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Grundlagen und praktische Anwendung der Chronopharmakologie

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Fortbildung<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>lagen</strong> <strong>und</strong> <strong>praktische</strong><br />

<strong>Anwendung</strong> <strong>der</strong> <strong>Chronopharmakologie</strong><br />

Von HJ Koch, Regensburg <strong>und</strong> C Raschka, Petersberg<br />

Biologische<br />

<strong>Gr<strong>und</strong>lagen</strong> rhythmischer Aktivität<br />

Biorhythmen gehören zu den Gr<strong>und</strong>eigenschaften<br />

des Lebens auf <strong>der</strong> Erde.<br />

Sie finden sich auf <strong>der</strong> Ebene von<br />

Zellstrukturen, Zellen, Organen, Organismen<br />

<strong>und</strong> Populationen. Genetische<br />

Faktoren, die im Zellkern gespeichert<br />

sind, spielen die entscheidende<br />

Rolle bei <strong>der</strong> Ausprägung von<br />

Rhythmen. Exogene Rhythmen (Zeitgeber)<br />

generieren zwar keine Rhythmen,<br />

können diese aber z.B. auf 24<br />

St<strong>und</strong>en synchronisieren.<br />

Wichtigster Zeitgeber für die zirkadianen<br />

Schwankungen im Tierreich<br />

ist <strong>der</strong> Tag-Nacht-Rhythmus. Für den<br />

Menschen rücken dagegen soziale<br />

Kontakte in Verbindung mit dem<br />

Schlaf-Wach-Rhythmus in den<br />

Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>. Faktoren wie Schichtarbeit<br />

o<strong>der</strong> Blindheit können diese<br />

zeitliche Struktur völlig verän<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> ihnen muß Rechnung getragen<br />

werden. Markerrhythmen (z.B. Temperatur-,<br />

Kortisoltagesprofil, Vigilanzkurve)<br />

dienen dazu, Patienten in<br />

bezug auf ihren 24-St<strong>und</strong>en-Rhythmus<br />

zu charakterisieren.<br />

Biorhythmen können die Wirkung<br />

von Pharmaka auf unterschiedlichen<br />

Ebenen modulieren. Wird <strong>der</strong> Verlauf<br />

<strong>der</strong> Blutspiegelkurve beeinflußt,<br />

spricht man von Chronopharmakokinetik.<br />

Än<strong>der</strong>t sich dagegen die<br />

Empfindlichkeit des Zielsystems,<br />

handelt es sich um Chronopharmakodynamik.<br />

<strong>Anwendung</strong> chronobiologischer Prinzipien<br />

in <strong>der</strong> Therapie<br />

Die meisten in <strong>der</strong> Gastroenterologie<br />

als Ulcustherapeutika eingesetzten<br />

110 Hessisches Ärzteblatt 2/2002<br />

H2-Blocker (z.B. Cimetidin, Famotidin,<br />

Ranitidin) werden am besten in<br />

den Abendst<strong>und</strong>en (Ende <strong>der</strong> Aktivitätsphase)<br />

als Einmaldosis gegeben.<br />

Für Ranitidin <strong>und</strong> Famotidin hat sich<br />

die Einnahme während <strong>der</strong> Abendmahlzeit<br />

bewährt. Diese Ergebnisse<br />

spiegeln den nächtlichen Anstieg <strong>der</strong><br />

Säuresekretion wi<strong>der</strong>. Die abendliche<br />

Gabe von H1-Blockern (z.B. Mequitazin)<br />

erweist sich in <strong>der</strong> antiallergischen<br />

Therapie als vorteilhaft.<br />

In <strong>der</strong> Asthmatherapie entfalten<br />

Steroide ihre optimale Wirkung,<br />

wenn 2/3 <strong>der</strong> Dosis morgens <strong>und</strong> 1/3<br />

in den Nachmittagst<strong>und</strong>en gegen<br />

15.00 Uhr verordnet wird. Sehr<br />

wahrscheinlich gilt diese Strategie sowohl<br />

für die orale als auch für die inhalative<br />

Gabe. Neben einer günstigen<br />

Wirksamkeit verringert man mit diesem<br />

Regime die potentielle Suppression<br />

<strong>der</strong> Nebennierenrinde. Umgekehrt<br />

gibt man das Steroid am Abend,<br />

wenn, wie beim Dexamethason-<br />

Hemmtest, eine Suppression erwünscht<br />

ist. Bei Theophyllinpräparationen<br />

mit retardierter Freisetzung<br />

(slow release formulation) gibt man<br />

am besten 2/3 <strong>der</strong> Dosis am Abend<br />

<strong>und</strong> 1/3 <strong>der</strong> Dosis morgens. Dieselbe<br />

zeitliche Verteilung <strong>der</strong> Gabe auf zwei<br />

Dosen hat auch für Beta-Mimetika<br />

vom Typ des Salbutamols die günstigste<br />

Wirkung bei geringen Nebenwirkungen<br />

erbracht.<br />

In <strong>der</strong> experimentellen Schmerztherapie<br />

findet sich bei Noramidopyridin<br />

(Metamizol) die beste Wirkung<br />

nach Einnahme am Morgen. Acetylsalicylsäure<br />

wird bei Einnahme gegen<br />

22.00 Uhr in bezug auf gastrointestinale<br />

Nebenwirkungen am besten ver-<br />

tragen. Die Vermutung liegt nahe,<br />

daß die abendliche Gabe auch in bezug<br />

auf den Anstieg <strong>der</strong> Koagulabilität<br />

in den Morgenst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> konsekutiven<br />

