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Eine Welt ohne Behinderte? - sonderpaedagoge.de!

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„<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“<br />

<strong>Eine</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Thesen<br />

Norbert Hoersters aus Sicht <strong>de</strong>r<br />

<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik<br />

Schriftliche Hausarbeit im Rahmen <strong>de</strong>r Ersten Staatsprüfung für das Lehramt<br />

für Son<strong>de</strong>rpädagogik, <strong>de</strong>m Staatlichen Prüfungsamt für Erste Staatsprüfungen<br />

für Lehrämter an Schulen in Köln vorgelegt von:<br />

Markus Brück<br />

Brühl, 21. Dezember 2000<br />

Dr. Markus De<strong>de</strong>rich<br />

Seminar für Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik


Glie<strong>de</strong>rung<br />

1. Einleitung<br />

1. Abtreibung, Liegenlassen und ‚Euthanasie’ – Die Bedrohung behin<strong>de</strong>r-<br />

ter Menschen durch Medizin und Ethik<br />

2. <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik im Kontext dieser Entwicklungen<br />

3. Zum Ansatz und Aufbau <strong>de</strong>r Arbeit<br />

2. Die Thesen Norbert Hoersters<br />

1. Menschen – Recht auf Leben?<br />

1. Begründungsmuster für ein Tötungsverbot<br />

2. Menschenrecht auf Leben – Recht für je<strong>de</strong>n Menschen?<br />

3. Personalität: Wünsche, Interessen und Selbstbewußtsein<br />

Glie<strong>de</strong>rung<br />

Seite<br />

I<br />

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2. Abtreibung<br />

1. Ist <strong>de</strong>r Fötus Person?<br />

2. Verdienen die zukünftigen Interessen <strong>de</strong>s Fötus Schutz?<br />

3. Gesellschaftliche Interessen am Schutz <strong>de</strong>s Fötus<br />

4. Ab wann beginnt das Lebensrecht?<br />

3. Infantizid – Zum Problem schwergeschädigter Neugeborener<br />

1. Infantizid als Form <strong>de</strong>r Sterbehilfe<br />

2. Die rechtliche Behandlung von Sterbehilfe in Deutschland<br />

3. Zur Legitimation von Sterbehilfe allgemein<br />

4. Passive o<strong>de</strong>r aktive Sterbehilfe?<br />

5. Neugeborene und Sterbehilfe – Das Problem <strong>de</strong>s ‚mutmaßlichen<br />

Willens’<br />

6. Frühgeborene und das Recht auf Leben<br />

7. Sterbehilfe in späteren Lebensabschnitten<br />

4. „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“<br />

1. Das Verbot <strong>de</strong>r Diskriminierung aufgrund einer Behin<strong>de</strong>rung<br />

2. Behin<strong>de</strong>rung und Lebenswert<br />

Glie<strong>de</strong>rung<br />

II<br />

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3. Die Thesen Norbert Hoersters aus Sicht <strong>de</strong>s ‚Interaktionistischen Kon-<br />

struktivismus’<br />

1. Beobachter und Beobachtung aus Sicht <strong>de</strong>s interaktionistischen Kon-<br />

struktivismus<br />

1. Beobachtung: Kränkungsbewegungen <strong>de</strong>r Vernunft und Unschärfen<br />

<strong>de</strong>r Erkenntnis<br />

2. Beziehungswirklichkeit – Lebenswelt: Perspektiven <strong>de</strong>s interaktioni-<br />

stischen Konstruktivismus<br />

3. Diskursmo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus<br />

2. Die Thesen Norbert Hoersters aus verschie<strong>de</strong>nen Beobachterpositionen<br />

1. Recht auf Leben – Selbstbewußtsein und Interessen<br />

2. Abtreibung<br />

3. Sterbehilfe<br />

4. Lebenswert<br />

4. Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo-<br />

<strong>de</strong>rne<br />

1. Ethik, Recht und interaktionistischer Konstruktivismus<br />

2. Das Konstrukt <strong>de</strong>r ‚Menschenwür<strong>de</strong>’<br />

5. „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

Glie<strong>de</strong>rung<br />

III<br />

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83<br />

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6. Literaturverzeichnis<br />

Anhang: Bibliographie Norbert Hoersters<br />

Glie<strong>de</strong>rung<br />

IV<br />

91<br />

98


Vorwort<br />

Vorwort<br />

„Für schön konnte Clara keineswegs gelten; das meinten alle, die sich von Amtswe-<br />

gen auf Schönheit verstehen. Doch lobten die Architekten die reinen Verhältnisse<br />

ihres Wuchses, die Maler fan<strong>de</strong>n Nacken, Schultern und Brust beinahe zu keusch<br />

geformt, verliebten sich dagegen fast sämtlich in das wun<strong>de</strong>rbare Magdalenenhaar<br />

und faselten überhaupt viel von Battonischem Kolorit. <strong>Eine</strong>r von ihnen, ein wirkli-<br />

cher Fantast, verglich aber höchstseltsamer Weise Claras Augen mit einem See von<br />

Ruisdael, in <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>s wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald und Blumenflur,<br />

<strong>de</strong>r reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt. Dichter und Meister<br />

gingen aber weiter und sprachen: ‚Was See – was Spiegel! – Können wir <strong>de</strong>nn das<br />

Mädchen anschauen, <strong>ohne</strong> daß uns aus ihrem Blicke wun<strong>de</strong>rbare himmlische Gesän-<br />

ge und Klänge entgegenstrahlen, die in unser Innerstes dringen, daß alles wach und<br />

rege wird? ...’“<br />

(E.T.A. HOFFMANN, Der Sandmann, 19)<br />

Wer ist also Clara? Wessen Perspektive die Richtige? Wessen die Beste?<br />

Perspektiven – davon wer<strong>de</strong>n viele Thema sein in dieser Arbeit, und zum Schluß sich<br />

doch keine als die Beste erweisen können. Gera<strong>de</strong> die Vielfalt <strong>de</strong>r Perspektiven<br />

macht aber auch die Schönheit Claras aus. Wie gut, daß wir nicht nur eine sehen<br />

können.<br />

V


1. Kapitel: Einleitung<br />

1. Einleitung<br />

„<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – diese Frage ist nicht eine rhetorische Frage.<br />

„<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – so fragt Norbert HOERSTER (1995b, 113) und be-<br />

fürwortet die in dieser Frage anklingen<strong>de</strong>n Gedanken, daß eine „<strong>Welt</strong> bzw. eine Ge-<br />

sellschaft <strong>ohne</strong> Krankheiten und Behin<strong>de</strong>rungen .. ceteris paribus ein größeres Maß<br />

an Lebenswert [beinhaltet] und .. insofern besser [ist] als eine <strong>Welt</strong> bzw. eine Gesell-<br />

schaft mit Krankheiten und Behin<strong>de</strong>rungen“ (ebd., 121). Diese Arbeit will sich kri-<br />

tisch auseinan<strong>de</strong>rsetzen mit solchen und ähnlichen Gedanken HOERSTERs.<br />

„<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – diese Frage wirft nicht HOERSTER auf. Aufgewor-<br />

fen wird diese Frage durch An<strong>de</strong>re. 1 Aufgeworfen wird sie vor allem in medizini-<br />

schen Problembereichen, auch wenn diese ihrerseits wie<strong>de</strong>rum nur Ausdruck gesell-<br />

schaftlicher o<strong>de</strong>r individueller Prozesse sind, in <strong>de</strong>nen es u.a. um das Verständnis<br />

von Behin<strong>de</strong>rung geht. Zwei <strong>de</strong>r medizinisch-ethischen Problembereiche, die hinter<br />

dieser Frage stehen, sollen einleitend problematisiert wer<strong>de</strong>n: zum einen das Problem<br />

<strong>de</strong>s Liegenlassens schwerstgeschädigter Neugeborener als eine Form <strong>de</strong>r Sterbehil-<br />

fe 2 , zum an<strong>de</strong>ren das Problem <strong>de</strong>r Abtreibung behin<strong>de</strong>rter Föten 3 .<br />

Der größere Kontext, in <strong>de</strong>m diese Entwicklungen stehen, kann im Anschluss an die<br />

Beschreibung <strong>de</strong>r relevanten Fragen nicht ausführlich thematisiert wer<strong>de</strong>n, er wird<br />

jedoch zumin<strong>de</strong>st in einigen kurzen Sätzen einführend umrissen.<br />

Im zweiten Teil <strong>de</strong>r Einleitung wer<strong>de</strong> ich dann auf die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik in<br />

diesem Zusammenhang eingehen: einigen begrifflichen Anmerkungen folgt eine<br />

1 Zur Differenzierung von ‚an<strong>de</strong>ren’ und ‚An<strong>de</strong>ren’ vgl. Kapitel 3.1.<br />

2 HOERSTER zieht <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r ‚Sterbehilfe’ <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ‚Euthanasie’ vor, da <strong>de</strong>r „Begriff <strong>de</strong>r Euthanasie<br />

im Sprachgebrauch unserer gegenwärtigen Gesellschaft von seiner ursprünglichen Be<strong>de</strong>utung<br />

(‚schöner Tod’) weitgehend losgelöst und vorwiegend mit <strong>de</strong>n Verbrechen <strong>de</strong>r Nationalsozialisten<br />

assoziiert wird“ (HOERSTER 1998, 13).<br />

3 HOERSTER verwen<strong>de</strong>t in seinen Arbeiten <strong>de</strong>n Begriff ‚Fötus’ durchgängig für die menschliche<br />

Leibesfrucht von <strong>de</strong>r Befruchtung bis zur Geburt (HOERSTER 1995a, 23). Dieser Verwendung<br />

schließe ich mich an.<br />

1


1. Kapitel: Einleitung<br />

Aufzählung <strong>de</strong>r im Anschluß an die Singer-Affäre En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 80er Jahre entstan<strong>de</strong>nen<br />

4 ethischen Ansätze in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik.<br />

Vor diesem Hintergrund wer<strong>de</strong> ich die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Arbeit als Ganzes darstel-<br />

len: die Relevanz <strong>de</strong>r einzelnen Kapitel wird damit <strong>de</strong>utlicher.<br />

1. Abtreibung, Liegenlassen und ‚Euthanasie’ – Die Bedrohung behin<strong>de</strong>rter Men-<br />

schen durch Medizin und Ethik<br />

Abtreibungen aus ‚kindlicher Indikation’, also aufgrund einer diagnostizierten, „nicht<br />

behebbaren Schädigung“ (ANTOR & BLEIDICK 1995, 220) <strong>de</strong>s ungeborenen Kin-<br />

<strong>de</strong>s, sind seit 1995, seit <strong>de</strong>r Reform <strong>de</strong>s §218 StGB, nicht mehr erlaubt (ANTOR &<br />

BLEIDICK 2000, 20-21). Die Neuregelung <strong>de</strong>r Abtreibung hat <strong>de</strong>nnoch nicht dazu<br />

geführt, daß Abtreibungen aufgrund einer Schädigung o<strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Fötus<br />

unterbleiben. Im gelten<strong>de</strong>n Gesetz fallen solche Abtreibungen vielmehr unter die<br />

sog. ‚medizinische Indikation’ (§218a Abs. 2 StGB): Die Rechtswidrigkeit eines<br />

Schwangerschaftsabbruchs ist ausgeschlossen, „wenn <strong>de</strong>r Schwangerschaftsabbruch<br />

unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse not-<br />

wendig ist, um Lebensgefahr o<strong>de</strong>r die Gefahr einer schwerwiegen<strong>de</strong>n Beeinträchti-<br />

gung <strong>de</strong>s körperlichen o<strong>de</strong>r seelischen Gesundheitszustan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r schwangeren Frau<br />

abzuwen<strong>de</strong>n“ (zit. nach ANTOR & BLEIDICK 2000, 21). Die medizinische Indika-<br />

tion erlaubt eine Abtreibung <strong>ohne</strong> zeitliche Begrenzung.<br />

Im Zusammenhang mit sich ständig erweitern<strong>de</strong>n diagnostischen, aber nicht thera-<br />

peutischen Möglichkeiten <strong>de</strong>r pränatalen Medizin entsteht folgen<strong>de</strong> ethische Proble-<br />

matik: „Dem vermeintlichen pränatalen Erkennen einer möglichen Behin<strong>de</strong>rung<br />

[folgt] nahezu zwangsläufig ihre Verhin<strong>de</strong>rung durch Abtreibung“ (SCHUMANN<br />

4 Damit soll nicht ausgedrückt sein, daß vor <strong>de</strong>r SINGER-Affäre Ethik in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik<br />

keine Rolle spielte. Vielmehr ist „eine Erziehungstheorie .. <strong>ohne</strong> einen Bezug auf das <strong>de</strong>m Erziehungsziel<br />

zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> Wertsystem (Normativität) nicht möglich“ (SPECK 1998, 87).<br />

Dennoch kann man mit DEDERICH feststellen, daß mit <strong>de</strong>m Beginn <strong>de</strong>r SINGER-Affäre die „behin<strong>de</strong>rtenpädagogische<br />

Fachwelt .. sich plötzlich mit <strong>de</strong>r Tatsache konfrontiert [sah], daß es eine internationale<br />

Diskussion um medizinethische Probleme gibt, die auch für das eigene Fach von Be<strong>de</strong>utung<br />

ist“ (2000, 7). (Vergleiche zu diesem Zusammenhang unter vielen an<strong>de</strong>ren auch JAKOBS 1997, 23-<br />

28; THEUNISSEN 1997, 9-12.)<br />

2


1. Kapitel: Einleitung<br />

2000, 314). SPECK legt nahe: „Das <strong>de</strong>utsche Recht stellt zwar auf die mit <strong>de</strong>r Schä-<br />

digung verbun<strong>de</strong>ne ‚außergewöhnliche Belastung’ <strong>de</strong>r Mutter ab, bestätigt aber im-<br />

plizit und <strong>de</strong> facto die Gültigkeit <strong>de</strong>s Kriteriums einer ‚Lebensunwertigkeit’ geistig<br />

behin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r“ (SPECK 1997, 80).<br />

Liegenlassen bzw. ‚Früheuthanasie’ sind Phänomene, die in <strong>de</strong>n letzten Jahren<br />

verstärkt in das Bewusstsein <strong>de</strong>r Öffentlichkeit drangen. Beim ‚Liegenlassen’ han<strong>de</strong>lt<br />

es sich um eine Praxis, „wonach man Neugeborene mit schwerwiegen<strong>de</strong>n organi-<br />

schen Schädigungen ‚sterben lässt’“ (SPECK 1997,81), in<strong>de</strong>m man notwendige me-<br />

dizinische Behandlungsmaßnahmen unterlässt. „Selektive Nichtbehandlung gehört<br />

zum Alltag <strong>de</strong>utscher Klinken“ (DEDERICH 2000, 299) 5 , obgleich dieses Problem<br />

rechtlich keineswegs ein<strong>de</strong>utig geklärt ist (SPECK 1997, 81). Auch ethisch ist diese<br />

Praxis stark in Frage zu stellen; zumin<strong>de</strong>st ist diese Problematik unter ethischen Ge-<br />

sichtspunkten zu reflektieren. Ethische Positionen, die Früheuthanasie legitimieren,<br />

liegen zwar vor, diese sind jedoch sehr umstritten (vgl. Einbecker Empfehlungen<br />

1992, in: ANTOR & BLEIDICK 2000, 156-158; HOERSTER 1995b, 49-100; zur<br />

Kritik an diesen Entwürfen u.a. ANTOR & BLEIDICK 1995, 242-251; DEDERICH<br />

2000, 288-307; KREBS 1991, 426-430; SPECK 1997, 81-86).<br />

Die Problematik <strong>de</strong>r ‚Früheuthanasie’ verweist auf die allgemeine Fragestellung,<br />

ob und wie Sterbehilfe erlaubt ist bzw. erlaubt sein sollte. Auch diese Frage wird zur<br />

Zeit stark und kontrovers diskutiert und hat, wie die Ausführungen zu Norbert<br />

HOERSTER zeigen wer<strong>de</strong>n, konkrete Be<strong>de</strong>utung für die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik.<br />

Wie lassen sich die hier skizzierten Problembereiche in einem größeren Kontext ver-<br />

stehen?<br />

Ich möchte an dieser Stelle die Perspektive DEDERICHs in seiner Analyse <strong>de</strong>s<br />

Zusammenhanges von Medizin, Lei<strong>de</strong>n und Sterblichkeit seit <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

zusammenfassen (2000, 57-72). Charakteristisch in diesem Zeitraum ist das Motiv<br />

<strong>de</strong>r ‚Verdrängung’: <strong>de</strong>r Mensch begegnet seiner Sterblichkeit, also <strong>de</strong>m Phänomen<br />

seines unausweichlichen To<strong>de</strong>s, mit Verdrängung. Dies äußert sich in <strong>de</strong>r zuneh-<br />

men<strong>de</strong>n Bekämpfung und Beherrschung von Krankheiten und To<strong>de</strong>sursachen mittels<br />

5 HOERSTER geht nach <strong>de</strong>r Berichterstattung zu einem Gerichtsverfahren in München 1982 von<br />

jährlich 1200 Fällen von ‚Früheuthanasie’ aus (HOERSTER 1995b, 7).<br />

3


1. Kapitel: Einleitung<br />

<strong>de</strong>r Vernunft, <strong>de</strong>r Wissenschaft, also hier vornehmlich <strong>de</strong>r Medizin. BAUMANN<br />

stellt dies so dar: „So feiert die Sache <strong>de</strong>r instrumentellen Vernunft immer neue tri-<br />

umphale Siege – und im Trubel <strong>de</strong>r Feste geht die Nachricht, daß <strong>de</strong>r Krieg verloren<br />

ist, unter“ (zit. nach DEDERICH 2000, 62).<br />

In diesem Prozeß jedoch wird die Perspektive verengt: „Die Frage nach <strong>de</strong>m Sinn<br />

o<strong>de</strong>r Unsinn <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s ... wird so auf ein (scheinbar) praktikables<br />

Maß zurückgestutzt: auf das Überleben. Die eigentliche metaphysische Frage wird<br />

auf ein zweckrationales, technologisches Problem reduziert“ (DEDERICH 2000, 64).<br />

Behin<strong>de</strong>rung, nach KOBI schon immer assoziiert mit „Zerfall, Auflösung und<br />

Tod“ (zit. nach DEDERICH 2000, 66), wird analogisiert mit Lei<strong>de</strong>n. Damit wird<br />

Behin<strong>de</strong>rung zu einem Übel, das es ebenso wie das <strong>de</strong>r Krankheit zu bekämpfen gilt<br />

(DEDERICH 2000, 68-70).<br />

Neben <strong>de</strong>m Moment <strong>de</strong>r ‚Verdrängung’ wird im Kontext mit Behin<strong>de</strong>rung auch<br />

das Moment <strong>de</strong>r ‚Ausgrenzung’ wirksam: Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung genügten oft<br />

nicht <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alvorstellungen vom Menschen, die seit <strong>de</strong>r Aufklärung sich in Begriffe<br />

klei<strong>de</strong>n wie „Ich-Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“<br />

(ebd., 68). Damit fielen eben diese Menschen heraus aus <strong>de</strong>n pädagogischen Bemü-<br />

hungen, sie wur<strong>de</strong>n ausgeson<strong>de</strong>rt (ebd., 69).<br />

Behin<strong>de</strong>rungen wer<strong>de</strong>n durch diese bei<strong>de</strong>n Momente <strong>de</strong>r Verdrängung bzw. Be-<br />

kämpfung von Lei<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Ausgrenzung zu „‚Minusvarianten’ <strong>de</strong>s Menschli-<br />

chen“ (ebd., 70), sie sind „per se wertmin<strong>de</strong>rnd in bezug auf menschliches Leben“<br />

(KOBI, zit. nach DEDERICH 2000, 69).<br />

Die Konsequenzen <strong>de</strong>s geschil<strong>de</strong>rten Prozesses für Entwicklungen und Bemü-<br />

hungen <strong>de</strong>r heutigen Medizin sind unübersehbar. Damit wird <strong>de</strong>utlich, in welchen<br />

Kontexten o.g. medizinisch – ethische Fragestellungen stehen.<br />

4


1. Kapitel: Einleitung<br />

2. <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik im Kontext dieser Entwicklungen<br />

Bevor ich auf die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik im Kontext dieser Entwicklungen eingehe,<br />

möchte ich einige klären<strong>de</strong> Anmerkungen zu <strong>de</strong>m von mir gewählten Begriff <strong>de</strong>r<br />

‚<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik’ machen:<br />

Der Begriff ‚<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik’ steht im <strong>de</strong>utschen Sprachraum neben <strong>de</strong>n Beg-<br />

riffen ‚Heilpädagogik’, ‚Son<strong>de</strong>rpädagogik’, ‚Integrationspädagogik’ und ‚Rehabilita-<br />

tionspädagogik’. Strittig ist, welcher dieser Begriffe <strong>de</strong>r richtige, bessere, passen<strong>de</strong>re<br />

ist. So befürwortet SPECK <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Heilpädagogik (1998, 59-66), EBER-<br />

WEIN argumentiert für <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Integrationspädagogik (EBERWEIN 1999,<br />

55), usw. Thema dieser Arbeit ist nicht diese Diskussion, obgleich sie wegen <strong>de</strong>r<br />

impliziten Wertungen und Annahmen dieser Begriffe von Be<strong>de</strong>utung und damit auch<br />

zu führen ist. Ich möchte mich DEDERICH in <strong>de</strong>ssen Begriffswahl anschließen: „Ich<br />

verwen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Begriff ‚<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik’ als Sammelbezeichnung für alle die-<br />

jenigen Disziplinen und Fachrichtungen, die sich mit <strong>de</strong>m komplexen Phänomen<br />

‚Behin<strong>de</strong>rung’ und <strong>de</strong>r Rehabilitation, För<strong>de</strong>rung, Erziehung und Bildung von Men-<br />

schen mit Behin<strong>de</strong>rungen befassen. Insofern ist hier mit <strong>de</strong>m Begriff keine wissen-<br />

schaftstheoretische Auffassung konnotiert“ (2000, 7, Fn. 1).<br />

Dabei verstehe ich unter ‚Behin<strong>de</strong>rung’ mit SPECK ein komplexes Phänomen,<br />

welches durch einen ‚attributiven’ Auslöser in Interaktion von Auslöser, Selbst und<br />

sozialer Umwelt entsteht. Mit ‚attributiv’ ist dabei gemeint, daß Behin<strong>de</strong>rung in die-<br />

sem Sinne also nur dann entstehen kann, wenn <strong>de</strong>r Auslöser, also etwa eine organi-<br />

sche Schädigung o<strong>de</strong>r eine Intelligenzschwäche, von <strong>de</strong>r sozialen Umwelt wahrge-<br />

nommen und <strong>de</strong>m Subjekt zugeschrieben wird. In diesem Kontext wirkt die Behin<strong>de</strong>-<br />

rung dann auf vielfältige Weise in Interaktionen zwischen <strong>de</strong>m Menschen mit einer<br />

sog. Behin<strong>de</strong>rung und sozialer Umwelt im wesentlichen in <strong>de</strong>r Dimension von Ak-<br />

zeptanz und Nicht-Akzeptanz; sie wirkt aber auch zurück auf das ‚Selbst’, welchem<br />

die Behin<strong>de</strong>rung zugeschrieben wird. Behin<strong>de</strong>rung erweist sich damit als soziale<br />

Kategorie (1998, 247-252). Wenn auch SPECK vom Leitbegriff <strong>de</strong>r ‚Behin<strong>de</strong>rung’<br />

abrücken und für <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r Pädagogik <strong>de</strong>n Begriff ‚spezielle Erziehungserfor-<br />

<strong>de</strong>rnisse’ in <strong>de</strong>n Mittelpunkt stellen möchte (ebd., 268-276), so bleibt in dieser Arbeit<br />

5


1. Kapitel: Einleitung<br />

<strong>de</strong>r Begriff ‚Behin<strong>de</strong>rung’ zentral. Denn es ist im Kontext <strong>de</strong>r oben und im weiteren<br />

beschriebenen ethischen Probleme <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung oftmals das auslö-<br />

sen<strong>de</strong> Moment. Bei <strong>de</strong>r Frage, ob ein Fötus wegen seiner Behin<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Schädi-<br />

gung abgetrieben wer<strong>de</strong>n darf, ob ein schwerstgeschädigtes Neugeborenes getötet<br />

wer<strong>de</strong>n darf, ist es gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Dimension <strong>de</strong>r Zuschreibung von Lei<strong>de</strong>n und ‚ver-<br />

min<strong>de</strong>rtem Lebenswert’ <strong>de</strong>r Begriff ‚Behin<strong>de</strong>rung’, <strong>de</strong>r eben die Fragestellung ent-<br />

stehen läßt.<br />

Wie steht nun die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik zu <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Akzeptanz und An-<br />

wendung pränataler Diagnostik bzw. <strong>de</strong>s Liegenlassens in Medizin und Gesellschaft?<br />

Die Bemühungen, Behin<strong>de</strong>rung als Leid zu bekämpfen, sind bereits lange Zeit<br />

erkennbar und wirksam. Dennoch war die sich nach <strong>de</strong>m 2. <strong>Welt</strong>krieg in Deutsch-<br />

land neu konstituieren<strong>de</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik nur am Ran<strong>de</strong> gezwungen, sich mit<br />

solchen medizinischen und ethischen Fragestellungen auseinan<strong>de</strong>r zusetzen. Wäh-<br />

rend im Ausland Fragen nach <strong>de</strong>m Lebensrecht von (nicht nur) schwerbehin<strong>de</strong>rten<br />

Menschen offen diskutiert wur<strong>de</strong>n, waren ähnliche Fragen in Deutschland tabu (DE-<br />

DERICH 2000, 7-28).<br />

Die Diskussion um das Lebensrecht behin<strong>de</strong>rter Menschen wur<strong>de</strong> in Deutschland<br />

1989 einer breiten Öffentlichkeit bekannt – Auslöser war die sog. ‚SINGER-Affäre’,<br />

<strong>de</strong>ren Verlauf an an<strong>de</strong>rer Stelle dargestellt ist (vgl. ANSTÖTZ 1990; ANSTÖTZ,<br />

HEGSELMANN, KLIEMT 1995; BASTIAN 1990; DEDERICH 2000, 7-13; HEG-<br />

SELMANN & MERKEL 1991; SINGER 1994, 425-451).<br />

Konsequenz <strong>de</strong>r SINGER-Affäre war die verstärkte Auseinan<strong>de</strong>rsetzung von Sei-<br />

ten <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik mit ethischen Fragestellungen. Herausgefor<strong>de</strong>rt durch<br />

die Infragestellung <strong>de</strong>s Lebensrechtes <strong>de</strong>rjenigen Menschen, für die sich die Behin-<br />

<strong>de</strong>rtenpädagogik engagiert, begann man verstärkt darüber zu reflektieren, was eigent-<br />

lich das Mensch-Sein im Kontext von Behin<strong>de</strong>rung ausmacht. Dabei sind verschie-<br />

<strong>de</strong>ne Ansätze danach zu unterschei<strong>de</strong>n, auf welcher Basis argumentiert wird.<br />

JAKOBS differenziert folgen<strong>de</strong> Ansätze:<br />

1. Integrativ orientierte Richtungen bzw. ein integral-basaler Ansatz: Heil-<br />

pädagogik soll durch eine Zusammenfassung <strong>de</strong>r Aussagen verschie<strong>de</strong>-<br />

ner Einzelwissenschaften zu Erziehung und zum Menschen fundiert<br />

6


1. Kapitel: Einleitung<br />

wer<strong>de</strong>n. Autoren sind u.a. SPECK und BLEIDICK (JAKOBS 1997, 24-<br />

25).<br />

2. Anthropologische Implikationen: Heilpädagogik impliziert an sich anth-<br />

ropologische Sachverhalte o<strong>de</strong>r interpretiert ihrerseits anthropologische<br />

Mo<strong>de</strong>lle. Gegenwärtig sind u.a. die Autoren BACH, SPECK, HAE-<br />

BERLIN und THEUNISSEN zu nennen (JAKOBS 1997, 26).<br />

3. Philosophisch orientierte Richtungen bzw. philosophisch-<br />

anthropologischer Ansatz: Pädagogik wird durch die philosophische<br />

Anthropologie begrün<strong>de</strong>t, wirkt jedoch auch zurück bzw. bereichert ih-<br />

rerseits die Anthropologie (ebd., 25).<br />

Unter <strong>de</strong>n philosophisch orientierten Richtungen kann dann erneut differenziert<br />

wer<strong>de</strong>n zwischen phänomenologischem Ansatz (PFEFFER, DREHER, FORNE-<br />

FELD, STINKES, KLEINBACH), dialektisch-reflexivem Ansatz (LÖWISCH,<br />

MÜHL, BACH, SPECK) und dialogischem Ansatz (FEUSER, JANTZEN,<br />

HAEBERLIN, SPECK, THEUNISSEN) (s. JAKOBS 1997, 25-26).<br />

Deutlich wird an <strong>de</strong>n Autoren dieser Aufstellung, die zumeist vor <strong>de</strong>r SINGER-<br />

Affäre zu publizieren begonnen haben, daß tatsächlich ethische Positionen schon<br />

immer – zumin<strong>de</strong>st implizit – in <strong>de</strong>n Theorien <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik enthalten<br />

waren. Dennoch markiert die SINGER-Affäre <strong>de</strong>n Beginn einer verstärkten Ausei-<br />

nan<strong>de</strong>rsetzung <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik mit ethisch-medizinischen Fragestellun-<br />

gen.<br />

3. Zum Aufbau <strong>de</strong>r Arbeit<br />

Damit ist nun <strong>de</strong>r Kontext umrissen, mit <strong>de</strong>m sich diese Arbeit beschäftigen wird.<br />

Jedoch fragten ANTOR & BLEIDICK bereits 1995 angesichts <strong>de</strong>r „kaum über-<br />

schaubare[n], verstreute[n] Flut von Publikationen. Warum also nochmals ein Buch<br />

zur Ethik <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik?“ (9)<br />

Ich möchte diese Frage für meine Arbeit aufgreifen und beantworten. Warum<br />

diese Arbeit? Norbert HOERSTER publiziert seit vielen Jahren in Deutschland. 1995<br />

7


1. Kapitel: Einleitung<br />

erschien sein Buch: „Neugeborene und das Recht auf Leben“. In diesem Buch wer-<br />

<strong>de</strong>n Thesen argumentativ vertreten, die, auch wenn sie scheinbar weniger radikal<br />

sind, ebenso wie die Thesen SINGERs <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik<br />

herausfor<strong>de</strong>rn. HOERSTERs Thesen sind aufgegriffen wor<strong>de</strong>n, u.a. von ANTOR &<br />

BLEIDICK (2000), DEDERICH (2000) und THEUNISSEN (1997). Von <strong>de</strong>n o.g.<br />

Autoren wur<strong>de</strong> zu HOERSTER kritisch Stellung genommen. Diese Kritik möchte ich<br />

mit dieser Arbeit um einige Aspekte erweitern bzw. ergänzen.<br />

Grundlage meiner Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit HOERSTER ist <strong>de</strong>r Ansatz <strong>de</strong>s ‚In-<br />

teraktionistischen Konstruktivismus’. Der Ansatz <strong>de</strong>s ‚Interaktionistischen Konstruk-<br />

tivismus’ präsentiert sich als ein postmo<strong>de</strong>rner Ansatz. Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n o.g. ethischen<br />

Fragestellungen verunsichert er an<strong>de</strong>re Ansätze wie <strong>de</strong>n von HOERSTER, aber auch<br />

ethische Ansätze wie z.B. Tugen<strong>de</strong>thiken, etc., durch die erkenntniskritischen Per-<br />

spektiven, die er vertritt. Er ist in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik als Diskursgemeinschaft<br />

bislang nur in Ansätzen (v.a. im Bereich <strong>de</strong>r Unterrichtsforschung) wahrgenommen<br />

wor<strong>de</strong>n. Die Perspektiven und Kategorien, die dieser Ansatz anbietet, sollen in dieser<br />

Arbeit aus behin<strong>de</strong>rtenpädagogischer Perspektive auf die Thesen HOERSTERs ge-<br />

richtet wer<strong>de</strong>n. Diesen Ansatz wähle ich mit REICH in Abgrenzung von einem radi-<br />

kal-konstruktivistischen Ansatz: es erscheint fraglich, ob <strong>de</strong>r radikale Konstruktivis-<br />

mus die nötigen Perspektiven anbietet (vgl. hierzu REICH 1998a, 24-25, 33-34, 159-<br />

187; OTT 1995).<br />

Nach<strong>de</strong>m nun bereits ein umfassen<strong>de</strong>r Kontext <strong>de</strong>r Arbeit dargestellt ist, möchte ich<br />

kurz vorstellen, wie die Arbeit im Weiteren aufgebaut ist.<br />

Im zweiten Kapitel wer<strong>de</strong> ich die Thesen und Argumentationen Norbert<br />

HOERSTERs, die für eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung von Seiten <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädago-<br />

gik von Interesse sind, darstellen. Dabei greife ich v.a. auf drei ausführliche Werke<br />

HOERSTERs zurück (1995a, 1995b, 1998). Die vielen von ihm publizierten Zeit-<br />

schriftenartikel ziehe ich an <strong>de</strong>n Stellen heran, an <strong>de</strong>nen sie gleiche o<strong>de</strong>r ähnliche<br />

Thesen prägnanter ausdrücken, sowie dort, wo sie zusätzliche Aspekte beinhalten.<br />

Um einen Überblick zu ermöglichen, liste ich im Anhang in einer Biographie alle<br />

mir bekannten Publikationen HOERSTERs auf.<br />

8


1. Kapitel: Einleitung<br />

Im dritten Kapitel wer<strong>de</strong> ich die Thesen HOERSTERs von einem übergeordneten<br />

Standpunkt aus in <strong>de</strong>n Blick nehmen. Dazu bediene ich mich <strong>de</strong>s Ansatzes von Kers-<br />

ten REICH. Ich wer<strong>de</strong> versuchen, zu zeigen, an welchen Stellen Perspektiven <strong>de</strong>s<br />

interaktionistischen Konstruktivismus die Thesen HOERSTERs wi<strong>de</strong>rlegen o<strong>de</strong>r<br />

zumin<strong>de</strong>st in Frage zu stellen vermögen.<br />

Das vierte Kapitel öffnet dann das Blickfeld: welche Konsequenzen hat eine Po-<br />

sition wie die von REICH für ethische Positionen, aber auch für Fragen <strong>de</strong>s Rechts?<br />

Wie kann postmo<strong>de</strong>rne Pluralität zu Konsens führen – und unter welchen Einschrän-<br />

kungen? Der Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> soll im zweiten Abschnitt dieses Kapitels<br />

als Konstrukt betrachtet wer<strong>de</strong>n, daß in meinen Augen auch aktuell noch Relevanz<br />

besitzt – allerdings auf an<strong>de</strong>re Weise als oft gebraucht.<br />

Im fünften Kapitel möchte ich abschließend die Frage HOERSTERS „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong><br />

<strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ erneut aufgreifen und vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r bis dahin darge-<br />

stellten und verknüpften Positionen und Perspektiven als offene, aber von <strong>de</strong>r Behin-<br />

<strong>de</strong>rtenpädagogik immer wie<strong>de</strong>r zu be<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Frage in ihren Implikationen zurück-<br />

weisen. Einige kurze Anmerkungen sollen notwendiges Engagement einer Behin<strong>de</strong>r-<br />

tenpädagogik beleuchten.<br />

Die von mir verwen<strong>de</strong>te Literatur ist im sechsten Kapitel aufgeführt.<br />

Im Überblick über die Kapitel wird an dieser Stelle bereits <strong>de</strong>utlich, was eine<br />

Schwierigkeit dieser Arbeit ausmacht: <strong>de</strong>r Fokus ist sehr weit gespannt – Recht, E-<br />

thik, Behin<strong>de</strong>rung, Postmo<strong>de</strong>rne. Die Folge dieser breiten Betrachtung ist im Grun<strong>de</strong><br />

eine unendliche Vergrößerung <strong>de</strong>r Komplexität. Nimmt man dazu noch die Perspek-<br />

tiven, die REICH eröffnet, so erscheint das Vorhaben unmöglich.<br />

Dennoch unternehme ich mit dieser Arbeit <strong>de</strong>n Versuch, dies zu bewältigen. Die-<br />

se Arbeit kann als Anstoß verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, sich diesen Kontexten immer wie<strong>de</strong>r,<br />

mehrperspektivisch zu nähern.<br />

9


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Dieses Kapitel unterteilt sich in vier Abschnitte:<br />

Im ersten Abschnitt geht es um das grundlegen<strong>de</strong> Verständnis von Recht bei<br />

HOERSTER. Die Frage nach <strong>de</strong>m Zustan<strong>de</strong>kommen und <strong>de</strong>r Legitimation von Recht<br />

ist im hier behan<strong>de</strong>lten Kontext v.a. in ihrem Bezug zur Frage nach <strong>de</strong>m Recht auf<br />

Leben von Be<strong>de</strong>utung. HOERSTERs Konzeption von Recht ist entschei<strong>de</strong>nd für ein<br />

Verständnis seiner im Anschluß daran entwickelten Thesen zu (rechts-)ethischen<br />

Fragestellungen.<br />

Im zweiten und dritten Abschnitt stelle ich HOERSTERs Thesen in Bezug auf<br />

Abtreibung und Infantizid bzw. Sterbehilfe dar.<br />

Der vierte Abschnitt befaßt sich mit <strong>de</strong>m Zusammenhang von Behin<strong>de</strong>rung und<br />

Lebenswert, <strong>de</strong>n HOERSTER in <strong>de</strong>r Frage: „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ themati-<br />

siert.<br />

1. Menschen - Recht auf Leben?<br />

Ethische Aussagen über Abtreibung, Infantizid o<strong>de</strong>r Sterbehilfe berühren auf grund-<br />

sätzlicher Ebene die Frage nach <strong>de</strong>m Menschenrecht auf Leben bzw. <strong>de</strong>m damit kor-<br />

respondieren<strong>de</strong>n Tötungsverbot.<br />

Im Normalfall ist das Menschenrecht auf Leben unbestritten. Gera<strong>de</strong> aber in <strong>de</strong>n<br />

o.g. Son<strong>de</strong>rfällen ist dies offensichtlich nicht <strong>de</strong>r Fall. Um in diesen strittigen Fragen<br />

zu einer Klärung zu kommen, diskutiert HOERSTER zunächst auf prinzipieller Ebe-<br />

ne, wie ein ‚Recht auf Leben’ zu begrün<strong>de</strong>n ist.<br />

1.1 Begründungsmuster für ein Tötungsverbot<br />

HOERSTER nennt u.a. in seinem Werk „Abtreibung im säkularen Staat“ drei Argu-<br />

mentationsmuster, die ein Recht auf Leben bzw. ein Tötungsverbot legitimieren sol-<br />

len (1995a, 14-22). Diese „Grundlagenprobleme <strong>de</strong>r Rechtsphilosophie“ sind „glei-<br />

10


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

chermaßen zentral für eine philosophische Grundlegung <strong>de</strong>r Ethik“ (HOERSTER<br />

1969, 11). Auf die Verbindung zwischen Ethik und Recht wird später, im 4. Kapitel,<br />

zurückzukommen sein.<br />

1. Überpositive Norm 6<br />

Es wäre <strong>de</strong>nkbar, daß eine „überpositive, absolut gelten<strong>de</strong> Norm“ existiert, die „sich<br />

mit <strong>de</strong>r Vernunft erkennen läßt“ und nach <strong>de</strong>r „<strong>de</strong>m Menschen kein Verfügungsrecht<br />

über menschliches Leben zusteht“ (HOERSTER 1995a, 14). <strong>Eine</strong> solche Normen-<br />

ordnung wird etwa in <strong>de</strong>n Natur- o<strong>de</strong>r Vernunftrechtslehren vertreten (HOERSTER<br />

1995b, 11).<br />

Hier stellen sich für HOERSTER jedoch sofort schwerwiegen<strong>de</strong> erkenntnistheo-<br />

retische Probleme: „Die Annahme objektiver, vom werten<strong>de</strong>n Subjekt unabhängiger<br />

und ihm durch einen Akt <strong>de</strong>r Erkenntnis zugänglicher Werte und Normen ist in ei-<br />

nem rational-wissenschaftlichen <strong>Welt</strong>bild schwer unterzubringen“ (HOERSTER<br />

1982a, 267).<br />

Auch die Rückbindung einer solchen moralischen Norm an <strong>de</strong>n Willen einer<br />

göttlichen Person kann nach HOERSTER kein „ausreichen<strong>de</strong>r Grund für die Ingel-<br />

tungsetzung eines Tötungsverbotes in <strong>de</strong>r weltlichen Moral- und Rechtsordnung“<br />

sein, da die Existenz einer solchen göttlichen Person nicht auf rational-<br />

philosophischem Weg bewiesen wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r „Heranziehung spezifisch<br />

religiöser Glaubensannahmen“ bedarf (HOERSTER 1995a, 15).<br />

Durch eine überpositive Norm läßt sich für HOERSTER nicht stichhaltig und<br />

sinnvoll ein Recht auf Leben begrün<strong>de</strong>n.<br />

2. Schutz <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

Neben <strong>de</strong>m o.g. Argumentationsmuster trifft man, so HOERSTER, auch auf dieses<br />

Begründungsmo<strong>de</strong>ll: „<strong>Eine</strong> Gesellschaft, die sich nicht selbst aufgeben wolle, müsse<br />

es ihren Mitglie<strong>de</strong>rn untersagen, sich gegenseitig zu töten“ (ebd., 16).<br />

