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Heimleben - VEH e.V.

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„Ich bin vom Jugendamt“, sagte sie.<br />

Ein Gefühl der Hilflosigkeit schoss durch meinen Körper, während der Ton der Frau immer<br />

schärfer wurde. Ich solle mich beeilen und meine Sachen packen, sagte sie mir. Bewacht<br />

von ihr, ging sie mit mir hoch.<br />

Mein Traum von Freiheit und Selbständigkeit war mit einem Schlag vorbei. Ich schaute<br />

noch einmal aus dem Fenster meines Zimmers. Sollte ich aus dem Fenster springen?<br />

Dann wäre ich endlich tot.<br />

„Ich will nicht mehr, kann nicht mehr. Wo wird man mich jetzt wieder hinschleppen?“ fragte<br />

ich mich.<br />

Ich wusste es sogleich, als ich das Einfahrtstor des Vincenzheimes sah.<br />

Ich bekam ein altes, graues, muffig riechendes Putzkleid mit den bekannten Flicken. Aber<br />

zuerst musste ich unter die Dusche. Ein Elvis-Lied zu singen, dazu war ich nicht mehr in<br />

der Lage.<br />

Mein zukünftiger Ehemann und seine Mutter<br />

Eines Tages erhielt ich Besuch von meinem Tanzpartner aus Bochum mit seiner Mutter.<br />

Ohne seine Mutter hätte er keine Besuchserlaubnis bekommen. Ich schämte mich, so wie<br />

ich jetzt aussah. Beim Abschied sagten beide:<br />

„Na, dann bis bald, Roswitha.“<br />

Warum bis bald, wunderte ich mich. Was ich nicht wusste war, dass er sich um meine Entlassung<br />

beim Jugendamt gekümmert hatte. Beim Jugendamt erzählten sie ihm, dass ich<br />

im Vincenzheim eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin machte, was natürlich gelogen<br />

war!<br />

Mein Tanzpartner wollte mich heiraten. Ich wusste gar nicht, was „Heiraten“ bedeutete. In<br />

meiner Freizeit wollte ich doch nur etwas tanzen, die Gesellschaft kennenlernen und irgendwie<br />

dazu gehören.<br />

Am nächsten Tag kam die Nonne Alexa zu mir mit einem Schreibblock und einem Kugelschreiber.<br />

Sie diktierte mir einen Brief an Bundeskanzler Adenauer: Da ich eine Familie<br />

möchte, möge er mich vorzeitig aus dem Vincenzheim entlassen. Dieser Brief war natürlich<br />

ein Witz und wurde nie abgeschickt. Nur damals wusste ich das alles nicht.<br />

Am nächsten Tag kam die Nonne Alexa zu mir, es war der 26.11.1964 und ich war zwanzigeinhalb<br />

Jahre alt, und sagte:<br />

„So, nun pack deine Sachen, du kommst heute hier raus.“<br />

Die Mädchen im Heim beneideten mich, sie hätten auch gerne einen Brief an den Bundeskanzler<br />

geschrieben. Am nächsten Tag, den 27.11.1964, musste ich mit meinem zukünftigen<br />

Mann Gustav zum Standesamt. Die Heirat war die Bedingung, um das Heim vorzeitig<br />

verlassen zu können.<br />

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