbeiten“ 4. Solche Erklärungen Rossinis sind mit Vorsicht<br />

zu genießen. Auf Rossini, dessen starke Bindung zu seiner Mutter aus<br />

zahlreichen Indizien hervorgeht, muss der dem Marienkult huldigende Text eine<br />

besondere Attraktion ausgeübt haben. Was den Vergleich mit Pergolesi betrifft,<br />

so wissen wir aus Rossinis Theaterlaufbahn, dass gerade Texte, die bereits von<br />

seinen Kollegen vertont wurden, einen besonderen Anreiz bei der Auswahl<br />

eines Stoffes darstellten; L’italiana in Algeri, Tancredi, Elisabetta, La Cenerentola<br />

oder Matilde di Shabran entstanden sozusagen im Zeichen sportlicher<br />

Konkurrenz, was nicht zuletzt auch auf den Barbiere di Siviglia, der „klassischen“<br />

Oper eines so berühmten Vorgängers wie Paisiello, zutrifft. Es besteht kein<br />

Zweifel an der Verehrung Rossinis für Pergolesis <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong>, das ihn zu<br />

Tränen rührte, als er es zum ersten Mal in Neapel hörte 5; es mit seinem eigenen<br />

Verständnis zu vertonen und den Formen des modernen Geschmacks<br />

anzupassen, sollte für Rossini vor allem ein Akt der Verehrung bedeuten.<br />

Schwieriger ist die Frage der Veröffentlichung. Verschiedene Anhaltspunkte<br />

lassen darauf schließen, dass Rossini eine Publikation durchaus nicht ausschloss.<br />

So bat ihn Varela in dem erwähnten Brief vom 12. Juli 1832, ihn zu<br />

verständigen, wenn er das Werk in Paris drucken lasse, damit er genügend<br />

Exemplare anfordern könne, um die Kathedralen Spaniens damit zu<br />

beschenken 6. Und der Verleger Eugène Troupenas behauptete, eine<br />

entsprechende Zusage 1833 erhalten zu haben 7.<br />

3 Brief von Manuel Fernandez Varela aus Madrid, 12. Juli 1832, an Gioachino<br />

Rossini (unveröffentlicht): „habiéndo yo inspirado este pensamiento tengo un doble honor<br />

[...]“. Die in diesem Aufsatz angeführten unveröffentlichten Briefe werden im Rahmen der<br />

Rossini-Briefausgabe publiziert (GIOACHINO ROSSINI, Lettere e Documenti, Pesaro,<br />

Fondazione Rossini 1992– ); für die Einsichtnahme bedanke ich mich bei den Herausgebern<br />

Bruno Cagli und Sergio Ragni.<br />

4 FERDINAND HILLER, Plaudereien mit Rossini, in Aus dem Tonleben unserer Zeit,<br />

Band II, Leipzig, Mendelssohn 1868, S. 1-84: 73-74 und Stuttgart, Deutsche Rossini<br />

Gesellschaft 1993 (= Schriftenreihe, 1), S. 68.<br />

5 Vgl. GIUSEPPE RADICIOTTI, Gioacchino Rossini. Vita documentata, opere ed<br />

influenza su l’arte, Vol. III, Tivoli, Aldo Chicca 1929, S. 280.<br />

6 Varela an Rossini (Anm. 17): „Si U. la hace gravar en Paris, y espero que llegado el<br />

caso me lo comunique para hacer tomar suficiente numero de ejemplares para regalar a las<br />

Catedrales de España“.<br />

7 «Revue et Gazette musicale», Jg. 8, Nr. 63 (12. Dezember 1841), S. 553: „M e<br />

Marie, avocat de MM. Troupenas: ‚[...] Rossini a composé en 1832 un <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong>. [...] En<br />

1833, Rossini s’entendit avec M. Troupenas pour l’éditer’“; S. 554: „M e Bourgain, avocat de<br />

MM. Schlesinger et Aulagnier: [...] ‚Aux termes de la loi du 17 juillet 1793, le dépôt est


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Wir wissen nicht, wie rasch Rossini nach seiner Rückkehr nach Paris<br />

Anfang März 1831 daran ging, sein Versprechen einzulösen. Es scheint aber,<br />

dass Varela durch die Vermittlung Aguados auf die baldige Ausführung der<br />

Arbeit drängte 8, zumal wohl ausgemacht war, dass das <strong>Stabat</strong> am Karfreitag 1832<br />

in einer der großen Kirchen Madrids zur Aufführung gelangen sollte 9. Tatsache<br />

ist, dass Rossini von dem Werk vorerst nur sechs Nummern komponierte, da er<br />

eigenen Angaben zufolge so sehr erkrankte, dass er es nicht vollenden konnte 10.<br />

Es soll sich um einen Hexenschuss gehandelt haben, „der ihm heftige und lange<br />