6 Der Begriff ‚überpositiv’ wird <strong>de</strong>utlich am Begriff ‚Positivismus’: „Der Positivismus ... hält ... nur<br />

solche Sätze für ‚sinnvoll’ (darunter versteht man die Eignung von Sätzen, sich als wahr o<strong>de</strong>r falsch<br />

zu erweisen), die empirisch verifizierbar sind; also nur solche Sätze ..., <strong>de</strong>ren Gehalt sinnlich<br />

wahrnehmbar ist“ (WIELAND 1996, 20).<br />

11


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Jedoch genügt HOERSTER diese Begründung nicht (ebd., 17): Warum, so fragt<br />

er, solle <strong>de</strong>nn die Gesellschaft in ihrem Bestand geschützt wer<strong>de</strong>n?<br />

Entwe<strong>de</strong>r rekurriert dieses Ziel erneut auf eine überpositive Norm, dann treffen<br />

jedoch alle o.g. Argumente gegen die Begründung eines Tötungsverbotes aufgrund<br />

einer solchen Norm auch hier wie<strong>de</strong>r zu. O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bestand <strong>de</strong>r Gesellschaft liegt im<br />

Interesse <strong>de</strong>r Gesellschaft selbst. Ein solches Interesse könnte dann als Grund für ein<br />

allgemeines Tötungsverbot gelten (ebd.).<br />

HOERSTER geht jedoch davon aus, daß nur leben<strong>de</strong> Wesen über Interessen ver-<br />

fügen können. Interesse einer Gesellschaft könnte also in diesem Sinne nur das sein,<br />

was die weitestgehend übereinstimmen<strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r dieser Gesell-<br />

schaft wären (ebd.).<br />

Aber selbst wenn alle Mitglie<strong>de</strong>r einer Gesellschaft nun ein Interesse am Bestand<br />

dieser hätten, reicht dies zur Begründung eines Tötungsverbotes nicht aus. Denn <strong>de</strong>r<br />

Bestand einer Gesellschaft wür<strong>de</strong> wohl z.B. selbst dann nicht gefähr<strong>de</strong>t, wenn je<strong>de</strong>s<br />

zweite Mitglied dieser Gesellschaft getötet wür<strong>de</strong> (ebd., 18-19).<br />

Ein generelles Tötungsverbot läßt sich also für HOERSTER auch durch ein Inte-<br />

resse am Bestand <strong>de</strong>r Gesellschaft nicht begrün<strong>de</strong>n. Dennoch <strong>de</strong>utete sich bereits<br />

eine weitere mögliche Begründung an, nämlich die durch die Interessen <strong>de</strong>r Indivi-<br />

duen einer Gesellschaft.<br />

3. Tötungsverbot zum Schutz individueller Interessen<br />

Diese subjektivistische Moral- und Rechtsbegründung 7 HOERSTERs beruft sich für<br />

die Ingeltungsetzung eines allgemeinen Tötungsverbotes auf individuelle Interessen:<br />

„Das menschliche Individuum hat im Normalfall ein starkes Interesse am Überleben“<br />

(ebd., 20).<br />

Zwar besteht dieses Interesse vornehmlich am eigenen Leben und an <strong>de</strong>m nahe-<br />

stehen<strong>de</strong>r Menschen, jedoch läßt sich über das Interesse am eigenen Leben ein all-<br />

gemeines Tötungsverbot begrün<strong>de</strong>n: Falls zutrifft, und davon geht HOERSTER aus,<br />

daß je<strong>de</strong>r ein größeres Interesse am eigenen Überleben als am gelegentlichen Töten<br />

hat und je<strong>de</strong>r sein Überlebensinteresse nur dadurch sichern kann, daß er auf sein ihm<br />

geringerwertiges Tötungsinteresse verzichtet, ist damit ein Tötungsverbot bzw. ein<br />

7 Der Begriff ‚subjektivistisch’ steht im Gegensatz zu <strong>de</strong>n o.g. ‚objektivistischen’ Begründungsmo<strong>de</strong>llen,<br />

also <strong>de</strong>m Rückgriff auf objektiv erkennbare Normen.<br />

12


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

individuelles Recht auf Leben zumin<strong>de</strong>st intersubjektiv begrün<strong>de</strong>t (HOERSTER<br />

1983, 228-230).<br />

(Die Problematik <strong>de</strong>r Verbindlichkeit einer solchen subjektivistisch begrün<strong>de</strong>ten<br />

Norm kann an dieser Stelle nicht erschöpfend dargestellt wer<strong>de</strong>n. Vergleiche hierzu<br />

HOERSTERs Kontroverse mit JOERDEN: HOERSTER 1982a, 1982b und JOER-<br />

DEN 1982 sowie HOERSTER 1983.)<br />

1.2 Menschenrecht auf Leben – Recht für je<strong>de</strong>n Menschen?<br />

Mit <strong>de</strong>r oben getroffenen Annahme, daß je<strong>de</strong>r einzelne Mensch seinem Leben einen<br />

Wert zumißt, ist das Recht <strong>de</strong>s Menschen auf Leben „kein <strong>de</strong>m Menschengeschlecht<br />

absolut vorgegebener Wert, son<strong>de</strong>rn eine im Interesse menschlicher Individuen exis-<br />

tieren<strong>de</strong> soziale Einrichtung“ (HOERSTER 1995a, 21). Das Recht auf Leben dient<br />

„einem Eigeninteresse, und zwar einem gewichtigen und anhalten<strong>de</strong>n Eigeninteresse<br />

<strong>de</strong>rjenigen ..., <strong>de</strong>ren Tötung verboten ist“ (ebd.).<br />

Damit ist das Menschenrecht auf Leben nicht aus <strong>de</strong>r Tatsache begrün<strong>de</strong>t, daß<br />

<strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>s Rechtes ein menschliches Wesen ist. Dieses als ‚Speziesismus’ kriti-<br />

sierte weitverbreitete Annahme weist HOERSTER zurück: „Die bloße Eigenschaft,<br />

<strong>de</strong>r menschlichen Spezies anzugehören – die Zugehörigkeit zur menschlichen Spe-<br />

zies als solche -, ist kein ausreichen<strong>de</strong>r Grund“ (ebd., 63) für die Einräumung eines<br />

Lebensrechtes. 8<br />

Daß <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n meisten menschlichen Wesen dieses Recht zukommt, ist in an-<br />

<strong>de</strong>ren Eigenschaften begrün<strong>de</strong>t. Um diese Eigenschaften geht es im folgen<strong>de</strong>n Ab-<br />

schnitt.<br />

1.3 Personalität: Wünsche, Interessen und Selbstbewußtsein<br />

Den für ihn relevanten Zusammenhang beschreibt HOERSTER folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />

„Ein Lebewesen wird durch seine Tötung in seinen Interessen offenbar dann und nur<br />

dann verletzt, wenn es über ein Interesse verfügt, das gera<strong>de</strong> durch die Tötung ver-<br />

letzt wer<strong>de</strong>n kann, das heißt, wenn es über ein Überlebensinteresse verfügt“ (ebd.,<br />

70). Um über ein Überlebensinteresse zu verfügen, muß ein Wesen jedoch bestimmte<br />

8 Vgl. zu <strong>de</strong>m Argument <strong>de</strong>s Speziesismus z.B. SINGER 1994; THEUNISSEN 1997 o<strong>de</strong>r NEFFE<br />

2000, 212-225.<br />

13


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Voraussetzungen erfüllen. Es muß nämlich über Bewußtsein verfügen und Wünsche<br />

haben (ebd., 71).<br />

Diese bei<strong>de</strong>n Begriffe sind nun näher zu betrachten. Dabei bestimmt<br />

HOERSTER zunächst <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Wunsch und Interesse genauer<br />

(ebd., 71-74):<br />

Ein Überlebensinteresse folgt automatisch aus <strong>de</strong>m Wunsch eines Wesens, zu<br />

Überleben. Jedoch ist ein solch ausdrücklicher Überlebenswunsch nicht notwendig<br />

für ein Überlebensinteresse. Ein solches besteht nämlich auch dann, wenn ein Wesen<br />

lediglich einen Wunsch hat, für <strong>de</strong>ssen Verwirklichung das eigene Überleben eine<br />

notwendige Bedingung ist (ebd., 73).<br />

Der Begriff ‚Interesse’ beinhaltet jedoch noch einen weiteren Aspekt: „‚Wesen A<br />

hat ein Interesse an x’ soll be<strong>de</strong>uten ‚Entwe<strong>de</strong>r A wünscht x, sofern A über alle für<br />

die Realisierung seiner sämtlichen <strong>de</strong>rzeitigen Wünsche relevanten Fakten aufgeklärt<br />

ist, o<strong>de</strong>r A wür<strong>de</strong> x wünschen sofern A ... aufgeklärt wäre’“ 9 (HOERSTER 1991,<br />

386).<br />

Hier differenziert HOERSTER zwischen ‚gegenwartsbezogenen Wünschen’ und<br />

‚zukunftsbezogenen Wünschen’: Unter einem „gegenwartsbezogenen ... Wunsch<br />

[sei] <strong>de</strong>r Wunsch verstan<strong>de</strong>n, möglichst sofort (‚jetzt’) ein bestimmtes Erlebnis zu<br />

haben“ (HOERSTER 1995a, 73).<br />

Unter einem zukunftsbezogenen Wunsch sei dagegen z.B. „mein momentaner<br />

Wunsch, in einem Monat in Urlaub zu fahren“ (ebd., 74) verstan<strong>de</strong>n. Die bei<strong>de</strong>n Ar-<br />

ten von Wünschen haben „ein Überlebensinteresse von sehr unterschiedlicher Be<strong>de</strong>u-<br />

tung zur Folge“ (ebd.).<br />

Ein zukunftsbezogener Wunsch setzt voraus, daß das betreffen<strong>de</strong> Wesen „sich<br />

selbst als dasselbe Wesen im Zeitablauf verstehen kann“ (ebd., 75). Diese Fähigkeit<br />

bezeichnet HOERSTER als Ich- o<strong>de</strong>r Selbstbewußtsein. Ein Wesen mit einem sol-<br />

chen Ich-Bewußtsein ist für HOERSTER ein ‚personales Wesen’ bzw. eine ‚Person’<br />

(ebd.).<br />

9 Ein Beispiel: „Wenn A <strong>de</strong>n Wunsch hat, ein vor ihm stehen<strong>de</strong>s Glas Wasser zu trinken, wobei er<br />

nicht weiß, daß das Wasser vergiftet ist, dann entspricht seinem Wunsch ... offensichtlich kein Interesse“<br />

(HOERSTER 1995a, 71).<br />

14


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Die Einräumung eines Rechtes auf Leben – <strong>de</strong>n wahrscheinlichen Fall relevanter<br />

Wünsche vorausgesetzt - ist für HOERSTER an dieses Kriterium <strong>de</strong>r „Personalität“<br />

gebun<strong>de</strong>n (ebd., 76).<br />

Ein Wesen mit bloß gegenwartsbezogenen Wünschen erfüllt für HOERSTER<br />

nicht die Voraussetzungen zur Zuerkennung <strong>de</strong>r ‚Personalität’ und verfügt <strong>de</strong>mnach<br />

auch nicht über ein Lebensrecht in seiner unbedingten Verbindlichkeit: Zwar haben<br />

auch bloß „gegenwartsbezogene Wünsche je<strong>de</strong>nfalls ein gewisses Überlebensinteres-<br />

se zur Folge“ (ebd., 89). Dieses Überlebensinteresse ist dann jedoch lediglich als<br />

Mittel zur Erfüllung eines zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n gegenwartsbezogenen Wunsches vor-<br />

han<strong>de</strong>n. Insofern hat also auch das resultieren<strong>de</strong> Überlebensinteresse nicht mehr Ge-<br />

wicht als dieser Wunsch. Sobald dieser Wunsch – etwa aufgrund entgegenstehen<strong>de</strong>r<br />

Interessen – keine Berücksichtigung fin<strong>de</strong>t, muß auch das entsprechen<strong>de</strong> Überlebens-<br />

interesse keine Berücksichtigung fin<strong>de</strong>n (ebd., 89-90).<br />

Ein weiterer Unterschied zwischen zukunftsbezogenen und gegenwartsbezoge-<br />

nen Wünschen ergibt sich für HOERSTER in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Relevanz <strong>de</strong>s resultie-<br />

ren<strong>de</strong>n Lebensrechtes im Zustand <strong>de</strong>r Bewußtlosigkeit bzw. <strong>de</strong>s Schlafs:<br />

Ein Wesen mit zukunftsbezogenen Wünschen hat diese Wünsch bereits vor <strong>de</strong>r<br />

Spanne <strong>de</strong>r Bewußtlosigkeit bzw. <strong>de</strong>s Schlafes und diese Wünsche erstrecken sich<br />

ausdrücklich auf Ereignisse innerhalb bzw. nach <strong>de</strong>r Zeitspanne <strong>de</strong>r Bewußtlosigkeit.<br />

Insofern erstreckt sich auch das resultieren<strong>de</strong> Lebensrecht auf diese Zeitspannen<br />

(ebd., 76-79).<br />

An<strong>de</strong>rs ist dies bei Wesen mit bloß gegenwartsbezogenen Wünschen: Deren Le-<br />

bensrecht en<strong>de</strong>t, wenn diese Wesen keine Wünsche mehr haben, spätestens also,<br />

wenn die betreffen<strong>de</strong>n Wesen einschlafen (ebd., 92).<br />

Zusammenfassend begrün<strong>de</strong>t HOERSTER also folgen<strong>de</strong>s:<br />

Die Einräumung eines unbedingten Lebensrechtes eines Wesens hat zur Voraus-<br />

setzung die Personalität dieses Wesens. Nur ein menschliches Individuum, das zu-<br />

kunftsbezogene Wünsche hat und entsprechend über Ich-Bewußtsein verfügt, kann<br />

als Träger eines solchen Rechtes gelten (ebd., 76). HOERSTER schlägt vor, auch nur<br />

ein solches menschliches Individuum als Mensch zu bezeichnen, da mit <strong>de</strong>m Begriff<br />

15


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

‚Mensch’ in <strong>de</strong>n allermeisten Fällen auch im normativen Sinn ‚Träger <strong>de</strong>r entspre-<br />

chen<strong>de</strong>n Menschenrechte’ gemeint ist (ebd., 66).<br />

Zwar haben auch menschliche Individuen mit bloß gegenwartsbezogenen Wün-<br />

schen ein gewisses Überlebensinteresse, dieses begrün<strong>de</strong>t aber „kein eigentliches<br />

Recht auf Leben“ (ebd., 92). Jedoch ist auch das „Überlebensinteresse bloß empfin-<br />

dungsfähiger Wesen in <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s Lebensschutzes ..., sofern und solange es exi-<br />

stent ist, gegen eventuell entgegenstehen<strong>de</strong> Interessen an<strong>de</strong>rer Wesen“ (ebd., 93)<br />

abzuwägen.<br />

2. Abtreibung<br />

Die Abtreibung ist - obschon dies gelegentlich in Zweifel gezogen wird – eine Tö-<br />

tungshandlung (ebd., 24-26). Die Frage, die sich also bezüglich <strong>de</strong>r Legitimität <strong>de</strong>r<br />

Abtreibung generell stellt, ist die Frage, ob <strong>de</strong>r Fötus bereits ‚Person’ ist und damit<br />

ein Rechts auf Leben hat, sowie, falls dies nicht <strong>de</strong>r Fall sein sollte, wie sein eventu-<br />

ell <strong>de</strong>nnoch vorhan<strong>de</strong>nes Überlebensinteresse zu gewichten ist.<br />

Zu betrachten sind neben <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>s Fötus v.a. die Interessen <strong>de</strong>r<br />

Schwangeren, <strong>de</strong>nn die Konflikte, die Grund für eine Abtreibung sind, beruhen in<br />

<strong>de</strong>n allermeisten Fällen auf Interessenkonflikten zwischen schwangerer Frau und<br />

<strong>de</strong>m ungeborenen Kind.<br />

2.1 Ist <strong>de</strong>r Fötus Person?<br />

HOERSTER kommt indirekt zu einer Beantwortung dieser Frage: Die Schwierigkeit,<br />

<strong>de</strong>n Fötus direkt zu beobachten und dann Schlußfolgerungen auf eine eventuelle Per-<br />

sonalität zu ziehen, führen für HOERSTER nicht dazu, daß fundierte Aussagen über<br />

die Personalität <strong>de</strong>s Fötus nicht möglich wären. Denn selbst beim Neugeborenen,<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fötus „nach allem, was wir wissen, ... je<strong>de</strong>nfalls nicht voraus sein“ kann,<br />

sind „keinerlei Anzeichen von Personalität erkennbar“ (ebd., 80). Dies auf zweierlei<br />

Ebenen: we<strong>de</strong>r lassen sich, so HOERSTER in Berufung auf TOOLEY, im Verhalten<br />

<strong>de</strong>s Neugeborenen „Indizien [fin<strong>de</strong>n], die <strong>de</strong>n psychologischen Schluß auf das Vor-<br />

16


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

han<strong>de</strong>nsein eines Ichbewußtseins zuließen“, noch sind „die hierfür erfor<strong>de</strong>rlichen<br />

neurophysiologischen Voraussetzungen“ vorhan<strong>de</strong>n (HOERSTER 1995a, 80).<br />

Also kann <strong>de</strong>r Fötus „unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Personalität kein Lebensrecht<br />

beanspruchen“ (ebd.).<br />

Das Nichtvorhan<strong>de</strong>nsein personaler Eigenschaften rückt damit eine an<strong>de</strong>re Ei-<br />

genschaft <strong>de</strong>s Fötus in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund, nämlich die Eigenschaft, eventuell ein emp-<br />

findungsfähiges Wesen mit gegenwartsbezogenen Wünschen zu sein. Wie sind diese<br />

eventuell vorhan<strong>de</strong>nen gegenwartsbezogenen Wünsch <strong>de</strong>s Fötus zu gewichten?<br />

Im frühen Stadium <strong>de</strong>r Schwangerschaft, das HOERSTER zeitlich nicht <strong>de</strong>finiert,<br />

hat „<strong>de</strong>r Fötus überhaupt noch keine Wünsche“; eine Abtreibung ist also „unbe<strong>de</strong>nk-<br />

lich“ (ebd., 93-94).<br />

Im späteren Stadium einer Schwangerschaft ist <strong>de</strong>r Fötus prinzipiell zu gegen-<br />

wartsbezogenen Wünschen in <strong>de</strong>r Lage. Da jedoch die Gewichtung dieser Wünsche<br />

gegenüber <strong>de</strong>n Interessen einer abtreibungswilligen Mutter naturgemäß sehr schwie-<br />

rig ist, zieht HOERSTER auch in diesem Kontext wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Vergleich zwischen<br />

Neugeborenem und Fötus und betrachtet also das Gewicht <strong>de</strong>r Wünsche eines Neu-<br />

geborenen: „Das Neugeborene hat, so darf man annehmen, gelegentlich <strong>de</strong>n Wunsch,<br />

umgehend etwas zu trinken o<strong>de</strong>r Wärme zu empfin<strong>de</strong>n. ... Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite geht<br />

es jedoch um <strong>de</strong>n Wunsch <strong>de</strong>r abtreibungswilligen Frau, nicht monatelang mit <strong>de</strong>n<br />

Belastungen einer unerwünschten Schwangerschaft leben zu müssen“ (ebd., 95).<br />

Das Interesse <strong>de</strong>r Schwangeren ist nach HOERSTER gegenüber <strong>de</strong>n gegenwarts-<br />

bezogenen Wünschen <strong>de</strong>s Säuglings von so hohem Gewicht, daß es für ihn „keinen<br />

guten Grund [gibt], <strong>de</strong>m Fötus mit Rücksicht auf seine möglicherweise in Abstän<strong>de</strong>n<br />

auftreten<strong>de</strong>n gegenwartsbezogenen Wünsche Lebensschutz gegenüber <strong>de</strong>r Schwan-<br />

geren zu gewähren“ (ebd.).<br />

Aufgrund <strong>de</strong>r Empfindungsfähigkeit <strong>de</strong>s Fötus for<strong>de</strong>rt HOERSTER einschrän-<br />

kend, daß eine Abtreibung „gegebenenfalls soweit wie möglich in einer Weise zu<br />

erfolgen hat, die <strong>de</strong>m Fötus keine Schmerzen zufügt“ (ebd.).<br />

Dem Fötus kommt aber eine Eigenschaft zu, die eventuell doch einen erweiterten<br />

Schutz <strong>de</strong>s Fötus gegenüber <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Schwangeren rechtfertigen könnte:<br />

Im Normalfall wird sich <strong>de</strong>r Fötus „zu einem Wesen mit Ichbewußtsein und zu-<br />

17


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

kunftsbezogenen Wünschen entwickeln“ (ebd., 96). Die Frage, ob diese Eigenschaft<br />

<strong>de</strong>s Fötus von Relevanz ist, wird im folgen<strong>de</strong>n Abschnitt geklärt.<br />

2.2 Verdienen die zukünftigen Interessen <strong>de</strong>s Fötus Schutz?<br />

Aus einem „potentiell personalen bzw. vorpersonalen Wesen“ (ebd., 96) wird sich<br />

wahrscheinlich ein Wesen mit Überlebensinteresse und entsprechen<strong>de</strong>m Lebensrecht<br />

entwickeln. Erstreckt aber nicht das „Überlebensinteresse eines heutigen Erwachse-<br />

nen sich notwendigerweise auch auf solche vergangenen Handlungen bzw. Unterlas-<br />

sungen ..., <strong>ohne</strong> die er nicht hätte überleben können und <strong>ohne</strong> die <strong>de</strong>shalb kein einzi-<br />

ger seiner aktuellen zukunftsbezogenen Wünsche erfüllt wer<strong>de</strong>n kann?“ (ebd., 97)<br />

Dies mag plausibel erscheinen, ist doch eine entsprechen<strong>de</strong> Sichtweise gerecht-<br />

fertigt für <strong>de</strong>n Fall einer eventuellen Verletzung eines Fötus: Füge ich einem Fötus<br />

heute eine Verletzung zu, unter <strong>de</strong>ren Folgen er später (z.B. als Erwachsener) zu lei-<br />

<strong>de</strong>n hat, so verstoße ich mit meiner heutigen Verletzung gegen ein künftiges Recht.<br />

Dabei ist es für HOERSTER sogar unerheblich, ob <strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>s späteren Rechts<br />

bereits existiert: „So können wir beispielsweise schon heute durch unser Umweltver-<br />

halten die Interessen und Rechte künftiger Generationen verletzen – und sind <strong>de</strong>shalb<br />

verpflichtet, diese künftigen Interessen und Rechte schon heute zu respektieren“<br />

(ebd., 98-99).<br />

Dies ist jedoch gera<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Abtreibung als Tötung eines Fötus an<strong>de</strong>rs: Denn<br />

gera<strong>de</strong> die Tötung verhin<strong>de</strong>rt ja, daß überhaupt einmal ein Überlebensinteresse ent-<br />

steht. Insofern wird durch eine Abtreibung auch kein künftiges Interesse verletzt<br />

(ebd., 100-102). 10<br />

2.3 Gesellschaftliche Interessen am Schutz <strong>de</strong>s Fötus<br />

Ein letzter Punkt, <strong>de</strong>r für einen Lebensschutz vorpersonalen Lebens sprechen könnte,<br />

ist <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>: Es könnte in <strong>de</strong>r Gesellschaft insgesamt diverse Interessen am Über-<br />

leben <strong>de</strong>s Fötus geben, die einen solchen Lebensschutz rechtfertigen (ebd., 104).<br />

10 Gera<strong>de</strong> dieser Argumentationsschritt weckt vielfältige Kritik, die ich hier nicht wie<strong>de</strong>rgeben kann,<br />

auf die jedoch hingewiesen sei. Vergleiche dazu die Kontroverse zwischen PFORDTEN (1990a,<br />

1990b) und HOERSTER (1990), die Kontroverse zwischen HOERSTER (1991, 1992a) und LEIST<br />

(1992), die Kontroverse zwischen HOERSTER (1992c, 1993) und VIEFHUES (1991, 1993) sowie<br />

die Kontroverse zwischen BYDLINSKI (1991) und HOERSTER (1992b).<br />

18


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

HOERSTER nennt einen solchen Grund: „Wer daran interessiert ist, daß die<br />

Menschheit nicht ausstirbt, muß also auch an Existenz und Überleben von Föten inte-<br />

ressiert sein“ (ebd., 105). Dieses Interesse reicht jedoch nicht aus für die Begründung<br />

eines Abtreibungsverbotes, <strong>de</strong>nn ein solches Interesse am Fortbestand <strong>de</strong>r Gesell-<br />

schaft be<strong>de</strong>utet keineswegs, daß je<strong>de</strong>r Fötus o<strong>de</strong>r bestimmte Föten überleben müssen.<br />

Vielmehr reicht es für <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>r Menschheit aus, wenn eine bestimmte<br />

Anzahl an Föten überlebt. Dieses Ziel läßt sich nach HOERSTER wohl weniger über<br />

einen erweiterten Lebensschutz <strong>de</strong>s Fötus erreichen, son<strong>de</strong>rn in<strong>de</strong>m finanzielle An-<br />

reize zum Kin<strong>de</strong>rgebären geschaffen wer<strong>de</strong>n (ebd., 105-106).<br />

Gegen ein Abtreibungsverbot in diesem Sinne spricht für HOERSTER auch, daß<br />

„ein Staat, <strong>de</strong>r auch nur ein gewisses Gewicht auf die freie Selbstbestimmung seiner<br />

Bürger legt, ... es diesen Bürgern selbst überlassen müssen [wird], zu welcher Zeit<br />

ihres Lebens und unter welchen konkreten Umstän<strong>de</strong>n sie ihren als notwendig be-<br />

trachteten Beitrag zum Bestand <strong>de</strong>r Menschheit bzw. <strong>de</strong>s eigenen Volkes leisten wol-<br />

len“ (ebd., 107).<br />

Gefühle <strong>de</strong>r Achtung vor <strong>de</strong>m Fötus in großen Teilen <strong>de</strong>r Bevölkerung können<br />

ebenfalls kein Abtreibungsverbot begrün<strong>de</strong>n: Diesen Gefühlen <strong>de</strong>r Achtung steht<br />

nämlich das gewichtige Interesse <strong>de</strong>r abtreibungswilligen Schwangeren entgegen<br />

(ebd., 113). „Generell gehen Gesellschaften, die sich als freiheitlich verstehen, davon<br />

aus, daß einigermaßen wichtige o<strong>de</strong>r nicht ganz unerhebliche Interessen, die das In-<br />

dividuum an eigenen Handlungen hat, gegenüber i<strong>de</strong>ellen, weltanschaulichen o<strong>de</strong>r<br />

gefühlsmäßigen Abneigungen <strong>de</strong>r Öffentlichkeit gegen diese Handlungen stets <strong>de</strong>n<br />

Vorrang haben müssen“ (ebd., 112).<br />

Insgesamt, so schließt HOERSTER, läßt sich auch „mit einem ... öffentlichen In-<br />

teresse am Leben vorpersonaler Wesen ein Abtreibungsverbot nicht begrün<strong>de</strong>n“<br />

(ebd., 113).<br />

Abtreibung erscheint somit – sollte sie im Interesse <strong>de</strong>r Schwangeren liegen –<br />

prinzipiell erlaubt. Es ist kein Grund ersichtlich, „<strong>de</strong>m Fötus ein Lebensrecht durch<br />

Sozialmoral o<strong>de</strong>r Rechtsordnung einzuräumen“ (ebd., 128).<br />

Die anschließen<strong>de</strong> Frage, die sich bereits oben an<strong>de</strong>utete, ist diejenige, ob nicht<br />

dieselben Argumente, die gegen ein Lebensrecht <strong>de</strong>s Fötus sprachen, auch gegen ein<br />

19


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Lebensrecht <strong>de</strong>s Neugeborenen sprechen, und zu welchem Zeitpunkt dann <strong>de</strong>m<br />

menschlichen Individuum als Person ein Recht auf Leben zukommt.<br />

2.4 Ab wann beginnt das Lebensrecht?<br />

Wie bereits oben ange<strong>de</strong>utet, besitzt auch ein neugeborenes Kind nicht die für die<br />

Zuerkennung eines Lebensrechtes notwendige Voraussetzung <strong>de</strong>r Personalität. Nach<br />

TOOLEY (1983, zit. nach HOERSTER 1995a, 133, Fußnote 77) treten erste Spuren<br />

von Personalität mit Beginn <strong>de</strong>s vierten Lebensmonats nach <strong>de</strong>r Geburt auf. Somit ist<br />

ein Lebensrechts aus prinzipiellen Grün<strong>de</strong>n allen menschlichen Individuen zu diesem<br />

Zeitpunkt zuzuerkennen. HOERSTER differenziert jedoch zwischen ‚I<strong>de</strong>alnorm’ und<br />

‚Praxisnorm’: Die o.g. Regelung entspricht einer ‚I<strong>de</strong>alnorm’, nämlich <strong>de</strong>r Norm:<br />

„Alle Personen besitzen ein Recht auf Leben“ (HOERSTER 1995a, 128-131).<br />

Unter einer ‚Praxisnorm’ versteht HOERSTER nun eine Norm, die pragmatisch<br />

dadurch begrün<strong>de</strong>t ist, daß<br />

1. „ihre Aufnahme in das Recht bzw. die Sozialmoral <strong>de</strong>m Ziel einer be-<br />

stimmten I<strong>de</strong>alnorm in <strong>de</strong>r sozialen Realität möglichst effektiv – je<strong>de</strong>n-<br />

falls effektiver als die Aufnahme allein dieser I<strong>de</strong>alnorm dient“ (ebd.,<br />

129-130) und<br />

2. „diese größere Effektivität eventuell vorhan<strong>de</strong>ne Nachteile <strong>de</strong>r Aufnahme<br />

dieser Praxisnorm überwiegt“ (ebd., 130).<br />

Welche Praxisnorm wird nun diesen Bedingungen in Bezug auf die I<strong>de</strong>alnorm „Alle<br />

Personen haben ein Recht auf Leben“ am besten gerecht?<br />

HOERSTER plädiert dafür, als Praxisnorm anstelle <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>r ‚Person’ <strong>de</strong>n<br />

Begriff <strong>de</strong>s ‚geborenen menschlichen Individuums’ als Kriterium zu nehmen. Die<br />

Praxisnorm lautet dann: „Je<strong>de</strong>s geborene menschliche Individuum hat ein Recht auf<br />

Leben“ (ebd., 132).<br />

Die Grün<strong>de</strong>, die für diese Praxisnorm sprechen, sind nach HOERSTER folgen<strong>de</strong>:<br />

1. Vor <strong>de</strong>r Geburt ist zweifels<strong>ohne</strong> kein personales Leben vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Dies ist für HOERSTER beson<strong>de</strong>rs wichtig, da gera<strong>de</strong> das Leben ei-<br />

ner Person ein so hoher Wert ist, daß ein solches Leben im Zweifels-<br />

fall stets zu schützen ist.<br />

20


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

2. Die Geburt stellt <strong>de</strong>n einzigen Einschnitt in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s<br />

menschlichen Individuums dar, <strong>de</strong>r für je<strong>de</strong>rmann sofort ersichtlich<br />

ist.<br />

3. Die Geburt liegt von <strong>de</strong>n ersten Anzeichen von Personalität nicht all-<br />

zu weit entfernt, nämlich etwa vier Monate. Damit sind die Nachteile<br />

dieser Praxisnorm, nämlich für die Eltern das Verbot, ihre Kleinst-<br />

kin<strong>de</strong>r bis zum Beginn <strong>de</strong>s vierten Lebensmonats zu töten, gering.<br />

(ebd., 132-134)<br />

<strong>Eine</strong> an<strong>de</strong>re Praxisnorm, also etwa die Erlaubnis, Neugeborene bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

ersten Lebensmonats töten zu dürfen, lehnt HOERSTER aus verschie<strong>de</strong>nen, aus-<br />

schließlich pragmatischen Grün<strong>de</strong>n ab: <strong>Eine</strong> solche Norm birgt nach HOERSTER<br />

die Gefahr, daß dadurch in <strong>de</strong>r Realität auch das Lebensrecht von Menschen, die<br />

bereits über Anzeichen von Personalität verfügen, in Gefahr gerät. Denn es ist kei-<br />

neswegs sicher, daß <strong>de</strong>r Normalbürger tatsächlich das Kriterium <strong>de</strong>r Personalität ver-<br />

steht. Also ist es möglich, daß er – nach einer Zulassung <strong>de</strong>r Tötung von Neugebore-<br />

nen in ihrem ersten Lebensmonat – eventuell auch die Hemmung zur Tötung von<br />

Kleinstkin<strong>de</strong>rn verlieren wird. Diese Gefahr ist bei <strong>de</strong>r von HOERSTER favorisier-<br />

ten Praxisnorm nicht gegeben. Unabhängig davon, ob <strong>de</strong>r Normalbürger sich das<br />

Kriterium <strong>de</strong>r Personalität zu eigen macht, o<strong>de</strong>r ob er bei <strong>de</strong>r bereits tief verwurzel-<br />

ten Hemmschwelle gegenüber <strong>de</strong>m Töten eines geborenen Menschen bleibt, ist das<br />

Leben je<strong>de</strong>s personalen menschlichen Wesens ausdrücklich geschützt (ebd., 136-<br />

140). Vorteil dieser Praxisnorm ist auch, daß Verstöße gegen sie sehr viel leichter zu<br />

ent<strong>de</strong>cken und damit zu ahn<strong>de</strong>n sind, als Verstöße gegen eine an<strong>de</strong>re Praxisnorm,<br />

also etwa bei einer Einmonatsgrenze die Tötung eines Säuglings im Alter von zwei<br />

Monaten (ebd., 137).<br />

Von dieser Praxisnorm ebenfalls geschützt sind alle geborenen menschlichen In-<br />

dividuen – HOERSTER spricht hier von ‚Geisteskranken’ - , die während ihres Le-<br />

bens nie über Personalität verfügen o<strong>de</strong>r diese später vollständig verloren haben: Ihm<br />

scheint es nicht möglich, Kategorien von Geisteskranken zu <strong>de</strong>finieren, die „sämtlich<br />

und <strong>ohne</strong> je<strong>de</strong>n Zweifel keinerlei Personalität besitzen“ (ebd., 141). Aus <strong>de</strong>n Erfah-<br />

rungen <strong>de</strong>r NS-Zeit ist ersichtlich, zu welchen Folgen „die Freigabe <strong>de</strong>r Tötung ge-<br />

21


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

wisser Geisteskranker in <strong>de</strong>r sozialen Realität“ (ebd.) in Bezug auf <strong>de</strong>n Schutz von<br />

Geisteskranken mit <strong>de</strong>n Merkmalen von Personen führen kann (ebd., 141-142).<br />

HOERSTER faßt das Ergebnis seiner Überlegungen wie folgt zusammen: „Es ist<br />

also tatsächlich wohlbegrün<strong>de</strong>t, absolut je<strong>de</strong>m geborenen menschlichen Wesen ein<br />

Recht auf Leben durch Sozialmoral und Rechtsordnung einzuräumen“ (ebd., 142).<br />

3. Infantizid – Zum Problem schwergeschädigter Neugeborener<br />

In Deutschland fin<strong>de</strong>n jährlich „etwa 1.200 schwerstgeschädigte Neugeborene durch<br />

sogenanntes ‚Liegenlassen’ <strong>de</strong>n Tod“ (HOERSTER 1995b, 7). Die Entscheidung, ob<br />

ein Neugeborenes auf eine solche Art zu To<strong>de</strong> kommt, liegt in <strong>de</strong>n meisten Fällen<br />

beim Arzt. Für HOERSTER ist ein solcher Zustand „starken politischen und morali-<br />

schen Be<strong>de</strong>nken ausgesetzt“ (ebd.). Mit ihm ist zu fragen: „Darf in einer <strong>de</strong>mokrati-<br />

schen Gesellschaft die Verfügung über Leben und Tod von Menschen <strong>de</strong>m unkon-<br />

trollierten Ermessen einer bestimmten Berufsgruppe überlassen bleiben?“ (ebd., 7-8)<br />

HOERSTER verneint dies und hält es für notwendig, die dieser Problematik zu-<br />

grun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n ethischen Fragen zu diskutieren.<br />

3.1 Infantizid als Form <strong>de</strong>r Sterbehilfe<br />

HOERSTERs Argumentation unter Kapitel 2.2.4 hat gezeigt, daß <strong>de</strong>m Neugeborenen<br />

aus pragmatischen Grün<strong>de</strong>n ein Recht auf Leben zukommt. Wie läßt sich nun dieses<br />

Recht auf Leben mit <strong>de</strong>r gängigen Praxis <strong>de</strong>s Liegenlassens vereinbaren?<br />

Ausgeschlossen ist für HOERSTER ein<strong>de</strong>utig, daß das Neugeborene im Interesse<br />

an<strong>de</strong>rer getötet wird (ebd., 48), wie dies beispielsweise für SINGER bei schwerstge-<br />

schädigten Neugeborenen unter gewissen Bedingungen im Interesse <strong>de</strong>r Eltern legi-<br />

tim sein kann (SINGER 1994, 232-244).<br />

Nicht ausgeschlossen ist hingegen, daß das Neugeborene in seinem eigenen Inte-<br />

resse getötet wird (HOERSTER 1995b, 48).<br />

Diese Problematik ist damit eine spezielle Frage im allgemeinen Kontext <strong>de</strong>r<br />

Sterbehilfe. Insofern ist zunächst zu klären, unter welchen Bedingungen Sterbehilfe<br />

22


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

legitim ist, sodann, welche beson<strong>de</strong>ren Bedingungen bei Sterbehilfe von Neugebore-<br />

nen zu berücksichtigen sind.<br />

Unter Sterbehilfe ist in diesem Kontext die Hilfe zum Sterben zu verstehen. Die<br />

Hilfe beim Sterben, die Sterbebegleitung, ist selbstverständlich „prinzipiell rechtlich<br />

und ethisch zulässig, ja in hohem Maße erwünscht“ (HOERSTER 1998, 7). Unter<br />

<strong>de</strong>n Begriff Sterbehilfe, wie er hier gebraucht wird, fallen drei Formen:<br />

„Aktive Sterbehilfe = Gezielte Herbeiführung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s durch Han<strong>de</strong>ln.<br />

Indirekte Sterbehilfe = In Kauf genommene Beschleunigung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>seintritts als<br />

Nebenwirkung gezielter Schmerzbekämpfung.<br />

Passive Sterbehilfe = Herbeiführung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s durch Behandlungsverzicht“ (ebd.,<br />

11).<br />

Die Praxis <strong>de</strong>s Liegenlassens entspricht wohl weitgehend <strong>de</strong>r passiven Sterbehil-<br />

fe: „Man verzichtet bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn auf eine medizinische Behandlung und läßt sie<br />

sterben“ (HOERSTER 1995b, 7).<br />

3.2 Die rechtliche Behandlung von Sterbehilfe in Deutschland<br />

Fragen zur Sterbehilfe sind in Deutschland nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt<br />

(HOERSTER 1998, 9). Zur Anwendung kommt im Falle einer direkten Tötungs-<br />

handlung, also aktiver Sterbehilfe, entwe<strong>de</strong>r §216 StGB, <strong>de</strong>r „generell die ‚Tötung<br />

auf Verlangen’ unter Strafe stellt“ (ebd., 8 und 167) o<strong>de</strong>r §211 Abs. (1) StGB, <strong>de</strong>r die<br />

aktive Sterbehilfe als Mord qualifiziert (ANTOR & BLEIDICK 2000, 34-35).<br />

Indirekte Sterbehilfe ist „nach herrschen<strong>de</strong>r juristischer Auffassung - je<strong>de</strong>nfalls<br />

unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n – nicht als strafbare Handlung anzusehen“<br />

(HOERSTER 1998, 133). 11<br />

Passive Sterbehilfe wird in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen als<br />

legitim angesehen. ANTOR & BLEIDICK führen hier ein Gutachten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />

Rechtsphilosophen KAUFMANN an: „Ein passives Sterbenlassen durch das Einstel-<br />

len intensiv-therapeutischer Maßnahmen sei nach sorgfältiger Einzelfallprüfung bei<br />

Krankheiten mit gesicherter To<strong>de</strong>sprognose und in extremen Grenzfällen schwerster<br />

11 HOERSTER sieht im Gegensatz zu dieser rechtlichen Praxis keinen in diesem Kontext relevanten<br />

Unterschied zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe. „In Wahrheit verbietet §216 Strafgesetzbuch<br />

die indirekte ebenso wie die direkte Sterbehilfe“ (HOERSTER 1998, 49). Zur Problematik siehe auch<br />

Kapitel 2.3.3.<br />

23


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Schädigung <strong>ohne</strong> Heilungsaussicht dagegen rechtlich zu verantworten“ (ANTOR &<br />

BLEIDICK 2000, 35).<br />

3.3 Zur Legitimation von Sterbehilfe allgemein<br />

Wie sich noch herausstellen wird, besteht ein Unterschied zwischen <strong>de</strong>r Legitimation<br />

von passiver und <strong>de</strong>r von aktiver bzw. indirekter Sterbehilfe. HOERSTER beginnt<br />

mit <strong>de</strong>n Kriterien, die für die Legitimation von aktiver bzw. indirekter Sterbehilfe<br />

erfüllt sein müssen (HOERSTER 1998, 36-50). Aus mehreren Grün<strong>de</strong>n kann für<br />