thrombembolischen Ereignissen<br />

vorteilhaft sein könnte. Der<br />

Bedarf an Opiaten in <strong>der</strong> Onkologie<br />

scheint in den Nachtst<strong>und</strong>en deutlich<br />

höher als am Tag zu sein. Indomethazin<br />

wird am besten vertragen, wenn<br />

es gegen 20.00 Uhr eingenommen<br />

wird. Falls die Symptomatik <strong>der</strong><br />

rheumatischen Erkrankung in den<br />

Morgenst<strong>und</strong>en am stärksten ausgeprägt<br />

ist, erweist sich die abendliche<br />

Gabe auch am effektivsten. Dagegen<br />

wird eine morgendliche Einnahme<br />

empfohlen, wenn die Beschwerden<br />

beson<strong>der</strong>s in den Abendst<strong>und</strong>en vorherrschen.<br />

Ketoprofen wird ebenfalls<br />

bei Gabe gegen Ende <strong>der</strong> Aktivitätsphase<br />

am besten toleriert. Die Wirksamkeit<br />

scheint dagegen vom Einnahmezeitpunkt<br />

unabhängig zu sein. Die<br />

Verträglichkeit von Tenoxicam zeigt<br />

keine zirkadiane Rhythmik, wohl<br />

aber die Wirksamkeit. Im Vergleich<br />

zur abendlichen Gabe kann man nach<br />

Einnahme am Morgen o<strong>der</strong> am Mittag<br />

die Beschwerden besser kontrollieren.<br />

In <strong>der</strong> Therapie <strong>der</strong> Angina pectoris<br />

hat sich Propranolol am effektivsten<br />

erwiesen, wenn es als morgendliche<br />

Einmaldosis gegen 8.00 Uhr gegeben<br />

wird. Bei <strong>der</strong> Prinzmetal-Angina<br />

hat es sich als ebenso günstig erwiesen,<br />

Diltiazem am Morgen zu verabfolgen.<br />

In <strong>der</strong> Hypertonologie stellt<br />

sich generell das Problem, daß viele<br />

Antihypertensiva (Beta-Blocker, Diuretika,<br />

Kalziumkanalblocker) tagsüber<br />

besser wirken als in <strong>der</strong> Nacht.