Schmerzen verursachte“ 11. Die fehlenden Teile ließ er durch seinen Freund<br />

Giovanni Tadolini vertonen, ein Name, der freilich erst viel später bekannt<br />

wurde.<br />

Bei den sechs vorerst komponierten Stücken handelt es sich nicht um<br />

die ersten sechs Nummern. Entsprechend seiner Kompositionsweise bei den<br />

Opern beschäftigte sich Rossini zuerst mit jenen Stücken, die ihm wichtig<br />

erschienen. Es handelt sich dabei um alle Stücke mit Chor mit Ausnahme der<br />

Schlussnummer sowie um eine einzige Soloarie, nämlich die für die von ihm seit<br />

jeher bevorzugte Alt-Stimme. Die der Tradition verpflichtete Schlussfuge dürfte<br />

ein nicht sofort zu bewältigendes Hindernis für ihn gewesen sein, scheint es<br />

doch, dass sich Rossini mit dieser strengen Gattung zeitlebens eher schwer<br />

getan hat 12. In dieser Form schickte Rossini eine Abschrift der Partitur, versehen<br />

obligatoire [...]. En fait, M. Troupenas, qui se prétend propriétaire de <strong>Stabat</strong> de Rossini, en<br />

vertu de conventions verbales intervenues en 1833, n’a pas rempli la formalité du dépôt<br />

exigée par la loi’“.<br />

8 Vgl. ALEXIS AZEVEDO, G. Rossini, sa vie et ses œuvres, Paris, Heugel 1864, S. 300:<br />

„[…] afin de calmer l’impatience du noble Espagnol, qui réclamait de <strong>Stabat</strong> promis dans<br />

toutes les lettres à M. Aguado“.<br />

9 Varela an Rossini (Anm. 17): „[...] de no poderle hacer ejecutar el viernes santo en<br />

uno de los principales templos de Madrid según lo tenia anunciado“.<br />

10 HILLER (Anm. 18), S. 74 bzw. 68: „[...] da ich krank wurde und nicht zur rechten<br />

Zeit damit fertig geworden wäre“.<br />

11 AZEVEDO (Anm. 22): „Il fut atteint d’un lombago qui lui occasionna de vives et<br />

longues souffrances“. Eine solche Krankheit erwähnt Rossini in der Tat in einem Brief an<br />

seinen Vater, allerdings erst am 28. Januar 1833: „Io pure sono stato venti giorni incomodato<br />

da una lombaggine che mi ha confinato in casa non potendo alzare la testa oro sono<br />

interamente ristabilito“. Unveröffentlicht (Anm. 17).<br />

12 Fétis bezeugte: „[il] me dit qu’il ne se sentait pas le courage de se remettre aux<br />

éléments de la fugue et du contre-point“. FRANÇOIS-JOSEPH FETIS, Lettres sur la musique en<br />

Italie, in «Revue et Gazette musicale», Jg. 8, Nr. 61 (28. November 1841), S. 525-529: 526.<br />

Auch Adam scheint diesen Vorbehalt zu reflektieren: „Le n° 10 est L’Amen, portant la fugue<br />

que Rossini s’est cru obligé de faire comme tous ses devanciers. Peut-être un si puissant<br />

génie aurait-il dû se mettre au-dessus de l’usage, et ne pas sacrifier au préjugé qui impose<br />

l’obligation de faire une fugue [...]“. ADOLPHE ADAM, <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> de Rossini, Deuxième<br />

Article, in «La France musical», Jg. 4, Nr. 48 (28. November 1841), S. 417-419: 419. Vgl.<br />

auch weiter oben zur Fuge in der Messa di Gloria (Anm. 14).


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mit einer handschriftlichen Widmung, an Varela nach Madrid, wo das Werk am<br />

5. April 1833 in der Kapelle San Felipe el Real erklang.<br />

Als der Pariser Verleger Antonin Aulagnier das Stück, das er von den<br />

Erben des inzwischen verstorbenen Varelas erworben hatte, 1841 publizieren<br />

wollte, wehrte sich Rossini erfolgreich dagegen und räumte die Publikationsrechte<br />

eines vollständig aus seiner Feder stammenden <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong>s seinem<br />

Verleger Troupenas ein. Rossini hatte klare Vorstellungen, die wahrscheinlich<br />

schon während der ersten Fassung gereift sind, wie das Werk aussehen musste,<br />

und ersetzte innerhalb von kürzester Zeit die sieben Stücke von Tadolini durch<br />

vier eigene, wodurch er dem <strong>Stabat</strong> die Form gab, wie wir es heute kennen und<br />

bewundern. Die Urfassung bestand in der Tat nicht aus zwölf Nummern, wie<br />

auch die zuverlässigsten Forscher immer suggeriert haben, sondern aus<br />

dreizehn. Tadolini hatte nämlich nicht nur sechs Solostücke komponiert (die<br />

später von Aulagnier gedruckt wurden), sondern auch die traditionelle Schlussfuge,<br />

die freilich die klassische Ausgewogenheit von zwölf Stücken störte. Die<br />

Neustrukturierung in zehn Nummern unter Beisteuerung einer eigenen Fuge im<br />

Rahmen einer klassisch ausgewogenen Komposition vollbrachte Rossini, indem<br />

er die acht Verse, aus denen Tadolini sechs kurze Stücke gemacht hatte, auf vier<br />

große Nummern verteilte.<br />

In dieser endgültigen Fassung wurde das <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> am 7. Januar 1842<br />

erstmals aufgeführt und von Troupenas als Partitur und Klavierauszug<br />

herausgegeben. Es war die musikalische Sensation des Jahres 1842, handelte es<br />

sich doch seit 1829 um das erste große Werk nach dem Rückzug des<br />

Komponisten von der Opernbühne. Noch im selben Jahr verbreitete sich das<br />

<strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> wie ein Lauffeuer über ganz Europa, unbeschadet der heftigen und<br />

