Leseprobe - lechflimmern.de - Kino in Augsburg
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Bram Stoker<br />
dracula<br />
STEIDL
LITERARISCHE WERKE FÜHREN<br />
UNTERSCHIEDLICHE LEBEN:<br />
Manche s<strong>in</strong>d spektakulär, aber kurz, an<strong>de</strong>re halten sich lang, jedoch<br />
nur im H<strong>in</strong>tergrund, wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sorgen über Jahrhun<strong>de</strong>rte für Aufregung.<br />
Bram Stoker, <strong>de</strong>ssen To<strong>de</strong>stag sich am 20. April das hun<strong>de</strong>rtste Mal jährt,<br />
hat mit »Dracula« e<strong>in</strong>en solchen Unruhestifter geschaffen. Se<strong>in</strong> Werk hat im<br />
Orig<strong>in</strong>al wie <strong>in</strong> über vierzig Übersetzungen unzählige Auflagen gekannt.<br />
Legte man all diese Ausgaben nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, wür<strong>de</strong> man feststellen, je<strong>de</strong> Zeit<br />
hatte ihren »Dracula«: Das Papier, die Typographie, die Umschlaggestaltung,<br />
aber auch die unterschiedlichen Stile <strong>de</strong>r Übersetzungen variieren und liefern<br />
Zeugnis ab über ihre Entstehungsepoche.<br />
Die ganze, fasz<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong> Geschichte e<strong>in</strong>es Werkes zu erfassen – von e<strong>in</strong>er über<br />
hun<strong>de</strong>rt Jahre alten Orig<strong>in</strong>alauflage bis zur Jubiläumsausgabe, von <strong>de</strong>r<br />
Nachdichtung bis zur mo<strong>de</strong>rnen, verlässlichen Übersetzung –, das gel<strong>in</strong>gt auch<br />
heute noch am besten, wenn man Bücher <strong>in</strong> die Hand nimmt. Ke<strong>in</strong> E-Book,<br />
ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dle und ke<strong>in</strong> iPad, son<strong>de</strong>rn echte Bücher, auf <strong>de</strong>ren Umschlag auch die<br />
Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Leser ihre Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben. Denn auch Sie als Leser<br />
s<strong>in</strong>d wichtiger Teil e<strong>in</strong>er Werkgeschichte, und vielleicht f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich noch nach<br />
hun<strong>de</strong>rt Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bibliothek e<strong>in</strong> Exemplar unseres e<strong>de</strong>l ausgestatteten<br />
»Dracula«, auf <strong>de</strong>ssen Seiten sich Ihr F<strong>in</strong>gerabdruck erhalten hat.<br />
<strong>in</strong> diesem s<strong>in</strong>ne wünschen wir ihnen mit <strong>de</strong>r<br />
jubiläumsausgabe von bram stokers klassiker haptischen<br />
und literarischen hochgenuss!<br />
Ihr Steidl Verlag
Bram Stoker: 100. To<strong>de</strong>stag am 20. April 2012<br />
»Dracula« <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Neuübersetzung von Andreas Nohl:<br />
stilistisch so nah am Orig<strong>in</strong>al wie noch nie!<br />
Bram Stoker<br />
dracula<br />
Er ist <strong>de</strong>r »Meister«, das vielkopierte und unerreichte Orig<strong>in</strong>al:<br />
Mit se<strong>in</strong>em »Dracula« hat Bram Stoker <strong>de</strong>n Mythos <strong>de</strong>s Vampirs <strong>de</strong>m<br />
kollektiven Gedächtnis e<strong>in</strong>geprägt. Der Roman wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> mehr<br />
als 45 Sprachen übersetzt, zahlreiche Filme, Geschichten und Comics<br />
entstan<strong>de</strong>n nach se<strong>in</strong>er Vorlage: Der Graf ist <strong>de</strong>r Anti-Held <strong>de</strong>r<br />
Populärkultur.<br />
Bram Stokers »Dracula« ist aber viel mehr als bloß e<strong>in</strong>e Vampir-<br />
geschichte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r e<strong>in</strong> guter Dr. Van Hels<strong>in</strong>g gegen <strong>de</strong>n bösen Fürsten<br />
<strong>de</strong>r F<strong>in</strong>sternis antritt. In diesem frühen Montageroman geben<br />
sich die großen Oppositionen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts e<strong>in</strong> Stelldiche<strong>in</strong>.<br />
Da r<strong>in</strong>gt die Wissenschaft mit <strong>de</strong>m Glauben, die Empirie mit <strong>de</strong>r<br />
Intuition, <strong>de</strong>r Protestantismus mit <strong>de</strong>m Katholizismus, <strong>de</strong>r Westen<br />
mit <strong>de</strong>m Osten, das Sichtbare mit <strong>de</strong>m Unsichtbaren. Selbst auf<br />
die kommen<strong>de</strong> Frauenemanzipation weist dieser Roman h<strong>in</strong>, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e<br />
Protagonist<strong>in</strong>nen nicht auf die Opferrolle beschränkt.<br />
Diese Neuübersetzung <strong>de</strong>s Weltklassikers verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t literarische<br />
Qualität mit höchster Spannung. Wer sie liest erfährt unerhört viel<br />
über <strong>de</strong>n Aufbruch <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne und die Ängste und Abgrün<strong>de</strong><br />
e<strong>in</strong>er Gesellschaft im Wan<strong>de</strong>l.<br />
Herausgegeben, neuübersetzt, mit Anmerkungen und e<strong>in</strong>em Nachwort versehen von Andreas Nohl<br />
540 Seiten / 12,6 x 20,8 cm / Fa<strong>de</strong>nheftung, Le<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>band / zwei Lesebändchen / März 2012 / 28,00 (sFr 39,90 UVP) /<br />
ISBN: 978-3-86930-462-5
E<strong>in</strong> Interview mit Andreas Nohl,<br />
<strong>de</strong>m Übersetzer und Herausgeber <strong>de</strong>r<br />
»Dracula«-Jubiläumsausgabe<br />