Norbert HOERSTER nicht angezweifelt wer<strong>de</strong>n, daß Sterbehilfe prinzipiell legitim<br />

sein kann:<br />

Wie bereits oben ausgeführt, ist für HOERSTER die Ingeltungsetzung eines all-<br />

gemeinen Tötungsverbotes durch das Interesse je<strong>de</strong>r Person am eigenen Überleben<br />

begrün<strong>de</strong>t.<br />

Sterbehilfe ist in diesem Begründungszusammenhang dann legitim, wenn ein<br />

Mensch – unter bestimmten einschränken<strong>de</strong>n Bedingungen – auf sein Recht auf Le-<br />

ben verzichtet bzw. sein Interesse am Überleben nicht weiterbesteht (ebd., 27-35).<br />

Einschränken<strong>de</strong> Bedingungen hält HOERSTER <strong>de</strong>swegen für sinnvoll, weil die<br />

Tötung eines Menschen generell eine beson<strong>de</strong>rs schwere Interessenverletzung dar-<br />

stellt. Sie ist einzigartig gravierend, da das Leben „die logische Voraussetzung <strong>de</strong>s<br />

Genusses sämtlicher sonstigen individuellen Rechtsgüter und Befriedigungen“ ist,<br />

und sie ist irreversibel (ebd., 30).<br />

Aus diesem Grun<strong>de</strong> erscheint es HOERSTER sinnvoll, <strong>de</strong>n Wunsch nach Sterbe-<br />

hilfe beson<strong>de</strong>rs genau zu prüfen. Dem Wunsch nach <strong>de</strong>r eigenen Tötung muß ein<br />

wirksames Interesse zugrun<strong>de</strong> liegen. Ein solches Interesse hat nach HOERSTER<br />

zwei Kriterien zu genügen:<br />

Es muß zum einen im Zustand <strong>de</strong>r Urteilsfähigkeit artikuliert wer<strong>de</strong>n, zum an<strong>de</strong>-<br />

ren hat dies in Kenntnis <strong>de</strong>r Folgen zu geschehen (ebd., 28-29). Ist dies – wenn man<br />

be<strong>de</strong>nkt, wie gravierend die Interessenverletzung durch Tötung ist – überhaupt mög-<br />

lich? Für HOERSTER ist es zumin<strong>de</strong>st fraglich, v.a. unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt, daß<br />

viele Selbstmör<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ren Leben gerettet wer<strong>de</strong>n konnte, später froh sind über ihr<br />

Weiterleben (ebd., 31-32).<br />

24


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Am ehesten kann jemand in einer „rational getroffenen Entscheidung zu <strong>de</strong>m Er-<br />

gebnis komm[en], nicht mehr leben zu wollen“, „wenn <strong>de</strong>r Betreffen<strong>de</strong> seinem Le-<br />

ben nicht nur momentan o<strong>de</strong>r in naher Zukunft, son<strong>de</strong>rn auf lange Sicht und alles in<br />

allem betrachtet keinen Sinn mehr abgewinnen kann“ (ebd., 34). Diese Situation ist<br />

für HOERSTER v.a. dann <strong>de</strong>nkbar, wenn das Leben eines Menschen „bis zu seinem<br />

natürlichen En<strong>de</strong> ausschließlich o<strong>de</strong>r doch überwiegend von schwerem, unabän<strong>de</strong>rli-<br />

chem Lei<strong>de</strong>n geprägt sein wird“ (ebd.).<br />

HOERSTER faßt die Wirksamkeitsbedingungen für eine Einwilligung in die<br />

Sterbehilfe folgen<strong>de</strong>rmaßen zusammen:<br />

„1. Der Betroffene befin<strong>de</strong>t sich in einem Zustand schweren, unheilbaren Lei-<br />

<strong>de</strong>ns.<br />

2. Der Betroffene wünscht sich die Tötungshandlung aufgrund freier und reifli-<br />

cher Überlegung, die er in einem urteilsfähigen und über seine Situation aufge-<br />

klärten Zustand durchgeführt hat.<br />

3. Die Tötungshandlung wird von einem Arzt vorgenommen“ (ebd., 37-38).<br />

Die ersten bei<strong>de</strong>n Bedingungen stellen sicher, daß die Einwilligung <strong>de</strong>s Betroffenen<br />

tatsächlich seinen Interessen entspricht (Lei<strong>de</strong>n) bzw. es sich um eine wirksame Ein-<br />

willigung han<strong>de</strong>lt (Urteilsfähigkeit etc.). Die dritte Bedingung soll nach HOERSTER<br />

sicherstellen, „daß das Vorliegen <strong>de</strong>r ersten bei<strong>de</strong>n Bedingungen durch eine fachlich<br />

kompetente Person mit professioneller Sorgfalt geprüft wird“ (ebd., 39). Zu<strong>de</strong>m soll<br />

gewährleistet sein, daß „die Tötung auf die <strong>de</strong>m Wunsch <strong>de</strong>s Betroffenen<br />

entsprechen<strong>de</strong> Weise und außer<strong>de</strong>m in einer sowohl humanen als auch wirksamen<br />

Form erfolgt“ (ebd.).<br />

Besteht nun ein relevanter Unterschied zwischen aktiver und indirekter Sterbehil-<br />

fe? Aktive Sterbehilfe be<strong>de</strong>utet, „daß <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>s Betroffenen durch eine <strong>de</strong>m Ster-<br />

behelfer zurechenbare Tötungshandlung herbeigeführt o<strong>de</strong>r verursacht wird. Diese<br />

Bedingung ist jedoch auch im Fall <strong>de</strong>r sogenannten ‚indirekten’ Sterbehilfe voll und<br />

ganz erfüllt“ (ebd., 42). Denn auch durch indirekte Sterbehilfe, also durch Verabrei-<br />

chung von schmerzstillen<strong>de</strong>n Medikamenten, <strong>de</strong>ren Nebenwirkungen <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s<br />

Betroffenen beschleunigen, wird <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>s Betroffenen verursacht (ebd., 42-43).<br />

Aus diesem Grun<strong>de</strong> subsumiert HOERSTER bei<strong>de</strong> Formen <strong>de</strong>r Sterbehilfe unter<br />

die aktive Sterbehilfe und unterschei<strong>de</strong>t die aktive Sterbehilfe in aktive direkte und<br />

25


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

aktive indirekte Sterbehilfe (ebd., 42). „<strong>Eine</strong> unterschiedliche Bewertung von direk-<br />

ter und indirekter Sterbehilfe erscheint insoweit also völlig unbegrün<strong>de</strong>t“ (ebd., 46).<br />

Damit argumentiert HOERSTER gegen die <strong>de</strong>rzeit gelten<strong>de</strong> rechtliche Regelung<br />

in Deutschland: „Nach alle<strong>de</strong>m ist es kaum nachvollziehbar, daß zwar nicht die di-<br />

rekte, wohl aber die indirekte aktive Sterbehilfe <strong>ohne</strong> weiteres <strong>de</strong>n Stempel ethischer<br />

Legitimität tragen soll. <strong>Eine</strong> solche Einstellung erscheint vielmehr als wenig konse-<br />

quent“ (ebd., 47-48).<br />

3.4 Passive o<strong>de</strong>r aktive Sterbehilfe?<br />

Ein relevanter Unterschied besteht hingegen zwischen aktiver bzw. indirekter und<br />

passiver Sterbehilfe.<br />

Unter passiver Sterbehilfe versteht man die Herbeiführung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s durch Un-<br />

terlassen einer lebensretten<strong>de</strong>n Behandlung. Dabei umfaßt passive Sterbehilfe so-<br />

wohl das Nichteinleiten einer lebensretten<strong>de</strong>n Behandlung als auch das Been<strong>de</strong>n ei-<br />

ner solchen bereits begonnenen Behandlung (ebd., 62).<br />

Diese Form <strong>de</strong>r Sterbehilfe ist nur in bestimmten Situationen möglich. Denn ein<br />

Passant, <strong>de</strong>r einem sterben<strong>de</strong>n Unfallopfer nicht hilft, führt <strong>de</strong>nnoch nicht <strong>de</strong>ssen Tod<br />

herbei. Er macht sich also auch nicht <strong>de</strong>r Tötung schuldig, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r unterlassenen<br />

Hilfeleistung. Dies hat zum einen strafrechtliche Konsequenzen, zum an<strong>de</strong>ren ist<br />

jedoch, und darauf kommt es HOERSTER an, zu klären, ob es überhaupt möglich ist,<br />

durch Unterlassung Sterbehilfe zu leisten (ebd., 58). Nach HOERSTER gibt es tat-<br />

sächlich Fälle, in <strong>de</strong>nen „jemand durch Unterlassen <strong>de</strong>n Tod eines Menschen herbei-<br />

führt.“ (ebd., 59) Dies ist immer dann möglich, wenn jemand für das Leben eines<br />

an<strong>de</strong>ren Menschen beson<strong>de</strong>re Verantwortung trägt; Beispiele hierfür sind u.a. das<br />

Verhältnis von Mutter zu Kind o<strong>de</strong>r von Arzt zu Patient. Unter <strong>de</strong>r Bedingung „einer<br />

speziellen Verantwortung für <strong>de</strong>n Betroffenen“ sind die „Herbeiführung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<br />

durch Tun und die Herbeiführung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s durch Unterlassen ... im Prinzip ethisch<br />

gleichwertig“ (ebd., 60).<br />

Dennoch gelten für passive Sterbehilfe an<strong>de</strong>re Kriterien als für aktive: Der ent-<br />

schei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gesichtspunkt ist hierbei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Patientenhoheit. „Das Prinzip <strong>de</strong>r Be-<br />

handlungshoheit im Arzt-Patienten-Verhältnis besagt, daß schlechthin keine ärztliche<br />

Maßnahme <strong>de</strong>m Patienten aufgezwungen wer<strong>de</strong>n darf. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt: Je<strong>de</strong><br />

26


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

ärztliche Maßnahme, die als solche ja einen Eingriff in die körperliche Integrität o<strong>de</strong>r<br />

Bewegungsfreiheit <strong>de</strong>s Patienten darstellt, muß, um legitim zu sein, von einer wirk-<br />

samen Einwilligung <strong>de</strong>s Patienten begleitet sein“ (ebd., 61).<br />

Dieser – gerichtlich bestätigte - Grundsatz gilt sowohl für <strong>de</strong>n Beginn einer Be-<br />

handlung als auch für je<strong>de</strong> Einzelmaßnahme im Verlauf einer solchen. Zwar ist in<br />

<strong>de</strong>n meisten Fällen davon auszugehen, daß <strong>de</strong>r Patient in<strong>de</strong>m er „sich freiwillig auf<br />

eine ärztliche Behandlung seiner Krankheit o<strong>de</strong>r seines Lei<strong>de</strong>ns einläßt, damit impli-<br />

zit auch in sämtliche notwendigen Einzelmaßnahmen dieser Behandlung einwilligt“<br />

(ebd., 62). Jedoch kann <strong>de</strong>r Patient eine Behandlung je<strong>de</strong>rzeit abbrechen o<strong>de</strong>r eine<br />

einzelne Maßnahme im Rahmen einer Behandlung ablehnen (ebd., 62).<br />

Was be<strong>de</strong>utet dies für die Legitimität passiver Sterbehilfe?<br />

Der Arzt darf keine Behandlung vornehmen, in die <strong>de</strong>r Patient nicht wirksam einwil-<br />

ligt (ebd., 64). Damit entfallen im Grun<strong>de</strong> jegliche Kriterien für die Legitimität pas-<br />

siver Sterbehilfe: „Auch bei einem Menschen, <strong>de</strong>r nicht schwer und unheilbar lei<strong>de</strong>t,<br />

darf <strong>ohne</strong> seine Einwilligung ... eine lebensretten<strong>de</strong> Behandlung grundsätzlich nicht<br />

vorgenommen wer<strong>de</strong>n“ (ebd., 66). Dementsprechend möchte HOERSTER für passi-<br />

ve Sterbehilfe keine gesetzliche Regelung vorschlagen. Er hält es statt <strong>de</strong>ssen für<br />

sinnvoller, das Prinzip <strong>de</strong>r Patientenhoheit gesetzesrechtlich zu fixieren (ebd., 65).<br />

Wie bereits ange<strong>de</strong>utet, macht es keinen Unterschied normativer Art, ob die pas-<br />

sive Sterbehilfe darin besteht, eine lebenserhalten<strong>de</strong> Maßnahme nicht zu beginnen<br />

(bzw. eine solche Einzelmaßnahme im Rahmen einer Behandlung zu unterlassen)<br />

o<strong>de</strong>r eine begonnene Maßnahme (z.B. die Beatmung) abzubrechen, wenn diese Maß-<br />

nahme nicht mehr die Einwilligung <strong>de</strong>s Patienten erhält (ebd., 67). Von Be<strong>de</strong>utung<br />

ist allerdings hierbei, wer eine bereits begonnene Heilbehandlung abbricht: tut dies<br />

<strong>de</strong>r behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Arzt o<strong>de</strong>r geschieht es in seinem Auftrag, so liegt diese Handlung<br />

„im Rahmen <strong>de</strong>r Behandlungshoheit <strong>de</strong>s Patienten“ (ebd.). Bricht jedoch eine dritte<br />

Person eine bereits begonnene Behandlung ab, so ist dies als aktive Sterbehilfe zu<br />

bewerten und nur unter <strong>de</strong>n dafür genannten Bedingungen legitim (ebd., 67-68).<br />

27


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

3.5 Neugeborene und Sterbehilfe - Das Problem <strong>de</strong>s ‚mutmaßlichen Willens’<br />

Bei Neugeborenen nun muß noch eine beson<strong>de</strong>re Schwierigkeit Beachtung fin<strong>de</strong>n:<br />

Wie drücken diese ihren Wunsch nach aktiver Sterbehilfe aus? Wie verweigern sie<br />

ihre Einwilligung in eine lebenserhalten<strong>de</strong> Maßnahme?<br />

Neugeborene sind nicht zu einer ausdrücklichen Willensbekundung in <strong>de</strong>r Lage.<br />

(Damit sind die hier vorgestellten Thesen ebenso von Relevanz für diejenigen Men-<br />

schen, die aktuell nicht bzw. nicht mehr zu einer wirksamen, ausdrücklichen Wil-<br />

lensbekundung in <strong>de</strong>r Lage sind o<strong>de</strong>r dies noch nie waren. Vgl. ebd., 70) Die Frage<br />

ist also, „unter genau welchen Bedingungen eine Sterbehilfe <strong>ohne</strong> ausdrückliche Er-<br />

mächtigung zulässig sein soll“ (ebd.).<br />

Hier greift die Rechtsfigur <strong>de</strong>r ‚mutmaßlichen Einwilligung’. <strong>Eine</strong> mutmaßliche<br />

Einwilligung, die z.B. auch die Voraussetzung für je<strong>de</strong> medizinische Versorgung<br />

bewußtloser Unfallopfer ist, in eine Behandlung ist dann gegeben, wenn „<strong>de</strong>r Betrof-<br />

fene in diese Behandlungsmaßnahme im Zustand <strong>de</strong>r Urteilsfähigkeit und <strong>de</strong>r Kennt-<br />

nis ihrer Be<strong>de</strong>utung und Tragweite ausdrücklich einwilligen wür<strong>de</strong>“ (ebd., 72). Ent-<br />

schei<strong>de</strong>nd ist hierbei, daß die mutmaßliche Einwilligung sich alleine auf die mutmaß-<br />

liche Bewertung <strong>de</strong>r Behandlung durch <strong>de</strong>n Betroffenen bezieht. Nicht entschei<strong>de</strong>nd<br />

ist die Bewertung einer Behandlung und ihrer Konsequenzen, die <strong>de</strong>r Arzt, die El-<br />

tern, etc. treffen wür<strong>de</strong>n, wären sie an Stelle <strong>de</strong>s Betroffenen (ebd., 73).<br />

Bei <strong>de</strong>r Feststellung <strong>de</strong>s mutmaßlichen Willens eines Patienten müssen Präferen-<br />

zen und Überzeugungen <strong>de</strong>s Betroffenen berücksichtigt wer<strong>de</strong>n: „Wenn A sich etwa<br />

zu einem früheren Zeitpunkt in wirksamer Form ausdrücklich gegen eine Bluttrans-<br />

fusion zu seiner Lebensrettung ausgesprochen hat, so muß daraus normalerweise von<br />

B geschlossen wer<strong>de</strong>n, daß es für eine Bluttransfusion zum gegebenen Zeitpunkt an<br />

einer mutmaßlichen Einwilligung <strong>de</strong>s A fehlt“ (ebd., 74).<br />

Damit ist das Problem jedoch bei Neugeborenen nicht gelöst, <strong>de</strong>nn zweifels<strong>ohne</strong><br />

waren diese nie vorher in <strong>de</strong>r Lage, irgendwelche Präferenzen auszudrücken. Geht es<br />

also um Sterbehilfe bei Neugeborenen – und dies ist faktisch nur bei schwergeschä-<br />

digten Neugeborenen <strong>de</strong>r Fall – bietet HOERSTER zwei Mo<strong>de</strong>lle an, wie <strong>de</strong>r mut-<br />

maßliche Wille zu bestimmen ist.<br />

Das erste Mo<strong>de</strong>ll skizziert HOERSTER in seinem Buch „Neugeborene und das<br />

Recht auf Leben“ (1995b) wie folgt: Der Wunsch <strong>de</strong>r Eltern tritt an die Stelle <strong>de</strong>s<br />

28


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Wunsches <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, wie dies überhaupt bei Vornahme o<strong>de</strong>r Unterlassung einer<br />

ärztlichen Behandlung geschieht. Dennoch ist auch hier auf <strong>de</strong>n mutmaßlichen<br />

Wunsch <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zu achten: Der mutmaßliche Wunsch eines Kin<strong>de</strong>s nach Sterbe-<br />

hilfe muß einem Lei<strong>de</strong>nszustand entspringen, <strong>de</strong>r so gravierend ist, „daß das Kind,<br />

wenn es urteilsfähig und über seinen Zustand aufgeklärt wäre, aufgrund reiflicher<br />

Überlegung die Sterbehilfe selbst wünschen wür<strong>de</strong>“ (HOERSTER 1995b, 106-107).<br />

Treffen die Eltern eine Entscheidung, die nach Meinung <strong>de</strong>s Arztes nicht im Inte-<br />

resse <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ist, so muß dieser die Entscheidung <strong>de</strong>s Vormundschaftsgerichts<br />

einholen (ebd., 112).<br />

Ein zweites Mo<strong>de</strong>ll, daß diesem Weg noch einen weiteren Gedanken hinzufügt,<br />

formuliert HOERSTER in seinem später (1998) erschienen Buch „Sterbehilfe im<br />

säkularen Staat“, allerdings nicht speziell in Bezug auf die Situation Neugeborener<br />

son<strong>de</strong>rn generell in Bezug auf Menschen, die aktuell zu keiner Willensäußerung in<br />

<strong>de</strong>r Lage sind:<br />

Sind die Präferenzen eines Menschen bezüglich einer Behandlung nicht bekannt,<br />

so muß man von einer mutmaßlichen Einwilligung (also etwa in eine lebenserhalten-<br />

<strong>de</strong> Behandlung) dann ausgehen, wenn praktisch je<strong>de</strong>rmann ausdrücklich einwilligen<br />

wür<strong>de</strong>. „Denn wenn praktisch je<strong>de</strong>rmann ausdrücklich einwilligen wür<strong>de</strong> und über<br />

die persönlichen Präferenzen <strong>de</strong>s A nichts bekannt ist, muß mit hoher Wahrschein-<br />

lichkeit davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, daß auch A, wenn er dazu in <strong>de</strong>r Lage wäre,<br />

ausdrücklich einwilligen wür<strong>de</strong>. Ob aber praktisch je<strong>de</strong>rmann für seine Person ein-<br />

willigen wür<strong>de</strong>, läßt sich prinzipiell, sofern Zweifel bestehen, durch Befragungen<br />

ermitteln“ (HOERSTER 1998, 75).<br />

An dieser Stelle ist allerdings wie<strong>de</strong>r zwischen passiver Sterbehilfe und aktiver<br />

Sterbehilfe zu differenzieren:<br />

Bei <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Legitimität passiver Sterbehilfe ist folgen<strong>de</strong>s zu beachten:<br />

„Es ist generell <strong>de</strong>r (aktive) Eingriff <strong>de</strong>r Behandlung – und nicht <strong>de</strong>r (passive) Ver-<br />

zicht auf diesen Eingriff -, welcher <strong>de</strong>r legitimieren<strong>de</strong>n Einwilligung <strong>de</strong>s Patienten<br />

bedarf“ (ebd., 83). Gera<strong>de</strong> bei schwergeschädigten Neugeborenen ist zu erwarten,<br />

daß wohl nicht je<strong>de</strong>rmann in eine lebensverlängern<strong>de</strong> Behandlung einwilligen wür<strong>de</strong><br />

und somit eine solche Behandlung eher unterbleiben müßte.<br />

29


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Nach HOERSTER muß <strong>de</strong>r Leitsatz also heißen: „Im Zweifel gegen eine (le-<br />

bensverlängern<strong>de</strong>) Behandlung“ (ebd., 90).<br />

Im Fall aktiver Sterbehilfe ist ähnliches zu be<strong>de</strong>nken wie im Fall passiver<br />

Sterbehilfe. Allerdings muß im Fall <strong>de</strong>r aktiven Sterbehilfe „prinzipiell <strong>de</strong>r<br />

(mutmaßliche) Wille zur Preisgabe <strong>de</strong>s Lebens bewiesen wer<strong>de</strong>n“ (ebd., 95-96).<br />

„Während passive Sterbehilfe im Zweifel zulässig ist, ist aktive Sterbehilfe im<br />

Zweifelsfall unzulässig“ (ebd., 96).<br />

Die Interessen o<strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>r Eltern erwähnt HOERSTER in diesem zweiten<br />

Mo<strong>de</strong>ll nicht. Das hat meiner Ansicht nach darin seine Grün<strong>de</strong>, daß es eben nicht um<br />

Sterbehilfe bei Kin<strong>de</strong>rn (und speziell Neugeborenen) geht, son<strong>de</strong>rn um Sterbehilfe<br />

generell. Ich gehe jedoch davon aus, daß HOERSTER weiterhin die Entscheidung<br />

für o<strong>de</strong>r gegen Sterbehilfe in welcher Form auch immer bei <strong>de</strong>n Eltern belassen<br />

möchte. Zu beachten ist die Möglichkeit <strong>de</strong>s Arztes, im Falle einer strittigen Ent-<br />

scheidung das Vormundschaftsgericht zu bemühen „bzw. im Eilfall eigenmächtig<br />

[zu] han<strong>de</strong>ln“ (HOERSTER 1995b, 112).<br />

3.6 Frühgeborene und das Recht auf Leben<br />

<strong>Eine</strong> weitere Problematik besteht in <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m Lebensrecht frühgeborener<br />

Kin<strong>de</strong>r, also solcher Kin<strong>de</strong>r, die vor Ablauf einer Schwangerschaft von 37 Wochen<br />

geboren wer<strong>de</strong>n (ebd., 49).<br />

Steht also je<strong>de</strong>m Frühgeborenen ein Recht auf Leben zu?<br />

Diese Frage beantwortet HOERSTER, noch dazu im gleichen Jahr, unterschiedlich:<br />

In seinem Buch „Abtreibung im säkularen Staat“ stellt HOERSTER fest: „Dieses<br />

Lebensrecht muß konsequenterweise auch Frühgeburten zustehen“ (HOERSTER<br />

1995a, 140). Dies <strong>de</strong>ckt sich mit <strong>de</strong>r oben beschriebenen Argumentation<br />

HOERSTERs, daß <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alnorm „Lebensrecht für je<strong>de</strong> Person“ die Praxisnorm<br />

„Lebensrecht für je<strong>de</strong>s geborene menschliche Individuum“ entspricht.<br />

Dennoch vertritt HOERSTER in <strong>de</strong>m sich mit dieser Frage <strong>de</strong>taillierter auseinan-<br />

<strong>de</strong>rsetzen<strong>de</strong>n Buch „Neugeborene und das Recht auf Leben“ (1995b) eine an<strong>de</strong>re<br />

Auffassung. Die Grün<strong>de</strong>, die für ein Lebensrecht je<strong>de</strong>s Neugeborenen sprechen, sind<br />

pragmatischer Natur. Deshalb ist zu fragen, ob dieselben Grün<strong>de</strong> auch für ein Le-<br />

bensrecht je<strong>de</strong>s frühgeborenen Kin<strong>de</strong>s sprechen bzw. welche frühgeborenen Kin<strong>de</strong>r<br />

30


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

diese Lebensrecht ebenfalls aus pragmatischen Grün<strong>de</strong>n bekommen sollen<br />

(HOERSTER 1995b, 51-57).<br />

HOERSTER schlägt als Praxisnorm vor: „Das Recht auf Leben erhält je<strong>de</strong>s ge-<br />

borene menschliche Individuum mit einem Gesamtalter von min<strong>de</strong>stens 28 Wochen“<br />

(ebd., 57). Das Gesamtalter entspricht dabei <strong>de</strong>m Alter ab Empfängnis.<br />

Welche Grün<strong>de</strong> sprechen nun nach HOERSTER für diese ergänzte Praxisnorm?<br />

Vor einem Gesamtalter von 28 Wochen kann ein Frühgeborenes <strong>ohne</strong> medizini-<br />

sche Behandlung höchstwahrscheinlich nicht überleben. Zwar ist auch nach diesem<br />

Zeitpunkt ein Frühgeborenes <strong>ohne</strong> medizinische Behandlung gefähr<strong>de</strong>t in seinem<br />

Überleben, dies hängt jedoch stark von <strong>de</strong>r Konstitution <strong>de</strong>s Frühgeborenen ab<br />

(HOERSTER 1995b, 58).<br />

Hat ein Kind ein Gesamtalter von 28 Wochen erreicht, ist es also, genau wie ein<br />

Neugeborenes mit einer Geburt nach <strong>de</strong>r 37. Schwangerschaftswoche, wahrschein-<br />

lich natürlich lebensfähig. Daher „hätte <strong>de</strong>r normale Bürger ... kaum Verständnis<br />

dafür, wenn zwischen <strong>de</strong>n Normalgeborenen und <strong>de</strong>n natürlich lebensfähigen Früh-<br />

geborenen eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Differenzierung vorgenommen wür<strong>de</strong>. ... Wollte man<br />

jenen Frühgeborenen, die eine nennenswerte natürliche Überlebenschance haben, das<br />

Recht auf Leben absprechen, so sähe <strong>de</strong>r Durchschnittsbürger wohl automatisch auch<br />

das Lebensrecht von normalen Neugeborenen in Frage gestellt“ (ebd., 59). Mit <strong>de</strong>r<br />

Infragestellung <strong>de</strong>s Lebensrechtes von Neugeborenen wäre damit dann auch das Le-<br />

ben von Kin<strong>de</strong>rn in Gefahr, <strong>de</strong>nen aus prinzipiellen Grün<strong>de</strong>n ein Lebensrecht zusteht.<br />

Da das Überleben von Frühgeborenen vor einem Gesamtalter von 28 Wochen an<br />

medizinisch erheblichen Aufwand gebun<strong>de</strong>n ist, ist es „mehr als unwahrscheinlich,<br />

daß generell das Lebensrecht von Kleinstkin<strong>de</strong>rn in Gefahr gerät, wenn man dieser<br />

Kategorie von Frühgeborenen das Lebensrecht und <strong>de</strong>n mit ihm verbun<strong>de</strong>nen An-<br />

spruch auf medizinische Behandlung abspricht“ (ebd., 59-60).<br />

Dies be<strong>de</strong>utet nicht, daß Frühgeborene mit einem Gesamtalter unter 28 Wochen<br />

von je<strong>de</strong>rmann getötet wer<strong>de</strong>n dürfen, da prinzipiell das Interesse <strong>de</strong>r Eltern am Le-<br />

ben dieses Kin<strong>de</strong>s von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist. Solche Frühgeborenen dürfen<br />

jedoch für HOERSTER selbstverständlich auf Veranlassung <strong>de</strong>r Eltern getötet wer-<br />

<strong>de</strong>n (ebd., 65-66). Allerdings for<strong>de</strong>rt HOERSTER hier, <strong>de</strong>r Empfindungsfähigkeit<br />

<strong>de</strong>s Frühgeborenen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, daß das Sterbenlassen<br />

31


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

o<strong>de</strong>r Töten schmerzlos erfolgt. Dieses soll <strong>de</strong>shalb in <strong>de</strong>r Verantwortung eines Arztes<br />

liegen (ebd., 69-70).<br />

3.7 Sterbehilfe in späteren Lebensabschnitten<br />

Die Frage <strong>de</strong>s Infantizids, also <strong>de</strong>r Tötung von Neugeborenen und Frühgeborenen,<br />

<strong>de</strong>nen ein Recht auf Leben zusteht, behan<strong>de</strong>lt HOERSTER unter <strong>de</strong>r allgemeinen<br />

Fragestellung <strong>de</strong>r Sterbehilfe. Die Kriterien, die er für die Zulässigkeit von Sterbehil-<br />

fe in diesem Zusammenhang entwickelt, beanspruchen also generelle Geltung für die<br />

Problematik <strong>de</strong>r Sterbehilfe.<br />

4. „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong> ?“<br />

4.1 Das Verbot <strong>de</strong>r Diskriminierung aufgrund einer Behin<strong>de</strong>rung<br />

Das Recht auf Leben, daß je<strong>de</strong>m Menschen zukommt, ist unabhängig von „beson<strong>de</strong>-<br />

ren Eigenschaften o<strong>de</strong>r Fähigkeiten, Mängeln o<strong>de</strong>r Defiziten“, genauso von Rasse,<br />

Geschlecht, Intelligenz o<strong>de</strong>r Dummheit, Gesundheit o<strong>de</strong>r Krankheit, Normalität o<strong>de</strong>r<br />

Behin<strong>de</strong>rung (HOERSTER 1994, 844).<br />

Insofern lehnt HOERSTER etwa je<strong>de</strong> „behin<strong>de</strong>rungsspezifische Diskriminierung<br />

bei <strong>de</strong>r Zusprechung <strong>de</strong>s Lebensrechtes gegenüber <strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschen“ ab<br />

(HOERSTER 1995b, 113). <strong>Eine</strong> Abtreibung ist, wie wir oben sahen, eben generell<br />

gestattet, nicht nur bei behin<strong>de</strong>rten Föten. Auch bei <strong>de</strong>r Sterbehilfe (Liegenlassen) ist<br />

eine „Behin<strong>de</strong>rung als solche nicht ausschlaggebend“, son<strong>de</strong>rn „ein möglicher Fak-<br />

tor“, <strong>de</strong>r eine Sterbehilfe anzeigen kann (ebd., 113-114).<br />

Die von HOERSTER vorgeschlagenen Regelungen in Bezug auf Abtreibung etc.<br />

beinhalten für ihn also selbst keine Diskriminierung aufgrund <strong>de</strong>s Kriteriums <strong>de</strong>r<br />

Behin<strong>de</strong>rung.<br />

Dennoch sieht HOERSTER sich <strong>de</strong>m Vorwurf <strong>de</strong>r Diskriminierung v.a. in <strong>de</strong>r<br />

Frage <strong>de</strong>r Abtreibung ausgesetzt. <strong>Eine</strong> völlig freie Abtreibung ermöglicht nämlich<br />

eine eugenische motivierte Auswahl von Föten seitens <strong>de</strong>r Eltern (ebd., 114). Dies ist<br />

für HOERSTER jedoch legitim, <strong>de</strong>nn „sofern überhaupt das Selbstbestimmungsrecht<br />

32


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

<strong>de</strong>r Schwangeren <strong>ohne</strong> Indikation durchgreifen soll, so muß dies generell und unab-<br />

hängig von <strong>de</strong>n jeweiligen Abtreibungsmotiven gelten“ (ebd., 115).<br />

Auch die For<strong>de</strong>rung mancher Gegner <strong>de</strong>r von ihm vorgeschlagenen Abtreibungs-<br />

praxis, zwar die selektive Abtreibung als solche nicht zu verbieten, wohl aber indi-<br />

rekt zu verhin<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r pränatalen Diagnostik verboten wer<strong>de</strong>n,<br />

lehnt HOERSTER ab (ebd., 116). „Im Rahmen einer generell freien Abtreibung ver-<br />

dient eine Orientierung am Kriterium <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rung eher Lob als Ta<strong>de</strong>l“ (ebd.,<br />

117). Diese Feststellung ist für HOERSTER begrün<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>r Relation von Behin<strong>de</strong>-<br />

rung und Lebenswert.<br />

4.2 Behin<strong>de</strong>rung und Lebenswert<br />

Der Wert eines menschlichen Lebens kann nach HOERSTER nur in <strong>de</strong>r „Gesamtheit<br />

<strong>de</strong>r Bewertungen o<strong>de</strong>r Wertschätzungen, die mit <strong>de</strong>m Ablauf dieses Lebens verbun-<br />

<strong>de</strong>n sind“ (ebd., 117) bestehen. Differenzieren läßt sich diese ‚Gesamtheit’ in<br />

Fremdwert (Bewertung eines Lebens vom Standpunkt eines an<strong>de</strong>ren o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesell-<br />

schaft) und Eigenwert (eigene Bewertung) eines Lebens. Unabhängig von diesen<br />

bei<strong>de</strong>n Bewertungen menschlicher Art gibt es für HOERSTER keinen Lebenswert<br />

(ebd., 117-118).<br />

<strong>Eine</strong> Behin<strong>de</strong>rung min<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n Lebenswert mit hoher Wahrscheinlichkeit. So-<br />

wohl die Fremdbewertung als auch die Eigenbewertung eines Lebens mit Behin<strong>de</strong>-<br />

rung wird geringer ausfallen als die eines Lebens unter sonst gleichen Bedingungen<br />

<strong>ohne</strong> Behin<strong>de</strong>rung (ebd., 118-119). Damit will HOERSTER we<strong>de</strong>r ausgesagen, daß<br />

ein Leben mit Behin<strong>de</strong>rung keinen Wert besitzt, noch, daß je<strong>de</strong>s Leben mit einer<br />

Behin<strong>de</strong>rung weniger Wert hat als je<strong>de</strong>s Leben <strong>ohne</strong> Behin<strong>de</strong>rung: „Der Eigenwert<br />

wie Fremdwert eines Lebens hängt von so zahlreichen Faktoren ab, daß ein einziger<br />

negativer Faktor stets durch an<strong>de</strong>re positive Faktoren mehr als ausgeglichen wer<strong>de</strong>n<br />

kann“ (ebd., 119).<br />

Dennoch behält die allgemeine Aussage für HOERSTER Gültigkeit: „Das Leben<br />

irgen<strong>de</strong>ines Individuums A, von <strong>de</strong>m wir nichts weiter wissen, als daß es nicht krank<br />

o<strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rt ist, besitzt wahrscheinlich einen größeren Wert als das Leben irgend-<br />

eines Individuums B, von <strong>de</strong>m wir nichts weiter wissen, als daß es krank o<strong>de</strong>r behin-<br />

<strong>de</strong>rt ist“ (ebd., 120).<br />

33


2. Kapitel: Die Thesen Norbert Hoersters<br />

Hieraus läßt sich nach HOERSTER die allgemeine Schlußfolgerung ziehen, daß<br />

eine <strong>Welt</strong> besser wäre, als sie ist, in <strong>de</strong>r die Kranken und <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>n entwe<strong>de</strong>r nicht<br />

krank o<strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rt wären, o<strong>de</strong>r statt <strong>de</strong>ssen eine ebensolche Anzahl gesun<strong>de</strong>r und<br />

nichtbehin<strong>de</strong>rter Menschen in ihr lebten (ebd., 121). Klar stellt HOERSTER an die-<br />

ser Stelle erneut, daß damit nicht gemeint ist, daß man „die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>n – etwa zu-<br />

gunsten nichtbehin<strong>de</strong>rter Einwan<strong>de</strong>rer, die ihre Stelle einnehmen – beseitigen darf“<br />

(ebd., 122). Das Recht auf Leben je<strong>de</strong>s geborenen Menschen ist unabhängig von ei-<br />

nem Lebenswert dieses Lebens.<br />

Unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Relation von Lebenswert und Behin<strong>de</strong>rung for<strong>de</strong>rt<br />

HOERSTER aber folgen<strong>de</strong>s:<br />

„1. Die Mittel mo<strong>de</strong>rner Pränataldiagnostik wer<strong>de</strong>n vom Staat flächen<strong>de</strong>ckend be-<br />

reitgestellt und je<strong>de</strong>r Schwangeren kostenlos angeboten. 2. Eltern von Frühgeborenen<br />

<strong>ohne</strong> Lebensrecht sind von <strong>de</strong>m behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Arzt darauf hinzuweisen, daß das ge-<br />

nerelle Risiko einer späteren, dauerhaften Behin<strong>de</strong>rung ihres Kin<strong>de</strong>s erheblich ist.<br />

Auf diese Weise wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Eltern eine eugenische Auswahl in bezug auf die von<br />

ihnen gewünschten Kin<strong>de</strong>r in einem gewissen zeitlichen Rahmen ausdrücklich er-<br />

möglicht, ja nahegelegt“ (ebd., 127).<br />

HOERSTER bestreitet, daß aus diesen Maßnahmen „irgendwelche praktischen<br />

Folgerungen abzuleiten [sind] für <strong>de</strong>n Umgang mit Individuen, <strong>de</strong>nen alle Menschen-<br />

rechte zustehen“ (ebd.) Der „rechtliche o<strong>de</strong>r soziale Status von <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>n“ wür<strong>de</strong><br />

sich dadurch genausowenig verän<strong>de</strong>rn (ebd.), wie diese Maßnahmen Auswirkungen<br />

auf <strong>de</strong>n „Respekt vor behin<strong>de</strong>rten Menschen“ (ebd., 128) hätten.<br />

34


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

3. Die Thesen Norbert Hoersters aus Sicht <strong>de</strong>s ‚Interaktionistischen Konstrukti-<br />

vismus’<br />

Aus Sicht <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik for<strong>de</strong>rn die Thesen Norbert HOERSTERs Wi-<br />

<strong>de</strong>rspruch heraus. Dieser Wi<strong>de</strong>rspruch mag sich zunächst gegen folgen<strong>de</strong> Punkte<br />

richten:<br />

1. HOERSTER begrün<strong>de</strong>t die Zuerkennung eines Lebensrechtes auf prinzipieller<br />

Ebene mit <strong>de</strong>m Vorhan<strong>de</strong>nsein eines Interesses am eigenen Überleben. Aus pragma-<br />

tischen Grün<strong>de</strong>n weitet er dieses Lebensrecht dann aus auf alle geborenen menschli-<br />

chen Wesen, unabhängig, ob diese nun über Personalität verfügen o<strong>de</strong>r nicht. RÖS-<br />

NER formuliert gegen diese Thesen ein sog. ‚Dammbruchargument’: „Während<br />

prinzipielle Grün<strong>de</strong> eine von Zeitgeistströmungen unabhängige Geltungskraft besit-<br />

zen können, ist das bei sog. pragmatischen Grün<strong>de</strong>n nicht <strong>de</strong>r Fall. <strong>Eine</strong> Gesellschaft<br />

ist je<strong>de</strong>rzeit wie<strong>de</strong>r vorstellbar, in <strong>de</strong>r aus pragmatischen Grün<strong>de</strong>n eine Übereinkunft<br />

als sinnvoll gilt, Menschen <strong>ohne</strong> Personeneigenschaften zu euthanasieren“ (1997,<br />

44). 12<br />

2. HOERSTER bedient sich u.a. bei <strong>de</strong>r moralisch - ethischen Rechtfertigung <strong>de</strong>r<br />

selektiven (eugenischen) Abtreibungspraxis <strong>de</strong>s Lebenswert-Begriffs. 13 Dabei geht<br />

HOERSTER davon aus, daß so etwas wie <strong>de</strong>r ‚Lebenswert’ eines Menschen zumin-<br />

<strong>de</strong>st ungefähr zu quantifizieren und damit zu vergleichen ist. Die Diskussion dieses<br />

Begriffs bei HOERSTER bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Hintergrund, vor <strong>de</strong>m zugleich seine Gedanken<br />

zu Abtreibung und Sterbehilfe ihre Brisanz gewinnen. 14 Mittels <strong>de</strong>s Lebenswert-<br />

Begriffs versucht HOERSTER, Abtreibung o<strong>de</strong>r die Praxis <strong>de</strong>s Liegenlassens nicht<br />

bloß völlig frei zu geben, son<strong>de</strong>rn diese sogar als geboten darzustellen.<br />

12 RÖSNER drückt in seinem Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>n Wunsch nach einer auf alle Zeit festgelegten und beachteten<br />

Begründung eines Rechtes auf Leben aus. Dieser Wunsch erscheint aus Sicht <strong>de</strong>s interaktionistischen<br />

Konstruktivismus als problematisch. Dennoch ist er zu beachten, da er aufmerksam macht<br />

auf eine Problematik, die HOERSTER zu wenig be<strong>de</strong>nkt.<br />

13 Jedoch ist dieser Begriff auch bei <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r individuellen Legitimität von Sterbehilfe relevant,<br />

ebenso bei <strong>de</strong>r Behandlung Frühgeborener vor einem Gesamtalter von 28 Wochen.<br />

14 In diesem Punkt übrigens argumentiert Norbert HOERSTER mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s Fremdwertes<br />

eines Lebens utilitaristisch (vgl. RICKEN 1983, 140-142; WIELAND 1996, 33-36).<br />

35


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Wie kann sich Wi<strong>de</strong>rspruch gegen diese Thesen nun artikulieren?<br />