kontroversen Diskussionen, wieweit es überhaupt als Kirchenmusik gelten<br />

durfte.<br />

Rossinis <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt<br />

und gehört zum Standardrepertoire der großen Chöre. Dennoch gibt es<br />

noch keine kritische Edition davon. Zwar ließe sich diese von der Endfassung<br />

aufgrund der autographen Partitur, die in der British Library in London<br />

aufbewahrt wird, leicht erstellen, aber eine solche kritische Ausgabe möchte<br />

auch verlässliche Angaben zur Urfassung und zu den davon abweichenden<br />

Veränderungen der Endfassung machen. Von der Urfassung gibt es zwar einen<br />

– damals heimlich in Hamburg hergestellten – Klavierauszug. Hingegen fehlt<br />

von der Partitur jede Spur. Das von Aulagnier erworbene Original gilt heute als<br />

verschollen. Eine Kopie gelangte vielleicht nach Hamburg, während eine andere<br />

sicher in Mailand ankam, wo der Verleger Lucca eine Aufführung organisieren


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wollte, die Rossini aber unterband 13. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass<br />

dem Vermittler zwischen den Erben Varelas und dem Pariser Verleger, dem<br />

Sänger Francisco Oller, neben der Partitur auch das Aufführungsmaterial von<br />

1833 zugeschlagen wurde. Über diesen Oller schrieb Baltasar Saldoni in seinem<br />

Diccionario Biográfico: „Su biblioteca musical contiene vários autógrafos y<br />

recuerdos de gran valor, entre los cuales hay algunos de Mercadante y Rossini”<br />

(„Seine musikalische Bibliothek enthält diverse Autographe und Erinnerungsstücke<br />

von großem Wert, darunter einige von Mercadante und Rossini”). Oller<br />

starb 1877 in Malaga, und wer weiß, ob dort nicht eines Tages ein erhofftes<br />

Zeugnis der Urfassung auftaucht. 14<br />

Trois chœurs religieux: Ein Tryptichon von ökumenischer Breite<br />

Ein gutes Jahr nach der erfolgreichen Lancierung des <strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong> begab<br />

sich Rossini im Sommer 1843 nach Paris, um sich wegen seiner venerischen<br />

Krankheit behandeln zu lassen. Bei dieser Gelegenheit unterbreitete ihm Masset,<br />

der Gesellschafter von Troupenas, das Autograph einer außergewöhnlichen<br />

Komposition des jungen Rossini, nämlich die Bühnenmusik zu Edipo coloneo, die<br />

bereits 1817 entstanden war 15. Mit Datum vom 28. Juli 1843 autorisierte Rossini<br />

Masset zur Publikation des Werkes. Wahrscheinlich erwies sich aber die in<br />

weiten Teilen rezitativisch und arios gehaltene Bühnenmusik als zu wenig<br />

attraktiv für eine vollständige Publikation, und der Verlag entschied sich, nur<br />

zwei Chöre daraus als dreistimmigen Frauenchor mit Klavierbegleitung und mit<br />

neuem, französischem Text herauszugeben; Rossini wurde gebeten, einen<br />

dritten Chor als Neukomposition hinzuzufügen, was dieser tat, bezeichnenderweise<br />

auf einen Text, der mit den Worten „Maria dolcissima, madre d’amor“<br />

beginnt und der neben dem dreistimmigen Frauenchor auch ein Sopransolo<br />

enthält. Das Tryptichon erschien 1844 unter dem Titel Trois chœurs religieux bei<br />

Troupenas. Die von drei verschiedenen französischen Dichtern unterlegten<br />

13 Brief von Rossini aus Bologna, 24. Februar 1842, an Giovanni Ricordi in Mailand:<br />

„Se il Sig. Lucca avesse l’Imprudenza (cosa di cui non lo credo capace) di far eseguire lo<br />

<strong>Stabat</strong> che possiede nel quale non esistono che soli sei numeri di mia composizione, vi<br />

autorizzo con questa mia ricorrere a chi di ragione per impedire che il Pubblico venga ridotto<br />

in errore e la mia riputazione compromessa.” Unveröffentlicht (Anm. 17).<br />

14 Eine umfassende Darstellung findet sich in RETO MÜLLER, Die Urfassung von<br />

Rossinis ‚<strong>Stabat</strong> <strong>Mater</strong>’, in Rossini in Paris. Tagungsband, hrsg. von Bernd-Rüdiger Kern<br />

und Reto Müller, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2002 (=Schriftenreihe der Deutschen<br />

Rossini Gesellschaft, 4), S. 105-124.<br />

15 Vgl. dazu GIOACHINO ROSSINI, Edipo a Colono, Partitur, hrsg. VON LORENZO TOZZI<br />

und PIERO WEISS, Pesaro, Fondazione Rossini 1985 (=Edizione critica delle opere di<br />

Gioachino Rossini, Sezione Seconda, Vol. I); Edipo Coloneo, hrsg. von MAURO TOSTI-<br />

CROCE, Pesaro, Fondazione Rossini 2001 (=I libretti di Rossini, 8).