Bram Stokers »Dracula« wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> mehr als 45 Sprachen<br />
übersetzt und ist stets lieferbar gewesen. War <strong>de</strong>r Roman<br />
gleich bei se<strong>in</strong>em Ersche<strong>in</strong>en 1897 e<strong>in</strong> Erfolg?<br />
Stoker war mit <strong>de</strong>m, was er geschrieben hat, nie son<strong>de</strong>rlich<br />
erfolgreich. Er galt als Kolportageschriftsteller, und er be-<br />
trachtete se<strong>in</strong> Schreiben selbst nur als Mittel, um sich Geld<br />
h<strong>in</strong>zuzuverdienen. Doch zweifellos war »Dracula« se<strong>in</strong> er-<br />
folgreichstes Buch. Es erregte e<strong>in</strong> gewisses Maß an Aufsehen,<br />
und auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Presse bekam es recht gute Kritiken. Dass das<br />
Buch jedoch zu Lebzeiten von Stoker noch ke<strong>in</strong> Bestseller<br />
war, lässt sich daraus ersehen, dass <strong>de</strong>r Autor <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten<br />
Jahren – nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Schauspieler Henry Irv<strong>in</strong>g gestorben<br />
war, für <strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ssen Theater er als Manager gearbeitet<br />
hatte – <strong>in</strong> beschei<strong>de</strong>nen Verhältnissen lebte.<br />
Der Welterfolg setzte erst <strong>de</strong>utlich später e<strong>in</strong>, nach <strong>de</strong>m<br />
Ersten Weltkrieg, als Friedrich Wilhelm Murnau und nach<br />
ihm an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Stoff <strong>de</strong>s männlichen Vampirs für <strong>de</strong>n Film<br />
adaptierten. Auch spielte <strong>de</strong>r Broadway hier e<strong>in</strong>e entschei-<br />
<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle: Der später berühmt gewor<strong>de</strong>ne »Dracula«-<br />
Filmdarsteller Bela Lugosi war <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1920er Jahren auf <strong>de</strong>r<br />
Bühne mit dieser Rolle sehr erfolgreich.<br />
Wir haben es also im Grun<strong>de</strong> mit e<strong>in</strong>er medialen Vielfach-<br />
verwertung zu tun, die peu à peu zu e<strong>in</strong>er immer größeren –<br />
auch <strong>in</strong>ternationalen – Verbreitung beitrug. Ich glaube, das<br />
<strong>K<strong>in</strong>o</strong> mit Bela Lugosi und später mit Christopher Lee war<br />
dabei entschei<strong>de</strong>nd.<br />
Wofür steht »Dracula« und woher kommt <strong>de</strong>r Mythos?<br />
Diese Frage ist nicht e<strong>in</strong>fach zu beantworten, schon weil das,<br />
was Bram Stoker aus <strong>de</strong>m Mythos macht, so extrem vielschich-<br />
tig ist. Sicher geht die I<strong>de</strong>e auf <strong>de</strong>n alten Vampirglauben zurück,<br />
und Stoker benutzt <strong>de</strong>n Namen e<strong>in</strong>er historischen Figur – <strong>de</strong>s<br />
legendären transsilvanischen Bojaren Vlad Dracula (1431–<br />
1476), <strong>de</strong>r äußerst brutal war und <strong>de</strong>r Pfähler genannt wur<strong>de</strong>,<br />
weil er se<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong><strong>de</strong> auf Holzpfählen aufspießen ließ – und er-<br />
f<strong>in</strong><strong>de</strong>t e<strong>in</strong>en ganz neuen unsterblichen Vampir, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Inva-<br />
sion <strong>in</strong> England plant. Die historische Figur Vlad hat übrigens<br />
Dokumente nicht nur mit Dracula (<strong>de</strong>r Teufel), son<strong>de</strong>rn auch<br />
mit Dragula (<strong>de</strong>r Geliebte) unterschrieben. Damit beg<strong>in</strong>nt be-<br />
reits die merkwürdige Ambivalenz, die mit <strong>de</strong>r Person und <strong>de</strong>r<br />
literarischen Figur verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Wie hat sich die Wahrnehmung <strong>de</strong>s Vampirs mit <strong>de</strong>r Zeit<br />
gewan<strong>de</strong>lt? Wor<strong>in</strong> besteht die Fasz<strong>in</strong>ation?<br />
Nun, zunächst hat es <strong>de</strong>n Volksglauben gegeben, e<strong>in</strong>en Aber-<br />
glauben, <strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> Teilen bis heute erhalten hat: Viele Kultu-<br />
ren <strong>de</strong>r Welt kennen blutsaugen<strong>de</strong> Vampire seit ältester Zeit.<br />
Auch <strong>in</strong> Rumänien erzählt man von sogenannten »Nachzeh-<br />
rern« und »Untoten«, e<strong>in</strong>er spezifischen Form <strong>de</strong>s Gespens-<br />
terglaubens. John Polidori, <strong>de</strong>r Freund und Arzt von Lord<br />
Byron, schrieb um 1816 »The Vampyre« – anlässlich e<strong>in</strong>es<br />
Wettstreits unter Freun<strong>de</strong>n darum, wer die beste Gruselge-<br />
schichte schreiben könne. Das fand übrigens <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Schweiz<br />
am Genfer See statt. Unter an<strong>de</strong>rem g<strong>in</strong>g aus diesem Wett-<br />
streit Mary Shelleys »Frankenste<strong>in</strong>« hervor. Be<strong>de</strong>utend war<br />
zweifellos auch die Erzählung »Carmilla« (1872) von Sheridan<br />
Le Fanu, dar<strong>in</strong> geht es um e<strong>in</strong>e Vampir<strong>in</strong>.<br />
Erst Bram Stoker hat die vielen Fä<strong>de</strong>n dieses Mythos zusam-<br />
mengefügt und daraus <strong>de</strong>n alles beherrschen<strong>de</strong>n Typus <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Vampirs gemacht – wenn wir <strong>de</strong>n verführerischen<br />
Vamp-Typ <strong>de</strong>r Frauen e<strong>in</strong>mal beiseite lassen.<br />