Zum einen ist es möglich, die Argumentation HOERSTERs auf ihre Konsistenz<br />

und ihre begriffliche Genauigkeit hin zu überprüfen. 15 Damit wür<strong>de</strong>n jedoch implizi-<br />

te Grundannahmen HOERSTERs wohl übernommen, die sich als problematisch und<br />

kritikwürdig herausstellen (vgl. unten).<br />

Zum an<strong>de</strong>ren kann man von einem an<strong>de</strong>ren philosophisch-ethischen Standpunkt<br />

aus Argumente gegen HOERSTER aufbringen.<br />

Insofern aber <strong>de</strong>r Versuch, die Thesen HOERSTERs in ihrem zwingend-<br />

logischen Geltungsanspruch zu wi<strong>de</strong>rlegen, selbst wie<strong>de</strong>r zu zwingend-logischen<br />

Gegenargumenten führt, zeigt sich dieser Versuch von <strong>de</strong>r in dieser Arbeit einge-<br />

nommenen Perspektive als nicht ausreichend. Charakteristikum <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne ist<br />

überhaupt die Fragwürdigkeit eines solchen Versuches, ethische Positionen als all-<br />

gemein verpflichtend und letztlich richtig zu begrün<strong>de</strong>n (vgl. hierzu Kapitel 4.1).<br />

Kersten REICH hat in seinen Büchern „Die Ordnung <strong>de</strong>r Blicke“ (1998a, 1998b)<br />

versucht, die Kränkungsbewegungen, die eine solche Begründung verunmöglichen,<br />

zu beschreiben. Darüber hinaus aber hat er Perspektiven entwickelt, die möglichst<br />

weite und umfassen<strong>de</strong> Beobachtungen - in Beachtung <strong>de</strong>r postmo<strong>de</strong>rnen Unschärfe<br />

solcher Beobachtung – ermöglichen. Seinen Ansatz hat er als ‚interaktionistischen<br />

Konstruktivismus’ bezeichnet.<br />

In diesem Kapitel soll grundlegend, aber die Komplexität <strong>de</strong>s Ansatzes von<br />

REICH lediglich an<strong>de</strong>utend 16 , in die ‚Beobachterstandpunkte’ <strong>de</strong>s interaktionisti-<br />

schen Konstruktivismus eingeführt und aus <strong>de</strong>n angebotenen Perspektiven die The-<br />

sen HOERSTERs in <strong>de</strong>n Blick genommen wer<strong>de</strong>n. Dabei wer<strong>de</strong> ich versuchen, die<br />

Perspektiven HOERSTERs zu weiten und als Fremdbeobachter auch von an<strong>de</strong>ren<br />

Standpunkten aus die beschriebenen Probleme in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen.<br />

Im folgen<strong>de</strong>n, vierten Kapitel möchte ich dann versuchen, mit <strong>de</strong>n verbliebenen<br />

Möglichkeiten und <strong>de</strong>r sich ergeben<strong>de</strong>n Beschränkung das Konstrukt <strong>de</strong>r ‚Men-<br />

schenwür<strong>de</strong>’ zu betrachten, da es mir als ‚passen<strong>de</strong>res’ Konstrukt erscheint. Gleich-<br />

15 Hier bieten z.B. DEDERICH (2000, 288-296) und THEUNISSEN (1997, 41-45) Ansatzpunkte,<br />

obschon bei<strong>de</strong> HOERSTER insgesamt von einer umfassen<strong>de</strong>ren theoretischen Perspektive in <strong>de</strong>n<br />

Blick nehmen.<br />

16 Die Reduktion <strong>de</strong>r Komplexität, die an dieser Stelle im Rahmen einer Examensarbeit zwingend<br />

notwendig ist, erscheint vom Ansatz Kersten REICHs als äußerst problematisch.<br />

36


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

zeitig ist in diesem Kontext dann die Reichweite und Aussagekraft einer Ethik in<br />

ihrem Zusammenspiel mit Recht überhaupt zu be<strong>de</strong>nken.<br />

1. Beobachter und Beobachtung aus Sicht <strong>de</strong>s ‚Interaktionistischen Konstruktivis-<br />

mus’<br />

Beobachtung, gera<strong>de</strong> in einer vermeintlich exakten und ein<strong>de</strong>utigen Weise, ist<br />

Grundlage von Wissenschaft. Beobachtung zeigt sich jedoch in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne zuneh-<br />

mend als brüchig: Die Repräsentation <strong>de</strong>r Wirklichkeit in unseren Beobachtungen<br />

stimmt nicht überein mit <strong>de</strong>n Dingen da draußen, <strong>de</strong>r Realität. In diesem Spannungs-<br />

verhältnis zwischen beobachteter Wirklichkeit und Realität rückt nun <strong>de</strong>r Beobachter<br />

in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s Interesses (REICH 1998a, 11-15).<br />

Dieser Beobachter erscheint zweifach. Er ist immer Teilnehmer und Akteur: Er<br />

ist Teilnehmer in bestimmten funktionalen Systemen, <strong>de</strong>ren Zwängen er unterliegt;<br />

er ist aber auch Akteur, er greift ein in diese Zwänge, agiert in diesen Systemen<br />

(ebd., 17-18).<br />

Wissenschaft versucht zumeist, <strong>de</strong>n Beobachter zu verbergen, wenn sie „allen<br />

Eindruck zu erwecken versucht, daß ihre Beobachter in ‚wahrer’ Beobachtung auf-<br />

gehen“ (ebd., 19). Sie versucht, die Individualität <strong>de</strong>s Beobachters durch Beobach-<br />

tungs-theorien zu begrenzen o<strong>de</strong>r auszuschließen. Erst dann kann Wissenschaft wie-<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Anspruch vertreten, ihre Beobachtung sei ‚wahre’ Beobachtung (ebd., 19-<br />

20). Konstruktivistische Theorien wie <strong>de</strong>r interaktionistische Konstruktivismus set-<br />

zen an <strong>de</strong>r Bruchstelle von Beobachtung und Beobachter an. An dieser Bruchstelle<br />

entstehen die Konstrukte und Konstruktionen, die Gegenstand solcher Theorien sind<br />

(ebd. 22).<br />

Ich wer<strong>de</strong> nun versuchen, einige wesentliche Gedanken, Konstrukte und Perspek-<br />

tiven REICHs darzustellen, die letztlich allesamt <strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die Beobachter thematisie-<br />

ren. Die Auswahl <strong>de</strong>r dargestellten Thesen ist nicht willkürlich, kann jedoch die un-<br />

geheure Komplexität REICHs nur stark reduzierend und selektiv betrachten.<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

1.1 Beobachtung: Kränkungsbewegungen <strong>de</strong>r Vernunft und Unschärfen <strong>de</strong>r Erkennt-<br />

nis<br />

REICH beschreibt drei Kränkungsbewegungen, die die Aussagekraft von Beobach-<br />

tungen in einer engen Beobachtungswirklichkeit betreffen. Der Begriff ‚enge Beo-<br />

bachtungswirklichkeit’ be<strong>de</strong>utet dabei, daß Beobachtung in diesem Kontext darauf<br />

zielt, Wahrheit o<strong>de</strong>r Objektivität zu erkennen und herzustellen. Damit ist v.a. die<br />

<strong>Welt</strong> <strong>de</strong>r Wissenschaft und <strong>de</strong>r Technik charakterisiert.<br />

Drei Kränkungsbewegungen betreffen diese Beobachtungswirklichkeit:<br />

1. Kränkung: absolut und relativ<br />

Diese Kränkungsbewegung bezieht sich explizit auf <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>r Wahrheit von<br />

Beobachtung. Dieser Anspruch ist in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne, zugespitzt dann in <strong>de</strong>r Entwick-<br />

lung <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne 17 , immer mehr erschüttert wor<strong>de</strong>n. REICH zeichnet diese<br />

Bewegung in umfassen<strong>de</strong>n Schritten nach.<br />

Dabei wählt er zunächst eine sprachphilosophische Perspektive: Sprache er-<br />

scheint dabei zuerst als ein Weg, individuelle Erfahrungen an spätere Generationen<br />

(kürzer natürlich auch an an<strong>de</strong>re Beobachter) weiterzugeben (REICH 1998a, 71-72).<br />

In sprachlicher Fixierung entsteht dabei Wahrheit als ‚Eins’, als „Allgemeines [, das<br />

in sich] trägt ... die Repräsentanz einer verallgemeinerten Realität“ (ebd., 73). Als<br />

solches ‚Eins’ ist Sprache damit überhaupt Voraussetzung jeglicher Wissenschaft<br />

(ebd.).<br />

Im Rückgriff auf PEIRCE, FOCAULT und DERRIDA zeigt REICH dann, daß<br />

diese Repräsentation im Eins <strong>de</strong>r Sprache nie über die Konstruktivität eines Beob-<br />

achters o<strong>de</strong>r einer Verständigungsgemeinschaft hinausreicht. Die sprachliche Reprä-<br />

sentation bezeichnet eben nicht die Realität, die unabhängig von einem Beobachter<br />

existiert, son<strong>de</strong>rn sie bleibt Repräsentation einer Wirklichkeit neben an<strong>de</strong>ren Wirk-<br />

lichkeiten. Der Wahrheit <strong>de</strong>s Eins wer<strong>de</strong>n die Wahrheiten vieler Auchs zur Seite ge-<br />

stellt (ebd., 109-138). Diese sprachliche bzw. kommunikative Realität in ihren Zei-<br />

chen (also z.B. auch Gesten, Riten), Worten, Begriffen, Aussagen und Be<strong>de</strong>utungs-<br />

kontexten bezeichnet REICH als ‚Symbolisches’ (ebd. 230).<br />

17 Dabei ist ‚Postmo<strong>de</strong>rne’ als Begriff hier nicht bloß zeitlich zu verstehen. Zwar wird Postmo<strong>de</strong>rne<br />

auch als Epochenbezeichnung benutzt, <strong>de</strong>r Begriff charakterisiert jedoch zu<strong>de</strong>m Entwicklungen, die<br />

Pluralität zum Kern haben (vgl. z.B. WELSCH 1994).<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Wahrheit wird also in diesem Sinne sprachlich hergestellt. Wahrheit wird aber<br />

auch von je<strong>de</strong>m einzelnen Beobachter hergestellt. Unter an<strong>de</strong>rem explizit konstrukti-<br />

vistische Ansätze thematisieren diese Problematik. Dabei scheint <strong>de</strong>r Grundgedanke<br />

<strong>de</strong>r sog. radikal-konstruktivistischen Ansätze <strong>de</strong>r zu sein, daß es „einen grundsätzli-<br />

chen Unterschied, einen Riß, [gibt], <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m Gehirn und <strong>de</strong>r Außenwelt<br />

besteht und nicht durch direkten Transport von Informationen überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

kann“ (ebd., 159). Auf dieser Grundannahme wird also Wirklichkeit, die ein Beob-<br />

achter zu erkennen vermag, zu einer Konstruktion seines Gehirns. Diese Konstrukti-<br />

on kann jedoch nicht beliebig sein. Immerhin entsteht sie aufgrund bestimmter Ein-<br />

drücke, die mittels <strong>de</strong>r Sinnesorgane im Gehirn zu einer Wahrnehmung verarbeitet<br />

wer<strong>de</strong>n. Zwei Kriterien, die auf die Konstruktion einer solchen Wahrnehmung Ein-<br />

fluß haben, sollen hier genannt sein: Zum einen das Kriterium <strong>de</strong>r Viabilität, das –<br />

verkürzt dargestellt – be<strong>de</strong>utet, daß unsere Konstruktion einer Wirklichkeit zumin-<br />

<strong>de</strong>st nicht mit <strong>de</strong>r äußeren Realität in direktem Wi<strong>de</strong>rspruch zu stehen vermag. Unse-<br />

re Konstruktionen von Wirklichkeit müssen unserer Umwelt angepaßt sein. Viabilität<br />

ist also in diesem Sinne mit ‚Passung‘ zu umschreiben (ebd., 175-185). Zum zweiten<br />

kann zwischen zwei Beobachtern strukturelle Koppelung als stabile und rekursive<br />

Interaktion entstehen, durch die eine konsensuelle Realität geschaffen wird, also so<br />

etwas wie eine gemeinsame Deutung von Wirklichkeit (ebd., 160-175).<br />

REICH kritisiert an diesen sog. radikal-konstruktivistischen Ansätzen u.a., daß<br />

sie zuwenig die Interaktion <strong>de</strong>r in ihren subjektivistische Position verhafteten einzel-<br />

nen Beobachter be<strong>de</strong>nken. Dazu reflektieren diese Ansätze ihm zu wenig auf gera<strong>de</strong><br />

in <strong>de</strong>r europäischen Philosophie bereits gedachte Relativierungen <strong>de</strong>r Wahrheit von<br />

Erkenntnis (ebd., 183,-187). Dennoch tragen sie – neben an<strong>de</strong>ren – zur Kränkung <strong>de</strong>s<br />

Anspruch eines Eins bei.<br />

Fassen wir diese Gedanken zusammen: Die Erkenntnis einer wahren Beobach-<br />

tung ist uns nicht möglich. Unsere Beobachtung kann nicht <strong>de</strong>r Realität entsprechen,<br />

auch wenn wir sie sprachlich, symbolisch fixieren. Aus diesem Grund stellt REICH<br />

<strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s Symbolischen <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Realen zur Seite, <strong>de</strong>r die Lücken, die<br />

Brechungen unserer symbolischen – und wie wir später sehen wer<strong>de</strong>n auch imaginä-<br />

ren - Ordnung bezeichnet. Das Reale erscheint uns als Erstaunen, als Grenze dieser<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Ordnungen immer dort, wo unsere Erklärungen, Verständnisse und Vorhersagen<br />

nicht aufgehen (1998b, 43).<br />

Dennoch bleibt Wahrheit als Anspruch bestehen: Dieser Anspruch ist jedoch<br />

bloß noch in <strong>de</strong>m oben ange<strong>de</strong>uteten ‚konsensuellen’ Bereich, besser innerhalb einer<br />

Verständigungsgemeinschaft möglich.<br />

2. Kränkung: Selbst und An<strong>de</strong>rer<br />

„Die gekränkte absolute Wahrheit hat sich in Verständigungsgemeinschaften zu-<br />

rückgezogen“ (ebd., 219). Dabei ist eine Verständigungsgemeinschaft eine Gemein-<br />

schaft verschie<strong>de</strong>ner Subjekte, die Wahrheiten sich als Konstrukte bil<strong>de</strong>n. Mit einer<br />

solchen Verständigungsgemeinschaft rücken die Subjekte in <strong>de</strong>n Blickpunkt, genauer<br />

das Problem <strong>de</strong>r gegenseitigen Anerkennung <strong>de</strong>r Subjekte, <strong>de</strong>nn die Art <strong>de</strong>r gegen-<br />

seitigen Anerkennung wird Rückwirkungen haben auf die hergestellten Wahrheiten.<br />

REICH thematisiert dieses Problem im Rückgriff auf HEGEL, SARTRE, LEVINAS,<br />

MEAD, HABERMAS und LUHMANN. Ich wer<strong>de</strong> mich hier auf die Darstellung <strong>de</strong>r<br />

wichtigen Perspektiven und Begriffe von ‚Selbst’ und ‚An<strong>de</strong>rem’, ‚Begehren’‚ sym-<br />

bolisch’, ‚imaginär’ und ‚real’, auf Begriffe, die REICH über LEVINAS gewinnt,<br />

beschränken.<br />

Während HEGEL davon ausgeht, daß <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re nur über ein Selbst bestimmt<br />

sein kann, um überhaupt als An<strong>de</strong>rer vorzukommen, trennt LEVINAS Selbst und<br />

An<strong>de</strong>ren radikal (ebd., 253). Das Selbst richtet sich als Beobachter auf <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren:<br />

Dabei erscheint mit LEVINAS das Antlitz. In diesem Antlitz wird für ein Selbst <strong>de</strong>r<br />

An<strong>de</strong>re erfahrbar. Dies läßt sich folgen<strong>de</strong>rmaßen umschreiben: Begegne ich <strong>de</strong>m<br />

An<strong>de</strong>ren auf symbolischer Ebene, dann erscheint er mir schon nicht mehr als An<strong>de</strong>-<br />

rer. In<strong>de</strong>m ich symbolisch etwas über <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren aussage, reduziere ich ihn immer<br />

schon wie<strong>de</strong>r auf das Selbe, das bereits im Symbolischen mögliche und gedachte<br />

(ebd., 250). Das Antlitz das An<strong>de</strong>ren übersteigt aber die Ebene <strong>de</strong>s Symbolischen.<br />

Das Antlitz ist durch sich selbst be<strong>de</strong>utsam, es bedarf keiner erläutern<strong>de</strong>n Kontexte,<br />

um verständlich zu sein. Die Erscheinung <strong>de</strong>s Antlitzes ist damit unmittelbar, <strong>de</strong>r<br />

An<strong>de</strong>re erscheint im Antlitz als Frem<strong>de</strong>s, als Unendliches (ebd., 253-257).<br />

Wie aber ist dann Interaktion zu <strong>de</strong>nken?<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Zunächst einmal wird Interaktion damit unmöglich. Denn in<strong>de</strong>m ich <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren<br />

nicht reduktiv auf das Selbe, das bereits Gewußte, zurückführen will, stehen mir<br />

nicht mehr die Zeichen und Aussagen <strong>de</strong>s Symbolischen zur Verfügung. Damit wird<br />

<strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re zu einem singulären Ereignis. Die Begegnung mit <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren stellt<br />

sich dann dar als Realität, als Ereignis. Damit öffnet sich zugleich die kommunikati-<br />

ve Situation auf ihre Möglichkeiten hin, auf die Möglichkeiten, die da sind, <strong>ohne</strong><br />

symbolisch schon festzustehen (ebd., 260-263).<br />

Diese kommunikativen Möglichkeiten, diese Interaktion kann dann nur noch ver-<br />

mittelt über das Imaginäre gedacht wer<strong>de</strong>n. „Aber was fin<strong>de</strong> ich im Imaginären? Es<br />

sind Vor-Stellungen, Bil<strong>de</strong>r und intentionale Affekte, die sich noch nicht symbol-<br />

vermittelt zwischen mich und <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren geschoben haben“ (ebd., 259). Nur über<br />

das Imaginäre kann <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re mir erscheinen, kann ich mir <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren gewahr<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>ohne</strong> ihn wie<strong>de</strong>r zu reduzieren auf Symbolisches. Das Imaginäre ist<br />

gleichzeitig nicht <strong>ohne</strong> <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren zu <strong>de</strong>nken: Das Imaginäre ist „das mit <strong>de</strong>n<br />

An<strong>de</strong>ren sich vermitteln<strong>de</strong>“ (ebd.). Interaktion erscheint damit schon gespalten in<br />

min<strong>de</strong>stens zwei Ebenen: zum einen eine symbolische, sprachliche Ebene, zum<br />

an<strong>de</strong>ren auf eine imaginäre Ebene, die vermittelt da sein muß, die direkt<br />

auszudrücken aber nicht möglich ist (ebd., 263-264).<br />

Das ‚Begehren’ ist hier Motivation: Es erscheint als Begehren eines Selbst, das<br />

sich „auf Ziele [richtet], die durchaus in einem An<strong>de</strong>ren angelegt sein können, die<br />

aber zugleich unendlich sind, <strong>de</strong>nn es gibt nicht wie bei <strong>de</strong>n Bedürfnissen klar abge-<br />

steckte Wie<strong>de</strong>rholungen o<strong>de</strong>r banale Endlichkeit“ (ebd., 253).<br />

Fassen wir diese Gedanken zusammen: Die Beziehung von einem Subjekt, einem<br />

Selbst zu einem An<strong>de</strong>ren kann nicht auf <strong>de</strong>r symbolischen Ebene stattfin<strong>de</strong>n, <strong>ohne</strong><br />

<strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren bereits wie<strong>de</strong>r als Selbes zu vereinnahmen. Mein Begehren <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>-<br />

ren kann jedoch imaginär vermittelt <strong>ohne</strong> eine solche Überführung <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren in<br />

Eigenes stattfin<strong>de</strong>n. Der An<strong>de</strong>re erscheint als Reales, die Begegnung wird zum sin-<br />

gulären Ereignis, in <strong>de</strong>r Interaktion <strong>de</strong>nnoch möglich bleibt.<br />

Beziehen wir dies noch einmal zurück auf die Problematik <strong>de</strong>r Wahrheit einer<br />

Verständigungsgemeinschaft. Je<strong>de</strong>r Versuch auf symbolischem Weg eine solche<br />

Wahrheit herzustellen läßt Perspektiven <strong>de</strong>s Imaginären wegfallen, übersieht diese.<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Gera<strong>de</strong> das Imaginäre ist es hier, daß <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>r Wissenschaft, <strong>de</strong>r Vernunft,<br />

<strong>de</strong>s Symbolischen kränkt.<br />

3. Kränkung: bewußt und unbewußt<br />

Mit FREUD fand <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Unbewußten große Aufmerksamkeit. Doch mußte<br />

gera<strong>de</strong> er äußerst problematisch für Wissenschaft bleiben, weil das Unbewußte nur<br />

bewußt formulierbar ist, also nie direkt auszudrücken ist (ebd. 358-359).<br />

An dieser Stelle soll uns weniger <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Unbewußten interessieren: als<br />

Kränkungsbewegung wird recht schnell <strong>de</strong>utlich, daß das Unbewußte „Grenzziehung<br />

hin zu einer bloß kognitiven Aufklärungsauffassung“ ist (ebd. 359), da es bewußte<br />

Objektivität durchkreuzt. Ich möchte an dieser Stelle kurz auf LACAN Gedanken<br />

zum Subjekt kommen.<br />

Dabei konstruiert LACAN Intersubjektivität über das Spiegeln <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren, das<br />

Begehren <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren auf <strong>de</strong>r imaginären Achse. Dieses Spiegeln ist von Be<strong>de</strong>u-<br />

tung. REICH faßt es in folgen<strong>de</strong>r Abbildung zusammen:<br />

(REICH 1998a, 430)<br />

Das Subjekt konstruiert ab seiner Kindheit ein Ich. Dieses „Ich ist vorrangig eine<br />

imaginäre Konstruktion“ (LACAN, zit. nach REICH 1998a, 429). Mit dieser Kon-<br />

struktion bezeichnet LACAN also das imaginäre Ich als die Instanz, in <strong>de</strong>r ein Sub-<br />

jekt „seine Vorstellungen, die von Begehren und Wünschen angetrieben sind, situ-<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

iert“ (LACAN, zit. nach REICH 1998a, 431). Dabei, und hier tritt die Spiegelung ins<br />

Blickfeld, sieht sich das Subjekt auch imaginär über <strong>de</strong>n Blick eines Dritten, es erlebt<br />

„sein Ich in seinen Imaginationen über die Imaginationen von seinesgleichen“<br />

(REICH 1998a, 430). Dies drückt sich im Bild als a’ aus. Das Subjekt ist also „nie<br />

nur mit sich selbst i<strong>de</strong>ntisch, son<strong>de</strong>rn immer schon über an<strong>de</strong>re gespiegelt: es ver-<br />

kehrt sich in . Da auch <strong>de</strong>r symbolisch (große) An<strong>de</strong>re, mit <strong>de</strong>m das Subjekt sich<br />

spiegelt, ein Subjekt ist, gilt, daß auch A zu wird“ (ebd., 431).<br />

Für Interaktion be<strong>de</strong>utet dies außer<strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>s: „Ein Subjekt (S) kann nicht<br />

direkt mit einem an<strong>de</strong>ren Subjekt (A) kommunizieren, son<strong>de</strong>rn immer nur vermittelt<br />

über die imaginäre Achse“ (ebd.). Verständigung ist damit gebrochen durch die „Be-<br />

gehrlichkeiten und unbewußten Dramatisierungen“ <strong>de</strong>r gespiegelten Vorstellung, in<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re als Konstrukt <strong>de</strong>m Subjekt erscheint (ebd., 432).<br />

Hierin begrün<strong>de</strong>t REICH auch folgen<strong>de</strong> Unterscheidung in seiner sprachlichen<br />

Praxis: „Der An<strong>de</strong>re, <strong>de</strong>r uns als An<strong>de</strong>rer außen gegenübersteht, wird bei mir stets<br />

groß geschrieben, als an<strong>de</strong>rer, wie er vermittelt über innere Bil<strong>de</strong>r und mein Begeh-<br />

ren erscheint, stets klein“ (REICH 1998a, 32, Fn. 3).<br />

Mit LACAN fin<strong>de</strong>t REICH zusammenfassend folgen<strong>de</strong> Beobachtungsmöglich-<br />

keiten: „Sie erscheinen in <strong>de</strong>r symbolisch fixierten <strong>Welt</strong>, in <strong>de</strong>r imaginären <strong>Welt</strong> <strong>de</strong>s<br />

wechselseitig spiegeln<strong>de</strong>n Begehrens und <strong>de</strong>n Lücken <strong>de</strong>s Realen, die zwischen die-<br />

sen Deutungen immer nur unvollständig imaginiert und symbolisiert wer<strong>de</strong>n mögen“<br />

(REICH 1998a, 465).<br />

Damit verschärft die Kränkungsbewegung <strong>de</strong>s Unbewußten die Kränkungsbewe-<br />

gung von Selbst und An<strong>de</strong>rem noch.<br />

Die drei Kränkungsbewegungen REICHs ver<strong>de</strong>utlichen die Unschärfe, mit <strong>de</strong>r<br />

wir überhaupt zu Erkenntnis, Wahrheit o<strong>de</strong>r Wirklichkeit in <strong>de</strong>r Lage sind. Sie be-<br />

zeichnen die Relativierung von Sinn- und Geltungsansprüchen. Wenn wahre Er-<br />

kenntnis also in einer engen Beobachtungswirklichkeit nicht mehr möglich ist, rü-<br />

cken als Perspektiven neben dieser engen Beobachtungswirklichkeit die Bezie-<br />

hungswirklichkeit und die Lebenswelt in <strong>de</strong>n Blickpunkt (ebd., 510-515).<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

1.2 Beziehungswirklichkeit – Lebenswelt: Perspektiven <strong>de</strong>s interaktionistischen Kon-<br />

struktivismus<br />

1. Beziehungswirklichkeit<br />

Ich beschränke mich bei <strong>de</strong>r Darstellung dieses Punktes auf eine wichtige Perspekti-<br />

ve: die Zirkularität von Beziehungen. Beziehungen in ihrer Interaktivität von Subjekt<br />

und Subjekt o<strong>de</strong>r Subjekt und Objekt beinhalten als ein Grundmerkmal eben dieses<br />

inter-aktive, daß sich nicht in einem linearen o<strong>de</strong>r kausalen Zusammenhang ausdrü-<br />

cken läßt.<br />

Nehmen wir die Beziehungswirklichkeit in <strong>de</strong>n Blick, so fällt zunächst ein Unter-<br />

schied zur von <strong>de</strong>n Kränkungsbewegungen zunächst erfaßten engeren Beobach-<br />

tungswirklichkeit ins Auge: Je<strong>de</strong> Kommunikation läßt sich unter <strong>de</strong>m Blickwinkel<br />

<strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit differenzieren in Inhalts- und Beziehungsseite. Bei<strong>de</strong><br />

Seiten beanspruchen Beachtung (REICH 1998b, 78). 18<br />

Im Prozeß <strong>de</strong>r Zirkularität von Beziehungen entstehen wechselseitige Rückkop-<br />

pelungen, die sich über bei<strong>de</strong> Seiten <strong>de</strong>r Kommunikation, also Beziehungs- und In-<br />

haltsseite erstrecken. Diese Rückkoppelungen wer<strong>de</strong>n zu scheinbar ein<strong>de</strong>utigen line-<br />

aren Ketten o<strong>de</strong>r kausalen Abläufen reduziert. Die Reduktion geschieht sowohl durch<br />

Selbstbeobachter wie auch durch Fremdbeobachter in einer Beziehung, also von Sub-<br />

jekten, die sich entwe<strong>de</strong>r selbst beobachten o<strong>de</strong>r als Fremdbeobachter versuchen,<br />

an<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>ren Beobachtungen beobachten. Dies hängt mit <strong>de</strong>r ungeheuren Komple-<br />

xität <strong>de</strong>r zirkulären Beziehungswirklichkeit zusammen, es entspricht ihr jedoch nicht<br />

(ebd., 83-90). REICH faßt die Reduktion in folgen<strong>de</strong>r Darstellung zusammen:<br />

S1= Subjekt 1, S2 = Subjekt 2 (REICH 1998b, 80)<br />

REICH führt weitere Mechanismen auf, die Komplexität in <strong>de</strong>r Beziehungswirk-<br />

lichkeit reduzieren helfen: Dazu gehören für ihn, <strong>ohne</strong> daß diese Mechanismen hier<br />

18 Die enge Beobachtungswirklichkeit erweist sich u.a. <strong>de</strong>swegen als zu reduktiv, weil sie Beobachtungen<br />

auf die Inhaltsseite beschränken zu können glaubt.<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

näher erläutert wer<strong>de</strong>n können, die Begrenzung <strong>de</strong>r Zirkularität durch Verdichtung<br />

(ebd., 90-105), die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Zirkularität durch Verschiebung (ebd. 105-111)<br />

sowie die Vereinfachung von Beziehungen auf I<strong>de</strong>altypen (ebd. 111-116).<br />

Was an dieser Stelle wichtiger erscheint, ist folgen<strong>de</strong>s: All diese Versuche, die<br />

Zirkularität auf reduzieren<strong>de</strong> Muster o<strong>de</strong>r Typen zurückzuführen, scheitern. Dieses<br />

Scheitern hat Konsequenzen für die Beobachter <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit. Es ist<br />

nicht mehr möglich, einen besten Beobachter <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit zu bestim-<br />

men. Betrachtet man die Beziehungsseite einer Kommunikation, dann fin<strong>de</strong>t man<br />

keinen Maßstab mehr, nach <strong>de</strong>m man einen besten Beobachter <strong>de</strong>r Beziehungs-<br />

wirklichkeit ausmachen kann (ebd. 152-153).<br />

Dieses Chaos <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeiten wirkt zurück auf die inhaltliche Seite<br />

von Kommunikation: dort subvertiert es alle Inhalte, <strong>de</strong>nn neben <strong>de</strong>r vermeintlichen<br />

Wahrheit, <strong>de</strong>r Rationalität <strong>de</strong>r Argumentation wirken die Unschärfen, das Begehren,<br />

die Machtansprüche <strong>de</strong>r Subjektivität (ebd. 153).<br />

Die Perspektive <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit wirkt noch auf einer an<strong>de</strong>ren Ebene<br />

weiter: Fortschritt erscheint in <strong>de</strong>n Argumentationen <strong>de</strong>r Wissenschaft als Position<br />

<strong>de</strong>s jeweils letzten Beobachters, <strong>de</strong>r das Wissen seiner Vorgänger jeweils übersteigt<br />

und damit zum letzten und vermeintlich besten Beobachter wird. Dieser Fortschritt<br />

ist im Blickwinkel <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit nicht zu erkennen. Fortschritt, Evolu-<br />

tion läßt sich in „Beziehungen als alltägliche, gelebte Formen <strong>de</strong>r Begegnung, <strong>de</strong>s<br />

Zusammenlebens“ schwer fin<strong>de</strong>n. Statt <strong>de</strong>ssen orientiert sich Fortschritt an Kriterien<br />

wie materiellem Wohlstand, größer erscheinen<strong>de</strong>r Macht, etc. (ebd., 154-156). „In-<br />

soweit ist <strong>de</strong>r letzte Beobachter, <strong>de</strong>r Fortschritt beschreibt, immer schon durch die<br />

ethnozentrische Klammer, die diese Beschreibungen leitet, in seinen Perspektiven<br />

begrenzt“ (ebd., 157).<br />

Darin wird eine Facette <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne sichtbar. Erneut erweitert jedoch<br />

REICH die Perspektiven: Denn es scheint so etwas wie ‚verdinglichten Fortschritt’<br />

zu geben. Diese Fortschritt besteht in unserem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Sys-<br />

tem v.a. in <strong>de</strong>r Produktionswirklichkeit. Doch wirkt dieser Fortschritt nicht auch<br />

wie<strong>de</strong>r zurück auf die Beziehungswirklichkeit? Damit erscheinen Perspektiven <strong>de</strong>r<br />

Lebenswelt, in <strong>de</strong>r enge Beobachtung und Beziehungen stattfin<strong>de</strong>n (ebd., 157-158).<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

2. Lebenswelt<br />

„Der Begriff <strong>de</strong>r Lebenswelt verweist auf eine <strong>Welt</strong>, in <strong>de</strong>r sich Menschen interaktiv<br />

immer schon bewegen, wenn sie engere (wissenschaftliche) Beobachtungen anstel-<br />

len o<strong>de</strong>r Beziehungen eingehen. ... Da die wissenschaftliche <strong>Welt</strong> immer auch eine<br />

Beziehungswirklichkeit impliziert, da sie zu<strong>de</strong>m in ihren jeweiligen Perspektiven<br />

unterschiedliche Unschärfen <strong>de</strong>r eigenen Setzung als Kränkungen ihrer Ansprüche<br />

erkennen muß, reicht es kaum mehr hin, Wissenschaftlichkeit gegen die Lebenswelt<br />

zu setzen. Die Wissenschaften sind längst mit <strong>de</strong>r Lebenswelt, in <strong>de</strong>r Beziehungen<br />

sich abspielen, verflochten“ (REICH 1998b, 163).<br />

Wodurch ist Lebenswelt heute gekennzeichnet? Aus welchen Perspektiven ist<br />

dies zu erkennen?<br />

REICH folgt in seiner Charakterisierung <strong>de</strong>r postmo<strong>de</strong>rnen Lebenswelt kapitalis-<br />

tischer Industriegesellschaften GROSS, <strong>de</strong>r fünf Punkte nennt (vgl. REICH 1998b,<br />

167):<br />

1. Entgrenzung als Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Grenzen zwischen Kulturen und Natio-<br />

nen;<br />

2. Abbau überkommener Zeitstrukturen, dafür Entstehung künstlicher Rhyth-<br />

men, die neue Gewohnheiten erfor<strong>de</strong>rn;<br />

3. Enthierarchisierung: Herkunft bietet keine sichere I<strong>de</strong>ntität mehr, neue Hie-<br />

rarchien (z.B. arm - reich) entstehen statt <strong>de</strong>r alten Stän<strong>de</strong>, Klassen, etc.;<br />

4. Säkularisierung <strong>de</strong>s Lebens, die eine Diesseitigkeit sowie schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> sozia-<br />

le o<strong>de</strong>r religiöse Obligationen zur Folge hat;<br />

5. Verwissenschaftlichung, die Individuen unter verallgemeinerte Perspektiven<br />

zwängt und disziplinierend in <strong>de</strong>r Lebenswelt wirkt.<br />

Diese Entwicklung faßt GROSS in das Begriffspaar Miniobligationsgesellschaft –<br />

Multioptionsgesellschaft (vgl. REICH 1998b, 167-168).<br />

Vor <strong>de</strong>m Hintergrund dieser Entwicklung entwickelt REICH nun Beobachterbe-<br />

reiche, die bei einer konstruktivistischen Betrachtung <strong>de</strong>r Lebenswelt zu beachten<br />

sind (ebd. 170). An dieser Stelle soll ein solcher Bereich kurz ange<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />

Außer Acht lasse ich die Objektfallen und die Beziehungsfallen (vgl. ebd., 184-211<br />

bzw. 273-288) und wen<strong>de</strong> mich <strong>de</strong>n Machtfallen zu.<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

In seiner Beschreibung dieses Beobachterbereichs stützt sich REICH v.a. auf<br />

FOCAULT. Versuchen wir, einen kleinen Ausschnitt von <strong>de</strong>ssen Theorie in <strong>de</strong>n<br />

Blick zu nehmen. Dabei situiert FOCAULT die Macht in <strong>de</strong>r Beziehungswirklich-<br />

keit: Macht ist die „Wirkungsweise gewisser Handlungen, die an<strong>de</strong>re verän<strong>de</strong>rn“<br />

(FOCAULT 1994, zit. nach REICH 1998b, 233).<br />

Worin nun zeigt sich solche Macht?<br />

Diese Macht zeigt sich zunächst in ihrer „Triangulation mit Wissen und Wahrheit“<br />

(REICH 1998b, 236). Wissenschaft zeigt sich aus diesem Blickwinkel als Instanz,<br />

die materiellen Wohlstand schafft, dabei sich selbst an <strong>de</strong>r Kategorie von Wahrheit<br />

orientiert. Wahrheit aber entsteht nicht einfach so, Wahrheit ist „ein Territorium, das<br />

verwaltet wird, und <strong>de</strong>ssen Verwaltung dazu dient, uns zu reglementieren, selektie-<br />

ren, disziplinieren, usw.“ (ebd.). Damit aber erblicken wir wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Beobachter,<br />

<strong>de</strong>r letztlich gar nicht das Wissen hat, über das zu verfügen er vorgibt. „So gesehen<br />

gibt es in <strong>de</strong>r Tat ein fundamentales Machtproblem in je<strong>de</strong>r Erkenntnis: Es ist die<br />

Mächtigkeit <strong>de</strong>s Beobachters und sein Geschick, mit <strong>de</strong>m Beobachteten in Beziehun-<br />

gen Macht zu gewinnen“ (ebd., 238).<br />

Wahrheit zeigt sich aber machtvoller als ein einzelner Beobachter ist: sie ist eng<br />

verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m System <strong>de</strong>r Wissenschaft, damit verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Institutionen,<br />

die Wissenschaft betreiben. Wahrheit wird eingefor<strong>de</strong>rt von politischer o<strong>de</strong>r<br />

ökonomischer Seite, sie zirkuliert als Wissen in vielfältigen gesellschaftlichen<br />

Systemen, die von wenigen großen politischen o<strong>de</strong>r ökonomischen Apparaten<br />

kontrolliert wer<strong>de</strong>n. Zu<strong>de</strong>m wird Wahrheit politisch genutzt (ebd., 252).<br />

Wie also kann dieser Macht, <strong>de</strong>r scheinbaren, aber wirkungsvollen, machtvollen<br />

Wahrheit begegnet wer<strong>de</strong>n?<br />

Mit <strong>de</strong>m interaktionistischen Konstruktivismus kann zuerst einmal auf die Be-<br />

dingungen von Wahrheit reflektiert wer<strong>de</strong>n: Wahrheit setzt immer Regelhaftigkeit<br />

voraus. Diese Kontinuität besteht jedoch gar nicht in <strong>de</strong>r Realität. „Es ist dann je-<br />

weils die imaginative Kraft <strong>de</strong>s Beobachters selbst, die sie [die Beobachtungen] hin<br />

auf Kontinuität verdichtet o<strong>de</strong>r verschiebt, um sie als Ganzes zu retten“ (ebd., 239).<br />

Damit wird also je<strong>de</strong> Wahrheit brüchig: Ein Beobachter, <strong>de</strong>r um die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Perspektiven weiß, <strong>de</strong>r ständig seine Plätze in <strong>de</strong>n Beobachtungen wechselt, vermag<br />

dies zu sehen (ebd. 243).<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Und damit erscheint eine Chance <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus: In<br />

seinen erkenntniskritischen, <strong>de</strong>konstruktiven 19 Perspektiven vermag er zwar nicht zu<br />

verhin<strong>de</strong>rn, daß vereinseitigen<strong>de</strong>, vernichten<strong>de</strong> Wahrheiten konstruiert wer<strong>de</strong>n. Aber<br />

er vermag diese aufzu<strong>de</strong>cken und zu relativieren, ihrem Eins viele Auchs zur Seite zu<br />

stellen (ebd. 253).<br />

Solche <strong>de</strong>konstruktiven Perspektiven sollen folgend kurz dargestellt wer<strong>de</strong>n an<br />

vier beispielhaften Diskurs-Typen, <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> Theorie sich aus interaktionistisch-<br />

konstruktivistischer Sicht zu stellen hat.<br />

1.3 Diskursmo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus<br />

REICH entwickelt ein für <strong>de</strong>n interaktionistischen Konstruktivismus spezifisches<br />

Diskursmo<strong>de</strong>ll. Dieses Mo<strong>de</strong>ll soll hier kurz vorgestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

(REICH 1998b, 310)<br />

Die Plätze dieses Mo<strong>de</strong>ll besetzt REICH wie folgt:<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n steht eine Beobachtung, die Ausgangspunkt <strong>de</strong>s Diskur-<br />

ses sein soll. Dabei hat jedoch <strong>de</strong>r Ansatz REICHs bereits gezeigt, daß je<strong>de</strong> Auswahl<br />

dieses <strong>Eine</strong>n bereits bestimmten Bedingungen o<strong>de</strong>r Beschränkungen unterliegt, also<br />

nicht völlig frei ist. Dennoch ist dieses <strong>Eine</strong> inhaltlich zunächst unbestimmt (ebd.,<br />

313-317). „Das <strong>Eine</strong> ist <strong>de</strong>r Platz, <strong>de</strong>r offen für alle Inhalte/Beziehungen von <strong>Welt</strong><br />

und Lebensformen ist, wenn die Macht diesen Platz einzunehmen und für Beobach-<br />

ter / Verständigungsgemeinschaften besetzt zu halten, nur groß genug ist“ (ebd.,<br />

317).<br />

19 De-konstruieren meint dabei, daß ich „nach Auslassungen frage, Ergänzungen einbringe, die Blickwinkel<br />

verschiebe, <strong>de</strong>n Beobachterstandpunkt fundamental wechsle und so an<strong>de</strong>re Sichtweisen gewinne“<br />

(REICH 2000b, 121).<br />

48


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Dem <strong>Eine</strong>n gegenüber stehen auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren Beobachtungen, die von<br />