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neuen Texte sind im Gegensatz zu den meisten anderen geistlichen Werken<br />

nicht in lateinischer Sprache verfasst und huldigen nicht einem katholischempfindsamen<br />

Marienkult, sondern behandeln die drei theologischen Tugenden<br />

als moralisch-religiöse Grundwerte von ökumenischer Breite: „Glaube,<br />

Hoffnung, Liebe“ – die Liebe steht wie schon bei Paulus am höchsten und<br />

daher auch am Schluss. Sie schließt die beiden anderen Tugenden in sich und ist<br />

das große Thema der menschlichen Existenz, das die Kirchenmusik nicht<br />

minder als die Opernmusik durchzieht. 16<br />

Ein Hauch von ‚Risorgimento’: Das Tantum ergo von 1847<br />

Fast gänzlich unbekannt geblieben ist das 1847 entstandene Tantum ergo<br />

(nicht zu verwechseln mit einem kleineren Tantum ergo von 1824), eine kurze<br />

geistliche Komposition, die aber wegen ihrer Originalität als bedeutendste<br />

Schöpfung Rossinis zwischen den beiden großen geistlichen Werken betrachtet<br />

werden darf. Aus dem Untertitel der 1851 bei Ricordi erschienenen Partitur geht<br />

der Anlass der Komposition hervor: „In occasione della solenne restituzione al<br />

culto cattolico della chiesa di S. Francesco dei Minori Conventuali a Bologna il 2<br />

novembre 1847“ („Anlässlich der feierlichen Wiederaufnahme des katholischen<br />

Kultus in der San Francesco-Klosterkirche der Minoriten zu Bologna am 28.<br />

November 1847“). Rossini war seit 1839 „Consulente Perpetuo Onorario“<br />

(„Ständiger ehrenamtlicher Direktor“) des Liceo musicale, an dem er einst selber<br />

studiert hatte, und er fühlte sich als solcher dem Musikleben seiner Stadt<br />

verbunden; doch dürfte die Zusage, den Hymnus «Tantum ergo» für die<br />

Segensandacht zu komponieren, auch in einem anderen Zusammenhang zu<br />

sehen sein. Im Jahr zuvor wurde Giovanni Mastai Ferretti zum Papst gewählt,<br />

der den Namen Pius IX. annahm und mit mehr als 31 Jahren das längste<br />

Pontifikat ausüben sollte. Die Wahl vom 16. Juni 1846 nährte die Hoffnungen<br />

jener moderaten Bewegung, die eine Föderation der italienischen Staaten unter<br />

dem Patronat des Papstes befürwortete; Ferretti hatte Sympathien für diese<br />

Reformbewegung gezeigt, weshalb er als neuer Pontifex die erleuchtete und<br />

liberale Figur eines väterlichen Königs verkörperte, dank der man ohne<br />

Blutvergießen zu einer Vereinigung Italiens zu gelangen hoffte 17 . Rossini teilte<br />

diese Sympathien, und entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung schrieb er<br />

16 Die fast gleichzeitig bei Ricordi in Mailand erschienene Lizenzausgabe enthielt eine<br />

italienische Übersetzung der französischen Texte. Eine moderne Ausgabe mit beiden<br />

Textfassungen wurde von Guido Johannes Joerg herausgegeben und ist beim Carus-Verlag<br />

erschienen (CV 40.713/10-20-30, 1992).<br />

17 Vgl. MAURO BUCARELLI, La Cantata in onore del Sommo Pontefice Pio IX, in<br />

Bicentenario Rossiniano, Programmheft (16. Juli 1992), Rom, Accademia Nazionale di<br />

Santa Cecilia, S. 7-18: 8.


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gleich zwei Werke zu Ehren des neuen Papstes: eine Hymne mit dem Titel Grido<br />

di esultazione riconoscente al Sommo Pontefice Pio IX (Bologna, 23. Juli 1846) und die<br />

Cantata in onore di Pio IX (Rom, 1. Januar 1847). So dürfte auch das Tantum ergo<br />

ein weiteres Sympathiebezeugnis gegenüber der Kirche und ihrem neuen<br />

Oberhaupt gewesen sein. Aber im Gegensatz zu den beiden vorgenannten<br />

Stücken, die reine Bearbeitungen einstiger erfolgreicher Opernnummern waren,<br />

schuf Rossini mit dem Tantum ergo etwas völlig Neues und geradezu<br />

Revolutionäres, das mit einem bei ihm nicht erwarteten ‚Risorgimento’-Elan<br />

daherkommt und mit seiner kraftvollen Rhetorik zeigt, dass er auch als „Ex-<br />

Komponist“ mit den Ereignissen seiner Zeit Schritt halten konnte. Originell<br />

schon die Besetzung: Frauenstimmen kamen für eine kirchliche Aufführung<br />

nicht in Frage, und das eigenartige Solistenterzett für zwei Tenöre und einen<br />

Bass, ohne Chor, dafür mit großem Orchester, dürfte wohl auf die aktuellen<br />

Begebenheiten zurückzuführen sein. Anlässlich ihrer Ersteinspielung wurde die<br />

Komposition wie folgt beschrieben:<br />

Trotz seiner relativen Kürze ist das Stück wahrhaft monumental.<br />

Bestehend aus einem Andante und einem Allegro, wird es von einer kurzen<br />

Einleitung mit vollem Orchester eröffnet. Von vier voranstehenden<br />

zurückhaltenden Akkorden der Klarinetten, Fagotte und Hörner führt ein<br />

rasches Crescendo zu einem kräftigen Rhythmus, welcher rasch in einer weichen<br />

Terzbegleitung der Streicher ausklingt. Der erste Tenor intoniert das Thema<br />