Das Ganze bewegt sich natürlich immer auf e<strong>in</strong>em schmalen<br />
Grat zwischen Fasz<strong>in</strong>ation und Hochkomik. Niemand glaubt<br />
ja im Ernst an solche Vorgänge, außer vielleicht im Traum:<br />
Der Schlaf <strong>de</strong>r Vernunft gebiert Ungeheuer, heißt es auf <strong>de</strong>r<br />
berühmten Radierung von Goya, wo Eulen und riesige Fle<strong>de</strong>r-<br />
mäuse <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>geschlafenen Denker umkreisen. Im Phantasti-<br />
schen liegt eben e<strong>in</strong> großer Reiz – sozusagen die Subversion<br />
<strong>de</strong>r Alltagsvernunft, <strong>de</strong>s gesun<strong>de</strong>n Menschenverstands. Nach<br />
dieser Subversion besteht offenbar <strong>in</strong> reglementierten – o<strong>de</strong>r<br />
sagen wir: verwalteten – Gesellschaften e<strong>in</strong> starkes Bedürfnis.<br />
Im Übrigen sche<strong>in</strong>t mir die Welt gera<strong>de</strong> durch die Herrschaft<br />
<strong>de</strong>r Vernunft an Unheimlichkeit nicht verloren zu haben, im<br />
Gegenteil. Möglicherweise ist die Figur <strong>de</strong>s Dracula <strong>de</strong>shalb<br />
e<strong>in</strong>e entlasten<strong>de</strong> Projektionsfläche.<br />
Was haben Bram Stoker und Stephanie Meyer geme<strong>in</strong>sam?<br />
Nichts.<br />
Was macht, im Vergleich zu <strong>de</strong>n zahlreichen Epigonen,<br />
Bram Stokers »Dracula« so e<strong>in</strong>zigartig?<br />
Nun, es ist die erste als Roman funktionieren<strong>de</strong> Geschichte<br />
e<strong>in</strong>es Vampirs – mit allen historischen Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s aus-<br />
gehen<strong>de</strong>n 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Die spätviktorianische Literatur –<br />
<strong>de</strong>nken Sie nur an <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> Deutschland so <strong>in</strong>ten-<br />
siv wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckten Robert Louis Stevenson o<strong>de</strong>r an Arthur<br />
Conan Doyle mit se<strong>in</strong>em »Sherlock Holmes« – hat e<strong>in</strong>e enor-<br />
me Ausstrahlung, und das trifft offenbar auch auf das Genre<br />
<strong>de</strong>r Gothic Tales zu. Unsere Zeit sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e untergründige Ver-<br />
wandtschaft zum späten 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt zu spüren.<br />
Bei Stokers »Dracula« kommt nun vieles zusammen: Es ist<br />
e<strong>in</strong> Krim<strong>in</strong>alroman, es geht um Liebe, um Wahns<strong>in</strong>n, um Inte-<br />
grität, um Wildnis o<strong>de</strong>r Wildheit, die <strong>in</strong> das Zentrum <strong>de</strong>r Zivi-<br />
lisation – London! – seuchenartig vordr<strong>in</strong>gen will. Es s<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> »Dracula« so viele be<strong>de</strong>utsame Motive und Perspektiven<br />
erstmals versammelt, dass man e<strong>in</strong>fach von <strong>de</strong>r Schaffung
e<strong>in</strong>es literarischen Archetyps sprechen muss – und nur <strong>de</strong>n we-<br />
nigsten Schriftstellern ist so etwas gelungen. Dagegen ver-<br />
blasst die Masse <strong>de</strong>r Nachahmer.<br />
»Dracula« ist e<strong>in</strong>e fesseln<strong>de</strong> Geschichte. Hat das Buch auch<br />
e<strong>in</strong>e politische Dimension? Vielleicht sogar e<strong>in</strong>e, die ihre<br />
Relevanz über das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt h<strong>in</strong>aus hat?<br />
Es gibt sicher Spurenelemente davon. Wir sehen <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />
Roman die Elite <strong>de</strong>s englischen Empire – Jurist, Arzt, Lord –<br />
unterstützt von e<strong>in</strong>em Amerikaner und <strong>de</strong>m holländischen<br />
Superhirn Van Hels<strong>in</strong>g im Kampf gegen <strong>de</strong>n pan<strong>de</strong>mischen<br />
Übergriff <strong>de</strong>s blutsaugen<strong>de</strong>n Bösen. Frem<strong>de</strong>nangst, Hysterie –<br />
also Elemente <strong>de</strong>ssen, was im 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>e katastro-<br />
phale Rolle spielen wird – kl<strong>in</strong>gen an. Zugleich sehen wir e<strong>in</strong>e<br />
resolut agieren<strong>de</strong> Frau, die zwar nicht zur Vorreiter<strong>in</strong> <strong>de</strong>r<br />
Frauenbewegung taugt, die aber doch <strong>de</strong>n Schlüssel für die<br />
Problemlösung letzten En<strong>de</strong>s <strong>in</strong> Hän<strong>de</strong>n hält.<br />
Gewiss ist es e<strong>in</strong>e phantastische Geschichte. Aber wer vor<br />
2001 e<strong>in</strong>en Roman geschrieben hätte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m e<strong>in</strong> Mann mit<br />
langem Bart <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bergen Afghanistans drei junge Männer <strong>in</strong><br />
Hamburg mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>in</strong>fiziert, <strong>de</strong>n vielleicht größten Mord-<br />
anschlag <strong>de</strong>r Weltgeschichte zu begehen – und das auch noch<br />
im Zentrum e<strong>in</strong>er westlichen Supermacht –, wäre auch Gefahr<br />
gelaufen, als bloßer Märchenerzähler zu gelten.<br />
»Dracula« ist das Romandokument e<strong>in</strong>er großen gesell-<br />
schaftlichen Krise. Das britische Empire begann, nun, viel-<br />
leicht nicht zu wanken, aber doch an Selbstgewissheit zu ver-<br />
lieren. Der Wettlauf <strong>de</strong>r Großmächte um E<strong>in</strong>flusssphären zog<br />
zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>de</strong>n Glauben an die eigene Unverwundbarkeit <strong>in</strong><br />
Zweifel. Auch die überkommenen Werte verloren ihre Verläss-<br />
lichkeit, die Basis <strong>de</strong>r alten Lebensentwürfe wur<strong>de</strong> brüchig. In<br />
e<strong>in</strong>em gewissen S<strong>in</strong>ne ist diese spätviktorianische Ära also von<br />
<strong>de</strong>r unsrigen gar nicht so arg verschie<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Darstellung<br />
e<strong>in</strong>er umfassen<strong>de</strong>n Verunsicherung sche<strong>in</strong>t Stoker mit se<strong>in</strong>em<br />
»Dracula« e<strong>in</strong>en zentralen Nerv auch <strong>de</strong>s heutigen Publikums<br />
zu treffen.<br />
Wie kamen Sie auf die I<strong>de</strong>e e<strong>in</strong>er Neuübersetzung <strong>de</strong>s<br />
»Dracula«-Romans?<br />
Geschichten von Bram Stoker habe ich schon als Jugendlicher<br />
gelesen. Ich hatte damals die typische Gruselphase. Später dann<br />
habe ich zwei Bücher mit Grusel- bzw. Horrorgeschichten her-<br />
ausgegeben, und <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n habe ich die fabelhafte Geschichte<br />
»Das Haus <strong>de</strong>r Richters« von Stoker aufgenommen. Der Autor<br />
ist mir also seit Langem vertraut. Mit se<strong>in</strong>em hun<strong>de</strong>rtsten To-<br />
<strong>de</strong>stag schien mir die Zeit gekommen, se<strong>in</strong>en Weltklassiker<br />
»Dracula« endlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er literarisch und philologisch ange-<br />
messenen Form <strong>in</strong>s Deutsche zu transportieren.<br />
Können Sie an e<strong>in</strong> paar Beispielen zeigen, wie sich Ihre<br />
Übersetzung von <strong>de</strong>n bisherigen unterschei<strong>de</strong>t?<br />
Das kann ich natürlich, aber lassen Sie mich zuvor sagen:<br />
Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r älteren Übersetzungen hat ihre Meriten, und je<strong>de</strong><br />
neue Übersetzung verdankt auch immer <strong>de</strong>n Vorgänger-<br />
Übersetzungen etwas (und sei es, e<strong>in</strong>en Irrweg nicht noch<br />
e<strong>in</strong>mal gehen zu müssen). Außer<strong>de</strong>m ist man h<strong>in</strong>terher<br />
immer klüger, will sagen: Die Übersetzer, die sich bisher an<br />
»Dracula« gewagt haben, verfügten noch nicht über das brei-<br />
te Informationsmaterial, das mir zur Verfügung steht. Ich<br />
weise hier nur auf das Buch »Bram Stoker’s Notes for Dracu-<br />
la« h<strong>in</strong>, das erst 2008 veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Dar<strong>in</strong> kann man<br />
zum Beispiel sehen, wie Stoker auf e<strong>in</strong>er mehrseitigen Voka-<br />
belliste Ausdrücke gesammelt hat, die er für e<strong>in</strong>en Seemann<br />
<strong>in</strong> Whitby verwen<strong>de</strong>n wollte.<br />
Der Hauptunterschied zu allen an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>utschen Überset-<br />
zungen ist <strong>de</strong>r, dass unsere Übertragung die erste vollständige<br />
ist. Sätze, Satzteile, Absätze s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Übersetzun-<br />
gen weggefallen, teilweise vielleicht auch, weil diese auf e<strong>in</strong>er<br />
unvollständigen Vorlage beruhten.<br />
Wesentlich für unsere Fassung ist nicht nur, dass wir ekla-<br />
tante Fehler vermei<strong>de</strong>n – wenn es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Shakespeare-Zitat<br />
eigentlich um e<strong>in</strong>e Schreibtafel (tablet) geht, sprechen wir<br />
nicht von etwas, das man herunterschluckt –, dass wir wichti-<br />
ge Begriffe ernstnehmen – die New Woman ist bei uns wirklich<br />
die »Neue Frau«, e<strong>in</strong> neuer Frauentypus –, dass wir die Cigá-<br />
ny (das ungarische Wort für »Zigeuner«, das im Englischen<br />
ebenso fremdartig ist wie im Deutschen) nicht »Rumänisch«<br />
sprechen lassen, son<strong>de</strong>rn »Romani«, also die Sprache <strong>de</strong>r<br />
Roma, dass e<strong>in</strong> schottischer Seemann nicht berl<strong>in</strong>ert, son-<br />
<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>nvollerweise platt<strong>de</strong>utsch spricht etc.<br />
Neu ist vor allem, dass wir versuchen, die unzureichend<br />
differenzierten Stilebenen <strong>de</strong>s Orig<strong>in</strong>als, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m fast alle fikti-<br />
ven Tagebuchschreiber/<strong>in</strong>nen <strong>de</strong>n gleichen Schreibstil haben,<br />
behutsam zu <strong>in</strong>dividualisieren, ohne damit das Orig<strong>in</strong>al zu<br />
verfrem<strong>de</strong>n. Die große Differenzierung im Orig<strong>in</strong>al besteht<br />
zwischen <strong>de</strong>n Sprechweisen <strong>de</strong>s Grafen Dracula und <strong>de</strong>r von<br />
Van Hels<strong>in</strong>g: Auch hier haben wir uns bemüht – wenn ich<br />
»wir« sage, me<strong>in</strong>e ich alle, die mir bei <strong>de</strong>r Übersetzung und<br />
Überarbeitung geholfen haben –, endlich zwei verschie<strong>de</strong>ne<br />
Stimmen zu realisieren.<br />
Gött<strong>in</strong>gen, Januar 2012<br />
Andreas Nohl, geb. 1954, Studium <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Frankfurt und San<br />
Francisco; seit 1985 freier Schriftsteller und Übersetzer. Se<strong>in</strong>e<br />
Neuübersetzung von Mark Twa<strong>in</strong>s »Tom Sawyer & Huckle-<br />
berry F<strong>in</strong>n« im Hanser Verlag erregte 2010 Aufsehen.