<strong>de</strong>r Beobachtung <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n verschie<strong>de</strong>n sind. Es erscheint eine Differenz zwischen<br />

<strong>Eine</strong>m und An<strong>de</strong>rem, die Spannung auslöst und Motivation für <strong>de</strong>n Selbstbeobachter<br />

ist, in <strong>de</strong>n Diskurs einzutreten. Hinter <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren verbergen sich aber auch An<strong>de</strong>-<br />

re, an die sich <strong>de</strong>r Diskurs richtet. Denn je<strong>de</strong>r Diskurs ist eingebun<strong>de</strong>n in eine Bezie-<br />

hungswirklichkeit zwischen einem Selbst, das das <strong>Eine</strong> beobachtet und An<strong>de</strong>ren, an<br />

die sich dieses Selbst richtet (ebd., 317-319).<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Konstruktion wird – vermittelt aus <strong>de</strong>r Spannung zwischen<br />

<strong>Eine</strong>m und An<strong>de</strong>rem – etwas vor- o<strong>de</strong>r hergestellt. Mit <strong>de</strong>r Konstruktion wird eine<br />

Verän<strong>de</strong>rung erreicht, die sich auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit dann zeigt (ebd., 319-<br />

320).<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit wird die erzielte Verän<strong>de</strong>rung wie<strong>de</strong>rum zur<br />

Grundlage für die Beobachtung eines <strong>Eine</strong>n. Die Konstruktion ist jedoch nicht <strong>de</strong>-<br />

ckungsgleich mit <strong>de</strong>r Wirklichkeit, weil über die Wirklichkeit nach an<strong>de</strong>ren Maßstä-<br />

ben entschie<strong>de</strong>n wird, als am Platz <strong>de</strong>r Konstruktion. Ob eine Konstruktion und wie<br />

eine Konstruktion Wirkung zeigt, mag sich z.B. in unserer Gesellschaft über <strong>de</strong>n<br />

Faktor <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Erfolges entschei<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />

wirkt zu<strong>de</strong>m das Reale, die Grenze unserer symbolischen <strong>Welt</strong> (ebd., 320-323).<br />

Als Selbstbeobachter in einer Verständigungsgemeinschaft wähle ich nun meine<br />

Perspektiven von einem Platz zum nächsten. Als Fremdbeobachter kann ich <strong>de</strong>n Dis-<br />

kurs als Ganzen überblicken, kann Auslassungen erkennen, etc. Damit hilft also die<br />

Perspektive <strong>de</strong>s Fremdbeobachters, dieses Mo<strong>de</strong>ll zu hinterfragen, Besetzungen in<br />

Frage zu stellen, die für Selbstbeobachter in einer Verständigungsgemeinschaft<br />

selbstverständlich sind (ebd., 310-313 und 323-326).<br />

REICH geht nun noch einen Schritt weiter. Er schlägt Besetzungen für die Plätze<br />

<strong>de</strong>s Diskurses vor. Diese Besetzungen läßt er dann an verschie<strong>de</strong>nen Stellen in <strong>de</strong>n<br />

Diskurs eintreten. Seine Besetzungen seien hier kurz genannt (ebd., 326-237):<br />

1. Wahrheit (W1): Sie erscheint als die Wahrheit <strong>de</strong>r Übereinstimmung von<br />

Sachverhalt und Sachaussage, obwohl ihr immer Wahrheiten in ihrer Plura-<br />

lität gegenüberstehen.<br />

49


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

2. Wissen (W2): Das Wissen erscheint hier als alles Wissen, das innerhalb ei-<br />

nes Diskurses notwendig ist, obwohl ein Fremdbeobachter erkennen kann,<br />

daß dies eine Illusion ist.<br />

3. imaginäres Begehren (a): Hiermit erscheint <strong>de</strong>r Antrieb, das Begehren eines<br />

Subjektes, als Imagination.<br />

4. An<strong>de</strong>re (A): Dies sind die An<strong>de</strong>ren, die <strong>de</strong>m Subjekt als Außenstehen<strong>de</strong><br />

erscheinen.<br />

5. Subjekt (S): Dies ist das Eigene, das Selbst, das auf An<strong>de</strong>re blickt.<br />

Mit diesen Besetzungen konstruiert REICH vier Diskurstypen. Ich wer<strong>de</strong> die Zirku-<br />

larität dieser Diskurstypen mit <strong>de</strong>n Schaubil<strong>de</strong>rn REICHs vorstellen und jeweils er-<br />

läutern. Diese vier Diskurstypen sollen uns später, im Blick auf HOERSTER, helfen.<br />

1. Diskurs <strong>de</strong>s Herrn<br />

REICH bil<strong>de</strong>t hier <strong>de</strong>n Diskurs <strong>de</strong>s Herrn von HEGEL konstruktivistisch nach. Dabei<br />

ergeben sich folgen<strong>de</strong> Besetzungen <strong>de</strong>r Plätze (REICH 1998b, 332-333):<br />

Was ist das Charakteristische dieses Diskurses?<br />

50


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Das Wissen auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren ist in diesem Fall beherrscht von <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit <strong>de</strong>s Herrn. Es wird vereinfacht, kontrolliert durch die Wahrheit am Platz<br />

<strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n. Dies ist dadurch möglich, daß die Konstruktion, die sich aus <strong>de</strong>m Wech-<br />

selspiel von W1 und W2 ergibt, <strong>de</strong>n Herrn bloß weiter sich selbst als Herr imaginie-<br />

ren läßt, seine Lust an einem Mehr an Macht ausdrückt. Damit konstruiert <strong>de</strong>r Herr<br />

am Platz <strong>de</strong>r Konstruktion die Knechte als an<strong>de</strong>re, die seiner Imagination von sich<br />

selbst als Herrn entsprechen. Für <strong>de</strong>n Herrn als Selbstbeobachter wer<strong>de</strong>n seine<br />

Knechte (A) bloß vermittelt über a sichtbar. Damit stellt sich <strong>de</strong>r Herr als Subjekt auf<br />

<strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit her, <strong>ohne</strong> jedoch selbst diese Zirkularität zu bemerken.<br />

Für ihn fallen die Plätze <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n und <strong>de</strong>r Wirklichkeit immer schon zusammen;<br />

von dort aus behauptet er, Herr zu sein. Dabei kann ein Fremdbeobachter durchaus<br />

feststellen, daß <strong>de</strong>r Herr <strong>ohne</strong> die Knechte gar nicht zum Herrn, die Knechte gar<br />

nicht zu Knechten wür<strong>de</strong>n. Herr und Knechte sind in einem systemischen Netz von<br />

Beziehungen gefangen.<br />

Für Selbstbeobachter in diesem Diskurs, egal ob sie nun Herren o<strong>de</strong>r Knechte<br />

sind, ist es schwierig aus diesem Diskurs auszusteigen. Besteht sein machtvolles Sys-<br />

tem einmal, erhält es sich selbst. Systeme, die nach dieser Art <strong>de</strong>s Diskurses funktio-<br />

nieren, scheitern nach REICH meist daran, daß sie Komplexität zu sehr reduzieren<br />

und zuwenig die Zirkularität <strong>de</strong>r gegenseitigen Abhängigkeit von Herrn und Knecht<br />

be<strong>de</strong>nken (ebd.,332-338).<br />

51


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

2. Diskurs <strong>de</strong>s Wissens<br />

Dieser Diskurs erscheint als eine Weiterentwicklung <strong>de</strong>s Diskurs <strong>de</strong>s Herrn. Auf <strong>de</strong>m<br />

Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n ersetzt das Wissen die Meisterlehre, die Wahrheit <strong>de</strong>s Herrn:<br />

(REICH 1998b, 339)<br />

Dieser Diskurstyp kennzeichnet nach REICH einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Prozeß in <strong>de</strong>r<br />

Mo<strong>de</strong>rne: Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n erscheint nicht mehr ein Subjekt, son<strong>de</strong>rn durch<br />

Vernunft und Wissenschaft kontrolliertes Wissen. Dem Wissen gegenüber steht nun<br />

die Imagination von immer mehr Wissen. Denn <strong>de</strong>m Eins <strong>de</strong>s Wissens können nur<br />

Auchs <strong>de</strong>s Wissens gegenüber stehen. Wissen fin<strong>de</strong>t also in diesem Diskurs keine<br />

Begrenzung, son<strong>de</strong>rn erzeugt nur immer mehr Wissen. Erst am Platz <strong>de</strong>r Konstrukti-<br />

on kommen Subjekte ins Spiel: Sie setzen sich am Platz <strong>de</strong>r Konstruktion mit Wissen<br />

auseinan<strong>de</strong>r. Dies können sie jedoch nicht völlig frei tun. „Wissen schafft als<br />

universitärer Diskurs Disziplin in mehrfacher Hinsicht: Disziplinen von<br />

Wissenschaft selbst, Disziplinierung <strong>de</strong>r Wissenschaftler durch Kontrolle ihrer<br />

Laufbahnen, ihres Wissens, ihrer Anerkennung, Disziplin <strong>de</strong>r Studieren<strong>de</strong>n, weil<br />

Fleiß, Ordnung usw. erfor<strong>de</strong>rlich sind“ (REICH 1998b, 342). Wissen wird dann –<br />

52


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

erfor<strong>de</strong>rlich sind“ (REICH 1998b, 342). Wissen wird dann – unter diesen Beschrän-<br />

kungen – vermehrt und wirkt auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit: Für <strong>de</strong>n Selbstbeobach-<br />

ter erscheint dort das Wissen als Wahrheit, <strong>ohne</strong> daß er be<strong>de</strong>nkt, daß es die eine<br />

Wahrheit nicht geben kann. Zu<strong>de</strong>m muß auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit immer auch<br />

das Reale bedacht wer<strong>de</strong>n, daß eben nicht in symbolisches Wissen überführt ist<br />

(ebd., 338-347).<br />

Der Selbstbeobachter mit seinem eingeschränkten Blick auf das Wissen produ-<br />

ziert hier die Wahrheit seiner Meisteraussagen immer wie<strong>de</strong>r selbst. Lediglich als<br />

Fremdbeobachter dieses Diskurses können wir erkennen, daß Wissen hier eng ver-<br />

knüpft ist mit Macht: Macht kontrolliert, was im Diskurs <strong>de</strong>s Wissens zirkuliert, auf<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber ‚begrün<strong>de</strong>t’ Wissen immer auch Macht (ebd.).<br />

3. Diskurs <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit<br />

Schauen wir uns die Plätze dieses Diskurses an (REICH 1998b, 347):<br />

Als Selbstbeobachter blickt das Subjekt in diesem Diskurs auf <strong>de</strong>n a/An<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n einnimmt. Diesem a/An<strong>de</strong>ren sieht das Subjekt sich gegenüber,<br />

es situiert sich auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren. Das Subjekt erkennt <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren aber<br />

immer nur vermittelt über seine Imagination, ihm erscheint <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re als an<strong>de</strong>rer.<br />

53


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Erst wenn dieser <strong>de</strong>r Imagination <strong>de</strong>s Subjektes nicht entspricht, wird <strong>de</strong>m Subjekt<br />

<strong>de</strong>utlich, daß <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re nicht bloß an<strong>de</strong>rer ist: Das Subjekt muß seine Imagination<br />

verän<strong>de</strong>rn. Die Zirkularität <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit fin<strong>de</strong>t hierin einen <strong>de</strong>utlichen<br />

Ausdruck, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re ist seinerseits wie<strong>de</strong>r Subjekt und beobachtet selbst nach<br />

einem solchen Mo<strong>de</strong>ll. Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Konstruktion fin<strong>de</strong>t sich die Wahrheit, die<br />

durch Verständigungen von Subjekt und a/An<strong>de</strong>rem hergestellt wird. Nur aus dieser<br />

Wahrheit kann sich dann das Wissen ableiten, das sich auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklich-<br />

keit befin<strong>de</strong>t (ebd., 347-351).<br />

Wahrheit – und damit Wissen – ist in diesem Diskurs ein sehr relatives Kon-<br />

strukt. In<strong>de</strong>m sich die Beziehung von Subjekt und a/An<strong>de</strong>rem än<strong>de</strong>rt, wird sich auch<br />

die Wahrheit än<strong>de</strong>rn müssen. Hierin liegt jedoch auch die Gefahr dieses Diskurses:<br />

Als Selbstbeobachter kann ich <strong>de</strong>r Versuchung unterliegen, <strong>de</strong>n a/An<strong>de</strong>ren bloß noch<br />

als an<strong>de</strong>ren zu <strong>de</strong>nken. Damit verdingliche ich <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren und gehe dann im Grun-<br />

<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Diskurs <strong>de</strong>s Herrn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Diskurs <strong>de</strong>s Wissens zurück. Ich verkenne<br />

damit jedoch, daß ich nicht die ganze Wirklichkeit mit meiner Beobachtung erfasse<br />

(ebd., 348-351). „Als Fremdbeobachter erkennen wir, daß die Gefahr <strong>de</strong>r Überwälti-<br />

gung, <strong>de</strong>r Verdinglichung <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r Kommunikation nur dann gemil<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n kann, wenn die Positionen von Subjekt und An<strong>de</strong>ren austauschbar bleiben,<br />

wenn klein a nicht die Überhand in je<strong>de</strong>r Interpretation gewinnt und sich als Meister-<br />

aussage in ein scheinbar abgerun<strong>de</strong>tes und sicheres Wissen über Menschen ein-<br />

schleicht“ (ebd., 351).<br />

54


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

4. Diskurs <strong>de</strong>s Unbewußten<br />

Dieser Diskurstyp erscheint zunächst einmal als äußerst unscharf: Wie soll in einem<br />

bewußt geführten Diskurs etwas über Unbewußtes ausgesagt wer<strong>de</strong>n können?<br />

Betrachten wir die Plätze <strong>de</strong>s Diskurses:<br />

(REICH 1998b, 352-353)<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n steht das Subjekt, das sich selbst als Ausgangspunkt <strong>de</strong>s<br />

Diskurses nimmt. Dem Subjekt steht gegenüber die Wahrheit, die sich darstellt als<br />

Meisteraussagen, als Bil<strong>de</strong>r, als Gefühle <strong>de</strong>s Subjektes. Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Konstruk-<br />

tion nun fin<strong>de</strong>t sich eine erste Spur <strong>de</strong>s Unbewußten: Das Subjekt konstruiert hier aus<br />

<strong>de</strong>r Differenz zwischen ihm als Subjekt selbst und seiner Wahrheit ein Wissen über<br />

das Unbewußte. Mit Beobachterabstand erkennt das Subjekt, daß z.B. Sympathien<br />

für bestimmte Menschen sich immer wie<strong>de</strong>r in seinem Leben erkennen lassen, es<br />

dies jedoch gar nicht bewußt in <strong>de</strong>n jeweiligen Situationen wahrgenommen hat. Der<br />

Platz <strong>de</strong>r Konstruktion ist in diesem Diskurstyp die Stelle nachträglicher Interpretati-<br />

on. Dies ist übrigens für einen Fremdbeobachter sehr viel einfacher zu erkennen.<br />

55


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Was zeigt sich dann für <strong>de</strong>n Selbstbeobachter auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit?<br />

Das Wissen, daß er sich konstruiert hat, erscheint ihm als Frem<strong>de</strong>s, als An<strong>de</strong>res, das<br />

er wie<strong>de</strong>r nur vermittelt über seine Imagination als an<strong>de</strong>res wahrzunehmen vermag.<br />

„Das Subjekt steht auf einer frag-würdigen Grundlage, die stets gegen es gekehrt sein<br />

kann, ... weil es in sich eine Leere, einen Riß, eine Dunkelheit verspürt, die existen-<br />

tiell aufgerissen wird ...“ (ebd., 355).<br />

Damit wird in diesem Diskurs zuletzt <strong>de</strong>utlich, was in <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>r Krän-<br />

kungsbewegung <strong>de</strong>s Unbewußten nicht behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n konnte.<br />

Nehmen wir noch einmal alle Diskurse in <strong>de</strong>n Blick, so entsteht ein Anspruch <strong>de</strong>s<br />

interaktionistischen Konstruktivismus: „Für <strong>de</strong>n interaktionistischen Konstruktivis-<br />

mus ist dabei ein Wechsel <strong>de</strong>r Perspektiven maßgeblich. Wir wollen uns we<strong>de</strong>r auf<br />

einen bestimmten Platz noch <strong>de</strong>ssen spezifische Besetzung festlegen, weil wir mei-<br />

nen, daß diese <strong>Eine</strong>ngung uns in die geschil<strong>de</strong>rten Fallen <strong>de</strong>r einzelnen Diskurse<br />

führt...“ (ebd., 357).<br />

Abschließend möchte ich <strong>de</strong>n Ansatz REICHs zusammenfassen. REICH wählt fol-<br />

gen<strong>de</strong> Perspektiven: „die Beobachtungswirklichkeit als reduzieren<strong>de</strong> Verobjektivie-<br />

rung, die Beziehungswirklichkeit als interaktive Subjektivierung, die Lebenswelt als<br />

strukturelle Vermittlung von Beobachtungs- und Beziehungsaspekten. Dabei gelten<br />

für alle drei perspektivischen Beobachterbereiche immer symbolische, imaginäre und<br />

reale Dimensionen; es wird eine strikte Zirkularität zwischen <strong>de</strong>n Bereichen ange-<br />

nommen ...“ (REICH 1998b, 183). Diese Beobachterbereiche zu be<strong>de</strong>nken macht <strong>de</strong>n<br />

erkenntniskritischen Ansatz <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus aus.<br />

Versuchen wir nun, HOERSTERs Thesen von diesen Beobachterbereichen aus in<br />

<strong>de</strong>n Blick zu nehmen, bevor wir einen Schritt weiter gehen, und <strong>de</strong>n interaktionisti-<br />

schen-konstruktivistischen Ansatz in seiner Relevanz für Recht und Ethik im Kon-<br />

text <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne zu thematisieren.<br />

56


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

2. Die Thesen Norbert Hoersters aus verschie<strong>de</strong>nen Beobachterpositionen<br />

Worum geht es Norbert HOERSTER auf prinzipieller Ebene?<br />

Norbert HOERSTER vertritt mit seinen Thesen <strong>de</strong>n Anspruch, aus weltanschau-<br />

lich neutraler Perspektive (vgl. u.a. HOERSTER 1995a, 10), rechtliche Regelungen<br />

für aktuelle medizinethische Problemstellungen zu fin<strong>de</strong>n. Grundsätzlich bemüht er<br />

sich dabei zunächst um die Begründung <strong>de</strong>s Rechtes auf Leben.<br />

Nehmen wir zunächst diese Begründung in <strong>de</strong>n Blick und versuchen, aus ver-<br />

schie<strong>de</strong>nen Beobachterstandpunkten, das Begründungsmuster zu diskutieren.<br />

2.1 Recht auf Leben – Selbstbewußtsein und Interessen<br />

Recht auf Leben ist an ein Interesse am Überleben gekoppelt, <strong>de</strong>nn nur ein solches<br />

Interesse kann für HOERSTER die Zuerkennung dieses Rechtes legitimieren. Inte-<br />

resse wie<strong>de</strong>rum ist verbun<strong>de</strong>n mit zukunftsbezogenen Wünschen und Selbstbewußt-<br />

sein. 20<br />

‚Selbstbewußtsein‘ stellt sich dabei dar als eine kognitiv - rationale Eigenschaft,<br />

über die ein Menschen erst ab einem gewissen Alter verfügen kann. In seiner Argu-<br />

mentation beruft sich HOERSTER auf Untersuchungen TOOLEYs, <strong>de</strong>r nachzuwei-<br />

sen versucht, daß bestimmte physiologische Gegebenheiten, die die Voraussetzung<br />

für Selbstbewußtsein überhaupt sind, <strong>de</strong>m Neugeborenen noch fehlen (TOOLEY<br />

1983, 372-407).<br />

‚Interesse’ <strong>de</strong>finiert HOERSTER - wie oben ausgeführt – als Wunsch nach etwas<br />

unter <strong>de</strong>r Voraussetzung, alle dazu relevanten Fakten zu kennen und in einer rationa-<br />

len Entscheidung berücksichtigt zu haben (HOERSTER 1991, 386 sowie 1998, 28).<br />

Bereits an dieser Stelle ist folgen<strong>de</strong> Kritik <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>s ‚Interesses’ sinnvoll:<br />

unter <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Kränkungsbewegungen REICHs wird ‚Interesse’ als ratio-<br />

nale, aufgeklärte Entscheidung schlicht unmöglich.<br />

20 Dieses Konstrukt HOERSTERs entspricht begrifflich nicht <strong>de</strong>m aktuell gültigen Rechtskonstrukt in<br />

Deutschland: Dem <strong>de</strong>utschen Grundgesetz liegt <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r „Menschenwür<strong>de</strong>“ zugrun<strong>de</strong>, aus <strong>de</strong>m<br />

sich dann in Folge grundsätzlicherweise die Menschenrechte auf Leben etc. ableiten lassen. Verglei-<br />

che zum Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> Kapitel 4.2.<br />

57


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Interesse wird von HOERSTER immer gedacht als das Interesse eines Menschen.<br />

Als Fremdbeobachter können wir jedoch erkennen, daß ein Interesse im Sinne<br />

HOERSTERs gar nicht existiert. Äußere ich als Selbstbeobachter <strong>de</strong>n Wunsch nach<br />

irgend etwas, so bin ich in dieser Äußerung immer schon gefangen in <strong>de</strong>r symboli-<br />

schen, in diesem Sinne also sprachlichen o<strong>de</strong>r kommunikativen Ordnung, in <strong>de</strong>r ich<br />

meinen Wunsch auszudrücken vermag. Das Symbolische begrenzt meinen Wunsch,<br />

meine Imagination. Nehmen wir hier ein Bild von MEAD hinzu, das zu erläutern<br />

versucht, wie sich das Selbst bil<strong>de</strong>t (vgl. zu diesem Mo<strong>de</strong>ll insgesamt REICH 1998a,<br />

265-288 o<strong>de</strong>r 2000b, 76-85):<br />

(REICH 1998a, 271)<br />

„Das ‚I’ als eine Seite <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntitätsbildung ist eine Instanz, die durch Gefühle,<br />

Wünsche, Stimmungen, durch Spontaneität von Einfällen und Kreativität sich aus-<br />

drückt, dabei ein Aktions- und Reaktionspotential darstellt und gegenüber <strong>de</strong>r Au-<br />

ßenwelt die eigentliche Subjektivität bil<strong>de</strong>t“ (REICH 1998a, 269). Dieses ‚I’ kann<br />

sich in Interaktionen aber nur symbolisch ausdrücken: über das ‚Me’. Dieses ‚Me’<br />

entsteht seit jüngster Kindheit in <strong>de</strong>r Übernahme <strong>de</strong>r Erwartungen eines An<strong>de</strong>ren in<br />

Bezug auf Verhaltensaspekte. Dennoch, und damit rückt das ‚Self’ in <strong>de</strong>n Blick-<br />

punkt, bleibt in je<strong>de</strong>r Interaktion auch das ‚I’ erhalten. Das ‚Self’ integriert verschie-<br />

<strong>de</strong>ne ‚Me’ - Rollen (z.B. gegenüber verschie<strong>de</strong>nen Bezugspersonen) mit <strong>de</strong>r Subjek-<br />

tivität <strong>de</strong>s ‚I’. Dieses ‚Self’ entsteht „durch das Spannungsverhältnis von ‚I’ und<br />

‚Me’ über <strong>de</strong>n Wechselbezug zu An<strong>de</strong>ren .. [als] immer wie<strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rliches, aber<br />

58


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

letztlich doch zunehmend integriertes Bild <strong>de</strong>s eigenen Selbst, das verläßlich genug<br />

für Kommunikation ist“ (REICH 1998a, 271).<br />

Hieran wird <strong>de</strong>utlich: immer schon ist ein Wunsch, <strong>de</strong>n ich äußere, angesie<strong>de</strong>lt<br />

im Spannungsfeld von Me, I und Self. Er entstammt also als mein Wunsch immer<br />

<strong>de</strong>r Vermittlung zwischen eigenem Begehren, eigener Imagination und übernomme-<br />

nen Rollen <strong>de</strong>s Me.<br />

Nicht nur die vermitteln<strong>de</strong> Distanz <strong>de</strong>s ‚Self’ nimmt also Einfluß auf <strong>de</strong>n symbo-<br />

lischen Ausdruck eines Wunsches, dazu äußere ich einen Wunsch immer auch direkt<br />

in einer Beziehung als Anspruch an einen An<strong>de</strong>ren. Damit bleibt <strong>de</strong>r Wunsch in <strong>de</strong>n<br />

Unschärfen <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit gefangen.<br />

Zuletzt macht die Kränkung <strong>de</strong>s Unbewußten <strong>de</strong>utlich, daß ein geäußerter<br />

Wunsch nicht rein rational zu verstehen ist: „Erst im Nachhinein o<strong>de</strong>r von Außen“<br />

(REICH 2000a, 153) bin ich überhaupt in <strong>de</strong>r Lage, mir über die Relevanz von Aus-<br />

lassungen bewußt zu wer<strong>de</strong>n, die aber <strong>de</strong>nnoch jeweils aktuell bei <strong>de</strong>r Äußerung ei-<br />

nes Wunsches eine Rolle spielen.<br />

Als Selbstbeobachter bin ich somit überhaupt nicht in <strong>de</strong>r Lage, einen Wunsch zu<br />

äußern, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kriterien entspricht, ihn zu einem Interesse im Sinne HOERSTERs<br />

zu machen.<br />

Lediglich in <strong>de</strong>r Position eines Fremdbeobachters kann ich aus <strong>de</strong>m Wunsch ein<br />

Interesse konstruieren. Dabei – und das ist <strong>de</strong>r kritische Punkt – bediene ich mich als<br />

Fremdbeobachter Kategorien und Wertungen, die ihrerseits wie<strong>de</strong>r nicht rein rational<br />

sein können, die mein eigenes Begehren und Imaginieren enthalten können, die <strong>de</strong>n<br />

An<strong>de</strong>ren höchstens wie<strong>de</strong>r als an<strong>de</strong>ren zulassen.<br />

Dennoch ist ein solcher Begriff <strong>de</strong>s ‚Interesses’ evtl. nicht zu umgehen o<strong>de</strong>r im<br />

rechtlichen Rahmen notwendig. Gera<strong>de</strong> aber in einer Diskussion, in <strong>de</strong>r es darum<br />

geht, Kriterien für die Zuerkennung eines Rechtes auf Leben zu fin<strong>de</strong>n, muß bedacht<br />

wer<strong>de</strong>n, welchen Stellenwert ein solch verkürzen<strong>de</strong>r und problematischer Begriff wie<br />

‚Interesse’ erhalten kann.<br />

Versuchen wir noch einmal die Argumentation HOERSTERs in <strong>de</strong>n Blick zu neh-<br />

men: Dabei vermuten wir die Eigenschaft <strong>de</strong>s ‚Selbstbewußtseins‘ und das Interesse<br />

59


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

am Überleben zunächst als herrschaftliches Wissen im Diskurs <strong>de</strong>s Herrn am Platz<br />

<strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren (REICH 1998b, 332):<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n situiert sich die Wahrheit <strong>de</strong>s Herrn.<br />

Wer ist Herr in diesem Zusammenhang?<br />

Herr ist scheinbar je<strong>de</strong>r von uns, <strong>de</strong>r über Selbstbewußtsein verfügt. Die Wahr-<br />

heit <strong>de</strong>s Herrn in seiner Selbstbehauptung lautet: „Ich bin mir meiner selbst bewußt!<br />

Ich habe ein Interesse an meinem Leben und damit ein Recht auf mein Leben!“<br />

Der Knecht in <strong>de</strong>r Imagination <strong>de</strong>s Herrn als an<strong>de</strong>rer kann <strong>de</strong>m Herrn nur als I-<br />

magination <strong>de</strong>s eigenen Begehrens, symbolisch in <strong>de</strong>r Anerkennung dieses Rechtes,<br />

erscheinen. Dieser Wahrheit steht gegenüber das Wissen um die Richtigkeit <strong>de</strong>r dar-<br />

aus konstruierten symbolischen Beziehung zwischen Herr und Knecht. Auf <strong>de</strong>m<br />

Platz <strong>de</strong>r Konstruktion entsteht <strong>de</strong>r Knecht im Begehren und <strong>de</strong>r Imagination <strong>de</strong>s<br />

Herrn als an<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r dieses Recht <strong>de</strong>s Herrn anerkennt. Der Knecht als An<strong>de</strong>rer tut<br />

dies. Der Herr als Subjekt auf <strong>de</strong>m Platz seiner Wirklichkeit stellt sich als Herr selbst<br />

her, aus seiner Selbstbehauptung hat sich somit für ihn sein Recht gebil<strong>de</strong>t.<br />

Nun sind die Knechte, auf die sich <strong>de</strong>r Herr als Herr bezieht, ihrerseits meist e-<br />

benso wie<strong>de</strong>r Herren in diesem Diskurs, <strong>de</strong>nn sie behaupten dasselbe wie <strong>de</strong>r Herr:<br />

„Ich bin mir meiner selbst bewußt! Ich habe ein Interesse an meinem Leben und da-<br />

mit ein Recht auf mein Leben!“. Insofern sich also auch durch sie die symbolische<br />

Ordnung, ausgedrückt im ‚Recht auf Leben’ reproduziert, bleibt dieses Konstrukt<br />

‚selbsterhaltend’. Nach HOERSTER erscheinen jedoch auch Knechte, die nicht zu<br />

einer Selbstbehauptung <strong>de</strong>s Herrn in <strong>de</strong>r Lage sind: Ihnen gegenüber kann er dann<br />

wirklich als Herr auftreten. Sie fallen aus <strong>de</strong>r gewonnenen symbolischen Ordnung<br />

<strong>de</strong>s Rechts auf Leben heraus und unterliegen damit im Grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verfügung durch<br />

An<strong>de</strong>re. Gera<strong>de</strong> auf solche menschlichen Wesen bezieht HOERSTER seine Kon-<br />

strukte.<br />

Bereits in diesem Diskurs zeigt sich, was HOERSTER zwar ebenfalls bemerkt<br />

(vgl. HOERSTER 1982a, 1982b, 1983), er jedoch gera<strong>de</strong> in seinen drei umfassen<strong>de</strong>n<br />

Büchern nicht thematisiert: Der Schluß von Interesse am Überleben und Selbstbe-<br />

wußtsein auf ein Recht auf Leben ist keineswegs ein zwingend logischer, sachlicher<br />

o<strong>de</strong>r rein rationaler, son<strong>de</strong>rn er ist ein Ausdruck von Macht und gegenseitiger Aner-<br />

60


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

kennung. Als solcher verweist er jedoch direkt auf die Ebene <strong>de</strong>r Beziehungswirk-<br />

lichkeit.<br />

Nun macht uns also bereits <strong>de</strong>r Diskurs <strong>de</strong>s Herrn <strong>de</strong>utlich, wie sich ein System <strong>de</strong>r<br />

Zuschreibung bei allgemeiner (machtvoller) Anerkennung aufrechterhält. Die Argu-<br />

mentation HOERSTERs erhält jedoch eine weitere Kränkung:<br />

HOERSTER trifft hier eine Unterscheidung, die uns zum Diskurs <strong>de</strong>s Wissens<br />

führt: er gibt vor, wissen zu können, a) was Selbstbewußtsein ist, b) wer über Selbst-<br />

bewußtsein verfügt.<br />

Das Wissen, um das es hier geht, scheint ‚linear’: um über die Eigenschaft<br />

‚Selbstbewußtsein’ zu verfügen, bedarf ein Mensch bestimmter neuro-<br />

physiologischer Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind erst mit einem gewis-<br />

sen Alter und einem damit korrespondieren<strong>de</strong>n Entwicklungsstand <strong>de</strong>s Gehirns er-<br />

reicht (HOERSTER 1995a, 80).<br />

Ohne nun im Detail <strong>de</strong>n Diskurs nachzubil<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>n dieses Wissen eintritt, ge-<br />

nügt bereits die generalisierte Kritik REICHs am Wissen im Diskurs <strong>de</strong>s Wissens:<br />

Das Wissen auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>s <strong>Eine</strong>n ruht auf <strong>de</strong>r Wahrheit, die sich auf <strong>de</strong>m<br />

Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit fin<strong>de</strong>t. Dabei wird Wahrheit jedoch erst produziert durch das<br />

Wissen, welches sich dann wie<strong>de</strong>r auf die Wirklichkeit beruft. Wissen ist jedoch plu-<br />

ral, die Wahrheiten auf <strong>de</strong>m Platz <strong>de</strong>r Wirklichkeit erscheinen lediglich als „unter-<br />

schiedliche Lösungsversuche“, „weil es das Wissen kurzum gar nicht gibt und gar<br />

nicht geben kann“ (REICH 1998b, 344).<br />

Die Pluralität <strong>de</strong>s Wissens, die sich aus <strong>de</strong>n grundsätzlichen Kränkungsbewegun-<br />

gen ergibt, läßt HOERSTER nicht zu: „Es gibt .. keine wissenschaftlichen Hinweise<br />

darauf, daß das Neugeborene bereits so etwas wie ein Ichbewußtsein – sei es auch in<br />

rudimentärer Form – besäße“ (HOERSTER 1995a, 80). Hinweise auf an<strong>de</strong>re Ergeb-<br />

nisse und an<strong>de</strong>rs diskutierte Bestimmungen <strong>de</strong>s Begriffes ‚Selbstbewußtsein’ fin<strong>de</strong>n<br />

sich jedoch z.B. bei DEDERICH (2000, 143-147), FEUSER (1992, 33-36, 47-52)<br />

o<strong>de</strong>r THEUNISSEN (1997, 63-76). Selbst ROTH kommt in seiner sehr intensiven<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m menschlichen Gehirn zu <strong>de</strong>r Schlußfolgerung, daß bis-<br />

lang keine ein<strong>de</strong>utige und ‚wissenschaftlich’ verläßliche Aussage möglich ist, wem<br />

unter welchen Bedingungen Bewußtsein zuzuschreiben ist (ROTH 1997, 213-313).<br />

61


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Mit <strong>de</strong>n Perspektiven REICHs ist zu<strong>de</strong>m zu fragen, ob es Selbstbewußtsein in<br />

<strong>de</strong>m von HOERSTER gedachten rationalen Sinne überhaupt gibt bzw. – vgl. das<br />

Mo<strong>de</strong>ll MEADs o<strong>de</strong>r die Kränkungsbewegungen – inwiefern ein immer bloß symbo-<br />

lisch gedachtes Selbstbewußtsein <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>r Wirklichkeit genügt.<br />

Dennoch wird bei HOERSTER das eine Wissen zur Wahrheit, die sich dann im<br />

Diskurs <strong>de</strong>s Herrn zu einer funktionieren<strong>de</strong>n und scheinbar begrün<strong>de</strong>ten Ausübung<br />

von Macht entwickelt. Als Fremdbeobachter erkennen wir hingegen, daß dieses Wis-<br />

sen nicht ein<strong>de</strong>utig ist: Es ist eingebun<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Kontext von Beziehungen und als<br />

solches – wie je<strong>de</strong>s Wissen – bereits <strong>de</strong>r Unschärfe von Beziehungen ausgeliefert.<br />

Aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit blicken wir erneut auf<br />

HOERSTERs Begründung <strong>de</strong>s Rechts auf Leben, müssen dort jedoch eingestehen:<br />

Es ist mir grundsätzlich nicht möglich, <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als An<strong>de</strong>ren wahrzunehmen. Ich<br />

erlebe <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren immer bloß vermittelt über meine Imagination, also als an<strong>de</strong>ren,<br />

<strong>de</strong>r meinen Imaginationen entspricht (REICH 1998b, 348). Als Selbstbeobachter bin<br />

ich jedoch nicht in <strong>de</strong>r Lage, zu erkennen, daß mein Wissen über <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht<br />

ihm entspricht.<br />

Bezogen auf das Konstrukt <strong>de</strong>s Selbstbewußtseins und <strong>de</strong>s Interesses be<strong>de</strong>utet<br />

dies, daß ich <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren gemäß meines vorher als ‚wahr’ bewiesenen Wissens ein-<br />

ordne: eben <strong>de</strong>n mir ebenbürtig gegenübertreten<strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>r mir<br />

und meinem Wissen entspricht in seiner Aussage als Herr: „Ich bin meiner selbst<br />

bewußt!“, wie <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>n ich schon gar nicht mehr als An<strong>de</strong>ren zulasse, da er<br />

zu einer solchen Herrenaussage von meiner Beobachterposition aus nicht in <strong>de</strong>r Lage<br />

ist.<br />

Zwei Möglichkeiten entstehen: ich bleibe Selbstbeobachter in diesem Diskurs<br />

und bestimme meine Beziehungswirklichkeit nach meinen eigenen Wunschvorstel-<br />

lungen: Dann jedoch kehre ich zurück zu <strong>de</strong>n Diskursen <strong>de</strong>s Wissens und <strong>de</strong>r Macht<br />

und verbleibe in einer scheinbar ein<strong>de</strong>utigen, symbolischen Ordnung. Erlaube ich<br />

mir aber, als Fremdbeobachter die Beziehungswirklichkeit in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen,<br />

dann kann ich <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als An<strong>de</strong>ren zulassen (REICH 1998b, 351). Dann jedoch<br />

muß ich ebenso anerkennen, daß gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Zuerkennung eines<br />

Rechtes auf Leben sich bloß meine <strong>de</strong>finitorische (und dadurch faktische) Macht<br />

auszudrücken vermag.<br />

62


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Der Diskurs <strong>de</strong>s Unbewußten soll an dieser Stelle nur kurz gestreift wer<strong>de</strong>n: Hier<br />

bleibt uns als Fremdbeobachter <strong>de</strong>r Argumentation HOERSTERs festzuhalten, daß<br />

das Unbewußte in <strong>de</strong>r Argumentation HOERSTERs keine Rolle spielt, gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n<br />

zentralen Begriffen nicht einmal enthalten sein darf. Inwieweit also die daraus entwi-<br />

ckelten Konstruktionen lebensweltlich relevant wer<strong>de</strong>n sollten, ist in Frage gestellt,<br />

gera<strong>de</strong> wenn - wie bei HOERSTER so oft - Fremdbeobachter über An<strong>de</strong>re Entschei-<br />

dungen treffen sollen und damit letztlich über Macht verfügen sollen.<br />

Versuchen wir noch einmal, diese Beobachtungen aufzugreifen:<br />

Der Versuch, das Recht auf Leben über die Fähigkeit <strong>de</strong>s Selbstbewußtseins und<br />

<strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Interesses zu begrün<strong>de</strong>n, erscheint grundlegend als problematisch:<br />

Er erscheint zunächst als <strong>de</strong>r Versuch, einen Zusammenhang <strong>de</strong>r Macht im Diskurs<br />

<strong>de</strong>s Herren über Wissen abzusichern. Wissen ist jedoch grundsätzlich gekränkt und<br />

plural. Die Wahrheit von Wissen ist prinzipiell lediglich eine Verständigung inner-<br />

halb einer Verständigungsgemeinschaft. Wissen als Konstruktion übt Macht aus,<br />

in<strong>de</strong>m es Unterscheidungen trifft (REICH 1998b, 338-347).<br />

HOERSTER ist also zunächst in <strong>de</strong>m Punkt zu kritisieren, daß er scheinbar wert-<br />

neutrale und objektive Kriterien anbietet, die eine sichere Unterscheidung ermögli-<br />

chen, welchen Wesen ein Recht auf Leben zukommt und welchen nicht. Dazu ist er<br />

jedoch aus Sicht <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus gar nicht in <strong>de</strong>r Lage.<br />

Insofern enthüllt sich seine Begründung als ein Diskurs <strong>de</strong>r Macht, <strong>de</strong>r eben im Hin-<br />

blick auf die Beziehungswirklichkeit <strong>de</strong>r Menschen Schärfe bloß vorgaukelt, tatsäch-<br />

lich aber nicht <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als An<strong>de</strong>ren zuläßt, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als an<strong>de</strong>-<br />

ren seiner Imagination.<br />

Problematisch wird dies nun vor allem dadurch, daß HOERSTER <strong>de</strong>n Anspruch<br />

hat, seine Gedanken ins machtvolle symbolische System <strong>de</strong>s Rechts zu überführen.<br />

Damit ist bereits aus mehreren Perspektiven in Frage gestellt, ob HOERSTERs Kon-<br />

struktionen sinnvollerweise Grundlage <strong>de</strong>s Rechtssystems dieser Gesellschaft sein<br />

sollten. Dennoch ist die Analyse seiner Positionen noch zu differenzieren:<br />

Unzweifelhaft ist ja eben auch, daß Beziehungen, sobald sie symbolisch ausge-<br />

drückt wer<strong>de</strong>n, gar nicht <strong>ohne</strong> Macht sein können (vgl. z.B. REICH 1998b, 299-301,<br />

63


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

212-273). Nehmen wir also die von HOERSTER angesprochenen Problemfel<strong>de</strong>r<br />

noch einmal einzeln in <strong>de</strong>n Blick:<br />

2.2 Abtreibung<br />

Hier mag uns zunächst die Frage <strong>de</strong>r Abtreibung interessieren, <strong>de</strong>nn sie scheint <strong>de</strong>m<br />

grundlegen<strong>de</strong>n Problem nach <strong>de</strong>m Recht auf Leben am nächsten.<br />