„Tantum ergo sacramentum“, welches sogleich vom zweiten Tenor und dem<br />

Bass aufgenommen wird. Begleitet von einer immer dichter werdenden<br />

Orchesterbeteiligung, schreitet das Andante in einem raffinierten harmonischen<br />

und kontrapunktischen Spiel zwischen den Stimmen voran, welches nicht<br />

Selbstzweck ist, sondern weitere herrliche Themen und vor allem eine<br />

wachsende Emotion des Zuhörers verursacht. Das Andante schließt mit<br />

angemessener Feierlichkeit und einer kurzen Kadenz.<br />

Ein Paukenwirbel und eine mitreißende Attacke des Orchesters eröffnen<br />

das Allegro, dessen Thema „Genitori genitoque“ von einer großer Einfachheit<br />

ist und zudem unverhüllt präsentiert wird, nur unterstützt von einer trockenen<br />

rhythmischen Begleitung.<br />

Nach einer ersten Exposition folgt vor der Wiederaufnahme des<br />

Themas ein kurzes Zwischenspiel, für welches der Komponist „a tutta forza“<br />

vorschreibt. Das großartige Finale wird vor allem von raschen Figuren des<br />

Basses und einer Reihe von sehr wirkungsvollen harmonischen Schritten<br />

gekennzeichnet.<br />

Auf dem Kulminationspunkt des Finales ereignet sich ein wahrer<br />

Theatercoup: auf einem verminderten Akkord hält unvermittelt alles inne.<br />

Ein langsames Amen im Pianissimo, intoniert von den Stimmen und der<br />

leichten Begleitung der Klarinetten und Fagotte, scheint das Gebet zu beenden.


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Doch ein erneuter Paukenwirbel führt zur Attacke des wirklichen Schlusses,<br />

Allegro und Fortissimo. Die instrumentale Coda exponiert noch einmal das<br />

Thema mit großer Klarheit. 18<br />

Ein Brief Rossinis vom 16. April 1851 an den Mailänder Dirigenten<br />

Giacomo Pedroni spricht dafür, dass das Werk auch 1851 in Mailand aufgeführt<br />

wurde, wo es im selben Jahr jedenfalls publiziert wurde (und wo das Autograph<br />

noch heute aufbewahrt wird). Auf Wunsch von Pedroni übermittelte ihm<br />

Rossini die Metronomangaben. Freilich sind diese Werte nicht als starre<br />

Vorschrift aufzufassen: Rossini forderte den Dirigenten explizit dazu auf, sich<br />

bei der Tempo- und Farbgebung des Stückes auf sein eigenes musikalisches<br />

Gespür zu verlassen 19 .<br />

Petite Messe solennelle<br />

Mit der Reife des Alters findet bei Rossini ein Paradigmenwechsel statt.<br />

Komponieren ist nicht mehr schieres Vergnügen, wie in seinen frühen Jahren,<br />

nicht mehr existenzielle Pflicht, wie in seiner Reifezeit, nicht mehr<br />

prestigebeladenes Entgegenkommen wie in den Jahren seiner nachtheatralischen<br />

Aktivität. Komponieren ist ihm jetzt ein Bedürfnis, eine<br />

expressive Notwendigkeit. Er schreibt nur noch Musik für sich und einen engen<br />

Kreis von Freunden. Mit dieser intimen Beziehung zu seiner Kunst wird auch<br />

das Verhältnis zu Gott tiefgründiger. Seine Petite Messe solennelle ist die erhabenste<br />

und großartigste Schöpfung dieser letzten Phase und gewissermaßen sein Opus<br />

summum.<br />

1860 wurde an der Pariser Opéra Rossinis Semiramide aufgeführt, deren<br />

großer Erfolg vor allem den beiden Schwestern Carlotta und Barbara Marchisio<br />

18 Übersetzt nach dem Begleitheft der von der Audiovisivi SanPaolo herausgegebenen<br />

CDs unter Edoardo Brizio (GIOACHINO ROSSINI, „Tu le sais bien bon Dieu…”. Musica Sacra<br />

inedita e rara per soli, coro e orchestra, Sampaolo Audiovisivi, MS 055 [1993]).<br />

19 „Sebbene io sia nemico della mecanica […] pure ti noto i movimenti corrispondenti,<br />

alla meglio, ai numeri del Metronomo - Primo Tempo q N.° 66 - 2.do Tempo q N.° 152.<br />

Dopo ciò ti prego valerti della tua felice organizazione musicale tanto per Stabilirne il<br />

Tempo, quanto per dare un colore a questo mio omeopatico lavoro.” („Obwohl ich ein Feind<br />

der Mechanik bin […] notiere ich dir doch die entsprechenden Sätze so gut es geht mit den<br />

Metronomzahlen – 1. Satz q = 66, 2. Satz q = 152. Dann bitte ich dich aber, von deinem<br />

glücklichen musikalischen Gespür Gebrauch zu machen, sowohl um das Tempo festzulegen,<br />

wie auch bei der Farbgebung meines homöopathischen Werks“). Brief von Rossini aus<br />

Bologna, 16. April 1851, an Giuseppe Pedroni in Mailand, unveröffentlicht (vgl. Anm. 17).<br />

Entsprechend dieser Angaben wurde das Stück am 24. Juli 1998 unter der Leitung von<br />

Herbert Handt in Bad Wildbad aufgeführt und mit der gleichzeitig aufgezeichneten Messa di<br />

Gloria von hänssler Classic auf CD veröffentlicht (CD 98.359).


