Eine Welt ohne Behinderte? - sonderpaedagoge.de!
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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus einer reduktiven, lediglich durch definitorische Macht und scheinbar wertneutrale und objektiv gefundene Wissensvorräte begründeten Perspektive, die durch andere Perspektiven zu erweitern ist. Dazu zählen sicherlich die Perspektiven, die in den Blick nehmen, wie Frauen ihr ungeborenes Kind wahrnehmen, die auch die Perspek- tiven des Imaginären und der Beziehungswirklichkeit beachten. Dazu gehört ande- rerseits aber auch, auf symbolischer Ebene zu versuchen, Handlungsalternativen für werdende Mütter zu schaffen. Dies gilt generell für Möglichkeiten, in der heutigen Gesellschaft Kinder zu bekommen und großzuziehen, dies gilt speziell aber auch für den Bereich der pränatalen Diagnostik mit den Zwängen, die sie im Hinblick auf Behinderung schafft. 26 Ein vollständiges Verbot der Abtreibung läßt sich mit den Perspektiven REICHs nicht begründen. Ob überhaupt ein generelles und strikt durchgesetztes Verbot den Konflikten, die hinter einem Schwangerschaftsabbruch stecken, gerecht wird, ist fraglich. Insofern bedarf aber jede rechtliche Regelung der Abtreibung immer wieder der kritischen Diskussion in möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppierungen. Zu wünschen wäre aus den Perspektiven REICHs, daß ob der weitreichenden Forderun- gen nach Freigabe der Abtreibung sowie der Selektion mittels pränataler Diagnostik nicht der Fötus als Anderer verschwindet, sondern in der Vielfalt der Probleme be- achtet und geachtet wird (vgl. Kapitel 4.2). HOERSTERs Modell, seine Argumentation für eine völlige Freigabe der Abtrei- bung kann an dieser Stelle als zuwenig differenziert zurückgewiesen werden. Er be- rücksichtigt nicht die vielfältigen Unschärfen seiner Argumentation und ist zudem nicht bereit, weitreichende Zusammenhänge differenziert zu betrachten. 27 2.3 Sterbehilfe Rekapitulieren wir zunächst HOERSTERs Gedanken zur Legitimität der aktiven Sterbehilfe: Diese ist dann legitim, wenn der Betreffende schwer und unheilbar leidet und er die Sterbehilfe wünscht. Dabei formuliert HOERSTER für die Gültigkeit ei- 26 Vgl. hierzu z.B. den von DEDERICH vorgestellten Verein „KARA e.V.“ (DEDERICH 2000, 278- 280). 27 Dies wird noch einmal in seiner Verteidigung einer selektiven Abtreibung deutlich, der er jede Auswirkung in weiteren gesellschaftlichen Kontexten pauschal abspricht (z.B. im Umgang mit ‚lebenden’ Menschen, die als behindert bezeichnet werden) (HOERSTER 1995b, 128). 68
3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus nes Wunsches Kriterien, die Aufgeklärtheit über alle relevanten Folgen sowie Ratio- nalität der Entscheidung zur Bedingung machen. 28 Versuchen wir einmal, aus einer Fremdbeobachterperspektive ein Subjekt in den Blick zu nehmen, das Sterbehilfe wünschen könnte: Kann der Wunsch eines solchen Subjektes den Kriterien HOERSTERs genügen? Wenn wir erneut die Unschärfe der Erkenntnis und des Wissens in den Blick nehmen, wird zunächst einmal folgendes deutlich: Zwar kann ein Subjekt den Wunsch nach Sterbehilfe äußern, ein solcher Wunsch ist jedoch Teil der Zirkularität der Beziehungswirklichkeit und von lebens- weltlichen Zusammenhängen. Vielleicht können einige kritische Fragen die Proble- matik erläutern. Aus welchem Grund äußert z.B. ein alter, an Krebs unheilbar erkrankter Mann den Wunsch nach Sterbehilfe gegenüber seiner Tochter? Möchte er nicht als Pflege- fall für einen – wenn auch überschaubaren Zeitraum – in ein Pflegeheim? Ein sicher- lich verständlicher Wunsch, wenn man die Situation in vielen solcher Institutionen bedenkt (vgl. dazu z.B. HIRSCH & FUSSEK 1999). Oder hat der Vater Skrupel, seine Tochter mit seiner Pflege zu belasten? Hat er Angst davor, ihr verletzlich und schwach gegenüberzutreten? Welche Rolle kann in einer solchen Situation der Arzt spielen, welche das Krankenhauspersonal? Mit welchen Worten hat der Arzt dem Mann die Prognose erläutert? 