(Ich beschränke mich bei <strong>de</strong>n Analysen <strong>de</strong>r einzelnen Blicke im folgen<strong>de</strong>n auf aus-<br />

gewählte Perspektiven. Ich reduziere damit die Komplexität <strong>de</strong>r Beobachtungen auf<br />

mir l<strong>ohne</strong>nd, weil weiterführend erscheinen<strong>de</strong> Perspektiven. Dabei verstehe ich die<br />

folgen<strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>mnach auch nicht als umfassen<strong>de</strong> Behandlung <strong>de</strong>r Themen.<br />

Dies kann ich an dieser Stelle nicht leisten.)<br />

Versuchen wir das Problem <strong>de</strong>r Abtreibung zunächst einmal aus <strong>de</strong>r Selbstbeobach-<br />

terperspektive <strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mutter zu betrachten:<br />

<strong>Eine</strong> Frau erfährt von ihrer Schwangerschaft. Wie nimmt sie ihre Schwanger-<br />

schaft wahr?<br />

Zunächst erscheinen uns zwei Perspektiven:<br />

Imaginär sieht sich die Frau als Mutter. Dabei mögen sie Gefühle wie Freu<strong>de</strong>,<br />

Unsicherheit, Angst begleiten. Diese Gefühle sind jedoch, sobald begrifflich gefaßt<br />

o<strong>de</strong>r kommuniziert, bereits wie<strong>de</strong>r symbolisch geronnen, begrenzt. Imaginär mögen<br />

diese Gefühle unbewußt bleiben, sie mögen bewußt o<strong>de</strong>r unbewußt die Imagination<br />

<strong>de</strong>r Frau 21 in die nahe o<strong>de</strong>r ferne Zukunft verän<strong>de</strong>rn.<br />

Darin mag sich ein Begehren <strong>de</strong>r Frau ausdrücken, das Begehren nach Liebe zu<br />

einem Kind. Darin mag aber auch das Begehren <strong>de</strong>r Frau eine Begrenzung fin<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie sich in ihrem Begehren eingeengt fühlt durch die Imagination <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s.<br />

Gleichzeitig beeinflussen symbolische Ordnungen die Imaginationen <strong>de</strong>r Frau. Ist<br />

sie verheiratet? Alleine? Mit ihrem Partner glücklich? Lebt sie in Armut? Muß sie<br />

21 Den Partner klammere ich an dieser Stelle aus, obwohl er sicherlich eine wichtige Rolle in <strong>de</strong>n<br />

Imaginationen <strong>de</strong>r Frau spielen mag.<br />

64


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

arbeiten? Stärker noch: erfährt sie Ablehnung in ihrer Schwangerschaft? Soll sie ein<br />

Kind bekommen? Darf sie ein Kind bekommen? 22<br />

Deutlich wird in all diesen Fragen: die wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Mutter verän<strong>de</strong>rt sich in ihren<br />

Imaginationen. Wo sie sich vorher alleine o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Partner und an<strong>de</strong>ren imagi-<br />

nierte, tritt die Beziehung zum imaginierten Kind hinzu.<br />

Was be<strong>de</strong>utet dies für die Frage <strong>de</strong>r Abtreibung?<br />

Versuchen wir erneut, eine (Re-)Konstruktion HOERSTERs zu betrachten 23 :<br />

In <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Abtreibung argumentiert HOERSTER folgen<strong>de</strong>rmaßen: Da ein<br />

ungeborenes Kind nicht über die zur Zuschreibung eines Rechtes auf Leben notwen-<br />

digen Voraussetzungen verfügt, ist Abtreibung im Interesse <strong>de</strong>r Mutter immer gestat-<br />

tet.<br />

Wie wir jedoch bereits sehen konnten, ist es keineswegs so, daß es aus zwingen-<br />

<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n sinnvoll ist, <strong>de</strong>m ungeborenen Kind kein Lebensrecht einzuräumen.<br />

Auch hier ist also wie<strong>de</strong>r fraglich, ob wir HOERSTER in seinen Überlegungen<br />

folgen wollen. Dennoch stellt gera<strong>de</strong> die Frage nach <strong>de</strong>r Legitimität <strong>de</strong>r Abtreibung<br />

eine sehr heikle Problematik dar. Die Spannbreite <strong>de</strong>r gesellschaftlich vertretenen<br />

Positionen reicht von einer völligen Freigabe, wie sie eben von HOERSTER vertre-<br />

ten wird, bis hin zu einem völligen Verbot. Die Argumente, die zwischen diesen bei-<br />

<strong>de</strong>n Polen vertreten wer<strong>de</strong>n, sind so vielfältig und in ihren Begründungen so diffe-<br />

renziert, daß sie an dieser Stelle nicht dargestellt wer<strong>de</strong>n können. 24<br />

Dennoch lassen sich vom Ansatz REICHs aus einige Perspektiven nennen, die<br />

eine Regelung <strong>de</strong>r Abtreibung bzw. die Begründung einer solchen Regelung erfüllen<br />

sollten:<br />

Oben wur<strong>de</strong> bereits <strong>de</strong>utlich, daß es sich gera<strong>de</strong> für die betroffene Frau als Mut-<br />

ter eines ungewollten Kin<strong>de</strong>s nur selten um eine triviale Entscheidung im Sinne einer<br />

Verfügung um einen zwar lebendigen, aber rechtlosen Gegenstand, han<strong>de</strong>lt. Zwi-<br />

22 Dieses „Darf“ spielt an auf gesellschaftliche Normen, die sicher auch bei uns immer noch eine starke<br />

Rolle spielen. Ganz an<strong>de</strong>rs etwa noch in China, wo die Zahl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r staatlich geregelt ist (vgl.<br />

zur Familienpolitik in China LORENZ 2000, 150-154).<br />

23 ‚(Re-)Konstruktion’ soll an dieser Stelle darauf hinweisen, daß sich auch bei HOERSTER rekonstruktive<br />

Anteile etwa in seiner Begründung eines Lebensrechtes fin<strong>de</strong>n, auch wenn er dies nur selten<br />

<strong>de</strong>utlich macht (vgl. hierzu z.B. HOERSTER 1982a und BIRNBACHER 1991 o<strong>de</strong>r LEIST 1990).<br />

24 Vgl. z.B. die Mo<strong>de</strong>lle von DEDERICH (2000), LEIST (1990) sowie an<strong>de</strong>re Beiträge in diesem<br />

Sammelband, ANTOR&BLEIDICK (1995, 2000), SINGER (1999) etc.<br />

65


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

schen ungeborenem Kind und Mutter besteht seit <strong>de</strong>m Zeitpunkt, an <strong>de</strong>m die Mutter<br />

von <strong>de</strong>r Schwangerschaft erfährt, eine Beziehung, die sich in <strong>de</strong>n Imaginationen <strong>de</strong>r<br />

Mutter nur graduell von <strong>de</strong>nen zu an<strong>de</strong>ren Menschen unterschei<strong>de</strong>t. Diese Beziehung<br />

ist <strong>de</strong>nselben Unschärfen verhaftet.<br />

Die von <strong>de</strong>r Frau wahrgenommene Beziehung zum Fötus, und darin wird <strong>de</strong>ut-<br />

lich, daß das Mo<strong>de</strong>ll HOERSTERs in <strong>de</strong>r Beobachtungswirklichkeit zu eng ist, erhält<br />

z.B. durch <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r ‚Leiblichkeit’ einen Ausdruck (vgl. z.B. DEDERICH<br />

2000, 134-155).<br />

Insofern entspringt <strong>de</strong>r Wunsch nach Abtreibung <strong>de</strong>r Frau wohl in <strong>de</strong>n meisten<br />

Fällen einer – wenn eventuell auch unbewußt o<strong>de</strong>r imaginär bleiben<strong>de</strong>n – Konfliktsi-<br />

tuation. Diese Konfliktsituation kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert wer<strong>de</strong>n,<br />

sie ver<strong>de</strong>utlicht jedoch, wieso es gera<strong>de</strong> in dieser Frage keine ein<strong>de</strong>utige und simple<br />

Lösung geben kann. In <strong>de</strong>r Abtreibungsfrage wird immer zu vermitteln und abzuwä-<br />

gen sein zwischen <strong>de</strong>n Bedürfnissen, Wünschen, Imaginationen <strong>de</strong>r Schwangeren<br />

und <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>m ungeborenen Kind.<br />

Neben diesem imaginären Konflikt spielt jedoch auch die symbolische Seite eine<br />

starke Rolle. Hier bietet sich zugleich ein Ansatzpunkt für Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Kon-<br />

fliktlage <strong>de</strong>r Schwangeren: Sieht sich eine Schwangere in <strong>de</strong>r Frage nach Abtreibung<br />

in einem Konflikt, weil sie bei <strong>de</strong>r Geburt eines Kin<strong>de</strong>s ihren Beruf aufgeben müßte,<br />

ist eine solche Konfliktlage eventuell dadurch aufzulösen o<strong>de</strong>r zu verän<strong>de</strong>rn, daß<br />

Möglichkeiten <strong>de</strong>r Teilzeitarbeit (wie z.B. in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n) geschaffen wer<strong>de</strong>n.<br />

So o<strong>de</strong>r ähnlich spielen symbolische Zwänge sicherlich in vielfältigen Perspektiven<br />

eine Rolle.<br />

Diese Gedankenstränge sollen jedoch hier nicht weiter ausgeführt wer<strong>de</strong>n. Wäh-<br />

len wir eine behin<strong>de</strong>rtenpädagogischen Perspektive und betrachten die Frage nach<br />

<strong>de</strong>r Abtreibung eines behin<strong>de</strong>rten Fötus:<br />

Zunächst berührt die Frage nach <strong>de</strong>r Abtreibung eines behin<strong>de</strong>rten Kin<strong>de</strong>s die Frage<br />

nach pränataler Diagnostik. Zunehmend wird dabei pränatale Diagnostik <strong>de</strong>r<br />

Schwangeren als „neue gesellschaftliche Norm“ nahegelegt, z.B. durch die „Fest-<br />

schreibung <strong>de</strong>r selektiven Diagnostik in <strong>de</strong>n Mutterschaftsrichtlinien“ (GRIESE<br />

2000, 102). Dabei verän<strong>de</strong>rt die pränatale Diagnostik die Beziehung zwischen Kind<br />

66


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

und Mutter: „Das medizinische Wissen über die Schwangerschaft hat das vormals<br />

sehr intime, durch Empfindungen, Phantasien und Gefühle <strong>de</strong>r Frau geprägte Ver-<br />

hältnis zu einer in stärkerem Maße objektivierten Beziehung gemacht“ (DEDERICH<br />

2000, 256). Es verschwin<strong>de</strong>t in einer solchen Schwangerschaft <strong>de</strong>r Fötus als An<strong>de</strong>rer,<br />

<strong>de</strong>r mir verborgen ist, statt <strong>de</strong>ssen erscheint <strong>de</strong>r Fötus als an<strong>de</strong>rer, über <strong>de</strong>n durch<br />

symbolische Wissensvorräte (in diesem Falle also medizinische Diagnosen) <strong>de</strong>r Fö-<br />

tus auf das Wissen <strong>de</strong>r Medizin beschränkt wird.<br />

Was geschieht nun also, wenn mittels pränataler Diagnostik die Behin<strong>de</strong>rung ei-<br />

nes Kin<strong>de</strong>s festgestellt wird? 25<br />

Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen eine Frau eine Schwangerschaft wollte, tritt die<br />

diagnostizierte Behin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s als Reales auf. Die Imaginationen <strong>de</strong>r Frau<br />

wer<strong>de</strong>n gebrochen durch das Auftreten <strong>de</strong>s Realen in Form <strong>de</strong>r Diagnose ‚behin<strong>de</strong>rt’.<br />

Nach REICH (vgl. auch 2000b, 103-110) wird jedoch Reales sofort wie<strong>de</strong>r einge-<br />

fangen und in Symbolisches, also bereits bekanntes überführt: hier ist kritisch anzu-<br />

setzen. Welche symbolischen Vorräte stehen einer Frau in <strong>de</strong>r beschriebenen Situati-<br />

on zur Verfügung?<br />

Relevant wird hier, was in <strong>de</strong>r Einleitung dieser Arbeit thematisiert wur<strong>de</strong>: das<br />

Verständnis von Behin<strong>de</strong>rung. Behin<strong>de</strong>rung als Leid ist zu vermei<strong>de</strong>n, es entspricht<br />

nicht <strong>de</strong>n „i<strong>de</strong>alen Normen von Gesundheit und Intaktheit“ (ANTOR & BLEIDICK<br />

2000, 26).<br />

Aus dieser Perspektive wird verständlich, wieso <strong>de</strong>r Diagnose ‚behin<strong>de</strong>rt’ fast<br />

zwangsläufig eine Abtreibung folgt: Denn darauf beschränkt sich – bis auf wenige<br />

Ausnahmen - <strong>de</strong>r Vorrat an Symbolischem, <strong>de</strong>r Handlungsmöglichkeiten aufzeigt.<br />

Durch gesellschaftlichen Druck zu einem nicht behin<strong>de</strong>rten Kind gezwungen, sich ob<br />

<strong>de</strong>r Geburt eines behin<strong>de</strong>rten Kin<strong>de</strong>s rechtfertigen zu müssen, gehört zu diesem Vor-<br />

rat an Symbolischen.<br />

Fassen wir also noch einmal zusammen, was sich in Bezug auf die Frage nach<br />

<strong>de</strong>r Abtreibung ergeben hat: <strong>de</strong>m Fötus das Recht auf Leben abzusprechen entspricht<br />

25 Dabei wird hier <strong>de</strong>utlich, was mit SPECK unter einem attributivem Auslöser zu verstehen ist: In<strong>de</strong>m<br />

eine Behin<strong>de</strong>rung diagnostiziert wird, löst sie bei Eltern, Ärzten, etc. Reaktionen aus, die sich<br />

bloß auf diesen Auslöser beziehen und nicht auf das Subjekt, <strong>de</strong>m dieser Auslöser zukommt. Damit ist<br />

jedoch wenig über die Persönlichkeit <strong>de</strong>s Subjektes, in diesem Fall <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, das als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet<br />

wird, gesagt. Diese Reaktionen wer<strong>de</strong>n aber, sollte das Kind nach <strong>de</strong>r pränatalen Diagnose<br />

geboren wer<strong>de</strong>n, auf die Persönlichkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurückwirken und es entsteht eine Behin<strong>de</strong>rung<br />

i.S. SPECKs. Behin<strong>de</strong>rung erweist sich damit als soziale Kategorie.<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

einer reduktiven, lediglich durch <strong>de</strong>finitorische Macht und scheinbar wertneutrale<br />

und objektiv gefun<strong>de</strong>ne Wissensvorräte begrün<strong>de</strong>ten Perspektive, die durch an<strong>de</strong>re<br />

Perspektiven zu erweitern ist. Dazu zählen sicherlich die Perspektiven, die in <strong>de</strong>n<br />

Blick nehmen, wie Frauen ihr ungeborenes Kind wahrnehmen, die auch die Perspek-<br />

tiven <strong>de</strong>s Imaginären und <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit beachten. Dazu gehört an<strong>de</strong>-<br />

rerseits aber auch, auf symbolischer Ebene zu versuchen, Handlungsalternativen für<br />

wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Mütter zu schaffen. Dies gilt generell für Möglichkeiten, in <strong>de</strong>r heutigen<br />

Gesellschaft Kin<strong>de</strong>r zu bekommen und großzuziehen, dies gilt speziell aber auch für<br />

<strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r pränatalen Diagnostik mit <strong>de</strong>n Zwängen, die sie im Hinblick auf<br />

Behin<strong>de</strong>rung schafft. 26<br />

Ein vollständiges Verbot <strong>de</strong>r Abtreibung läßt sich mit <strong>de</strong>n Perspektiven REICHs<br />

nicht begrün<strong>de</strong>n. Ob überhaupt ein generelles und strikt durchgesetztes Verbot <strong>de</strong>n<br />

Konflikten, die hinter einem Schwangerschaftsabbruch stecken, gerecht wird, ist<br />

fraglich. Insofern bedarf aber je<strong>de</strong> rechtliche Regelung <strong>de</strong>r Abtreibung immer wie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r kritischen Diskussion in möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppierungen. Zu<br />

wünschen wäre aus <strong>de</strong>n Perspektiven REICHs, daß ob <strong>de</strong>r weitreichen<strong>de</strong>n For<strong>de</strong>run-<br />

gen nach Freigabe <strong>de</strong>r Abtreibung sowie <strong>de</strong>r Selektion mittels pränataler Diagnostik<br />

nicht <strong>de</strong>r Fötus als An<strong>de</strong>rer verschwin<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Vielfalt <strong>de</strong>r Probleme be-<br />

achtet und geachtet wird (vgl. Kapitel 4.2).<br />

HOERSTERs Mo<strong>de</strong>ll, seine Argumentation für eine völlige Freigabe <strong>de</strong>r Abtrei-<br />

bung kann an dieser Stelle als zuwenig differenziert zurückgewiesen wer<strong>de</strong>n. Er be-<br />

rücksichtigt nicht die vielfältigen Unschärfen seiner Argumentation und ist zu<strong>de</strong>m<br />

nicht bereit, weitreichen<strong>de</strong> Zusammenhänge differenziert zu betrachten. 27<br />

2.3 Sterbehilfe<br />

Rekapitulieren wir zunächst HOERSTERs Gedanken zur Legitimität <strong>de</strong>r aktiven<br />

Sterbehilfe: Diese ist dann legitim, wenn <strong>de</strong>r Betreffen<strong>de</strong> schwer und unheilbar lei<strong>de</strong>t<br />

und er die Sterbehilfe wünscht. Dabei formuliert HOERSTER für die Gültigkeit ei-<br />

26<br />

Vgl. hierzu z.B. <strong>de</strong>n von DEDERICH vorgestellten Verein „KARA e.V.“ (DEDERICH 2000, 278-<br />

280).<br />

27<br />

Dies wird noch einmal in seiner Verteidigung einer selektiven Abtreibung <strong>de</strong>utlich, <strong>de</strong>r er je<strong>de</strong><br />

Auswirkung in weiteren gesellschaftlichen Kontexten pauschal abspricht (z.B. im Umgang mit ‚leben<strong>de</strong>n’<br />

Menschen, die als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet wer<strong>de</strong>n) (HOERSTER 1995b, 128).<br />

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3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

nes Wunsches Kriterien, die Aufgeklärtheit über alle relevanten Folgen sowie Ratio-<br />

nalität <strong>de</strong>r Entscheidung zur Bedingung machen. 28<br />

Versuchen wir einmal, aus einer Fremdbeobachterperspektive ein Subjekt in <strong>de</strong>n<br />

Blick zu nehmen, das Sterbehilfe wünschen könnte: Kann <strong>de</strong>r Wunsch eines solchen<br />

Subjektes <strong>de</strong>n Kriterien HOERSTERs genügen? Wenn wir erneut die Unschärfe <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis und <strong>de</strong>s Wissens in <strong>de</strong>n Blick nehmen, wird zunächst einmal folgen<strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utlich: Zwar kann ein Subjekt <strong>de</strong>n Wunsch nach Sterbehilfe äußern, ein solcher<br />

Wunsch ist jedoch Teil <strong>de</strong>r Zirkularität <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit und von lebens-<br />

weltlichen Zusammenhängen. Vielleicht können einige kritische Fragen die Proble-<br />

matik erläutern.<br />

Aus welchem Grund äußert z.B. ein alter, an Krebs unheilbar erkrankter Mann<br />

<strong>de</strong>n Wunsch nach Sterbehilfe gegenüber seiner Tochter? Möchte er nicht als Pflege-<br />

fall für einen – wenn auch überschaubaren Zeitraum – in ein Pflegeheim? Ein sicher-<br />

lich verständlicher Wunsch, wenn man die Situation in vielen solcher Institutionen<br />

be<strong>de</strong>nkt (vgl. dazu z.B. HIRSCH & FUSSEK 1999). O<strong>de</strong>r hat <strong>de</strong>r Vater Skrupel,<br />

seine Tochter mit seiner Pflege zu belasten? Hat er Angst davor, ihr verletzlich und<br />

schwach gegenüberzutreten? Welche Rolle kann in einer solchen Situation <strong>de</strong>r Arzt<br />

spielen, welche das Krankenhauspersonal? Mit welchen Worten hat <strong>de</strong>r Arzt <strong>de</strong>m<br />

Mann die Prognose erläutert? 29 Ist vom Krankenhauspersonal ein Teil krank und die<br />

Zeit, die für <strong>de</strong>n einzelnen Patienten bleibt entsprechend knapp? Zuletzt, um die Un-<br />

schärfe noch zu steigern: Ist <strong>de</strong>r alte Mann <strong>de</strong>m Arzt sympathisch? Und umgekehrt?<br />

Diese Zirkularität, die enge Verwobenheit dieser und ähnlicher Zusammenhänge<br />

bleibt bei HOERSTER unberücksichtigt. Dies schließt nicht aus, daß es also tatsäch-<br />

lich Fälle geben mag, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Wunsch eines Subjektes nahezu unabhängig von<br />

all solchen Faktoren besteht. Ich halte es für fraglich, ob die Regelung HOERSTERs<br />

in ihrer vereinfachen<strong>de</strong>n Pauschalität <strong>de</strong>r Komplexität gerecht wird.<br />

Neben <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit wirkt in diesem Zusammenhang natürlich<br />

noch etwas an<strong>de</strong>res: lebensweltliche Sachverhalte, vielleicht in diesem Fall in beson-<br />

<strong>de</strong>rem Maße das Sozial- und Gesundheitssystem. Einige Perspektiven auf dieser le-<br />

28<br />

Das dritte Kriterium, daß die Sterbehilfe von einem Arzt durchgeführt wer<strong>de</strong>n muß, ist im hier betrachteten<br />

Sinn irrelevant.<br />

29<br />

Hier ist natürlich auch die Unsicherheit <strong>de</strong>r Prognosen zum Verlauf einer Krankheit o<strong>de</strong>r eines<br />

Sterbeprozesses zu be<strong>de</strong>nken.<br />

69


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

bensweltlichen Ebene sind z.B. das Vorhan<strong>de</strong>nsein von Hospizen, die För<strong>de</strong>rung,<br />

Bereitstellung und Finanzierung palliativmedizinischer Techniken, die Qualität von<br />

Pflegeheimen, etc. LEIST faßt diese und ähnliche Be<strong>de</strong>nken folgen<strong>de</strong>rmaßen zu-<br />

sammen: „Zwar tritt das Programm <strong>de</strong>r aktiven Euthanasie explizit unter <strong>de</strong>m Prinzip<br />

<strong>de</strong>r Autonomie an, aber die Ten<strong>de</strong>nzen eines Übergangs von freiwilliger zu nicht-<br />

freiwilliger sind unübersehbar. Das Schwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Entscheidungsfähigkeit am Le-<br />

bensen<strong>de</strong>, die Privatheit und Kontextgebun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Entscheidung verstärken auch<br />

die Schwierigkeit, aktive Euthanasie sozial kontrollieren zu wollen. Der Tod ‚<strong>de</strong>r uns<br />

gefällt’, kann sicher in einzelnen Fällen dann <strong>de</strong>r beste sein, wenn er uns im Vollbe-<br />

sitz unserer geistigen Kräfte auf unsere Bitte hin von einem Arzt gebracht wird. In<br />

umfangreich praktizierter Form drängen sich jedoch Angehörige, Ärzte, Institutionen<br />

in die Entscheidung hinein und entkräften die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s selbstkontrollierten und auto-<br />

nomen Sterbens, auf <strong>de</strong>r die moralische Rechtfertigung <strong>de</strong>r aktiven Euthanasie einzig<br />

beruht“ (LEIST, zit. nach DEDERICH 2000, 317).<br />

Ähnliche Unschärfen sind mit <strong>de</strong>m Kriterien <strong>de</strong>s schweren und unheilbaren Lei-<br />

<strong>de</strong>ns verbun<strong>de</strong>n. Vielleicht ist es möglich, Schmerzen zweifels<strong>ohne</strong> festzustellen.<br />

Aber wann wer<strong>de</strong>n Schmerzen zu Lei<strong>de</strong>n? Und welcher Maßstab soll gelten, ab<br />

wann ein Lei<strong>de</strong>n schwer ist? Zu<strong>de</strong>m sind Fortschritte im Bereich <strong>de</strong>r Schmerzthera-<br />

pie zu erwarten, so daß Lei<strong>de</strong>n tatsächlich v.a. eine psychologische Kategorie sein<br />

mag. Auch hier wer<strong>de</strong>n also zirkuläre Prozesse <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit, Unschär-<br />

fen <strong>de</strong>s Unbewußten, etc. eine große Rolle spielen, <strong>ohne</strong> daß sie genau zu bestimmen<br />

sind.<br />

Aus <strong>de</strong>n ange<strong>de</strong>uteten Perspektiven ergibt sich, daß <strong>de</strong>r Vorschlag HOERSTERs<br />

zwar für Selbstbeobachter innerhalb <strong>de</strong>s von HOERSTER vorgeschlagenen Systems<br />

funktionieren mag. Als Fremdbeobachter erkennen wir jedoch vielfältige Brüche und<br />

Auslassungen, die die Regelung HOERSTERs suspekt machen.<br />

Aus <strong>de</strong>n hier eingenommenen Perspektiven ergibt sich folgen<strong>de</strong>r Schluß: <strong>Eine</strong><br />

gesetzliche Regelung <strong>de</strong>r aktiven Sterbehilfe in einem von HOERSTER vorgeschla-<br />

genen Sinn ist nicht geeignet. Ob für diese Fragestellung überhaupt eine gesetzliche<br />

Regelung sinnvoll sein kann, ist ebenfalls fragwürdig. Denn eine solche gesetzliche<br />

Regelung schafft ihrerseits wie<strong>de</strong>r machtvolle symbolische Zwänge, die auf die Ent-<br />

70


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

scheidungen <strong>de</strong>r Subjekte zurückwirken. Dies schließt nicht aus, daß in seltenen Ein-<br />

zelfälle Sterbehilfe vielleicht tatsächlich <strong>de</strong>r sinnvollste Weg zu Sterben sein mag.<br />

DEDERICH macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, daß HOERSTERs<br />

Gleichsetzung <strong>de</strong>r Bewertung von direkter und indirekter Sterbehilfe nicht zu halten<br />

ist. Sie ist lediglich aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Arztes plausibel. Für <strong>de</strong>n Patienten<br />

stellt sich dies an<strong>de</strong>rs dar. „Ein Patient, <strong>de</strong>r um starke Medikamente zur Schmerzlin-<br />

<strong>de</strong>rung bittet bzw. in <strong>de</strong>ren Verabreichung er einwilligt, von <strong>de</strong>nen er weiß, daß sie<br />

<strong>de</strong>n To<strong>de</strong>seintritt beschleunigen, bittet nicht um Sterbehilfe, son<strong>de</strong>rn um Lin<strong>de</strong>rung.<br />

Dabei wird er vermutlich sogar hoffen, die Nebenwirkung <strong>de</strong>r Beschleunigung <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>seintritts möge bei ihm nicht eintreten“ (DEDERICH 2000, 314). Damit ist – im<br />

Gegensatz zur Argumentation HOERSTERs – durchaus eine unterschiedliche Be-<br />

wertung von aktiver direkter und indirekter Sterbehilfe möglich, ja sogar sinnvoll.<br />

Be<strong>de</strong>nkt man die o.g. Kränkungen eines Wunsches nach aktiver Sterbehilfe, so<br />

be<strong>de</strong>utet dies auch Einschränkungen für die Zulässigkeit passiver Sterbehilfe. Diese<br />

kommt nun nur noch dann in Betracht, wenn <strong>de</strong>r Sterbeprozeß als solcher bereits<br />

abzusehen ist und eine weitere Behandlung <strong>de</strong>m Patienten zusätzliches Lei<strong>de</strong>n be-<br />

<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>. Auch hier ist jedoch eine kritische Hinterfragung <strong>de</strong>r Prozesse, die<br />

zum Wunsch nach passiver Sterbehilfe führen, nötig. <strong>Eine</strong> pauschale Betrachtung ist<br />

auch hier abzulehnen.<br />

Wen<strong>de</strong>n wir uns zwei Aspekten zu, die aus Sicht einer <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik<br />

von Interesse sind: zum einen die Sterbehilfe bei Frühgeborenen, <strong>de</strong>nen HOERSTER<br />

noch kein Recht auf Leben zuerkennt, zum an<strong>de</strong>ren generell die Sterbehilfe bei Men-<br />

schen, bei <strong>de</strong>nen lediglich über die Rechtsfigur <strong>de</strong>r mutmaßlichen Einwilligung Ster-<br />

behilfe zu erwägen ist.<br />

Frühgeborenen mit einem Gesamtalter unter 28 Wochen erkennt HOERSTER ein<br />

Lebensrecht aus pragmatischen Grün<strong>de</strong>n nicht zu. Damit ist hier also erneut die<br />

Problematik berührt, wem ein Recht auf Leben zukommt. Wie wir jedoch oben be-<br />

reits gesehen haben, ist die Argumentation HOERSTERs keineswegs zwingend lo-<br />

gisch, son<strong>de</strong>rn eher eine reduktive Betrachtung <strong>de</strong>r Frage. Hier gelten also die glei-<br />

chen Überlegungen wie bei <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung im Kapitel 3.2.1 zum Thema<br />

Lebensrecht. Auch das frühgeborene Kind existiert als An<strong>de</strong>rer, über <strong>de</strong>n zu verfü-<br />

gen mir lediglich faktische Macht gestattet. In Ausübung dieser Macht jedoch ver-<br />

71


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

neine ich <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren schon als An<strong>de</strong>ren. In diesem Sinne ist es prinzipiell fraglich,<br />

ob eine solche Macht ausgeübt wer<strong>de</strong>n darf.<br />

Damit bleibt jedoch die Frage, ob Sterbehilfe prinzipiell erlaubt sein soll unter<br />

<strong>de</strong>n Bedingungen, daß eine Einwilligung <strong>de</strong>s Betreffen<strong>de</strong>n nicht vorliegt.<br />

HOERSTER hält eine Sterbehilfe dann für legitim, sogar geboten, wenn „<strong>de</strong>r Lei-<br />

<strong>de</strong>nszustand <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s .. so gravierend .. [ist], daß das Kind, wenn es urteilsfähig<br />

und über seinen Zustand aufgeklärt wäre, aufgrund reiflicher Überlegung die Sterbe-<br />

hilfe selbst wünschen wür<strong>de</strong>“ (1995b, 106-107).<br />

Dies möchte HOERSTER gesetzlich geregelt wissen. Mit einer solchen gesetzli-<br />

chen Regelung ist ein scheinbar objektives Kriterium für die Legitimität von Sterbe-<br />

hilfe festgeschrieben.<br />

<strong>Eine</strong> solch objektive Bewertung ist jedoch unmöglich. Die Kränkungen einer sol-<br />

chen Beobachtungswirklichkeit, die REICH aufführt, ver<strong>de</strong>utlichen dies. <strong>Eine</strong> Rege-<br />

lung, wie HOERSTER sie vorschlägt, birgt in sich außer<strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong> Gefahr: gera-<br />

<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Zuschreibungsprozeß, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Begriff ‚behin<strong>de</strong>rt’ verbun<strong>de</strong>n ist,<br />

wer<strong>de</strong>n bestimmte Beobachterperspektiven und Fremdbewertungen <strong>de</strong>r Fremdbeob-<br />

achter provoziert (vgl. Kapitel 1). Es ist also nicht abwegig, davon auszugehen, daß<br />

alleine durch die Diagnose <strong>de</strong>r ‚Behin<strong>de</strong>rung’ vielfältige an<strong>de</strong>re Perspektiven unbe-<br />

wußt o<strong>de</strong>r bewußt ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n.<br />

Dennoch mag es einzelne Fälle geben, in <strong>de</strong>nen eine Sterbehilfe tatsächlich in<br />

Erwägung gezogen wird. Diese können aber nicht unter <strong>de</strong>m allgemeinen Fall <strong>de</strong>r<br />

Sterbehilfe eines einwilligungsfähigen Menschen gesehen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn bedürfen<br />

äußerst sorgfältiger, strenger und umfassen<strong>de</strong>r Prüfung und Diskussion durch ver-<br />

schie<strong>de</strong>nste Gruppen. Dabei darf es sich nicht alleine um eine Entscheidung <strong>de</strong>r El-<br />

tern han<strong>de</strong>ln.<br />

2.4 Lebenswert<br />

„Das Leben irgen<strong>de</strong>ines Individuums A, von <strong>de</strong>m wir nichts weiter wissen, als daß es<br />

nicht krank o<strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rt ist, besitzt wahrscheinlich einen größeren Wert als das<br />

Leben irgen<strong>de</strong>ines Individuums B, von <strong>de</strong>m wir nichts weiter wissen, als daß es<br />

krank o<strong>de</strong>r behin<strong>de</strong>rt ist“ (HOERSTER 1995b, 120).<br />

72


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

„Ich bin normal wie ein normaler Mensch“ (SCHLOTE 2000, 285): in dieser Zu-<br />

sammenfassung <strong>de</strong>r Selbstbeschreibung von Schülern, die als geistig behin<strong>de</strong>rt be-<br />

zeichnet wer<strong>de</strong>n, wird die Aussage HOERSTERs bereits relativiert.<br />

„Um es gleich vorweg zu nehmen: Ohne die überraschen<strong>de</strong> Erfahrung <strong>de</strong>r son-<br />

<strong>de</strong>rbaren Reaktion an<strong>de</strong>rer Menschen auf meine Lähmung wäre ich wohl nie so<br />

leicht darauf gekommen, in meiner Behin<strong>de</strong>rung etwas an<strong>de</strong>res als die Daseinsbedin-<br />

gung meiner Existenz zu sehen. Ursprünglich ist sie mit nichts Negativem behaftet,<br />

<strong>de</strong>nn sie macht mein Dasein aus wie alles an<strong>de</strong>re, das zu mir gehört, all das, was<br />

meine Person zu einem unverwechselbaren Individuum konstituiert. Ohne diese mei-<br />

ne Behin<strong>de</strong>rung stelle ich einen an<strong>de</strong>ren dar, von <strong>de</strong>m ich überhaupt nichts wissen<br />

kann, weil ich – wie sollte ich auch? – nicht in seiner Haut stecke“ (SAAL 1994, 84).<br />

Hier wird das Phänomen aus verschie<strong>de</strong>nen Blickwinkeln betrachtet:<br />

HOERSTER erkennt als Fremdbeobachter, daß Behin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>n Lebenswert eines<br />

Individuums schmälert. Die interviewten Schüler (vgl. SCHLOTE 2000) und SAAL<br />

empfin<strong>de</strong>n Behin<strong>de</strong>rung als normal. Wie läßt sich diese Diskrepanz bewerten?<br />

HOERSTERs Begriff <strong>de</strong>s Lebenswertes eines Individuums steht im Zusammen-<br />

hang mit seinen Vorstellungen über Abtreibung und Sterbehilfe: Mittels <strong>de</strong>s Le-<br />

benswert-Kriteriums möchte er argumentativ belegen, wieso die selektive Abtrei-<br />

bung von behin<strong>de</strong>rten Föten bzw. die Sterbehilfe bei behin<strong>de</strong>rten Frühgeborenen<br />

nicht nur zulässig, son<strong>de</strong>rn sogar erwünscht ist (1995b, 126). Dazu <strong>de</strong>finiert<br />

HOERSTER <strong>de</strong>n Begriff Lebenswert „als die Gesamtheit <strong>de</strong>r Bewertungen o<strong>de</strong>r<br />

Wertschätzungen die mit diesem Leben verbun<strong>de</strong>n sind“, unterteilt diese Bewertun-<br />

gen in Fremd- und Eigenbewertungen (ebd., 117).<br />

Wie plausibel sind diese Gedanken?<br />

Nehmen wir zunächst die Fremdbewertungen in <strong>de</strong>n Blick: Aus welchem Grun<strong>de</strong><br />

sollen sie relevant sein für <strong>de</strong>n Lebenswert eines Menschen? (Lei<strong>de</strong>r differenziert<br />

o<strong>de</strong>r erläutert HOERSTER seine Ausführungen und Argumente zu diesem Punkt<br />

nicht näher, so daß es im folgen<strong>de</strong>n also um eine kritische Bewertung <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls<br />

von HOERSTER aus Sicht einer <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik bzw. <strong>de</strong>s interaktionistischen<br />

Konstruktivismus geht.)<br />

Hierbei sollen uns Fremdbeobachtungen aus folgen<strong>de</strong>r Perspektive interessieren:<br />

Fremdbeobachtungen sollen als ‚Wissen’ betrachtet wer<strong>de</strong>n, welches machtvoll<br />

73


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

wirksam wird in <strong>de</strong>r ‚Beziehungswirklichkeit’ und <strong>de</strong>r daraus bereits symbolisch<br />

festgelegten Lebenswelt.<br />

Fremdbewertung als Wissen um <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s Lebens eines an<strong>de</strong>ren Menschen<br />

„für die Gesellschaft“ (ebd., 117) – dies meint HOERSTER durchaus i.S. von Nütz-<br />

lichkeit (ebd.) – verweist auf eine quantifizierbare Größe: Worin wird dieser Wert<br />

gemessen? Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>r Nützlichkeit erweist sich hier als äußerst prob-<br />

lematisch, birgt er doch schnell die Assoziation mit erwirtschaftetem Wert, auszu-<br />

drücken in Geld.<br />

HOERSTER gibt vor, zu wissen, daß bei einer Behin<strong>de</strong>rung zumin<strong>de</strong>st die hohe<br />

Wahrscheinlichkeit besteht, daß <strong>de</strong>r Fremdwert eines Lebens geringer sein wird als<br />

<strong>de</strong>r eines nichtbehin<strong>de</strong>rten Lebens. Dies mag sogar zutreffen, wenn wir dieses Wis-<br />

sen wahrnehmen als Macht, die wirkungsvoll wird in lebensweltlichen Bezügen.<br />

FEUSER hat dies bereits 1981 beschrieben: „In Fixierung auf anthropologische und<br />

wertphilosophische Orientierungen ... wird aus <strong>de</strong>r isolierten Betrachtungsweise <strong>de</strong>s<br />

am Individuum in Erscheinung treten<strong>de</strong>n organischen Defektes, <strong>de</strong>r Pathologie und<br />

entwicklungspsychologisch feststellbaren Devianz dieser Menschen die Ausbildung<br />

einer extrem min<strong>de</strong>ren bzw. keiner Arbeitskraft antizipiert und ihnen so umfassen<strong>de</strong><br />

soziale und pädagogische Maßnahmen (scheinbar begrün<strong>de</strong>t) vorenthalten“ (129).<br />

Auch wenn FEUSER selbst in diesem Zitat wie<strong>de</strong>r zu problematisieren<strong>de</strong> Begrif-<br />

fe verwen<strong>de</strong>t – „entwicklungspsychologisch feststellbare Devianz“, etc. 30 – be-<br />

schreibt er <strong>de</strong>n Zirkel <strong>de</strong>r vom ‚Wissen’ um eine Behin<strong>de</strong>rung zu einer Produktion<br />

<strong>de</strong>rselben führt. „Der ‚Geistigbehin<strong>de</strong>rte’ darf nur so (und nicht an<strong>de</strong>rs) sein, wie wir<br />

ihn uns zu <strong>de</strong>nken vermögen, wie wir annehmen, daß er sei. Mittels <strong>de</strong>s sozialen und<br />

bildungsmäßigen Reduktionismus, vermittelt, organisiert und kontrolliert durch die<br />

Heil- und Son<strong>de</strong>rpädagogik, tun wir alles dafür, daß diese Projektionen eine überzeit-<br />

liche Gültigkeit erfahren“ (FEUSER 1996, 20).<br />

Was sieht HOERSTER in seiner Aussage als Fremdbeobachter nicht?<br />

HOERSTER be<strong>de</strong>nkt nicht, daß <strong>de</strong>r Fremdwert einer Person nicht <strong>de</strong>swegen geringer<br />

ist, weil sie behin<strong>de</strong>rt ist, son<strong>de</strong>rn weil aufgrund einer attribuierten Behin<strong>de</strong>rung<br />

durch verschie<strong>de</strong>ne lebensweltliche, symbolische Systeme (hier v.a. Schule und das<br />

Feld <strong>de</strong>r Arbeitsmöglichkeiten) eine solche Fremdbewertung produziert wird.<br />

30 Dies hat FEUSER seit<strong>de</strong>m sicherlich auch grundlegend verän<strong>de</strong>rt (vgl. z.B. FEUSER 1996).<br />

74


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Ein weiterer Punkt: ich halte es für fraglich, ob wir bereit sind, Fremdbewertun-<br />

gen eines Lebens, die sich letztlich auf Gedanken von Nützlichkeit beziehen, zu ei-<br />

nem Maßstab für solche Probleme wie Sterbehilfe o<strong>de</strong>r Abtreibung zu machen.<br />

HOERSTER bezieht neben <strong>de</strong>m Fremdwert auch <strong>de</strong>n Eigenwert eines Lebens in<br />

sein Mo<strong>de</strong>ll ein; auch hier behauptet er, daß <strong>de</strong>r Eigenwert eines von ihm als behin-<br />

<strong>de</strong>rt bezeichneten Lebens wahrscheinlich geringer ist als <strong>de</strong>r eines nichtbehin<strong>de</strong>rten<br />

Lebens. Bereits das Zitat von SAAL (vgl. oben) vermochte auszudrücken, daß seine<br />

Behin<strong>de</strong>rung direkt die Bewertung seines Lebens für ihn nicht verän<strong>de</strong>rt hätte.<br />

SCHLOTE kommt in <strong>de</strong>r Auswertung von Interviews mit geistig behin<strong>de</strong>rten Schü-<br />

lern zu einem ähnlichen Ergebnis: „Damit ist Behin<strong>de</strong>rung als personenbezogene<br />

