Eine Welt ohne Behinderte? - sonderpaedagoge.de!

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02.05.2013 Aufrufe

1. Kapitel: Einleitung Aufzählung der im Anschluß an die Singer-Affäre Ende der 80er Jahre entstandenen 4 ethischen Ansätze in der Behindertenpädagogik. Vor diesem Hintergrund werde ich die Gliederung der Arbeit als Ganzes darstel- len: die Relevanz der einzelnen Kapitel wird damit deutlicher. 1. Abtreibung, Liegenlassen und ‚Euthanasie’ – Die Bedrohung behinderter Men- schen durch Medizin und Ethik Abtreibungen aus ‚kindlicher Indikation’, also aufgrund einer diagnostizierten, „nicht behebbaren Schädigung“ (ANTOR & BLEIDICK 1995, 220) des ungeborenen Kin- des, sind seit 1995, seit der Reform des §218 StGB, nicht mehr erlaubt (ANTOR & BLEIDICK 2000, 20-21). Die Neuregelung der Abtreibung hat dennoch nicht dazu geführt, daß Abtreibungen aufgrund einer Schädigung oder Behinderung des Fötus unterbleiben. Im geltenden Gesetz fallen solche Abtreibungen vielmehr unter die sog. ‚medizinische Indikation’ (§218a Abs. 2 StGB): Die Rechtswidrigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs ist ausgeschlossen, „wenn der Schwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse not- wendig ist, um Lebensgefahr oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchti- gung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der schwangeren Frau abzuwenden“ (zit. nach ANTOR & BLEIDICK 2000, 21). Die medizinische Indika- tion erlaubt eine Abtreibung ohne zeitliche Begrenzung. Im Zusammenhang mit sich ständig erweiternden diagnostischen, aber nicht thera- peutischen Möglichkeiten der pränatalen Medizin entsteht folgende ethische Proble- matik: „Dem vermeintlichen pränatalen Erkennen einer möglichen Behinderung [folgt] nahezu zwangsläufig ihre Verhinderung durch Abtreibung“ (SCHUMANN 4 Damit soll nicht ausgedrückt sein, daß vor der SINGER-Affäre Ethik in der Behindertenpädagogik keine Rolle spielte. Vielmehr ist „eine Erziehungstheorie .. ohne einen Bezug auf das dem Erziehungsziel zugrundeliegende Wertsystem (Normativität) nicht möglich“ (SPECK 1998, 87). Dennoch kann man mit DEDERICH feststellen, daß mit dem Beginn der SINGER-Affäre die „behindertenpädagogische Fachwelt .. sich plötzlich mit der Tatsache konfrontiert [sah], daß es eine internationale Diskussion um medizinethische Probleme gibt, die auch für das eigene Fach von Bedeutung ist“ (2000, 7). (Vergleiche zu diesem Zusammenhang unter vielen anderen auch JAKOBS 1997, 23- 28; THEUNISSEN 1997, 9-12.) 2

1. Kapitel: Einleitung 2000, 314). SPECK legt nahe: „Das deutsche Recht stellt zwar auf die mit der Schä- digung verbundene ‚außergewöhnliche Belastung’ der Mutter ab, bestätigt aber im- plizit und de facto die Gültigkeit des Kriteriums einer ‚Lebensunwertigkeit’ geistig behinderter Kinder“ (SPECK 1997, 80). Liegenlassen bzw. ‚Früheuthanasie’ sind Phänomene, die in den letzten Jahren verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit drangen. Beim ‚Liegenlassen’ handelt es sich um eine Praxis, „wonach man Neugeborene mit schwerwiegenden organi- schen Schädigungen ‚sterben lässt’“ (SPECK 1997,81), indem man notwendige me- dizinische Behandlungsmaßnahmen unterlässt. „Selektive Nichtbehandlung gehört zum Alltag deutscher Klinken“ (DEDERICH 2000, 299) 5 , obgleich dieses Problem rechtlich keineswegs eindeutig geklärt ist (SPECK 1997, 81). Auch ethisch ist diese Praxis stark in Frage zu stellen; zumindest ist diese Problematik unter ethischen Ge- sichtspunkten zu reflektieren. Ethische Positionen, die Früheuthanasie legitimieren, liegen zwar vor, diese sind jedoch sehr umstritten (vgl. Einbecker Empfehlungen 1992, in: ANTOR & BLEIDICK 2000, 156-158; HOERSTER 1995b, 49-100; zur Kritik an diesen Entwürfen u.a. ANTOR & BLEIDICK 1995, 242-251; DEDERICH 2000, 288-307; KREBS 1991, 426-430; SPECK 1997, 81-86). Die Problematik der ‚Früheuthanasie’ verweist auf die allgemeine Fragestellung, ob und wie Sterbehilfe erlaubt ist bzw. erlaubt sein sollte. Auch diese Frage wird zur Zeit stark und kontrovers diskutiert und hat, wie die Ausführungen zu Norbert HOERSTER zeigen werden, konkrete Bedeutung für die Behindertenpädagogik. Wie lassen sich die hier skizzierten Problembereiche in einem größeren Kontext ver- stehen? Ich möchte an dieser Stelle die Perspektive DEDERICHs in seiner Analyse des Zusammenhanges von Medizin, Leiden und Sterblichkeit seit dem 19. Jahrhundert zusammenfassen (2000, 57-72). Charakteristisch in diesem Zeitraum ist das Motiv der ‚Verdrängung’: der Mensch begegnet seiner Sterblichkeit, also dem Phänomen seines unausweichlichen Todes, mit Verdrängung. Dies äußert sich in der zuneh- menden Bekämpfung und Beherrschung von Krankheiten und Todesursachen mittels 5 HOERSTER geht nach der Berichterstattung zu einem Gerichtsverfahren in München 1982 von jährlich 1200 Fällen von ‚Früheuthanasie’ aus (HOERSTER 1995b, 7). 3