29 Ist vom Krankenhauspersonal ein Teil krank und die Zeit, die für den einzelnen Patienten bleibt entsprechend knapp? Zuletzt, um die Un- schärfe noch zu steigern: Ist der alte Mann dem Arzt sympathisch? Und umgekehrt? Diese Zirkularität, die enge Verwobenheit dieser und ähnlicher Zusammenhänge bleibt bei HOERSTER unberücksichtigt. Dies schließt nicht aus, daß es also tatsäch- lich Fälle geben mag, in denen der Wunsch eines Subjektes nahezu unabhängig von all solchen Faktoren besteht. Ich halte es für fraglich, ob die Regelung HOERSTERs in ihrer vereinfachenden Pauschalität der Komplexität gerecht wird. Neben der Beziehungswirklichkeit wirkt in diesem Zusammenhang natürlich noch etwas anderes: lebensweltliche Sachverhalte, vielleicht in diesem Fall in beson- derem Maße das Sozial- und Gesundheitssystem. Einige Perspektiven auf dieser le- 28 Das dritte Kriterium, daß die Sterbehilfe von einem Arzt durchgeführt werden muß, ist im hier betrachteten Sinn irrelevant. 29 Hier ist natürlich auch die Unsicherheit der Prognosen zum Verlauf einer Krankheit oder eines Sterbeprozesses zu bedenken. 69
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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />
nes Wunsches Kriterien, die Aufgeklärtheit über alle relevanten Folgen sowie Ratio-<br />
nalität <strong>de</strong>r Entscheidung zur Bedingung machen. 28<br />
Versuchen wir einmal, aus einer Fremdbeobachterperspektive ein Subjekt in <strong>de</strong>n<br />
Blick zu nehmen, das Sterbehilfe wünschen könnte: Kann <strong>de</strong>r Wunsch eines solchen<br />
Subjektes <strong>de</strong>n Kriterien HOERSTERs genügen? Wenn wir erneut die Unschärfe <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis und <strong>de</strong>s Wissens in <strong>de</strong>n Blick nehmen, wird zunächst einmal folgen<strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>utlich: Zwar kann ein Subjekt <strong>de</strong>n Wunsch nach Sterbehilfe äußern, ein solcher<br />
Wunsch ist jedoch Teil <strong>de</strong>r Zirkularität <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit und von lebens-<br />
weltlichen Zusammenhängen. Vielleicht können einige kritische Fragen die Proble-<br />
matik erläutern.<br />
Aus welchem Grund äußert z.B. ein alter, an Krebs unheilbar erkrankter Mann<br />
<strong>de</strong>n Wunsch nach Sterbehilfe gegenüber seiner Tochter? Möchte er nicht als Pflege-<br />
fall für einen – wenn auch überschaubaren Zeitraum – in ein Pflegeheim? Ein sicher-<br />
lich verständlicher Wunsch, wenn man die Situation in vielen solcher Institutionen<br />
be<strong>de</strong>nkt (vgl. dazu z.B. HIRSCH & FUSSEK 1999). O<strong>de</strong>r hat <strong>de</strong>r Vater Skrupel,<br />
seine Tochter mit seiner Pflege zu belasten? Hat er Angst davor, ihr verletzlich und<br />
schwach gegenüberzutreten? Welche Rolle kann in einer solchen Situation <strong>de</strong>r Arzt<br />
spielen, welche das Krankenhauspersonal? Mit welchen Worten hat <strong>de</strong>r Arzt <strong>de</strong>m<br />
Mann die Prognose erläutert? 29 Ist vom Krankenhauspersonal ein Teil krank und die<br />
Zeit, die für <strong>de</strong>n einzelnen Patienten bleibt entsprechend knapp? Zuletzt, um die Un-<br />
schärfe noch zu steigern: Ist <strong>de</strong>r alte Mann <strong>de</strong>m Arzt sympathisch? Und umgekehrt?<br />
Diese Zirkularität, die enge Verwobenheit dieser und ähnlicher Zusammenhänge<br />
bleibt bei HOERSTER unberücksichtigt. Dies schließt nicht aus, daß es also tatsäch-<br />
lich Fälle geben mag, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Wunsch eines Subjektes nahezu unabhängig von<br />
all solchen Faktoren besteht. Ich halte es für fraglich, ob die Regelung HOERSTERs<br />
in ihrer vereinfachen<strong>de</strong>n Pauschalität <strong>de</strong>r Komplexität gerecht wird.<br />
Neben <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit wirkt in diesem Zusammenhang natürlich<br />
noch etwas an<strong>de</strong>res: lebensweltliche Sachverhalte, vielleicht in diesem Fall in beson-<br />
<strong>de</strong>rem Maße das Sozial- und Gesundheitssystem. Einige Perspektiven auf dieser le-<br />
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Das dritte Kriterium, daß die Sterbehilfe von einem Arzt durchgeführt wer<strong>de</strong>n muß, ist im hier betrachteten<br />
Sinn irrelevant.<br />
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Hier ist natürlich auch die Unsicherheit <strong>de</strong>r Prognosen zum Verlauf einer Krankheit o<strong>de</strong>r eines<br />
Sterbeprozesses zu be<strong>de</strong>nken.<br />
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