Kategorie im Selbsterleben <strong>de</strong>r Schüler eher irrelevant, obgleich ihre Zuschreibung<br />

in bestimmten Kontexten unangenehm sein kann und negative Konsequenzen für das<br />

Selbstbild nach sich ziehen kann ...“ (SCHLOTE 2000, 266).<br />

Als Selbstbeobachter – so kann zumin<strong>de</strong>st thesenartig gefolgert wer<strong>de</strong>n – wird<br />

die eigene, individuelle Behin<strong>de</strong>rung zunächst nicht als negativ empfun<strong>de</strong>n. Der<br />

‚Selbstwert’ unterschei<strong>de</strong>t sich nicht von <strong>de</strong>m irgen<strong>de</strong>ines an<strong>de</strong>ren Menschen. Was<br />

jedoch wirksam wird für die Selbstbewertung ist die Fremdbewertung durch An<strong>de</strong>re.<br />

Ein Zitat eines Schülers: „Wegen, ich erzähl das auch nicht je<strong>de</strong>m Menschen. [Ge-<br />

meint ist seine „Behin<strong>de</strong>rung“, M.B.] ... Weil, weil wenn ich das sage, da erzählen<br />

sie immer so schlimme Wörter über mich. ... Naja, so Behindi und so´n Zeugs“ (zit.<br />

nach PALMOWSKI / HEUWINKEL 2000, 236).<br />

Als Selbstbeobachter sehe ich mich immer auch als a/An<strong>de</strong>rer mit lebensweltli-<br />

chen Maßstäben, eingebun<strong>de</strong>n und vermittelt über symbolische Perspektiven. Nega-<br />

tive Bewertungsprozesse An<strong>de</strong>rer beeinflussen in <strong>de</strong>r Zirkularität <strong>de</strong>r Beziehungs-<br />

wirklichkeit somit <strong>ohne</strong> Zweifel auch die Selbstbeobachterperspektive meiner Ei-<br />

genbewertung.<br />

Auch hier halte ich es für fraglich, daß diese Übernahme frem<strong>de</strong>r Bewertungen in<br />

Eigenbewertungen eines Menschen, <strong>de</strong>r als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet wird, die von<br />

HOERSTER skizzierten Konsequenzen haben sollten. Vielmehr halte ich es an die-<br />

ser Stelle für sinnvoll, die symbolischen Zusammenhänge, die zu einer solchen<br />

Fremdbewertung führen, zu verän<strong>de</strong>rn.<br />

75


3. Kapitel Norbert Hoerster & Interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Blicken wir noch einmal von <strong>de</strong>n Perspektiven REICHs auf diese Zusammenhänge,<br />

so wird uns <strong>de</strong>utlich, wie machtvoll auf symbolischer Ebene <strong>de</strong>r Begriff ‚Behin<strong>de</strong>-<br />

rung’ ist, in<strong>de</strong>m er sowohl in <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit als auch in lebensweltli-<br />

chen Bezügen <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>r als ‚behin<strong>de</strong>rt’ bezeichnet wird, zu einem an<strong>de</strong>ren<br />

macht. Erst als Fremdbeobachter dieser Beziehungen kann ich Perspektiven sehen,<br />

die Verän<strong>de</strong>rungen ermöglichen.<br />

HOERSTER nimmt in seinen Ausführungen die Komplexität <strong>de</strong>s Phänomens<br />

nicht in <strong>de</strong>n Blick. Seine Folgerungen bleiben damit zu einseitig - letztlich beschrei-<br />

ben sie erneut die Wirkung einer <strong>de</strong>finitorischen Macht, die als Wissen auftritt. 31<br />

Fassen wir die Überlegungen dieses Kapitels zusammen: Die Thesen HOER-<br />

STERs erwiesen sich aus Sicht <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus in allen<br />

dargestellten Kontexten als zuwenig differenziert, zu reduktiv. HOERSTER abs-<br />

trahiert zumeist von Zusammenhängen <strong>de</strong>r Lebenswelt, mehr noch von solchen <strong>de</strong>r<br />

Beziehungswirklichkeit. Er beschränkt sich auf enge, scheinbar objektive Beo-<br />

bachtungen. Gera<strong>de</strong> jedoch in so grundsätzlichen Fragen <strong>de</strong>s Rechtes und <strong>de</strong>r Sozi-<br />

almoral kann dies als nicht ausreichend zurückgewiesen wer<strong>de</strong>n.<br />

31 Dieselbe Argumentation, die HOERSTER in Bezug auf ‚Behin<strong>de</strong>rung’ darstellt, ließe sich im Übrigen<br />

mit je<strong>de</strong>r gesellschaftlich stigmatisierten Randgruppe treffen - ebenso wie HOERSTERs Folgerungen.<br />

Aus <strong>de</strong>r Annahme, daß das Leben <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s einer Sozialhilfeempfängerin sicher weniger<br />

Wert wäre, als das Leben einer wohlhaben<strong>de</strong>n Familie, könnte man Sozialhilfeempfängern doch zumin<strong>de</strong>st<br />

‚nahelegen’, abzutreiben (vgl. HOERSTER 1995b, 127).<br />

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Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

4. Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

Zwei Perspektiven bieten sich an dieser Stelle an: Zum einen wäre es sinnvoll, Alter-<br />

nativen zu <strong>de</strong>n Thesen HOERSTERs aufzuzeigen, Lösungen zu konstruieren, die<br />

passen<strong>de</strong>r sind. Dafür jedoch reicht eine solche Examensarbeit bei weitem nicht aus,<br />

wenn man auch nur einen Teil <strong>de</strong>r relevanten Literatur bearbeiten will.<br />

Zum zweiten kann <strong>de</strong>r Blick jedoch noch weiter – und damit aber auch unschär-<br />

fer – wer<strong>de</strong>n. HOERSTER <strong>de</strong>finiert Ethik und Recht über Interessen. Dazu gibt es<br />

Alternativen. <strong>Eine</strong> solche Alternative möchte ich hier mit <strong>de</strong>m ‚alten’ Konstrukt <strong>de</strong>r<br />

Menschenwür<strong>de</strong> aufgreifen. Zunächst ist jedoch zu klären, wie die Komplexe Ethik<br />

und Recht überhaupt zusammenhängen. Zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>konstruieren die Perspektiven <strong>de</strong>s<br />

interaktionistischen Konstruktivismus auch und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Ethik. Wel-<br />

che Perspektiven bietet dieser Ansatz für diesen Bereich? Welche Begriffe und Ge-<br />

danken sollen Grundlage <strong>de</strong>s Rechtssystems und solch fundamentaler Probleme wie<br />

<strong>de</strong>s Rechts auf Leben sein? Diese zweite Fragestellung soll hier betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Ausführungen zu Ethik und Recht sowie <strong>de</strong>ren Kränkung in <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

verweisen wie<strong>de</strong>r auf die Perspektiven <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus.<br />

1. Ethik, Recht und interaktionistischer Konstruktivismus<br />

Was genau drückt <strong>de</strong>r Begriff Ethik aus?<br />

WIELAND beschreibt <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>r Ethik als Wissenschaft folgen<strong>de</strong>rma-<br />

ßen: „Je<strong>de</strong>r Mensch steht immer wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r Frage, was er in bestimmten Situati-<br />

onen tun o<strong>de</strong>r lassen soll. Je<strong>de</strong>r Mensch macht immer wie<strong>de</strong>r die Erfahrung, daß er<br />

etwas getan hat, was er nicht hätte tun sollen. Je<strong>de</strong>r Mensch beurteilt sein eigenes<br />

Han<strong>de</strong>ln und das Han<strong>de</strong>ln an<strong>de</strong>rer nach Maßstäben, hinter <strong>de</strong>nen er und die an<strong>de</strong>ren<br />

immer wie<strong>de</strong>r zurückbleiben. ... Ethik ist die vernünftige Bemühung darum, einen<br />

77


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

einsichtigen und allgemein gültigen Maßstab zu fin<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m wir Handlungen und<br />

Lebensformen messen und beurteilen können“ 32 (1996, 11).<br />

Dabei ist für die Ethik als „philosophische Disziplin wesentlich, daß sie ihre je-<br />

weilige Metho<strong>de</strong> reflektiert und kritisch ausweist“ (RICKEN 1983, 12). Hierin unter-<br />

schei<strong>de</strong>t sich ‚Ethik’ von ‚Moral’: Moral beschreibt DEDERICH als „ein wichtiges<br />

Element geschichtlich gewachsener und tradierter Lebensformen ... [, das] gewisse<br />

allgemeinverbindliche normative Handlungsmuster [bezeichnet], die das Zusammen-<br />

leben <strong>de</strong>r Menschen, aber auch ihrer Mitwelt regeln. ... Moral umfaßt bzw. beinhaltet<br />

damit Wertmaßstäbe, die ‚Gut’ und ‚Schlecht’ unterschei<strong>de</strong>n und richtiges und fal-<br />

sches Verhalten <strong>de</strong>finieren“ (2000, 113). „Mit <strong>de</strong>m Nach<strong>de</strong>nken über Moral entsteht<br />

Ethik“ (ebd., 119).<br />

Verstehen wir so also unter Ethik als Wissenschaft eine „Theorie <strong>de</strong>r Moral, die<br />

die Regeln <strong>de</strong>r Moral zu formulieren, allgemeinverbindliche von nicht allgemeinver-<br />

bindlichen Regeln zu unterschei<strong>de</strong>n und die allgemeinverbindlichen Regeln zu recht-<br />

fertigen und zu begrün<strong>de</strong>n sucht“ (STEINVORTH 1989, 207 zit. nach DEDERICH<br />

2000, 119).<br />

Darin klingt an, inwieweit Ethik also mit Recht im Zusammenhang stehen mag.<br />

Vergegenwärtigen wir uns eine mögliche Definition <strong>de</strong>s Rechts 33 : „Als Recht wird<br />

eine Sollensordnung <strong>de</strong>s sozialen Lebens bezeichnet, welcher die Vermittlung <strong>de</strong>r<br />

Freiheitsräume, die Stabilisierung, die Entlastung und die Orientierung aufgegeben<br />

ist, <strong>de</strong>ren Setzung und Inhalt von einem angebbaren Menschenkreis als verbindlich<br />

angesehen und <strong>de</strong>ren Durchsetzung letztlich von einem organisierten Verfahren und<br />

von bestimmten Institutionen besorgt wird“ (BRIESKORN 1990, 33). In einer zwei-<br />

ten Definition wird <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>r Durchsetzung dieser Sollensordnung <strong>de</strong>utlicher:<br />

„Recht ist <strong>de</strong>r Inbegriff <strong>de</strong>r vom Staat garantierten allgemeinen Normen zur Rege-<br />

lung <strong>de</strong>s menschlichen Zusammenlebens und zur Beilegung zwischenmenschlicher<br />

Konflikte durch Entscheidung“ (HORN 1996, 3).<br />

32<br />

Die Unterscheidung REICHs zwischen ‚An<strong>de</strong>rer’ und ‚an<strong>de</strong>rer’ ist in diesem Zitat natürlich nicht<br />

bedacht.<br />

33<br />

Diese Gedanken entsprechen nicht einer bloß rechtspositivistischen Betrachtung <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r<br />

Dichotomie von Recht und Unrecht. Es besteht hier bereits grundlegend ein Rechtsverständnis, das<br />

sich vom Rechtspositivismus absetzt und eine freiheitliche Ordnung begrün<strong>de</strong>t (vgl. z.B. KAUF-<br />

MANN 1985, 70-89).<br />

78


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

Sowohl im Recht als auch in <strong>de</strong>r Ethik geht es also darum, Regeln o<strong>de</strong>r Sollens-<br />

ordnungen zu gestalten, die im sozialen Raum, in <strong>de</strong>r Lebenswelt, aber auch <strong>de</strong>r Be-<br />

ziehungswirklichkeit, um es mit Begriffen REICHs auszudrücken, wirksam sind.<br />

„Das Recht will selbst gewisse sittliche Gemeinschaftswerte, z.B. Freiheit, Rechtssi-<br />

cherheit, Schutz <strong>de</strong>s Vertrauens auf Vertragstreue, Schutz <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r Ge-<br />

sundheit gegen Gewalt, verwirklichen. In vielen Fällen stimmen rechtliche Normen<br />

daher mit sittlichen Geboten voll überein“ (HORN 1996, 10).<br />

Worin jedoch unterschei<strong>de</strong>n sich Recht und Ethik?<br />

Neben <strong>de</strong>r hier weniger wichtigen Unterscheidung in sprachlicher Hinsicht und<br />

in Bezug auf die als „Technizität <strong>de</strong>s Rechts“ (ebd.) bezeichneten Konkretion recht-<br />

licher Normen z.B. im Straßenverkehr o<strong>de</strong>r im Strafrecht 34 soll uns hier ein an<strong>de</strong>rer<br />

Aspekt interessieren: „Das Recht kann nur einen begrenzten Ausschnitt sittlicher<br />

Normen durch Rechtsnormen durchzusetzen suchen. <strong>Eine</strong>n weiten Bereich sittlicher<br />

Normen läßt es um <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>r einzelnen Menschen willen ungeregelt“ (ebd.).<br />

Zusammenfassend ergeben sich folgen<strong>de</strong> Punkte: Sowohl im Recht als auch in <strong>de</strong>r<br />

Ethik geht es um die Frage nach Regeln für die Lebenswelt. Dabei versucht Ethik<br />

weitergreifend moralische Vorstellungen zu begrün<strong>de</strong>n, die dann sich v.a. in <strong>de</strong>r Be-<br />

ziehungswirklichkeit <strong>de</strong>s einzelnen aber auch in lebensweltlichen Zusammenhängen<br />

als wirksam erweisen. Recht fußt auf <strong>de</strong>n sich als wesentlich erweisen<strong>de</strong>n Normen<br />

und begrün<strong>de</strong>t diese als Gegenstand eines durch staatliche Macht garantierten Sys-<br />

tems (vgl. auch ANTOR & BLEIDICK 2000, 54).<br />

Dabei, und das <strong>de</strong>utete die Diskussion <strong>de</strong>r Thesen Norbert HOERSTERs oben<br />

schon an, erweisen sich generell Begründungen von Sollensordnungen sowohl im<br />

einen als auch im an<strong>de</strong>ren Sinne als äußerst schwierig.<br />

HOERSTER etwa sieht als Grundlegung <strong>de</strong>s Rechtes gegenseitige Anerkennung<br />

von Interessen, die sich letztlich auf egoistische Motive begrün<strong>de</strong>n (HOERSTER<br />

1982a, 269-272). Das in Deutschland gelten<strong>de</strong> Grundgesetz als Grundlage aller<br />

Rechtsnormen stützt sich auf <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r als „leiten<strong>de</strong>s<br />

34 Diese Technizität ist notwendig, damit die rechtlichen Normen auch durch staatliche Gewalt sankti-<br />

oniert wer<strong>de</strong>n können.<br />

79


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

normatives Prinzip“ (LUF 1987, 1107) die Menschenrechte fundiert. In ihren Konse-<br />

quenzen bei <strong>de</strong>r Ausgestaltung <strong>de</strong>s Rechtes auf Leben unterschei<strong>de</strong>n sich bei<strong>de</strong> Kon-<br />

zeptionen erheblich. Blickt man weiter und vergleicht diese Konsequenzen mit <strong>de</strong>n<br />

For<strong>de</strong>rungen Peter SINGERs bezüglich <strong>de</strong>s Lebensrechtes von Neugeborenen (SIN-<br />

GER 1994) o<strong>de</strong>r etwa mit einer christlichen Positionen zur Abtreibung (ROEBKE<br />

1999, 4 o<strong>de</strong>r KIRCHENAMT 1990, 43-46), so wird fraglich, wie Recht sich dann<br />

noch legitimieren kann.<br />

Diese Pluralität an Positionen selbst in grundsätzlichen Fragen erscheint als Charak-<br />

teristikum <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne. Die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Erkenntnis <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne liegt<br />

darin, daß aus dieser Pluralität nicht folgen kann, einfach davon auszugehen, daß sich<br />

ein Konsens in diesen Fragen wird fin<strong>de</strong>n lassen, wenn wir nur lange genug und ge-<br />

nau genug forschen: „... Theorie und Praxis <strong>de</strong>r Moral in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne wur<strong>de</strong>n durch<br />

<strong>de</strong>n Glauben an die Möglichkeit eines nicht-ambivalenten, nicht-aporetischen ethi-<br />

schen Co<strong>de</strong>s belebt. Vielleicht wur<strong>de</strong> ein solcher Co<strong>de</strong> bis heute nicht gefun<strong>de</strong>n. A-<br />

ber sicher wartet er schon an <strong>de</strong>r nächsten Ecke. O<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r übernächsten. ... Der<br />

narrensichere – universale und unerschütterliche be- und gegrün<strong>de</strong>te – ethische Co<strong>de</strong><br />

wird niemals gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n“ (BAUMANN 1995, 22; vgl. dazu auch REICH<br />

2000a, 119-172).<br />

Hierin können wir die Verbindung zu <strong>de</strong>n Kränkungsbewegungen Kersten<br />

REICHs erblicken: auch ethische, und damit rechtliche Ein<strong>de</strong>utigkeit ist verlorenge-<br />

gangen im Verlauf <strong>de</strong>s letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />

Wie also damit umgehen, daß Recht existiert, daß Recht auch weiterhin begrün-<br />

<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n will, daß Recht in Frage gestellt wird, daß neue und erweiterte lebens-<br />

weltliche Bezüge 35 rechtlich geregelt wer<strong>de</strong>n wollen?<br />

Und weiter noch: Recht verlangt Diskurs <strong>de</strong>s Wissens nach Ein<strong>de</strong>utigkeit. Ent-<br />

we<strong>de</strong>r, die Tötung eines frühgeborenen Kin<strong>de</strong>s ist Recht, o<strong>de</strong>r sie ist Unrecht. Ent-<br />

we<strong>de</strong>r sie wird bestraft, o<strong>de</strong>r sie bleibt straflos. Die o.g. Technizität <strong>de</strong>s Rechtes er-<br />

hält ihren Sinn nur in dieser Dichotomie.<br />

35 Gera<strong>de</strong> im Bereich bioethischer Überlegungen – etwa in <strong>de</strong>r Gentechnologie, <strong>de</strong>r Reproduktions-<br />

medizin, etc.<br />

80


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

Ist also so etwas wie Recht noch möglich, <strong>ohne</strong> im gesetzespositivistischen Sinne<br />

lediglich als durch Macht sanktionierte staatliche Ordnung begriffen zu wer<strong>de</strong>n?<br />

Recht im Sinne von letztbegrün<strong>de</strong>tem Recht ist nicht mehr möglich. 36 Recht aber<br />

bleibt möglich als relativiertes Recht im Rahmen einer Verständigungsgemeinschaft.<br />

REICH (2000a) setzt sich mit dieser Problematik – bezogen auf eine Kritik an einer<br />

universalistischen Begründung von Moral und Ethik – auseinan<strong>de</strong>r. Die Ergebnisse<br />

dieser Auseinan<strong>de</strong>rsetzung wer<strong>de</strong>n letztlich auch Relevanz besitzen können für unser<br />

Verständnis von Recht.<br />

Gera<strong>de</strong> in<strong>de</strong>m REICH die Kränkungsbewegungen <strong>de</strong>s letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts be-<br />

achtet, kann er Wahrheiten folgen<strong>de</strong>rmaßen <strong>de</strong>finieren: „Wahrheiten sind Zuschrei-<br />

bungsformen eines adäquaten Han<strong>de</strong>lns und Beobachtens im Sinne von Vorverstän-<br />

digungen und gemeinschaftlich ausgebil<strong>de</strong>ten Normierungen, Beobachtungen und<br />

Kontrollen hierüber“ (2000a, 92).<br />

Diese Wahrheiten sind damit nicht relativistisch i.S. von beliebig, son<strong>de</strong>rn relati-<br />

viert durch die Verständigungsgemeinschaft, in <strong>de</strong>r sie konstruiert wer<strong>de</strong>n und be-<br />

grenzt durch das Kriterium <strong>de</strong>r Viabilität, daß in einer Verständigungsgemeinschaft<br />

notwendig ist (ebd., 93). Die Viabilität von Konstruktionen ordnet die mit ihr be-<br />

zeichneten Dinge nach passend – unpassend, erfolglos – erfolgreich, etc. (ebd., 94).<br />

Die Bestimmung <strong>de</strong>r Viabilität geschieht unter <strong>de</strong>n Aspekten <strong>de</strong>r Konstruktivität, <strong>de</strong>r<br />

Methodizität und <strong>de</strong>r Praktizität (ebd.).<br />

Konstruktivität bezeichnet dabei das Bewußtsein, daß viable Lösungen mehrere<br />

Perspektiven einschließen (Teilnehmer – Teilhaber; Akteure – Aktionen; Beobachter<br />

– Beobachtung), daß sie die „Vorgängigkeit bereits Konstruiertens“ einschließen,<br />

also das Wissen darum, nie voraussetzungslos zu konstruieren, son<strong>de</strong>rn immer ein-<br />

gebun<strong>de</strong>n zu sein in z.B. kulturelle Zusammenhänge (ebd.).<br />

Methodizität umfaßt <strong>de</strong>n Anspruch, <strong>de</strong>n innerhalb einer Theorie gesetzten Rah-<br />

men an Metho<strong>de</strong>n zu beachten und gleichzeitig als Fremdbeobachter dieser Theorie<br />

zu hinterfragen. Damit entsteht nicht ein „methodisches Universalismus“ (ebd., 96),<br />

son<strong>de</strong>rn Metho<strong>de</strong> bleibt verän<strong>de</strong>rbar (ebd., 95-97).<br />

36 HOERSTERs Ansatz entspricht dieser For<strong>de</strong>rung in gewissem Sinne – lehnt er ja eben metaphysische<br />

Rechtsbegründungen ab – entwickelt dann aber erneut ein-<strong>de</strong>utige Beobachterstandpunkte.<br />

81


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

Praktizität macht darauf aufmerksam, daß die sich bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Routinen und Insti-<br />

tutionen stets in ihrer Zirkularität mit Konstruktionen und Metho<strong>de</strong>n gesehen wer<strong>de</strong>n<br />

müssen (ebd., 97).<br />

Damit verweist REICH dann im Grun<strong>de</strong> auf Perspektiven, die wir bereits oben<br />

kennengelernt haben: die Perspektiven, die sich in <strong>de</strong>n vier beispielhaften Diskursen<br />

in ihrer Zirkularität zeigten, bleiben <strong>de</strong>r Anspruch, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r interaktionistische Kon-<br />

struktivismus als erkenntniskritische Position vertritt. Er verweist damit aber auch<br />

erneut darauf, an welchen Stellen Pluralität gefähr<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann, z.B. in <strong>de</strong>n sich<br />

bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Routinen und Institutionen.<br />

Pluralität bleibt damit <strong>de</strong>r Anspruch, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r interaktionistische Konstruktivis-<br />

mus in lebensweltlichen Bezügen, aber auch in Beziehungs- und Beobachtungswirk-<br />

lichkeit stellt. Pluralität bleibt plural, in<strong>de</strong>m sie sich gegen neue Konformität richtet,<br />

die auch aus pluralen Möglichkeiten zu entstehen vermag (REICH 2000a, 178-179).<br />

Ich möchte versuchen, dies noch einmal zusammenzufassen:<br />

Durch die Perspektiven <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus können wir sehen,<br />

daß Pluralität für uns nicht mehr zu hintergehen ist. Diese Pluralität können wir in<br />

allen Perspektiven erkennen, die wir als Fremdbeobachter einzunehmen vermögen.<br />

Der Versuch, diese Pluralität zu beschränken, kann als nicht mehr viabel verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Anspruch, <strong>de</strong>r damit entsteht, liegt also darin, Pluralität gegen Ein<strong>de</strong>utigkeit<br />

zu verteidigen. Dieser Anspruch richtet sich auch gegen die eigenen Konstruktionen<br />

und Perspektiven.<br />

„Für diese Ein-Sichten ist ein Kampf um politische Anerkennung einer grundle-<br />

gend prozedural angelegten Demokratie unvermeidlich. Es kann dies keine Demo-<br />

kratie sein, die sich bloß als ein repräsentatives System von Wahlen und als Ignoranz<br />

gegenüber <strong>de</strong>n alltäglichen Machtpraktiken und Diskriminierungen erweist. Nur als<br />

gelebte <strong>de</strong>mokratische Prozedur wäre es möglich, Verständigungsleistungen so zu<br />

verwirklichen, daß wir – immer noch weit entfernt von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen <strong>de</strong>r Aufklärung<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren utopischen Gesellschaftsphantasien – wenigstens das thematisieren<br />

können, was uns bedrängt, gefähr<strong>de</strong>t, ängstigt“ (REICH 2000a, 179).<br />

82


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

2. Das Konstrukt <strong>de</strong>r ‚Menschenwür<strong>de</strong>’<br />

Ich möchte an dieser Stelle <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> ins Zentrum <strong>de</strong>r Be-<br />

trachtung rücken: Er scheint mir geeignet zu sein, trotz und wegen <strong>de</strong>r Kränkungen,<br />

die ‚wahres Wissen’ und ‚ein<strong>de</strong>utige Wirklichkeit’ erfahren haben, aktuell eine trag-<br />

fähige Basis als Bin<strong>de</strong>glied zwischen Ethik bzw. Moral und Recht darzustellen.<br />

Der Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> in Deutschland Fundamentalnorm <strong>de</strong>r<br />

Verfassung: „Die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schüt-<br />

zen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1, Abs. 1 GRUNDGESETZ).<br />

Dieser Grundsatz sollte nach „<strong>de</strong>m menschenverachten<strong>de</strong>n System <strong>de</strong>r national-<br />

sozialistischen Herrschaft ... <strong>de</strong>n ethischen Neuanfang <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutsch-<br />

land .. dokumentieren“ (RIES 1997, 61). 37 Dabei leiten sich folgend aus <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Menschen – zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r sprachlichen Formulierung <strong>de</strong>s Grundgesetzes –<br />

die Menschenrechte ab: „Das <strong>de</strong>utsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen<br />

und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage je<strong>de</strong>r menschlichen Gemein-<br />

schaft, <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Gerechtigkeit in <strong>de</strong>r <strong>Welt</strong>“ (Art. 1, Abs. 2 GRUNDGE-<br />

SETZ) (vgl. hierzu auch HONNEFELDER 1996, 259-260). Die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Men-<br />

schen ist damit Grundlage für das Menschenrecht auf Leben (Art. 2, Abs. 2<br />

GRUNDGESETZ). Die Wür<strong>de</strong> und damit das Recht auf Leben kommt nach Recht-<br />

sprechung <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverfassungsgerichts bereits <strong>de</strong>m ungeborenen Kind ab Einnis-<br />

tung <strong>de</strong>r befruchteten Eizelle in die Gebärmutter zu (RIES 1997, 66-67 und 71-74).<br />

Konkrete Definitionen, worin die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen besteht, sind zwar ver-<br />

sucht wor<strong>de</strong>n, darüber ist jedoch bislang kein Konsens erzielt wor<strong>de</strong>n (RIES 1997,<br />

64-66; WIESEMANN 1997, 94-96). Dies wird auch in <strong>de</strong>r Formulierung von Art. 1,<br />

Abs. 1 GG <strong>de</strong>utlich. „‚Die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen ist unantastbar’ besagt einerseits –<br />

<strong>de</strong>skriptiv – daß Menschenwür<strong>de</strong> zum Kern <strong>de</strong>s Menschseins gehört und <strong>de</strong>shalb<br />

nicht verletzt wer<strong>de</strong>n kann, for<strong>de</strong>rt an<strong>de</strong>rerseits aber auch – normativ -, daß Men-<br />

schenwür<strong>de</strong> nicht angetastet wer<strong>de</strong>n soll“ (WIESEMANN 1997, 96).<br />

37 Dabei soll auf die Entstehungsgeschichte <strong>de</strong>s Begriffs <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> und auf die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Be<strong>de</strong>utungen hier nicht näher eingegangen wer<strong>de</strong>n. Vergleiche dazu z.B. SCHILD 1998; ZIPPE-<br />

LIUS 1994, 204-209.<br />

83


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

Der Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> ist also als Anspruch zwar erhoben, inhaltlich<br />

aber unklar. HOERSTER geht sogar soweit, <strong>de</strong>n Begriff abzulehnen: „Allein eine im<br />

Sinne aktueller Personalität verstan<strong>de</strong>ne ‚Wür<strong>de</strong>’ stellt einen prinzipiellen Grund für<br />

die Einräumung eines Lebensrechtes dar“ (1995a, 122). Dies ist konsequent im Rah-<br />

men <strong>de</strong>r Argumentation HOERSTERs. Wie wir jedoch oben gesehen haben, ist die<br />

Argumentation HOERSTERs in wesentlichen Punkten nicht ausreichend; im Blick<br />

auf die Unschärfe in <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit liegen HOERSTERs Schwach-<br />

punkte ebenso wie in <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Differenzierung seiner Beobachtung<br />

lebensweltlicher Zusammenhänge.<br />

Auch wir können aber <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen nicht in <strong>de</strong>m Sinne<br />

folgen, daß sich aus ihm zwingend die Menschenrechte ableiten: <strong>Eine</strong> solche Argu-<br />

mentation ist all <strong>de</strong>njenigen Einwän<strong>de</strong>n ausgesetzt, die wir gegen HOERSTERs Ar-<br />

gumentation gefun<strong>de</strong>n haben. Wir können jedoch <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Menschenwür<strong>de</strong><br />

als ein Konstrukt ansehen, daß uns zur Grundlage <strong>de</strong>r Verfassung durchaus als viabel<br />

erscheint. Denn gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen bezogen auf <strong>de</strong>n mir<br />

nicht zugänglichen An<strong>de</strong>ren vermag auszudrücken, was REICHs Beobachtungen uns<br />

nahelegen.<br />

Versuchen wir eine Annäherung an diesen Gedanken aus verschie<strong>de</strong>nen Perspek-<br />

tiven. Greifen wir zunächst zurück auf KANTs Definition <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s morali-<br />

schen Subjekts: „Die Menschheit selbst ist eine Wür<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Mensch kann von<br />

keinem Menschen (we<strong>de</strong>r von an<strong>de</strong>ren noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel,<br />

son<strong>de</strong>rn muß je<strong>de</strong>rzeit zugleich als Zweck gebraucht wer<strong>de</strong>n und darin besteht eben<br />

seine Wür<strong>de</strong> (Persönlichkeit), dadurch er sich selbst über alle an<strong>de</strong>ren <strong>Welt</strong>wesen,<br />

die nicht Menschen sind, ... erhebt“ (zit. nach SCHILD 1998, 1543). Auch wenn man<br />

dieser Definition nicht im Ganzen folgen möchte, drückt sich darin doch die Un-<br />

schärfe unserer Beobachtungen aus, wie sie REICH mit LEVINAS über <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren<br />

als Reales schreibt: „Der An<strong>de</strong>re ist dann eine Grenzbedingung meines Nicht-<br />

Vorstellen-Könnens, meines Nicht-Wissen-Könnens. Er taucht in meiner (konstruier-<br />

ten) Realität auf, in<strong>de</strong>m er in ihr als ein Reales erscheint ...“ (REICH 1998a, 357).<br />

Der Begriff Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen be<strong>de</strong>utet also in diesem Sinne, daß <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re,<br />

<strong>de</strong>n ich nicht als An<strong>de</strong>ren wahrnehmen kann, <strong>ohne</strong> ihn imaginär zu vereinnahmen,<br />

mir v.a. im Hinblick auf Verfügung über ihn entzogen bleibt.<br />

84


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

„Die konstruktivistischen Freiheiten wer<strong>de</strong>n in sozialen Praktiken, Routinen und<br />

Institutionen offensichtlich durch eine Ethik begrenzt, <strong>de</strong>ren Grundlagen zumin<strong>de</strong>st<br />

in einer negativen Ausgrenzung von Übergriffen gegen An<strong>de</strong>re bestehen: gegen Ge-<br />

walt, Verdinglichung, Übergriffe auf ein Min<strong>de</strong>stmaß an Selbstbestimmung“<br />

(REICH 1998b, 287).<br />

Dennoch bleibt <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen auch ein problematischer<br />

Begriff: er bleibt Verständigung einer Gemeinschaft – in diesem Falle also mögli-<br />

cherweise <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gesellschaft – und ist als solcher unscharf. In einem Streit-<br />

gespräch zwischen Kersten REICH und Holger BURCKHART äußert sich REICH<br />

zum Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>: „Ich halte es für problematisch, aus <strong>de</strong>m Konstrukt<br />

<strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> nun eine anthropologische Grundgröße zu machen, aus <strong>de</strong>r dann<br />

naturalistisch die Menschenrechte abgeleitet wer<strong>de</strong>n“ (BURCKHART / REICH<br />

2000, 183).<br />

Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Abtreibung drückt <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen<br />

nur begrenzten Konsens aus; in <strong>de</strong>r Frage nach Sterbehilfe wird <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Wür-<br />

<strong>de</strong> sowohl als Argument gegen Sterbehilfe, als auch als Argument für ein „men-<br />

schenwürdiges Sterben“ gebraucht.<br />

Vielleicht liegt aber auch gera<strong>de</strong> darin ein Vorteil dieses Begriffes: Er nötigt da-<br />

zu, ihn immer wie<strong>de</strong>r neu zu bestimmen, immer wie<strong>de</strong>r neu und immer wie<strong>de</strong>r kon-<br />

kret 38 über seine Be<strong>de</strong>utung zu diskutieren. Gleichzeitig bleibt er Erinnerung an das,<br />

was wir eben nicht wissen, son<strong>de</strong>rn nur konstruieren können.<br />

Gera<strong>de</strong> als solcher Begriff, <strong>de</strong>r unsicher und unscharf bleibt, eignet sich <strong>de</strong>r Beg-<br />

riff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> auch als Grundlage eines auf Ein<strong>de</strong>utigkeit und Sicherheit<br />

bedachten Systems wie das <strong>de</strong>s Rechts.<br />

Der Begriff ‚Menschenwür<strong>de</strong>’ ist zu<strong>de</strong>m nicht ein rein juristischer Begriff son-<br />

<strong>de</strong>rn ebenso in an<strong>de</strong>ren Kontexten gebräuchlich: in <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik, in <strong>de</strong>r<br />

Philosophie, Medizin, aber auch in vielen alltäglichen Situationen, in <strong>de</strong>nen er nicht<br />

explizit wird, aber als Anspruch erlebt wird.<br />

‚Menschenwür<strong>de</strong>’ bleibt als Grundlage unseres Rechtssystems eben nicht „Leer-<br />

formel“ (KONDYLIS, zit. nach SCHILD 1998, 1544), son<strong>de</strong>rn ist Anspruch, rechtli-<br />

38 Dies ist z.B. sinnvoll im Zusammenhang mit <strong>de</strong>n sich ständig verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n und erweitern<strong>de</strong>n Möglichkeiten<br />

im Bereich <strong>de</strong>r Gentechnologie (vgl. z.B. HONNEFELDER 1994; RIES 1997, 74-75).<br />

85


Kapitel 4 Zur beson<strong>de</strong>ren Problematik <strong>de</strong>s Rechts in <strong>de</strong>r Pluralität <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne<br />

che Regelungen an ihren Wirkungen in lebensweltlichen Kontexten zu überprüfen.<br />

Er kann vielleicht im Sinne <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus auch dazu<br />

anhalten, sich nicht mit einer Beobachterposition zufrie<strong>de</strong>n zu geben, son<strong>de</strong>rn immer<br />

die Pluralität möglicher Beobachterpositionen <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren und <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren zu be-<br />

<strong>de</strong>nken, die ich zulassen muß, will ich nicht in <strong>de</strong>n ein-perspektivischen Diskurs <strong>de</strong>r<br />

Mo<strong>de</strong>rne zurückkehren.<br />

86


5. Kapitel „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

5. „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

Versuchen wir die Überlegungen <strong>de</strong>r Arbeit noch einmal zusammenzufassen:<br />

Behin<strong>de</strong>rung erfährt dadurch Ab- und Entwertung, daß behin<strong>de</strong>rtes Leben zu<br />

vermei<strong>de</strong>n versucht wird. Neu ist dies prinzipiell nicht. Auch die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npäda-<br />

gogik trägt in sich eine Ambivalenz, die ausgedrückt wird durch das Begriffspaar<br />

‚Integration‘ und ‚Prävention‘. Zum Beispiel im Bereich <strong>de</strong>r Frühför<strong>de</strong>rung ist es<br />

Ziel <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik, eine ‚drohen<strong>de</strong> Behin<strong>de</strong>rung‘ zu vermei<strong>de</strong>n (vgl.<br />

z.B. BÜRLI 1979, 46-47; ANTOR & BLEIDICK 1995, 68). Neu ist die gefor<strong>de</strong>rte<br />

Radikalität <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Prävention. Dabei erstreckt sich die Debatte auf sehr<br />

unterschiedliche Fel<strong>de</strong>r: Im lebensweltlichen Bereich ist Prävention durch Abtrei-<br />

bung bereits Alltag, ebenso, wenn auch vielleicht weniger von einer breiten Masse<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft getragen, das Liegen-Lassen schwergeschädigter Neugeborener.<br />

HOERSTER versucht, solche Konstruktionen rechtsphilosophisch zu begrün<strong>de</strong>n.<br />

Wie wir jedoch mit <strong>de</strong>n Perspektiven REICHs sehen konnten, ergeben sich vielfälti-<br />

ge Einwän<strong>de</strong> gegen diese Konstrukte. Die Vorschläge HOERSTERs, so dürfen wir<br />

annehmen, erweisen sich als nicht viabel für unsere Gesellschaft. Damit jedoch sind<br />

wir aufgefor<strong>de</strong>rt, Alternativen zu <strong>de</strong>n Vorschlägen HOERSTERs zu entwickeln. Die<br />

postmo<strong>de</strong>rne Pluralität, die auch in ethischen Fragestellungen sichtbar wird, er-<br />

schwert dieses Vorhaben. Mit <strong>de</strong>m interaktionistischen Konstruktivismus konnten<br />

wir Perspektiven erkennen, die es als viabel erscheinen lassen, <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als An-<br />

<strong>de</strong>ren anzuerkennen. Somit ist <strong>de</strong>r Anspruch entstan<strong>de</strong>n, lebensweltliche Praktiken<br />

und die Beziehungswirklichkeit immer aus verschie<strong>de</strong>nen Perspektiven in <strong>de</strong>n Blick<br />

zu nehmen und auf bewußte o<strong>de</strong>r unbewußte Machtstrukturen zu achten, gera<strong>de</strong><br />

wenn sie <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren symbolisch o<strong>de</strong>r imaginär zum an<strong>de</strong>ren machen. Das Kon-<br />

strukt <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> schien geeignet, diese Positionen als Grundlage unseres<br />

Rechtssystems zu machen.<br />

Konkrete Lösungen für die Fragen nach Abtreibung und Liegen-Lassen habe ich<br />

in diesem Rahmen nicht entwickeln können. Mit <strong>de</strong>n entwickelten Perspektiven wird<br />

jedoch nahegelegt, für diese Problembereiche Lösungen zu fin<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen mög-<br />

lichst <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>re als An<strong>de</strong>rer geachtet bleibt. Im Bereich <strong>de</strong>r Abtreibung <strong>de</strong>utet sich<br />

87


5. Kapitel „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

damit an, eben möglichst solche Lösungen anzubieten, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Fötus nicht ab-<br />

getrieben wird. Insofern kann damit eine Bestätigung <strong>de</strong>r aktuellen Rechtspraxis ge-<br />

sehen wer<strong>de</strong>n, die eine Abtreibung unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n straflos läßt, sie<br />

jedoch generell verbietet. Zu kritisieren ist die aktuelle Gesetzeslage dort, wo sie eine<br />

mögliche Behin<strong>de</strong>rung zum Kriterium für die Straflosigkeit einer Abtreibung macht.<br />

Die Ausführungen oben haben <strong>de</strong>utlich zu machen versucht, wie unscharf die Kate-<br />

gorie ‚Behin<strong>de</strong>rung‘ tatsächlich ist bzw. inwiefern eine Beurteilung von Behin<strong>de</strong>rung<br />

in lebensweltlichen Kontexten und in Beziehungen wirksam wird. Die aktuelle<br />

Rechtspraxis erscheint auch in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Sterbehilfe viabel, da die Gefahren einer<br />

freizügigen Regelung von Befürwortern einer solchen Regelung wohl unterschätzt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Damit ist noch einmal zusammengefaßt, welche Perspektiven sich in <strong>de</strong>n ge-<br />

nannten Fragestellungen in dieser Arbeit ergeben haben. Versuchen wir, einen Aus-<br />

blick von diesem Standpunkt aus:<br />

Ethische und rechtliche Diskursgemeinschaften diskutieren nicht nur um diese, son-<br />

<strong>de</strong>rn um diese und ähnliche, aber an<strong>de</strong>rs gelagerte Problemstellungen (z.B. Prä-<br />

implantationsdiagnostik). Diese und ähnliche Debatten wer<strong>de</strong>n jedoch auch schon<br />

Eingang gefun<strong>de</strong>n haben in die Gedanken und Konstrukte je<strong>de</strong>s Einzelnen von uns:<br />

als Handlungsoptionen sind Abtreibung und Liegenlassen symbolische Vorräte die-<br />

ser Gesellschaft.<br />

Dabei steht all dies wi<strong>de</strong>rsprüchlich neben an<strong>de</strong>ren Aspekten: Die (tatsächlich?)<br />

zunehmen<strong>de</strong>n Möglichkeiten und Perspektiven <strong>de</strong>r Integration von Kin<strong>de</strong>rn, die als<br />

behin<strong>de</strong>rt bezeichnet wer<strong>de</strong>n (welche?). Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung haben heute<br />

mehr Rechte als vor wenigen Jahrzehnten noch (vgl. z.B. zum Betreuungsgesetz und<br />