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zu verdanken war. Rossini sagte: „Ecco due ragazze che hanno fatto rivivere un<br />

morto“ („Da haben wir zwei Mädchen, die einen Toten wiederbelebt haben”) 20.<br />

Sie erfüllten seinen höchsten Anspruch an den Gesang, den er gerne mit der<br />

Maxime, frei nach Petrarca, „Il cantar che nell’anima si sente” („Der Gesang,<br />

der zur Seele dringt“) umschrieb. Sollte diese unverhoffte Wiederkehr des<br />

Belcanto ihm den Gedanken eingeflößt haben, noch einmal ein großes<br />

geistliches Werk zu komponieren? Barbara war davon überzeugt, schrieb sie<br />

doch in einem ihrer autobiographischen Briefe: „Rossini l’aveva scritta per noi e<br />

non volle mai che altri la eseguissero“ („Rossini schrieb [die Messe] für uns und<br />

wollte nie, dass sie von anderen Sängerinnen aufgeführt würde“) 21. Im Juni 1863<br />

vollendete Rossini seine Heilige Messe, die er für vier Solisten und Chor (Vokal-<br />

Doppelquartett plus Solisten) mit einer Begleitung von zwei Klavieren und<br />

einem Harmonium konzipiert hatte und Petite Messe solennelle nannte. In einem<br />

der Partitur vorangestellten „Vorwort an den lieben Gott“ bezeichnete er seine<br />

Messe als „Le dernier Pechè [sic] mortel de ma vieillesse“ („Die letzte Todsünde<br />

meines Alters“), und er bekräftigte die Einordnung in die Sammlung seiner<br />

„Alterssünden“, als er sie in seinem provisorischen Verzeichnis im Album<br />

„Chant – Miscelanée“ wie folgt aufführte: „Petite Messe Solennelle a Quatre<br />

Parties Soli et Choeurs, G de Partition, ou avec Accompagnement de Deux<br />

Pianos et Harmonium“ 22.<br />

Es war eine große Sensation, als das Werk am 14. März 1864 im Haus<br />

des Grafen Pillet-Will in Paris vor einer Reihe ausgesuchter Gäste zur<br />

Uraufführung gelangte. Ein Jahr später, am 24. April 1865, wurde das Ereignis<br />

am selben Ort und mit denselben Interpreten (darunter wiederum die<br />

Marchisio-Schwestern) wiederholt. Die Fassung dieser beiden Aufführungen<br />

wird von einer Abschrift widergespiegelt, die Rossini der Gräfin Pillet-Will<br />

widmete. Sie befindet sich noch heute im Besitz dieser Familie und wurde erst<br />

1994 von Philip Gossett entdeckt und untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass<br />

das Autograph der kammermusikalischen Fassung, das sich im Rossini-Nachlass<br />

in Pesaro befindet und bis dahin als einzige authentische Quelle derselben galt,<br />

eine Weiterentwicklung darstellt, die zwar insgesamt nur 49 Takte länger ist,<br />

20 Brief von Barbara Marchisio aus Mira, 4. September 1887, an Rocco Pagliara,<br />

zitiert in FRANCESCO BISSÒLI, Un contributo alla storia dell’interpretazione belcantistica<br />

nelle lettere di Barbara Marchisio a Rocco Pagliara, in «Scrinia», II, Nr. 1 (Marzo 2005), S.<br />

93-123: 105.<br />

21 Brief von Barbara Marchisio aus Venedig, 25. Dezember 1887, an Rocco Pagliara,<br />

zitiert in BISSÒLI (Anm. 34).<br />

22 = Catalogue = | Miscelanée et | Album de Musique Vocale | Pechés de Vieillesse |<br />

de | G. Rossini || Passy: Autograph, Brüssel, Bibliothek des Königlichen Konservatorium,<br />

Fonds Michotte (FEM-100), unveröffentlicht.


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Nr. 2 / 2010<br />

aber „mehr rhetorischen Nachdruck“ aufweist 23. Offensichtlich handelte es sich<br />

um Ergänzungen, die Rossini nach der zweiten Aufführung 1865 in Hinblick<br />

auf eine Orchesterversion vorgenommen hat. Eine solche vollendete er in der<br />

Tat 1867, schloss aber eine Aufführung zu Lebzeiten aus. Es hieß, Rossini hätte<br />

die Orchestrierung wider Willen vorgenommen, um zu verhindern, dass es<br />

andere nach seinem Tod tun würden: „[...] findet man dieselbe nun in meinem<br />

Nachlaß, so kommt Herr Sax mit seinen Saxophons, oder Herr Berlioz mit<br />

anderen Riesen des modernen Orchesters, wollen damit meine Messe<br />

instrumentiren und schlagen mir meine paar Singstimmen todt, wobei sie auch<br />

mich selber glücklich mit umbringen würden“, äußerte Rossini gegenüber dem<br />

Komponisten Emil Naumann, als ihn dieser 1867 in Paris besuchte. Aber<br />

bereits im Jahr zuvor hatte er an seinen Freund Ferrucci nach Italien<br />

geschrieben: „L’accompagnamento provisorio è di due pianoforti e d’un<br />

harmonium (organetto). Esito molto, malgrado le sollecitudini dei sapienti ed<br />

ignoranti ad istrumentarla per poscia poterla eseguire in qualche grande Basilica,<br />

e ciò per la mancanza delle voci (così dette bianche) soprani e contralti senza le<br />

quali non si dee cantare le lodi glorie del Signore!” 24 („Die provisorische<br />