LESEPROBE<br />
JONATHAN HARKERS JOURNAL<br />
(Fortsetzung)<br />
5. Mai. Ich musste e<strong>in</strong>genickt se<strong>in</strong>, <strong>de</strong>nn <strong>in</strong> vollständig wachem Zu-<br />
stand wäre mir die Anfahrt zu e<strong>in</strong>em so ungewöhnlichen Ort sicher nicht<br />
entgangen. Im Dunkeln erweckte <strong>de</strong>r Burghof <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck beträcht-<br />
licher Größe, und da mehrere Gänge unter großen Rundbögen von ihm<br />
abführten, wirkte er vielleicht größer, als er wirklich ist. Ich hatte bisher<br />
ke<strong>in</strong>e Gelegenheit, ihn bei Tageslicht zu besichtigen.<br />
Als die Kalesche hielt, sprang <strong>de</strong>r Kutscher ab und reichte mir se<strong>in</strong>e<br />
Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Wie<strong>de</strong>rum fiel mir se<strong>in</strong>e enorme<br />
Kraft auf. Se<strong>in</strong>e Hand war <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat wie e<strong>in</strong> stählerner Schraubstock, <strong>de</strong>r<br />
die me<strong>in</strong>e leicht hätte zerquetschen können, wenn er es gewollt hätte.<br />
Dann holte er me<strong>in</strong> Gepäck und stellte es neben mir auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n ab. Ich<br />
stand neben e<strong>in</strong>er mächtigen, mit großen Eisennägeln beschlagenen alten<br />
Tür, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vorspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n klobigen Türrahmen aus Ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gelas-<br />
sen war. Selbst <strong>in</strong> <strong>de</strong>m trüben Licht waren grobe Ste<strong>in</strong>metzarbeiten daran<br />
zu erkennen, die allerd<strong>in</strong>gs durch Zeit und Witterung stark gelitten hatten.<br />
Sodann sprang <strong>de</strong>r Kutscher wie<strong>de</strong>r auf se<strong>in</strong>en Bock, nahm die Zügel, die<br />
Pfer<strong>de</strong> ruckten an, und die Kalesche mit allem Drum und Dran ver-<br />
schwand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r dunklen Rundbögen.<br />
Ich blieb schweigend stehen, <strong>de</strong>nn ich hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung, was ich tun<br />
sollte. We<strong>de</strong>r gab es e<strong>in</strong>e Glocke noch e<strong>in</strong>en Türklopfer. Und es war un-<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich, dass me<strong>in</strong>e Stimme durch diese abweisen<strong>de</strong>n Mauern und<br />
dunklen Fensterhöhlen dr<strong>in</strong>gen konnte. Die Zeit <strong>de</strong>s Wartens schien end-<br />
los, und mich beschlichen Zweifel und Ängste. An welchen Ort war ich<br />
hier geraten und unter was für Menschen? Auf was für e<strong>in</strong> grausiges Aben-<br />
teuer hatte ich mich e<strong>in</strong>gelassen? Gehörte das zu <strong>de</strong>n üblichen Obliegen-<br />
heiten im Leben e<strong>in</strong>es Kanzleiangestellten, <strong>de</strong>r gesandt wor<strong>de</strong>n war, e<strong>in</strong>em<br />
Auslän<strong>de</strong>r die Kaufbed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong> Londoner Anwesen zu erklären?<br />
Kanzleiangestellter? M<strong>in</strong>a wäre empört. Anwalt – <strong>de</strong>nn kurz vor me<strong>in</strong>er<br />
Abreise aus London hatte ich die Nachricht erhalten, dass ich me<strong>in</strong>e Prü-<br />
fung bestan<strong>de</strong>n habe. Jetzt b<strong>in</strong> ich vollgültiger Anwalt! Ich begann mir die<br />
Augen zu reiben und mich zu kneifen, um festzustellen, ob ich wirklich<br />
28<br />
wach war. Mir kam alles wie e<strong>in</strong> grässlicher Albtraum vor, und ich erwar-<br />
tete, je<strong>de</strong>n Moment zu Hause aufzuwachen, mit <strong>de</strong>m anbrechen<strong>de</strong>n<br />
Tageslicht im Fenster, so wie ich es manchmal am Morgen nach e<strong>in</strong>em<br />
Tag mit zu vielen Überstun<strong>de</strong>n erlebt habe. Doch me<strong>in</strong>e Haut reagierte<br />
auf die Kneifprobe, und me<strong>in</strong>e Augen ließen sich nicht täuschen. Ich war<br />
tatsächlich wach und mitten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Karpaten. Ich konnte also nichts an-<br />
<strong>de</strong>res tun, als geduldig zu se<strong>in</strong> und darauf zu warten, dass es hell wur<strong>de</strong>.<br />
Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, da näherten sich h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r<br />
großen Tür schwere Schritte und durch die Ritzen schimmerte Licht.<br />
Dann hörte ich das Rasseln von Ketten und das Klacken massiver Riegel,<br />
die zurückgeschoben wur<strong>de</strong>n. E<strong>in</strong> Schlüssel drehte sich knirschend im<br />
Schloss, das offenbar lange nicht benutzt wor<strong>de</strong>n war, und schließlich<br />
schwang die große Tür auf.<br />
Dah<strong>in</strong>ter stand e<strong>in</strong> hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert (mit<br />
Ausnahme e<strong>in</strong>es langen weißen Schnurrbarts) und von Kopf bis Fuß<br />
schwarz geklei<strong>de</strong>t. Nicht e<strong>in</strong>e Spur von Farbe war an ihm zu sehen. In <strong>de</strong>r<br />
Hand hielt er e<strong>in</strong>en alten Silberleuchter, <strong>de</strong>ssen Flamme ungeschützt von<br />
Zyl<strong>in</strong><strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Glaskugel brannte. Im Luftzug <strong>de</strong>r offenen Tür flackerte<br />
sie und warf lange zittern<strong>de</strong> Schatten. Der alte Mann w<strong>in</strong>kte mich höflich<br />
here<strong>in</strong> und sagte <strong>in</strong> exzellentem, aber seltsam betontem Englisch:<br />
»Willkommen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Haus! Treten Sie e<strong>in</strong>, ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rt und aus<br />
freien Stücken!« Er kam mir ke<strong>in</strong>en Schritt entgegen, son<strong>de</strong>rn stand dort<br />
wie e<strong>in</strong>e Statue, als ob se<strong>in</strong>e Willkommensgeste ihn <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> verwan<strong>de</strong>lt<br />