Sterilisation, ANTOR & BLEIDICK 1995, 179-193). Vielleicht gehören Menschen,<br />

die als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet wer<strong>de</strong>n, heute auch ein Stück mehr zum alltäglichen<br />

Erscheinungsbild. 39<br />

Pluralität zeigt sich also auch hier. Diese Pluralität kann <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädago-<br />

gik Perspektive sein. Sie eröffnet Chancen, Dinge an<strong>de</strong>rs zu sehen als bisher. Dies<br />

39 Aus wie<strong>de</strong>rum an<strong>de</strong>ren Perspektiven ist die Entwicklung sicherlich weniger positiv zu bewerten –<br />

z.B. im Bereich <strong>de</strong>r Arbeit (vgl. z.B. SPECK 1998, 509-526).<br />

88


5. Kapitel „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

wird nicht von alleine geschehen. Aber gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Menschen, um die<br />

es <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik geht, eröffnen sich Perspektiven, die <strong>ohne</strong> diese Men-<br />

schen nicht zu sehen wären. Die Perspektiven REICHs bieten Ansatzpunkte, gegen<br />

ungerechtfertigte, verkürzen<strong>de</strong>, reduzieren<strong>de</strong> Argumentationen und Diskurse weitere<br />

und passen<strong>de</strong>re Argumente in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen. Dies ist Anspruch an eine Be-<br />

hin<strong>de</strong>rtenpädagogik: sich Autoren wie SINGER o<strong>de</strong>r HOERSTER zuzuwen<strong>de</strong>n und<br />

<strong>de</strong>ren Positionen zu <strong>de</strong>konstruieren. Dabei bleibt die Art <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

auch innerhalb <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik strittig, wie z.B. bei RÖSNER (2000)<br />

<strong>de</strong>utlich wird.<br />

Die Perspektiven, die REICH uns anbietet, be-anspruchen aber auch eine Behin-<br />

<strong>de</strong>rtenpädagogik. Sie nötigen auch dazu, eigene Positionen zu befragen auf ihre le-<br />

bensweltlichen Zusammenhänge, auf eigene Auslassungen und eigene Schwächen.<br />

Der Anspruch reicht jedoch weiter: Nicht nur die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik als Dis-<br />

kursgemeinschaft, son<strong>de</strong>rn eben je<strong>de</strong>r innerhalb dieser Diskursgemeinschaft ist genö-<br />

tigt, sich von verschie<strong>de</strong>nen Perspektiven zu hinterfragen: Die Diskurse <strong>de</strong>r Macht,<br />

<strong>de</strong>s Wissens, <strong>de</strong>r Beziehungswirklichkeit und <strong>de</strong>s Unbewußten sind Anspruch an<br />

je<strong>de</strong>n einzelnen – vielleicht erweist sich hier gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Diskurs <strong>de</strong>r Macht als be-<br />

son<strong>de</strong>rs aufschlußreich. Aber auch <strong>de</strong>r Diskurs <strong>de</strong>s Wissens drängt sich auf: Son<strong>de</strong>r-<br />

pädagogen als Lehrer sind nicht mehr ‚Besserwisser’, son<strong>de</strong>rn nur noch ‚Mehrwis-<br />

ser’ (REICH 1998c und 2000b, 259-265; vgl. hierzu auch WAGNER 1995, 190-197,<br />

210-214). Gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Arbeit mit Menschen, die als schwer- o<strong>de</strong>r schwerstbehin-<br />

<strong>de</strong>rt bezeichnet wer<strong>de</strong>n, ist damit je<strong>de</strong> wie auch immer sich aufdrängen<strong>de</strong> Frage: „Ist<br />

dieses Leben lebenswert?“ zurückzuweisen.<br />

Pluralität, und das darf nicht verkannt wer<strong>de</strong>n, be<strong>de</strong>utet an<strong>de</strong>rerseits eine Gefähr-<br />

dung für Menschen, die als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Werte wie Solidarität sind<br />

nicht mehr selbstverständlich; soziale Strukturen verän<strong>de</strong>rn sich. Hier ist es Aufgabe<br />

einer <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik, Solidarität und Engagement einzufor<strong>de</strong>rn. Ob dies ge-<br />

lingt und in welchem Rahmen bleibt ungewiß.<br />

Zuletzt <strong>de</strong>konstruiert <strong>de</strong>r Anspruch <strong>de</strong>r Pluralität aber auch die ‚Perspektive <strong>de</strong>r<br />

<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik’. Die Perspektive <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik gibt es genauso-<br />

wenig, wie es die Beobachtung als Eins gibt. Die Perspektiven dieser Arbeit sind<br />

89


5. Kapitel „<strong>Eine</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ohne</strong> <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>?“ – Ausblick<br />

einige Perspektiven einer <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik. Daneben stehen viele An<strong>de</strong>re, aus-<br />

gelassene, unbekannte, unbedachte.<br />

Die Perspektiven <strong>de</strong>s interaktionistischen Konstruktivismus bieten <strong>de</strong>rzeit noch nicht<br />

ausdrücklich ethische Orientierungen. Allerdings legen sie bestimmte ethische Ge-<br />

danken nahe. Dazu zählen vielleicht Gedanken zum Begriff <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong>.<br />

Der An<strong>de</strong>re als An<strong>de</strong>rer läßt sich nicht mehr weg<strong>de</strong>nken.<br />

Die Perspektiven REICHS können vielleicht Ethik im vorläufigen, begrenzten<br />

Raum entstehen und begrün<strong>de</strong>n lassen, um sie dann zu <strong>de</strong>-konstruieren und zu ver-<br />

än<strong>de</strong>rn. Die Perspektiven REICHs verhin<strong>de</strong>rn vielleicht, daß Macht immer noch un-<br />

erkannt in lebensweltlichen und beziehungswirklichen Bezügen wirkt.<br />

Für <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als An<strong>de</strong>ren und gegen <strong>de</strong>n sog. ‚<strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>n’ als bloß an<strong>de</strong>ren<br />

einzutreten bleibt Aufgabe <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik. 40 Damit bleibt <strong>de</strong>r Anspruch<br />

an die <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik, sich selber immer wie<strong>de</strong>r neu zu <strong>de</strong>nken in ihren kon-<br />

struierten symbolischen Zwängen, gleichzeitig ihre Perspektive immer nach außen zu<br />

richten und die Beziehungswirklichkeit und Lebenswelt in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen und<br />

sich dort mit ihren eigenen Perspektiven einzubringen.<br />

40 Hier sind aktuell z.B. Gerichtsurteile zu beachten, in <strong>de</strong>nen ein behin<strong>de</strong>rtes Kind als ‚Scha<strong>de</strong>n’<br />

klassifiziert wird, o<strong>de</strong>r ein Fall aus Frankreich, wo einem Menschen, <strong>de</strong>r als behin<strong>de</strong>rt bezeichnet<br />

wird, Ärzte das Recht auf eine „therapeutische Abtreibung“ vorenthielten und jetzt zu Scha<strong>de</strong>nersatzzahlungen<br />

verpflichtet wur<strong>de</strong>n (vgl. SPIEGEL 2000, 298).<br />

90


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

6. Literaturverzeichnis<br />

• ANSTÖTZ, Christoph (1990): Peter Singer und die Pädagogik für <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>.<br />

Der Beginn <strong>de</strong>r ‚SINGER-Affäre’, in: Analyse & Kritik 12/1990, 131-148.<br />

• ANSTÖTZ, Christoph, HEGSELMANN, Rainer, KLIEMT, Hartmut (Hrsg.)<br />

(1995): Peter Singer in Deutschland, Frankfurt am Main 1995.<br />

• ANTOR, Georg, BLEIDICK, Ulrich (1995): Recht auf Leben – Recht auf Bil-<br />

dung. Aktuelle Fragen <strong>de</strong>r <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik. Mit Beiträgen von Urs Hae-<br />

berlin, Rainer Seifert, Otto Speck und Ansgar Stracke-Mertes, Hei<strong>de</strong>lberg 1995.<br />

• ANTOR, Georg, BLEIDICK, Ulrich (2000): <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik als ange-<br />

wandte Ethik, 1. Auflage, Stuttgart, Berlin, Köln 2000.<br />

• BASTIAN, Till (1990): Wie dieses Buch entstand – Vorbemerkung <strong>de</strong>s Heraus-<br />

gebers, in: BASTIAN, Till (Hrsg.) (1990): Denken, schreiben, töten: zur neuen<br />

„Euthanasie-Diskussion“ und zur Philosophie Peter Singers, Stuttgart 1990, 9-14.<br />

• BAUMANN, Zygmunt (1995): Postmo<strong>de</strong>rne Ethik, Hamburg 1995.<br />

• BIRNBACHER, Dieter (1991): Das Tötungsverbot aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s klassischen<br />

Utilitarismus, in: HEGSELMANN & MERKEL 1991, 25-50.<br />

• BRIESKORN, Norbert (1990): Rechtsphilosophie (Grundkurs Philosophie Band<br />

14), Stuttgart, Berlin, Köln 1990.<br />

• BURCKHART, Holger, REICH, Kersten (Hrsg.) (2000): Begründung von Mo-<br />

ral: Diskursethik versus Konstruktivismus – eine Streitschrift, Würzburg 2000.<br />

• BÜRLI, Alois (1979): Internationale Fragestellungen und Ten<strong>de</strong>nzen, in: BACH,<br />

Heinz (1979): Pädagogik <strong>de</strong>r Geistigbehin<strong>de</strong>rten (Handbuch <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädago-<br />

gik Band 5), Berlin 1979, 41-54.<br />

• BYDLINSKI, Franz (1991): Lebensschutz und rechtsethische Begründungen, in:<br />

Juristische Blätter 1991, 477-489.<br />

• DEDERICH, Markus (2000): Behin<strong>de</strong>rung – Medizin – Ethik. <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npäda-<br />

gogische Reflexionen zu Grenzsituationen am Anfang und En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens, 1.<br />

Auflage, Bad Heilbrunn 2000.<br />

91


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• EBERWEIN, Hans (Hrsg.) (1999): Integrationspädagogik. Kin<strong>de</strong>r mit und <strong>ohne</strong><br />

Behin<strong>de</strong>rung lernen gemeinsam. Ein Handbuch, 5. ergänzte und neu gestaltete<br />

Auflage, Weinheim, Basel 1999.<br />

• FEUSER, Georg (1981): Beiträge zur Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik, Solms-<br />

Oberbiel 1981.<br />

• FEUSER, Georg (1992): Wi<strong>de</strong>r die Unvernunft <strong>de</strong>r Euthanasie. Grundlagen einer<br />

Ethik in <strong>de</strong>r Heil- und Son<strong>de</strong>rpädagogik, Luzern 1992.<br />

• FEUSER, Georg (1996): „Geistigbehin<strong>de</strong>rte gibt es nicht!“. Projektionen und<br />

Artefakte in <strong>de</strong>r Geistigbehin<strong>de</strong>rtenpädagogik, in: Geistige Behin<strong>de</strong>rung 1/1996,<br />

18-25.<br />

• GRIESE, Karin (2000): Kind nach Maß? Frauen und pränatale Diagnostik, in:<br />

MÜRNER, Christian, SCHMITZ, A<strong>de</strong>lheid, SIERCK, Udo (Hrsg.) (2000):<br />

Schöne, heile <strong>Welt</strong>? Biomedizin und die Normierung <strong>de</strong>s Menschen, Hamburg,<br />

Berlin 2000, 97-124.<br />

• GRUNDGESETZ: Grundgesetz für die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland, Herausge-<br />

ber: Bun<strong>de</strong>szentrale für politische Bildung, Stand: Oktober 1988.<br />

• HEGSELMANN, Rainer, MERKEL, Reinhard (Hrsg.) (1991): Zur Debatte über<br />

Euthanasie: Beiträge und Stellungnahmen, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1991.<br />

• HIRSCH, Rolf D., FUSSEK, Claus (Hrsg.) (1999): Gewalt gegen pflegebedürfti-<br />

ge alte Menschen: Gegen das Schweigen – Berichte von Betroffenen, 2. (korri-<br />

gierte) Auflage, Bonn 1999.<br />

• HOERSTER, Norbert (1969): Zum Problem <strong>de</strong>r Ableitung eines Sollens aus ei-<br />

nem Sein in <strong>de</strong>r analytischen Moralphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozi-<br />

alphilosophie 1969, 11-39.<br />

• HOERSTER, Norbert (1982a): Rechtsethik <strong>ohne</strong> Metaphysik – Theodor Vieh-<br />

weg zur Vollendung <strong>de</strong>s 75. Lebensjahres am 30.4.1982 -, in: Juristenzeitung<br />

8/1982(a), 265-272.<br />

• HOERSTER, Norbert (1982b): Schlußwort, in: Juristenzeitung 20/1982(b), 714-<br />

716.<br />

• HOERSTER, Norbert (1983): Moralbegründung <strong>ohne</strong> Metaphysik, in: Erkennt-<br />

nis. An International Journal of Analytic Philosophy, Volume 19/1983, 225-238.<br />

92


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• HOERSTER, Norbert (1990): Hat <strong>de</strong>r Nasciturus ein Interesse am Überleben?,<br />

in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1990, 255-257.<br />

• HOERSTER, Norbert (1991): Haben Föten ein Lebensinteresse?, in: Archiv für<br />

Rechts- und Sozialphilosophie 1991, 385-395.<br />

• HOERSTER, Norbert (1992a): Ein Recht auf Ausbildung künftiger Wünsche?<br />

Zur Erwi<strong>de</strong>rung von Leist, Lebensganzes o<strong>de</strong>r Lebenswunsch?, in: Archiv für<br />

Rechts- und Sozialphilosophie 1992(a), 104-107.<br />

• HOERSTER, Norbert (1992b): Zur Rechtsethik <strong>de</strong>s Lebensschutzes, in: Juristi-<br />

sche Blätter 1992(b), 2-7.<br />

• HOERSTER, Norbert (1992c): Welchen Wesen steht ein Recht auf Leben zu?<br />

<strong>Eine</strong> Entgegnung auf <strong>de</strong>n Aufsatz von Ludger Viefhues in GA 1991, 455ff., in:<br />

Goltdammer`s Archiv für Strafrecht 1992(c), 245-253.<br />

• HOERSTER, Norbert (1993): Dient Diskreditierung <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s Lebens?<br />

Entgegnung auf Ludger Viefhues, in: Goltdammer`s Archiv für Strafrecht 1993,<br />

364-367.<br />

• HOERSTER, Norbert (1994): Lebenswert, Behin<strong>de</strong>rung und das Recht auf Le-<br />

ben, in: Universitas 9/1994, 842-852.<br />

• HOERSTER, Norbert (1995a): Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen<br />

<strong>de</strong>n §218. 2. Auflage: Mit einem Anhang: Das Lippenbekenntnis <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sver-<br />

fassungsgerichts zum Lebensrecht <strong>de</strong>s Ungeborenen, Frankfurt am Main 1995(a).<br />

• HOERSTER, Norbert (1995b): Neugeborene und das Recht auf Leben, 1. Aufla-<br />

ge, Frankfurt am Main 1995(b).<br />

• HOERSTER, Norbert (1998): Sterbehilfe im säkularen Staat, 1. Auflage, Frank-<br />

furt am Main 1998.<br />

• HONNEFELDER, Ludger (1994): Humangenetik und Menschenwür<strong>de</strong>, in:<br />

BROSE, Thomas, LUTZ-BACHMANN, Matthias (Hrsg.) (1994): Umstrittene<br />

Menschenwür<strong>de</strong>. Beiträge zur ethischen Debatte <strong>de</strong>r Gegenwart, Berlin 1994,<br />

157-175.<br />

• HONNEFELDER, Ludger (1996): Person und Menschenwür<strong>de</strong>, in: HONNE-<br />

FELDER & KRIEGER 1996, 213-266.<br />

• HONNEFELDER, Ludger, KRIEGER, Gerhard (Hrsg.) (1996): Philosophische<br />

Propä<strong>de</strong>utik. Band 2. Ethik, Pa<strong>de</strong>rborn, München, Wien, Zürich 1996.<br />

93


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• HORN, Norbert (1996): Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilo-<br />

sophie, Hei<strong>de</strong>lberg 1996.<br />

• JAKOBS, Hajo (1997): Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. <strong>Eine</strong><br />

Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht, Bern, Stuttgart, Wien 1997.<br />

• JOERDEN, Jan (1982): Nochmals: Rechtsethik <strong>ohne</strong> Metaphysik. Ist Rechtsethik<br />

<strong>ohne</strong> Metaphysik begründbar? – Zu <strong>de</strong>m Beitrag von Hoerster in JZ 1982, 265ff.,<br />

in: Juristenzeitung 19/1982, 670-674.<br />

• KAUFMANN, Arthur (1985): Problemgeschichte <strong>de</strong>r Rechtsphilosophie, in:<br />

KAUFMANN, Arthur, HASSEMER, Winfried (Hrsg.) (1985): Einführung in die<br />

Rechtsphilosophie und Rechtstheorie <strong>de</strong>r Gegenwart, 4., völlig neubearbeitete<br />

und erweiterte Auflage, Hei<strong>de</strong>lberg 1985, 23-123.<br />

• KIRCHENAMT <strong>de</strong>r Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat <strong>de</strong>r<br />

Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) (1990): Gott ist ein Freund <strong>de</strong>s Lebens, 2.<br />

Auflage, Gütersloh 1990.<br />

• KÖßLER, Henning (Hrsg.) (1997): Die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Menschen. Fünf Vorträge,<br />

Erlangen, Nürnberg 1997.<br />

• KREBS, Heinz (1991): Sozialmedizinische und medizinethische Aspekte zur<br />

Situation sehr schwer behin<strong>de</strong>rter Menschen, in: FRÖHLICH, Andreas (Hrsg.),<br />

Pädagogik bei schwerster Behin<strong>de</strong>rung (Handbuch <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädagogik; Bd.<br />

12), Berlin 1991, 417-446.<br />

• LEIST, Anton (1990): Diskussionen um Leben und Tod, in: LEIST, Anton<br />

(Hrsg.) (1990): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künst-<br />

licher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, 1. Auflage, Frankfurt am Main<br />

1990, 9-72.<br />

• LEIST, Anton (1992): Lebensganzes o<strong>de</strong>r Lebenswunsch? Erwi<strong>de</strong>rung zu<br />

Hoerster, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1992, 94-103.<br />

• LORENZ, Andreas (2000): Geburtenregelung.„Wir sind voll im Plan“, in: Der<br />

Spiegel 20/2000, 150-154.<br />

• LUF, Gerhard (1987): Menschenwür<strong>de</strong>. III. Rechts- und staatsphilosophische<br />

Grundlagen, in: GÖRRES-GESELLSCHAFT (Hrsg.) (1987): Staatslexikon.<br />

Recht – Wirtschaft – Gesellschaft. Dritter Band Hoffmann – Naturrecht, 7., völlig<br />

neubearbeitete Auflage, Freiburg, Basel, Wien 1987, 1104-1118.<br />

94


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• NEFFE, Jürgen (2000): Geschwister im Geiste, in: Der Spiegel 35/2000, 212-<br />

225.<br />

• OTT, Konrad (1995): Zum Verhältnis von Radikalem Konstruktivismus und E-<br />

thik, in: RUSCH, Gebhard, SCHMIDT, Siegfried J. (Hrsg.) (1995): Konstrukti-<br />

vismus und Ethik, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1995, 280-320.<br />

• PALMOWSKI, Winfried, HEUWINKEL, Matthias (Hrsg.) (2000): Normal bin<br />

ich nicht behin<strong>de</strong>rt! Wirklichkeitskonstruktionen bei Menschen, die behin<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n – Unterschie<strong>de</strong> die <strong>Welt</strong>en machen -, Dortmund 2000.<br />

• PFORDTEN, Dietmar v.d. (1990a): Gibt es Argumente für ein Lebensrecht <strong>de</strong>s<br />

Nasciturus?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1990 (a), 69-82.<br />

• PFORDTEN, Dietmar v.d. (1990b): Verdienen nur die zukünftigen Interessen<br />

Schutz, die sich wirklich realisieren?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphiloso-<br />

phie 1990 (b), 257-260.<br />

• REICH, Kersten (1998a): Die Ordnung <strong>de</strong>r Blicke. Perspektiven <strong>de</strong>s interaktio-<br />

nistischen Konstruktivismus, Band 1: Beobachtung und die Unschärfe <strong>de</strong>r Er-<br />

kenntnis, Neuwied 1998 (a).<br />

• REICH, Kersten (1998b): Die Ordnung <strong>de</strong>r Blicke. Perspektiven <strong>de</strong>s interaktio-<br />

nistischen Konstruktivismus, Band 2: Beziehungen und Lebenswelt, Neuwied<br />

1998 (b).<br />

• REICH, Kersten (1998c): Thesen zur konstruktivistischen Didaktik, in: Pädago-<br />

gik 7-8/1998 (c), 43-46.<br />

• REICH, Kersten (2000a): Interaktionistisch-konstruktive Kritik einer universalis-<br />

tischen Begründung von Ethik und Moral, in BURCKHART / REICH 2000, 88-<br />

181.<br />

• REICH, Kersten (2000b): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung<br />

in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, 3., über-<br />

arbeitete Auflage, Neuwied, Kriftel 2000 (b).<br />

• RICKEN, Friedo (1983): Allgemeine Ethik (Grundkurs Philosophie Band 4),<br />

Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1983.<br />

• RIES, Gerhard (1997): Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> im Recht <strong>de</strong>r Bun-<br />

<strong>de</strong>srepublik Deutschland, in: KÖßLER 1997, 61-76.<br />

95


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• ROEBKE, Albrecht (1999): Die Unantastbarkeit <strong>de</strong>r menschlichen Wür<strong>de</strong> aus<br />

evangelischer Sicht, erschienen in: Gemeinsam leben – Zeitschrift für integrative<br />

Erziehung 3/99, in: bidok – Volltextbibliothek: Veröffentlichung im Internet.<br />

http://bidok.uibk.ac.at/texte/gl3-99-wuer<strong>de</strong>.html, Stand: 15.10.1999.<br />

• RÖSNER, Hans-Uwe (1997): Norbert Hoerster – ein Apostel <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpädago-<br />

gik?, in: <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik 1997, 42-47.<br />

• RÖSNER, Hans-Uwe (2000): Die Feigenblattrolle <strong>de</strong>r Heilpädagogik – <strong>Eine</strong><br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Riccardo Bonfranchi, in: <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik 4/2000,<br />

368-389.<br />

• ROTH, Gerhard (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobio-<br />

logie und ihre philosophischen Konsequenzen, 1. Auflage, Frankfurt am Main<br />

1997.<br />

• SAAL, Fredi (1994): Leben kann man nur sich selber. Texte 1960-1994, Düssel-<br />

dorf 1994.<br />

• SCHILD, W. (1998): Wür<strong>de</strong>, in: ERLER, Adalbert, KAUFMANN, Ekkehard<br />

(Hrsg.) (1998): Handwörterbuch zur <strong>de</strong>utschen Rechtsgeschichte: HRG, Band 5.<br />

Straftheorie – Zycha, Register, Berlin 1998, 1539-1545.<br />

• SCHLOTE, Silke (2000): Mögliche Sichtweisen von Sichtweisen über Behin<strong>de</strong>-<br />

rung und Normalität bei Schülern, die als geistig behin<strong>de</strong>rt beschrieben wer<strong>de</strong>n,<br />

in: PALMOWSKI & HEUWINKEL 2000, 252-286.<br />

• SCHUMANN, Monika (2000): Zur <strong>Behin<strong>de</strong>rte</strong>npädagogik im Zeitalter von Bio-<br />

medizin und Bioethik, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 8/2000, 310-320.<br />

• SINGER, Peter (1994): Praktische Ethik, 2., revidierte und erweiterte Auflage,<br />

Stuttgart 1994.<br />

• SINGER, Peter (1999): Schwangerschaftsabbruch und ethische Güterabwägung,<br />

in: SASS, Hans-Martin (Hrsg.) (1999): Medizin und Ethik, revidierte und biblio-<br />

graphisch erneuerte Auflage, Stuttgart 1999, 139-159.<br />

• SPECK, Otto (1997): Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung und ihre Erziehung:<br />

ein heilpädagogisches Lehrbuch, 8. Auflage, München, Basel 1997.<br />

• SPECK, Otto (1998): System Heilpädagogik: eine ökologisch reflexive Grundle-<br />

gung, 4. Auflage, München, Basel 1998.<br />

96


6. Kapitel: Literaturverzeichnis<br />

• Der SPIEGEL (2000): „Leben ist ein Geschenk <strong>ohne</strong> Rückgaberecht“. Die Ethi-<br />

kerin Regine Kollek über vorgeburtliche Diagnostik, die Angst, ein behin<strong>de</strong>rtes<br />

Kind zu gebären, und ein ungewöhnliches Urteil aus Frankreich, in: Der Spiegel<br />

48/2000, 298-300.<br />

• THEUNISSEN, Georg (1997): Basale Anthropologie und ästhetische Erziehung:<br />

eine ethische Orientierungshilfe für ein gemeinsames Leben und Lernen mit be-<br />

hin<strong>de</strong>rten Menschen, Bad Heilbrunn 1997.<br />

• TOOLEY, Michael (1983): Abortion and Infantici<strong>de</strong>, New York u.a. 1983.<br />

• VIEFHUES, Ludger (1991): Mo<strong>de</strong>lle zur Rechtfertigung <strong>de</strong>s Schwangerschafts-<br />

abbruchs. Ein Überblick über gängige Argumente mit und gegen Thesen von Pe-<br />

ter Singer, in: Goltdammer`s Archiv für Strafrecht 1991, 455-466.<br />

• VIEFHUES, Ludger (1993): Warum steht <strong>de</strong>m Nasciturus kein Recht auf Leben<br />

zu? Entgegnung auf Norbert Hoerster, in: Goltdammer`s Archiv für Strafrecht<br />

1993, 359-363.<br />

• WAGNER, Michael (1995): Menschen mit geistiger Behin<strong>de</strong>rung – Gestalter<br />

ihrer <strong>Welt</strong>, Bad Heilbrunn 1995.<br />

• WELSCH, Wolfgang (1994): Einleitung, in: WELSCH, Wolfgang (Hrsg.)<br />

(1994): Wege aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne. Schlüsseltexte <strong>de</strong>r Postmo<strong>de</strong>rne-Diskussion, 2.,<br />

durchgesehene Auflage, Berlin 1994, 1-43.<br />

• WIELAND, Georg (1996): Ethik als praktische Wissenschaft, in: HONNEFEL-<br />

DER & KRIEGER 1996, 9-70.<br />

• WIESEMANN, Claudia (1997): Medizinethik und Menschenwür<strong>de</strong>, in: KÖßLER<br />

1997, 91-105.<br />

• ZIPPELIUS, Reinhold (1994): Rechtsphilosophie: ein Studienbuch, 3., neubear-<br />

beitete Auflage, München 1994.<br />

97


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

Anhang: Bibliographie Norbert Hoerster<br />

Im folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong> ich, geordnet nach <strong>de</strong>m Erscheinungsjahr, sämtliche mir be-<br />

kannten Artikel – mit Ausnahme <strong>de</strong>r Buchrezensionen - Norbert HOERSTERs auf-<br />

führen, um einen Überblick über <strong>de</strong>ssen Schaffen zu geben. In einer zweiten Liste<br />

gebe ich dann entsprechend die Bücher an, <strong>de</strong>ren Autor o<strong>de</strong>r Herausgeber<br />

HOERSTER ist. Diese Aufzählung erhebt natürlich nicht <strong>de</strong>n Anspruch, vollständig<br />

zu sein.<br />

Die Angaben sind ergänzt durch Hinweise Hans Joachim Niemanns, die auf <strong>de</strong>ssen<br />

Internet-Seite zu fin<strong>de</strong>n sind (Stand 17.10.2000):<br />

http://home.t-online.<strong>de</strong>/home/Hans-Joachim.Niemann/Hoerster/in<strong>de</strong>x.htm<br />

1. Artikel<br />

Für bestimmte, mehrmals aufgeführte Zeitschriften verwen<strong>de</strong> ich die gebräuchli-<br />

chen Abkürzungen:<br />

· A&K – Analyse & Kritik<br />

· ARSP – Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie<br />

· EuS – Ethik und Sozialwissenschaften<br />

· 4GA – Goltdammer`s Archiv für Strafrecht<br />

· JBl – Juristische Blätter<br />

· JR – Juristische Rundschau<br />

· JuS – Juristische Schulung<br />

· JZ – Juristenzeitung<br />

· NJW – Neue Juristische Wochenschrift<br />

· RuG - Recht und Gesellschaft<br />

· ZStrW - Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft<br />

Jahr Titel In:<br />

1969 Zum Problem <strong>de</strong>r Ableitung eines Sollens aus einem<br />

Sein in <strong>de</strong>r analytischen Moralphilosophie<br />

ARSP 1969, 11-39<br />

1970 Zur Funktion <strong>de</strong>r Rechtsphilosophie JZ 1970, 677-678<br />

98


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

Zur Generalprävention als <strong>de</strong>m Zweck staatlichen<br />

Strafens<br />

GA 1970, 272-281<br />

Zur logischen Möglichkeit <strong>de</strong>s Rechtspositivismus ARSP 1970, 43-59<br />

Moral und Emotion Philosophische Rund-<br />

Strafwürdigkeit und Moral in <strong>de</strong>r angelsächsischen<br />

Rechtsphilosophie<br />

schau 17/1970, 112-<br />

128<br />

ZStrW 1970, 538-570<br />

1971 Determinismus und rationales Strafen ARSP 1971, 77-90<br />

Grundsätzliches zur Strafwürdigkeit <strong>de</strong>r Gefällig-<br />

keitssterilisation<br />

1972 Aktuelles in Arthur Schopenhauers Philosophie <strong>de</strong>r<br />

Strafe<br />

JZ 1971, 123-126<br />

ARSP 1972, 555-564<br />

On Alf Ross´s Alleged Puzzle in Constitutional Law Mind 1972, 422-426<br />

Die ethische Rechtfertigung <strong>de</strong>r Strafe RuG 1972, 140-143<br />

1973 Is Act-Utilitarian Truth-Telling Self-Defeating? Mind 1973, 413-416<br />

Präventionstheorien <strong>de</strong>r Strafe in <strong>de</strong>r britischen Auf-<br />

klärungsphilosophie<br />

ZStrW 1973, 220-234<br />

1974 Die falsche Alternative von Macht und Moral Evangelische Kom-<br />

mentare 1974, 209-<br />

R.M. Hares Fassung <strong>de</strong>r Gol<strong>de</strong>nen Regel Philosophisches Jahr-<br />

212<br />

buch 1974, 186-196<br />

Normenbegründung und Relativismus Philosophisches Jahr-<br />

Die philosophische Rechtfertigung staatlichen Stra-<br />

fens <br />

buch 1974, 247-258<br />

Zeitschrift für philo-<br />

sophische Forschung<br />

1974, 368-379<br />

99


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

1975 Politik und Moral Die politische Mei-<br />

nung 5/1975, 57-70<br />

Das Problem <strong>de</strong>s Rechtspositivismus heute Universitas 1975, 77-<br />

1977 John Rawls´ Kohärenztheorie <strong>de</strong>r Normenbegründung HÖFFE, Otfried<br />

84<br />

(Hrsg.), Über John<br />

Rawl´s Theorie <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit, Frank-<br />

furt 1977<br />

1979 Zum begrifflichen Verhältnis von Recht und Moral Neue Hefte für Philo-<br />

1982 Rechtsethik <strong>ohne</strong> Metaphysik – Theodor Viehweg zur<br />

Vollendung <strong>de</strong>s 75. Lebensjahre am 30.4.1982 -<br />

sophie, 17/1979, 77-<br />

88<br />

JZ 8/1982, 265-272<br />

Schlußwort JZ 20/1982, 714-716<br />

1983 Zur Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Prinzips <strong>de</strong>s Menschenwür<strong>de</strong> JuS 1983, 93-96 und<br />

Moralbegründung <strong>ohne</strong> Metaphysik Erkenntnis 19/1983,<br />

647<br />

225-238<br />

Zum Problem einer absoluten Normgeltung ESSLER, W.K.<br />

(Hrsg.), Festschrift<br />

für W. Stegmüller,<br />

1983.<br />

1984 Sterbehilfe und Rechtsethik Der Spiegel 20/1984,<br />

1985 Die Peep-Show und die Frustration eines Rechtsphi-<br />

losophen<br />

208<br />

JuS 1985, 743<br />

Zur Unlösbarkeit <strong>de</strong>s Theodizee-Problems Theologie und Philo-<br />

sophie 1985, 400-409<br />

Vorurteil, Konsens und Rechtsauslegung JuS 1985, 665-669<br />

100


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

1986 Rechtsethische Überlegungen zur Freigabe <strong>de</strong>r Ster-<br />

behilfe<br />

NJW 1986, 1786-<br />

1792<br />

Zur Verteidigung <strong>de</strong>s Rechtspositivismus NJW 1986, 2480-<br />

2482<br />

1987 Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff JuS 1987, 182ff.<br />

1988 Warum keine aktive Sterbehilfe Zeitschrift für<br />

1989 Das Adressatenproblem im Strafrecht und die Sozi-<br />

almoral<br />

Rechtspolitik 1988,<br />

1-4 und 185-186<br />

JZ 1/1989, 10-13<br />

Wer macht sich Illusionen? JZ 9/1989, 425-427<br />

Forum: Ein Lebensrecht für die menschliche Leibes-<br />

frucht?<br />

JuS 1989, 172-178<br />

1990 Kindstötung und das Lebensrecht von Personen A&K 1990, 226-244<br />

Hat <strong>de</strong>r Nasciturus ein Interesse am Überleben? ARSP 1990, 255-257<br />

1991 Abtreibungsverbot – Religiöse Voraussetzungen und<br />

rechtspolitische Konsequenzen<br />

Föten, Menschen und „Speziesismus“ – rechtsethisch<br />

betrachtet<br />

JuS 1991, 190-194<br />

und 879<br />

NJW 1991, 2540-<br />

2542<br />

Haben Föten ein Lebensinteresse? ARSP 1991, 385-395<br />

Inwiefern ist <strong>de</strong>r Fötus meinesgleichen? JZ 23/1991, 1128-<br />

1129<br />

Kriterienloser Schutz <strong>de</strong>s Fötus Zeitschrift für<br />

Sterbehilfe – Tötung auf Verlangen. Ist unser Recht<br />

reformbedürftig?<br />

Strafwürdigkeit <strong>de</strong>r Abtreibung? Alternativen und<br />

ihre Konsequenzen<br />

Die unbegrün<strong>de</strong>te Unverfügbarkeit ungeborenen<br />

menschlichen Lebens<br />

Rechtspolitik 1991,<br />

398-399<br />

Universitas 1991,<br />

237-245<br />

Universitas 1991, 19-<br />

26<br />

JZ 10/1991, 503-505<br />

101


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

1992 Ein Recht auf Ausbildung künftiger Wünsche? Zur<br />

Erwi<strong>de</strong>rung von Leist, Lebensganzes o<strong>de</strong>r Lebens-<br />

wunsch?<br />

ARSP 1992, 104-107<br />

Zur Rechtsethik <strong>de</strong>s Lebensschutzes JBl 1992, 2-7<br />

Welchen Wesen steht ein Recht auf Leben zu? <strong>Eine</strong><br />

Entgegnung auf <strong>de</strong>n Aufsatz von Ludger Viefhues in<br />

GA 1991, 455ff.<br />

1993 Kritische Anmerkungen zu Ernst Tugendhats Konzept<br />

<strong>de</strong>r Legitimität<br />

GA 1992, 245-253<br />

A&K 1993, 111-114<br />

Nur eine konsequente Antwort kann befriedigen Universitas 1993,<br />

Dient Diskreditierung <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s Lebens? Ent-<br />

gegnung auf Ludger Viefhues<br />

214-218<br />

GA 1993, 364-367<br />

Zur rechtsethischen Begründung <strong>de</strong>s Lebensrechtes BERNAT, E., Ethik<br />

und Recht an <strong>de</strong>r<br />

Grenze zwischen<br />

Leben und Tod, Graz<br />

1993, 61-70<br />

Richtigstellung über <strong>de</strong>n Rechtspositivismus ARSP 1993, 416-420<br />

1994 Von <strong>de</strong>r Abtreibung zur Sterbehilfe? Zeitschrift für<br />

Beratung und Lebensrecht im Konflikt. Abtreibungs-<br />

urteil und die Rolle <strong>de</strong>s Arztes<br />

Rechtspolitik 1994,<br />

488<br />

Deutsches Ärzteblatt<br />

12/1994, B616-619<br />

Lebenswert, Behin<strong>de</strong>rung und das Recht auf Leben Universitas 1994,<br />

Das mangeln<strong>de</strong> Überlebensinteresse <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Leibesfrucht<br />

1995 Forum: Das „Recht auf Leben“ <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Leibesfrucht – Rechtswirklichkeit o<strong>de</strong>r Verfassungs-<br />

lyrik?<br />

842-852<br />

Prima Philosophia<br />

7/1994, 209-211<br />

JuS 1995, 192-197<br />

102


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

Mißlungene Immunisierung <strong>de</strong>r „Heiligkeit <strong>de</strong>s Le-<br />

bens“<br />

Das angebliche Menschenrecht <strong>de</strong>s Embryos auf Le-<br />

ben<br />

EuS 6/1995, 189-190<br />

JR 1995, 51-53<br />

Recht auf Leben und rechtsethischer Opportunismus Medizinrecht<br />

10/1995, 394-395<br />

Ethische Überlegungen zur Sterbehilfe WEWEL, M.,<br />

VALDÈS, E.G., Fa-<br />

cetten <strong>de</strong>r Wahrheit,<br />

1995, 495-514<br />

1996 Ist menschliches Leben unverfügbar? Universitas 1996,<br />

443-448<br />

Menschenrecht auf Leben und Tötungsverbot Merkur 9-10/1996,<br />

880-892<br />

Wie begrün<strong>de</strong>t man das Recht auf Leben? Zeitschrift für Didak-<br />

Zur Verteidigung <strong>de</strong>r rechtspositivistischen Tren-<br />

nungsthese <br />

tik <strong>de</strong>r Philosophie<br />

und Ethik 3/1996,<br />

164-170<br />

DREIER, R. (Hrsg.),<br />

Rechtspositivismus<br />

und Wertbezug <strong>de</strong>s<br />

Rechts, ARSP Bei-<br />

heft 37/1996, 27ff.<br />

1997 Definition <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Organtransplantation Universitas 1997, 42-<br />

Ein „verringertes“ Lebensrecht zur Legitimation <strong>de</strong>r<br />

Fristenregelung?<br />

52<br />

NJW 1997, 773-775<br />

1999 Drei Standpunkte <strong>de</strong>r Gerechtigkeitsbegründung Rechtsphilosophie<br />

Kontroversen <strong>de</strong>r<br />

Gegenwart 1999,<br />

123-126<br />

103


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

2. Bücher<br />

Töten auf Verlangen? Vier Fragen an Robert Spae-<br />

mann und Norbert Hoerster<br />

Psychologie heute<br />

1999, 44-49<br />

Tötungsverbot und Sterbehilfe SASS, Hans-Martin<br />

(Hrsg.), Medizin und<br />

Ethik, rev. u. bibli-<br />

ogr. ern. Ausgabe<br />

1999<br />

Jahr Titel Auflage Ort<br />

1964 Die Nichtbeachtung <strong>de</strong>r Ehehin-<br />

<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>s Ehebruchs auslän-<br />

discher Rechte nach <strong>de</strong>utschem<br />

IPR mit Rücksicht auf die Un-<br />

anwendbarkeit frem<strong>de</strong>n Straf-<br />

rechts<br />

1971 Utilitaristische Ethik und Verall-<br />

gemeinerung<br />

1976 Das Argument <strong>de</strong>r Verallgemei-<br />

1977<br />

(Hrsg.)<br />

nerung<br />

Recht und Moral. Texte zur<br />

Rechtsphilosophie<br />

1979 Glaube und Vernunft<br />

1983<br />

(Hrsg.)<br />

Klassiker <strong>de</strong>s philosophischen<br />

Denkens<br />

1984 Zur Begründung staatlichen Stra-<br />

1987<br />

(Hrsg.)<br />

fens<br />

Religionskritik. Für die Sek. II<br />

1989 Verteidigung <strong>de</strong>s Rechtspositi-<br />

vismus<br />

Bochum<br />

1. Auflage München<br />

2. Auflage<br />

Frankfurt am Main<br />

104


Anhang Bibliographie Norbert Hoerster<br />

vismus<br />

1992 Klassische Texte <strong>de</strong>r Staatsphi-<br />

losophie<br />

1995 Abtreibung im säkularen Staat.<br />

2. Auflage mit einem Anhang:<br />

Das Lippenbekenntnis <strong>de</strong>s Bun-<br />

<strong>de</strong>sverfassungsgerichts zum Le-<br />

bensrecht <strong>de</strong>s Ungeborenen<br />

1995 Neugeborene und das Recht auf<br />

Leben<br />

7. Auflage München<br />

2. Auflage<br />

(1. Auflage 1991)<br />

Frankfurt am Main<br />

1. Auflage Frankfurt am Main<br />

1998 Sterbehilfe im säkularen Staat 1. Auflage Frankfurt am Main<br />

105

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