Begleitung besteht aus zwei Klavieren und einem Harmonium [kleine Orgel].<br />

Ich zögere sehr, trotz des Drängens der Kenner und der Liebhaber, sie zu<br />

orchestrieren, um sie sodann in einer großen Basilika aufführen zu können, und<br />

dies aus Mangel an – sogenannt weißen – Sopran- und Contralto-Stimmen,<br />

ohne die das Gloria zum Lob des Herrn nicht gesungen werden sollte!“).<br />

Dahinter steckte nicht nur der Umstand, dass die Ära der Kastratensänger mit<br />

der französischen Revolution ihr Ende gefunden hatte, sondern auch, dass in<br />

Italien und Frankreich noch eine alte kirchliche Vorschrift beachtet wurde,<br />

wonach die Präsenz von Frauen auf der Chorempore untersagt war. Rossini<br />

setzte sich in der Folge mit Hilfe von Ferrucci und Franz Liszt beim Papst für<br />

die Aufhebung des Verbots ein. Am 14. Mai 1866 beschied der einstige<br />

Hoffnungsträger Pius IX. dem Komponisten in einem salbungsvollen und<br />

23 „more rhetorically emphatic“: PHILIP GOSSETT, Rossini’s ‚Petite Messe Solennelle’<br />

and its Several Versions, in Petite Messe Solennelle, Programmheft, Pesaro, Rossini Opera<br />

Festival, August 1997, S. 19-28: 26. Vgl. außerdem: NORBERT PRITSCH, Gedanken zu den<br />

drei Fassungen der ‚Petite Messe Solennelle’, in Rossini in Paris. Tagungsband, hrsg. von<br />

Bernd-Rüdiger Kern und Reto Müller, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2002<br />

(=Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft, 4), S. 143-151. Die neue kritische<br />

Ausgabe des Bärenreiter-Verlags bildet beide Versionen ab: GIOACCHINO ROSSINI, Petite<br />

Messe solennelle, hrsg. von PATRICIA B. BRAUNER und PHILIP GOSSETT, Kassel, Bäreneiter<br />

2009 (=Works of / Opere di Gioachino Rossini, 4).<br />

24 Brief von Rossini aus Paris, 23. März 1866, an Luigi Crisostomo Ferrucci in<br />

Florenz, zitiert in STEFANO ALBERICI, Rossini e Pio IX. Alla luce di documenti inediti<br />

dell’Archivio Segreto Vaticano, in «Bollettino del Centro Rossiniano di Studi», XVII (1977),<br />

Nr. 1-2, S. 5-35: 13.


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verklausulierten Schreiben, dass von der Musik in der Kirche jede Laszivität<br />

verbannt und sie nicht erfunden worden sei, um die Sinne mit verweichlichten<br />

und süßen Klängen zu betören 25. Vielleicht war diese Antwort der Grund,<br />

weshalb Rossini davon absah, die Messe in einer großen Basilika aufführen zu<br />

lassen – von der Orchestrierung ließ es sich aber nicht abhalten; er vollendete<br />

sie im April 1867. Es ist offensichtlich, dass Rossini, der in all diesen Jahren viel<br />

mit dem Klavier experimentiert hatte, es noch einmal mit dem Orchester<br />

versuchen wollte, zumal in der gleichen Zeit auch zwei weitere Kompositionen<br />

für großes Orchester entstanden sind 26.<br />

Die Petite Messe solennelle ist vielleicht Rossinis größtes musikalisches und<br />

menschliches Vermächtnis. Auch wer den Opernkomponisten kennt und<br />

bevorzugt, wird früher oder später die Offenbarung dieser Musik erleben, den<br />

Moment, in dem er staunend diesem letzten und wahrhaftigen Meisterwerk<br />

lauscht, wenn er die Intimität dieser beiden Klaviere und die pastosen Klänge<br />

des Harmoniums vernimmt, und zitternd und fast unter Tränen hinweggetragen<br />

wird von dem ergreifenden «Agnus Dei», das die tiefgefühlteste und<br />

wahrhaftigste Chiffre von Rossinis Glaube ist. Hat man einmal diese Messe in<br />

ihrer ursprünglichen kammermusikalischen Form kennen und lieben gelernt,<br />

zögert man, die Orchesterfassung zu akzeptieren, die mit ihrem riesigen Apparat<br />

den intimen Klavierpart in eitler und grober Weise aufzublähen scheint. Doch<br />

auch hier hat man die Rechnung ohne Rossini gemacht. Man wird verstehen,<br />

dass er sich vollständig erneuert hat, dass er für das Orchester schreiben wollte,<br />

um ihm neue und ungeahnte Effekte, ungewöhnliche Klangfarben und<br />

Harmonien zu entlocken, und plötzlich ist der pastose Klang des Harmoniums<br />

in ein volles und doch durchsichtiges Orchester verwandelt, das u.a. über drei<br />

Fagotte, drei Posaunen und Ophicleide verfügt; das Klaviersolo im «Preludio<br />

religioso» vor dem «Sanctus» weicht der Orgel und wird nun umrahmt von<br />

majestätischen Akkorden der tiefen Holz- und Blechbläser, die von einer<br />

seltenen und erhabenen Schönheit sind. Nicht weniger schön in ihrer Art sind<br />

die Harfen, die sich gegenseitig antworten, um das Duett der beiden Frauen zu<br />

begleiten. Und die beiden Fugen, das «Cum sancto spiritu» und das «Et vitam<br />

venturi saeculi» entwickeln eine ungeahnte Kraft, hinfortgerissen vom‚ Tutti’ des<br />

Orchesters, aus dem man überraschende Passagen der Streicher heraushört.<br />

Und zuletzt bleibt, in seiner tiefgefühlten Demut, das flehende «Agnus Dei» mit<br />

seinem Ruf nach dona nobis pacem.<br />

25 ALBERICI (Anm. 38), S. 20 und 35.<br />

26 Vgl. dazu MARTIN GREMPLER, Rossinis „politisches“ Spätwerk: Die ‚Hymne à<br />

Napoléon III’ und ‚La corona d’Italia’, in Rossini in Paris (Anm. 38), S. 181-198.