hätte. Doch <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Augenblick, als ich die Schwelle überschritten hatte,<br />
kam er gera<strong>de</strong>zu überschwänglich auf mich zu, reichte mir die Hand und<br />
drückte so fest, dass ich vor Schmerz zusammenfuhr – e<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dung,<br />
die ke<strong>in</strong>eswegs dadurch gemil<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, dass sich die Hand eiskalt an-<br />
fühlte – wie die Hand e<strong>in</strong>es Toten. Wie<strong>de</strong>r sagte er:<br />
»Willkommen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Haus! Treten Sie ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>. Schei<strong>de</strong>n<br />
Sie gesund und munter und lassen Sie etwas von <strong>de</strong>m Glück da, das Sie<br />
mit sich br<strong>in</strong>gen!« Der schmerzhafte Hän<strong>de</strong>druck glich so sehr <strong>de</strong>m Griff<br />
<strong>de</strong>s Kutschers, <strong>de</strong>ssen Gesicht ich nicht gesehen hatte, dass ich e<strong>in</strong>en Au-<br />
genblick zweifelte, ob ich nicht mit <strong>de</strong>rselben Person sprach. Um sicher<br />
zu gehen, fragte ich zögernd:<br />
29
»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und antwortete:<br />
»Ich b<strong>in</strong> Dracula, und ich heiße Sie, Mr. Harker, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Haus will-<br />
kommen. Treten Sie e<strong>in</strong>. Die Nachtluft ist kalt, und Sie müssen etwas<br />
essen und sich ausruhen.« Damit stellte er die Laterne auf e<strong>in</strong>er Konsole<br />
an <strong>de</strong>r Wand ab, g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>aus, nahm me<strong>in</strong> Gepäck und hatte es here<strong>in</strong>ge-<br />
tragen, ehe ich ihm zuvorkommen konnte (…)<br />
7. Mai. Es ist wie<strong>de</strong>r früher Morgen, aber ich habe geruht und die<br />
letzten vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n genossen. Ich schlief, bis ich spät am<br />
Tag von alle<strong>in</strong> aufwachte. Nach <strong>de</strong>m Anklei<strong>de</strong>n g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong>s Esszimmer<br />
und fand dort e<strong>in</strong> kaltes Frühstück aufge<strong>de</strong>ckt, nur <strong>de</strong>r Kaffee wur<strong>de</strong> auf<br />
<strong>de</strong>m Kam<strong>in</strong>grill warmgehalten. Auf <strong>de</strong>m Tisch lag e<strong>in</strong> Kärtchen, auf <strong>de</strong>m<br />
geschrieben stand:<br />
»Ich muss für e<strong>in</strong>e Weile fort, warten Sie nicht auf mich. – D.« Also<br />
setzte ich mich an <strong>de</strong>n Tisch und erfreute mich an e<strong>in</strong>em herzhaften<br />
Mahl. (…) Als ich mit <strong>de</strong>m Essen fertig war, (…) schaute ich mich nach<br />
etwas zum Lesen um, <strong>de</strong>nn ich wollte nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Burg herumstöbern,<br />
ohne <strong>de</strong>n Grafen um Erlaubnis gefragt zu haben. Aber es war absolut<br />
nichts im Zimmer, ke<strong>in</strong> Buch, ke<strong>in</strong>e Zeitung, noch nicht e<strong>in</strong>mal Schreib-<br />
zeug. Also öffnete ich e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Tür im Raum und stieß auf e<strong>in</strong>e Art<br />
Bibliothek. Die Tür auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s Gangs versuchte ich eben-<br />
falls, sie war aber verschlossen.<br />
In <strong>de</strong>r Bibliothek ent<strong>de</strong>ckte ich zu me<strong>in</strong>er freudigen Überraschung e<strong>in</strong>e<br />
große Zahl englischer Bücher, ganze Regale voll, nebst gebun<strong>de</strong>nen Jahr-<br />
gängen von Illustrierten und Zeitungen. Auf e<strong>in</strong>em Tisch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mitte<br />
lagen weitere englische Presseerzeugnisse verstreut, allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e neue-<br />
ren Datums. Die Bücher kamen aus allen möglichen Themenbereichen –<br />
Geschichte, Geographie, Politik, politische Ökonomie, Botanik, Geolo-<br />
gie, Rechtswesen – alle mit e<strong>in</strong>em Bezug zu England, englischem Leben,<br />
englischen Sitten und Gebräuchen. Es waren sogar Nachschlagewerke<br />
darunter wie das Londoner Adressbuch, das »Rote« und das »Blaue«<br />
Buch, Whitakers Almanach, die Ranglisten von Armee und Mar<strong>in</strong>e<br />
sowie – me<strong>in</strong> Herz wur<strong>de</strong> nachgera<strong>de</strong> erwärmt – das Anwaltsverzeichnis.<br />
30<br />
Während ich die Bücher begutachtete, g<strong>in</strong>g die Tür auf, und <strong>de</strong>r Graf<br />
trat e<strong>in</strong>. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, ob ich gut ge-<br />
schlafen habe. Dann fuhr er fort:<br />
»Ich freue mich, dass Sie hierher gefun<strong>de</strong>n haben, <strong>de</strong>nn ich b<strong>in</strong> si-<br />
cher, es gibt hier gewisslich vieles, was Sie <strong>in</strong>teressieren wird. Diese<br />
›Freun<strong>de</strong>‹« – er legte se<strong>in</strong>e Hand auf e<strong>in</strong>en Stapel Bücher – »waren mir<br />
gute Begleiter und haben mir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vergangenen Jahren, seit ich mit<br />
<strong>de</strong>m Gedanken spiele, nach London zu ziehen, viele, viele angenehme<br />
Stun<strong>de</strong>n beschert. Durch sie habe ich Ihr großartiges Land kennenge-<br />
lernt, und es kennen heißt es lieben. Ich sehne mich danach, durch die<br />
bevölkerten Straßen Ihrer mächtigen Hauptstadt zu gehen, mitten im<br />
Trubel und <strong>de</strong>m hektischen Treiben <strong>de</strong>r Menschen, teilzuhaben an<br />
ihrem Leben, ihrem Schicksal und Sterben und an allem, was diese<br />
Stadt zu <strong>de</strong>m macht, was sie ist. Aber zu me<strong>in</strong>em Leidwesen kenne ich<br />
Ihre Sprache nur aus Büchern. Auf Sie, me<strong>in</strong> Freund, hoffe ich, damit<br />
ich sie sprechen lerne.«<br />
»Aber Graf«, sagte ich, »Sie verstehen und sprechen hervorragend<br />