Günstige Tages- bzw. Nachtzeiten für die Gabe von Pharmaka<br />

Pharmakon Indikation Empfohlener Einnahmezeitpunkt<br />

Mequitazine Allergie Einmalgabe, abends<br />

Cimetidin<br />

Famotidin<br />

Ranitidin<br />

Ulcusleiden Einmalgabe, abends<br />

Prednison Asthma 2/3 <strong>der</strong> Dosis morgens<br />

Prednisolon 1/3 <strong>der</strong> Dosis nachmittags<br />

Theophyllin 2/3 <strong>der</strong> Dosis abends<br />

(Retardpräparate)<br />

Salbutamol<br />

1/3 <strong>der</strong> Dosis morgens<br />

Noramidopyrin Schmerztherapie morgens effektiver<br />

Opiate Bedarf in <strong>der</strong> Nacht höher<br />

Indomethazin Rheumat. Erkr. bessere Verträglichkeit<br />

(Retardform) am Abend; Einmalgabe 12h<br />

vor dem Schmerzmaximum<br />

Ketoprofen bessere Verträglichkeit<br />

(Retardform) am Abend; Wirksamkeit<br />

unabhängig vom Einnahmezeitpunkt<br />

Tenoxicam Verträglichkeit unabhängig vom<br />

Zeitpunkt; gute Wirkung am Morgen<br />

u. Mittag<br />

Acetylsalicylsäure abendliche Gabe besser verträglich<br />

Hydrokortison M. Addison 2/3 <strong>der</strong> Dosis am Morgen<br />

1/3 <strong>der</strong> Dosis am Abend<br />

Dexamethason Hemmtest Gabe gegen 23.00 Uhr<br />

9alpha-Fluoro- 11-beta-Hydroxy- effektive Suppression bei<br />

hydrokortison lasedefekt<br />

Virilismus<br />

Gabe gegen 03.00 Uhr<br />

Standardheparin Antikoagulation sc-Injektionen jeweils um<br />

04.00 <strong>und</strong> 16.00 Uhr sehr effektiv<br />

nie<strong>der</strong>molekulares<br />

Heparin<br />

Wirkung unabhängig von <strong>der</strong> Zeit<br />

Acenocoumarol Einmalgabe abends empfohlen<br />

Adriamycin Onkologie bessere Toleranz <strong>und</strong> Wirkung<br />

Doxorubicin wahrscheinlich um 6.00Uhr<br />

Cisplatin bessere Toleranz <strong>und</strong> Wirkung<br />

wahrscheinlich um 18.00 Uhr<br />

5-Fluoro-Uracil maximale Dosis gegen 4.00 Uhr<br />

empfohlen<br />

Propranolol Angina pectoris Einmalgabe gegen 08.00 Uhr empfohlen<br />

Diltiazem Prinzmetal-<br />

Angina<br />

morgendliche Gabe empfohlen<br />

Hepatitis B Impfung Impfung am Nachmittag wirksamer<br />

Die Verteilung <strong>der</strong> Dosis auf 2 bis 3<br />

Dosen scheint sinnvoll. Eine individuelle<br />

Chronotherapie ließe sich dadurch<br />

erreichen, indem man die Therapie<br />

an das 24-St<strong>und</strong>en-Blutdruckprofil,<br />

das hier als Markerrhythmus<br />

dient, anpassen könnte.<br />

Die Infusion von Adriamycin in<br />

<strong>der</strong> Onkologie erbringt günstigere Ergebnisse<br />

<strong>und</strong> wird besser toleriert,<br />

wenn die maximale Infusionsrate in<br />

den frühen Morgenst<strong>und</strong>en (6.00<br />

Uhr) liegt. Spiegelbildlich verhält es<br />

sich unter <strong>der</strong> Therapie mit Cisplatin,<br />

dessen maximale Infusionsrate am<br />

besten um 18.00 Uhr geplant werden<br />

Fortbildung<br />

sollte. Die Dosis des 5-Fluoro-Uracils<br />

sollte ein Maximum gegen 4.00 Uhr<br />

aufweisen, um biorhythmische Effekte<br />

therapeutisch auszunutzen.<br />

Daß in <strong>der</strong> Therapie auch an<strong>der</strong>e<br />

als zirkadiane Rhythmen Bedeutung<br />

haben, sei am Beispiel des LH-RH<br />

(Luliliberin) gezeigt. Physiologisch<br />

wird das Luliliberin in Intervallen<br />

von 1 St<strong>und</strong>e sezerniert (zirka-horaler<br />

Rhythmus). Will man bei <strong>der</strong> Sterilitätsbehandlung<br />

die Funktion des Hypothalamus<br />

ersetzen, muß die Applikation<br />

pulsatil erfolgen. Im Gegensatz<br />

dazu führt die Dauerinfusion<br />

o<strong>der</strong> i.m.-Gabe zu einer Hemmung<br />

<strong>der</strong> Lutropinfreisetzung (LH, ICSH).<br />

Dieses chronobiologische Verhalten<br />

macht man sich bei <strong>der</strong> Behandlung<br />

von hormonabhängigen Tumoren<br />

(Prostatakarzinom, Mammakarzinom)<br />

o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong><br />

Endometriose zunutze.<br />

In <strong>der</strong> Tabelle sind einige häufig in<br />

<strong>der</strong> Praxis verwendete Pharmaka <strong>und</strong><br />

ihre chronotherapeutischen Eigenschaften<br />

zusammengestellt. Die Liste<br />

erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit<br />

<strong>und</strong> soll eine Orientierung<br />

über einige wichtige Medikamentengruppen<br />

erlauben. Daß chronobiologische<br />

Aspekte nicht nur für die medikamentöse<br />

Therapie, son<strong>der</strong>n auch<br />

für an<strong>der</strong>e Therapie- bzw. Prophylaxemaßnahmen<br />

gelten können, zeigt<br />

das Beispiel <strong>der</strong> Hepatitis-B-Impfung,<br />

die nachmittags effektiver ist. Die<br />

<strong>Chronopharmakologie</strong> ist eine relativ<br />

junge Wissenschaft, so daß bisher nur<br />

ein kleiner Bruchteil <strong>der</strong> Medikamente<br />

auf chronobiologische Eigenschaften<br />

untersucht ist. Im Interesse einer<br />

optimalen Pharmakotherapie sollte es<br />

aber ein zentrales Anliegen sein, die<br />

Zeit als Dimension <strong>der</strong> pharmakologischen<br />

Interaktion mit in die Arzneimittelentwicklung<br />

<strong>und</strong> die <strong>praktische</strong><br />

Therapie aufzunehmen.<br />

Korrespondenzanschrift:<br />

Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. Sportwiss.<br />

Christoph Raschka<br />

Edith-Stein-Straße 34<br />

36100 Petersberg<br />

Hessisches Ärzteblatt 2/2002<br />

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