References:<br />

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1. „La musica allora è, direi quasi, l’atmosfera morale che riempie il luogo, in cui i<br />

personaggi del dramma rappresentano l’azione“ („Die Musik bildet also, ich würde fast sagen,<br />

die moralische Atmosphäre, die den Raum füllt, in dem die Personen des Dramas die Handlung<br />

vollführen“). Diese und weitere ästhetische Ansichten von Rossini finden sich in ANTONIO<br />

ZANOLINI, Una passeggiata in compagnia di Rossini, in seiner Biografia di Gioachino Rossini, Paris<br />

1836 bzw. zweite erweiterte Ausgabe der Biografia, Bologna, Zanichelli 1879, S. 283-292;<br />

Nachdruck in LUIGI ROGNONI, Gioacchino Rossini, Torino, Einaudi 1977 (durchgesehene und<br />

aktualisierte Neuauflage; Erstauflage Parma, Guanda 1956), S. 375-381.<br />

2. GUIDO PANNAIN, Ottocento musicale italiano: saggi e note, Milano, Curci 1952, S. 6.<br />

3. So auch von GUIDO JOHANNES JOERG, Vorwort zu GIOACHINO ROSSINI,<br />

Messa di Rimini 1809, Partitur (CV 40.674/01), Stuttgart, Carus Verlag, S. II-III.<br />

4. PAOLO FABBRI, Die Sakralmusik aus Lugo und die Jugendwerke Rossinis, in «La<br />

Gazzetta» (Zeitschrift der Deutschen Rossini Gesellschaft), 11, 2001, S. 4-12: 4.<br />

5. ANTONIO GARBELOTTO, Gioacchino Rossini: una messa adriese, in «Subsidia<br />

Musica Veneta», I, 1980, S. 77-112.<br />

6. Vgl. Brief von Rossini aus Venedig, 8. Mai 1813, an Giuseppe Rossini in Adria, in<br />

GIOACHINO ROSSINI, Lettere e Documenti, IIIa (Lettere ai genitori, 18 febbraio 1812 – 22 giugno<br />

1830), hrsg. von Bruno Cagli und Sergio Ragni, Pesaro, Fondazione Rossini 2004, S. 39.<br />

7. Aufführungsmaterial der Deutschen Rossini Gesellschaft e.V., in Zusammenarbeit<br />

mit dem Teatro Rossini von Lugo, hrsg. von Paolo Fabbri und Maria Chiara Bertieri.<br />

8. Vgl. JÜRGEN SELK, Zu meiner Edition der ‚Messa di Milano’, Booklet zur CD-<br />

Aufnahme (Philips 446 097-2, 1995), S. 21-24.<br />

9. FABBRI (Anm. 4), S. 8.<br />

10. Die Aufführung des Festivals ROSSINI in Wildbad vom 22. Juli 2001 (Leitung<br />

Gabriele Bellini; mit Eibe Möhlmann, Cosmina Cordun-Stitzl, Giovanni Botta, Pavol Bršlik,<br />

Teru Yoshihara, Dariusz Machej) ist auf CD dokumentiert: Bongiovanni GB 2346/47-2.<br />

11. AMADEUS WENDT, Rossini’s Leben und Treiben, vornehmlich nach den Nachrichten des<br />

Herrn v. Stendhal<br />

geschildert […], Leipzig, Voss 1824 (Faksimileausgabe mit Nachworten von Klaus Ley und Reto<br />

Müller: Hildesheim, Olms 2003 [=Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft, 5]), S. 210-<br />

212.<br />

12. WENDT (Anm. 12), S. 212. Vgl. auch RETO MÜLLER, La prima monografia tedesca<br />

su Rossini: ‘Rossini’s Leben und Treiben’ di Amadeus Wendt, in «Bollettino del Centro Rossiniano di<br />

Studi», XL (2000), S. 5-147: 58-60.<br />

13. Vgl. u.a. JESSE ROSENBERG, Rossini, Raimondi e la ‚Messa di Gloria’, in «Bollettino<br />

del Centro Rossiniano di Studi», XXXV (1995), S. 85-102.<br />

14. Vgl. PHILIP GOSSETT, Rossini in Naples: Some Major Works Recovered, in «The<br />

Musical Quartely», LIV, No. 3 (July 1968), S. 316-340: 331-339; HERBERT HANDT, Vorwort<br />

zu GIOACCHINO ROSSINI, Messa di Gloria,<br />

Klavierauszug (GM 791), Lottstetten, Edition Kunzelmann 1987, S. II-III. In der Reihe Works of<br />

Gioachino Rossini des Bärenreiter-Verlags wird die Messa di Gloria demnächst in einer kritischen<br />

Ausgabe von Martina Grempler erscheinen.

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