englisch!« Er verbeugte sich wür<strong>de</strong>voll.<br />
»Ich danke Ihnen, me<strong>in</strong> Freund, für Ihr allzu schmeichelhaftes Urteil,<br />
aber <strong>de</strong>nnoch fürchte ich, dass ich erst e<strong>in</strong> kurzes Stück <strong>de</strong>s Weges zu-<br />
rückgelegt habe, <strong>de</strong>r vor mir liegt. Wahrlich, ich kenne die Grammatik<br />
und die Wörter, aber ich weiß nicht, wie man sie ausspricht.«<br />
»Wirklich«, sagte ich, »Sie sprechen ganz ausgezeichnet.«<br />
»Nicht doch«, erwi<strong>de</strong>rte er. »Ich weiß sehr wohl, dass man mir <strong>in</strong><br />
London aufgrund me<strong>in</strong>es Auftretens und me<strong>in</strong>er Aussprache sofort an-<br />
merken wür<strong>de</strong>, dass ich e<strong>in</strong> Frem<strong>de</strong>r b<strong>in</strong>. Das genügt mir nicht. Hier<br />
b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> Adliger, e<strong>in</strong> Bojar. Das geme<strong>in</strong>e Volk kennt mich, und ich<br />
b<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Herr. Aber <strong>de</strong>r Fremdl<strong>in</strong>g im frem<strong>de</strong>n Land, er ist niemand. Die<br />
Menschen kennen ihn nicht – und nicht kennen be<strong>de</strong>utet nicht beach-<br />
ten. Ich b<strong>in</strong> zufrie<strong>de</strong>n, wenn ich wie die an<strong>de</strong>ren b<strong>in</strong> und niemand ste-<br />
henbleibt, wenn er mich sieht, o<strong>de</strong>r, wenn er mich re<strong>de</strong>n hört, sagt:<br />
›Haha, e<strong>in</strong> Frem<strong>de</strong>r!‹ Ich b<strong>in</strong> schon so lange Herr, dass ich Herr bleiben<br />
will – wenigstens soll niemand Herr über mich se<strong>in</strong>.« (Aus Kapitel 2)<br />
31
MINA MURRAYS TAGEBUCH<br />
Am selben Tag, 11 Uhr nachts. Oh, was b<strong>in</strong> ich mü<strong>de</strong>! Wenn ich mir<br />
das Tagebuch nicht zur Pflicht gemacht hätte, wür<strong>de</strong> ich es heute Abend<br />
nicht anrühren. Wir haben e<strong>in</strong>e wun<strong>de</strong>rschöne Wan<strong>de</strong>rung gemacht.<br />
Lucy wur<strong>de</strong> nach e<strong>in</strong>er Weile ganz vergnügt, vielleicht weil sich uns auf<br />
e<strong>in</strong>er Wiese nahe <strong>de</strong>m Leuchtturm e<strong>in</strong> paar liebe Kühe neugierig näher-<br />
ten und uns reichlich Angst e<strong>in</strong>jagten. Ich glaube, wir vergaßen alles,<br />
außer natürlich unsere Furcht, und alles Vorherige war dadurch wie weg-<br />
gewischt und unsere Geister belebten sich neu. In e<strong>in</strong>em netten kle<strong>in</strong>en,<br />
altmodischen Gasthof <strong>in</strong> Rob<strong>in</strong> Hood’s Bay nahmen wir e<strong>in</strong> ausgiebiges<br />
Abendbrot mit Tee zu uns und blickten durch e<strong>in</strong> Rundbogenfenster di-<br />
rekt auf die mit Seetang überzogenen Felsen am Strand. Ich glaube, unser<br />
Appetit hätte die »Neue Frau« mächtig schockiert. Männer s<strong>in</strong>d da nach-<br />
sichtiger, Gott segne sie! Dann machten wir uns auf <strong>de</strong>n Heimweg, mit<br />
e<strong>in</strong>igen o<strong>de</strong>r eher vielen Ruhepausen und <strong>in</strong> ständiger Angst vor wil<strong>de</strong>n<br />
Stieren. Lucy war wirklich mü<strong>de</strong>, und wir wollten so bald wie möglich <strong>in</strong>s<br />
Bett. Aber <strong>de</strong>r junge Vikar kam vorbei, und Mrs. Westenra bat ihn, zum<br />
Aben<strong>de</strong>ssen zu bleiben. Lucy und ich kämpften tapfer gegen <strong>de</strong>n Sand-<br />
mann. Zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st war es für mich e<strong>in</strong> harter Kampf, und ich b<strong>in</strong> norma-<br />
lerweise nicht zimperlich. Ich f<strong>in</strong><strong>de</strong>, die Bischöfe sollten sich irgendwann<br />
e<strong>in</strong>mal zusammensetzen und sich überlegen, wie sie e<strong>in</strong>e neue Sorte von<br />
Vikaren heranbil<strong>de</strong>n können, die ke<strong>in</strong> Aben<strong>de</strong>ssen annehmen, wie sehr<br />
es ihnen auch aufgedrängt wer<strong>de</strong>n mag, und die erkennen, wenn junge<br />
Frauen mü<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d. Lucy schläft mittlerweile und atmet leise. Ihre Wangen<br />
haben mehr Farbe als sonst, und sie sieht so süß aus. Wenn Mr. Holm-<br />
wood sich schon im Salon <strong>in</strong> sie verliebt hat, wie wür<strong>de</strong> es ihm wohl er-<br />
gehen, wenn er sie jetzt sähe? Manche <strong>de</strong>r Autor<strong>in</strong>nen, die die »Neue<br />
Frau« propagieren, wer<strong>de</strong>n sicherlich e<strong>in</strong>es Tages vorschlagen, dass man<br />
Männern und Frauen erlauben sollte, e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r schlafend zu sehen, bevor<br />
sie e<strong>in</strong>en Heiratsantrag machen o<strong>de</strong>r annehmen. Aber ich <strong>de</strong>nke, die<br />
Neue Frau wird sich <strong>in</strong> Zukunft nicht mehr herbeilassen, e<strong>in</strong>en Antrag<br />
anzunehmen, sie wird ihn selbst machen! Und da wird sie ganze Arbeit<br />
leisten! Das ist doch e<strong>in</strong> gewisser Trost. Ich b<strong>in</strong> so froh heute Abend, weil<br />
62<br />
es Lucy besser geht. Ich glaube wirklich, sie ist über <strong>de</strong>n Berg, und wir<br />
haben die Albträume h<strong>in</strong>ter uns. Ich könnte so glücklich, se<strong>in</strong> wenn ich<br />
nur wüsste, ob Jonathan ... Gott segne und beschütze ihn.<br />
11. August, 3 Uhr morgens. Noch e<strong>in</strong>mal Tagebuch. F<strong>in</strong><strong>de</strong> ke<strong>in</strong>en<br />
Schlaf mehr, kann ebenso gut schreiben. Zum Schlafen b<strong>in</strong> ich zu aufge-<br />
wühlt. Wir haben e<strong>in</strong> solches Abenteuer, e<strong>in</strong> solch erschrecken<strong>de</strong>s Erlebnis<br />
h<strong>in</strong>ter uns. Ich schlief e<strong>in</strong>, sowie ich me<strong>in</strong> Tagebuch geschlossen hatte ...<br />
Plötzlich saß ich hellwach im Bett, von schrecklicher Angst gequält und<br />
mit <strong>de</strong>m Gefühl, völlig alle<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>. Das Zimmer war dunkel, sodass ich<br />