1. Kapitel: Einleitung<br />

Aufzählung <strong>de</strong>r im Anschluß an die Singer-Affäre En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 80er Jahre entstan<strong>de</strong>nen<br />

4 ethischen Ansätze in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik.<br />

Vor diesem Hintergrund wer<strong>de</strong> ich die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Arbeit als Ganzes darstel-<br />

len: die Relevanz <strong>de</strong>r einzelnen Kapitel wird damit <strong>de</strong>utlicher.<br />

1. Abtreibung, Liegenlassen und ‚Euthanasie’ – Die Bedrohung behin<strong>de</strong>rter Men-<br />

schen durch Medizin und Ethik<br />

Abtreibungen aus ‚kindlicher Indikation’, also aufgrund einer diagnostizierten, „nicht<br />

behebbaren Schädigung“ (ANTOR & BLEIDICK 1995, 220) <strong>de</strong>s ungeborenen Kin-<br />

<strong>de</strong>s, sind seit 1995, seit <strong>de</strong>r Reform <strong>de</strong>s §218 StGB, nicht mehr erlaubt (ANTOR &<br />

BLEIDICK 2000, 20-21). Die Neuregelung <strong>de</strong>r Abtreibung hat <strong>de</strong>nnoch nicht dazu<br />

geführt, daß Abtreibungen aufgrund einer Schädigung o<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Fötus<br />

unterbleiben. Im gelten<strong>de</strong>n Gesetz fallen solche Abtreibungen vielmehr unter die<br />

sog. ‚medizinische Indikation’ (§218a Abs. 2 StGB): Die Rechtswidrigkeit eines<br />

Schwangerschaftsabbruchs ist ausgeschlossen, „wenn <strong>de</strong>r Schwangerschaftsabbruch<br />

unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse not-<br />

wendig ist, um Lebensgefahr o<strong>de</strong>r die Gefahr einer schwerwiegen<strong>de</strong>n Beeinträchti-<br />

gung <strong>de</strong>s körperlichen o<strong>de</strong>r seelischen Gesundheitszustan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r schwangeren Frau<br />

abzuwen<strong>de</strong>n“ (zit. nach ANTOR & BLEIDICK 2000, 21). Die medizinische Indika-<br />

tion erlaubt eine Abtreibung <strong>ohne</strong> zeitliche Begrenzung.<br />

Im Zusammenhang mit sich ständig erweitern<strong>de</strong>n diagnostischen, aber nicht thera-<br />

peutischen Möglichkeiten <strong>de</strong>r pränatalen Medizin entsteht folgen<strong>de</strong> ethische Proble-<br />

matik: „Dem vermeintlichen pränatalen Erkennen einer möglichen Behin<strong>de</strong>rung<br />

[folgt] nahezu zwangsläufig ihre Verhin<strong>de</strong>rung durch Abtreibung“ (SCHUMANN<br />

4 Damit soll nicht ausgedrückt sein, daß vor <strong>de</strong>r SINGER-Affäre Ethik in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik<br />

keine Rolle spielte. Vielmehr ist „eine Erziehungstheorie .. <strong>ohne</strong> einen Bezug auf das <strong>de</strong>m Erziehungsziel<br />

zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> Wertsystem (Normativität) nicht möglich“ (SPECK 1998, 87).<br />

Dennoch kann man mit DEDERICH feststellen, daß mit <strong>de</strong>m Beginn <strong>de</strong>r SINGER-Affäre die „behin<strong>de</strong>rtenpädagogische<br />

Fachwelt .. sich plötzlich mit <strong>de</strong>r Tatsache konfrontiert [sah], daß es eine internationale<br />

Diskussion um medizinethische Probleme gibt, die auch für das eigene Fach von Be<strong>de</strong>utung<br />

ist“ (2000, 7). (Vergleiche zu diesem Zusammenhang unter vielen an<strong>de</strong>ren auch JAKOBS 1997, 23-<br />

28; THEUNISSEN 1997, 9-12.)<br />

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