Lucys Bett nicht sehen konnte. Ich schlich leise h<strong>in</strong>über und tastete nach<br />
ihr. Das Bett war leer. Ich zün<strong>de</strong>te e<strong>in</strong> Streichholz an und sah, dass sie<br />
nicht im Zimmer war. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen, was ich<br />
am Abend gewiss getan hatte. Ich wollte ke<strong>in</strong>esfalls ihre Mutter wecken,<br />
<strong>de</strong>ren Gesundheitszustand <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Tagen mehr als sonst zu wün-<br />
schen übrig lässt, also warf ich mir rasch etwas über und machte mich<br />
auf die Suche nach Lucy. Als ich das Zimmer verließ, kam mir <strong>de</strong>r Ge-<br />
danke, dass die Art ihrer Kleidung vielleicht e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis darauf geben<br />
konnte, was sie <strong>in</strong> ihrem Traum vorhatte. Der Morgenrock: etwas <strong>in</strong>ner-<br />
halb <strong>de</strong>s Hauses; das Kleid: etwas außerhalb. Morgenrock und Kleid h<strong>in</strong>-<br />
gen an ihrem Platz. »Gott sei Dank«, dachte ich, »nur im Nachthemd<br />
kann sie nicht weit se<strong>in</strong>.« Ich lief die Treppe h<strong>in</strong>unter und schaute <strong>in</strong>s<br />
Wohnzimmer. Niemand da! Dann sah ich <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren zugänglichen<br />
Zimmern <strong>de</strong>s Hauses nach, wobei e<strong>in</strong>e ständig wachsen<strong>de</strong> Furcht mir die<br />
Kehle zuschnürte. Schließlich kam ich zur E<strong>in</strong>gangstür, und die stand<br />
offen. Nicht sperrangelweit, aber sie war nicht <strong>in</strong>s Schloss gefallen. Die<br />
Bediensteten <strong>de</strong>s Hauses achteten pe<strong>in</strong>lich darauf, dass die Tür je<strong>de</strong>n<br />
Abend abgeschlossen wird, also musste Lucy, so wie sie war, nach draußen<br />
gegangen se<strong>in</strong>. Es war ke<strong>in</strong>e Zeit zu überlegen, was geschehen könnte,<br />
e<strong>in</strong>e überwältigen<strong>de</strong> Furcht drängte alle E<strong>in</strong>zelheiten beiseite. Ich nahm<br />
e<strong>in</strong> großes, dickes Umhängetuch und eilte h<strong>in</strong>aus. Die Turmuhr schlug<br />
e<strong>in</strong>s, als ich am Crescent ankam, aber nirgendwo e<strong>in</strong>e Menschenseele.<br />
Ich lief die North Terrace entlang, aber nirgends war die weiße Gestalt zu<br />
erblicken, die ich suchte. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Westklippe über <strong>de</strong>m Pier schaute<br />
63
ich zur Ostklippe auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s Hafens, ich weiß nicht ob <strong>in</strong><br />
<strong>de</strong>r Hoffnung o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Furcht, Lucy auf unserer Liebl<strong>in</strong>gsbank zu<br />
sehen. Es herrschte strahlen<strong>de</strong>r Vollmond, zugleich trieben schwere<br />
schwarze Wolken am Himmel, die das Ganze wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Diorama ab-<br />
wechselnd <strong>in</strong> Licht und Schatten tauchten. Für e<strong>in</strong>, zwei Augenblicke<br />
konnte ich nichts sehen, da e<strong>in</strong> Wolkenschatten die Kirche von St. Mary<br />
und ihre Umgebung verf<strong>in</strong>sterte, doch dann, als die Wolke vorbeizog,<br />
kam die Ru<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Abtei <strong>in</strong> Sicht. Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmalen messerschar-<br />
fen Lichtstreif, <strong>de</strong>r über die Szene wan<strong>de</strong>rte, wur<strong>de</strong>n nach und nach Kir-<br />
che und Friedhof sichtbar. Was immer me<strong>in</strong>e Erwartung gewesen se<strong>in</strong><br />
mochte, sie wur<strong>de</strong> nicht enttäuscht, <strong>de</strong>nn dort auf unserem Liebl<strong>in</strong>gs-<br />
platz tauchte im silbernen Mondlicht e<strong>in</strong>e halb zurückgelehnte, schnee-<br />
weiße Gestalt auf. Die Wolken zogen zu schnell, als dass viel zu sehen ge-<br />
wesen wäre, <strong>de</strong>nn fast im gleichen Augenblick löschte <strong>de</strong>r Schatten das<br />
Licht wie<strong>de</strong>r aus. Aber ich hatte <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck, dass h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r weißen<br />
Gestalt etwas Dunkles stand und sich über sie beugte – ob Mensch o<strong>de</strong>r<br />
Tier, konnte ich nicht sagen. Ich wartete nicht, bis ich mich vergewissern<br />
konnte, son<strong>de</strong>rn eilte die steile Treppe zum Pier h<strong>in</strong>unter und über <strong>de</strong>n<br />
Fischmarkt zur Brücke, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zigen Verb<strong>in</strong>dung zur Ostklippe. Die<br />
Stadt lag wie ausgestorben, niemand war zu sehen. Das machte mich<br />
froh, <strong>de</strong>nn ich wollte nicht, dass irgendjemand Zeuge von Lucys Zustand<br />
wur<strong>de</strong>. Die Zeit und die Entfernung schienen endlos, me<strong>in</strong>e Knie zitter-<br />
ten und me<strong>in</strong> Atem g<strong>in</strong>g schwer, während ich mich die unzähligen Stufen<br />
zur Abtei h<strong>in</strong>aufmühte. Ich muss recht schnell gewesen se<strong>in</strong>, und doch<br />
kam es mir vor, als wären me<strong>in</strong>e Füße mit Bleigewichten beschwert und<br />
sämtliche Gelenke <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper e<strong>in</strong>gerostet. Als ich fast schon oben<br />
war, konnte ich bereits die Bank mit <strong>de</strong>r weißen Gestalt sehen, <strong>de</strong>nn ich<br />
war nah genug, um sie selbst im Dunkeln unterschei<strong>de</strong>n zu können.<br />
Ohne Zweifel beugte sich da etwas Langes und Schwarzes über die halb<br />
zurückgelehnte Gestalt. Ich rief voller Entsetzen: »Lucy! Lucy!«, und das<br />
Etwas hob se<strong>in</strong>en Kopf, e<strong>in</strong> weißes Gesicht mit rotglühen<strong>de</strong>n Augen.<br />
Lucy gab ke<strong>in</strong>e Antwort, und ich rannte weiter zum Friedhofse<strong>in</strong>gang.<br />
Dort aber stand die Kirche zwischen mir und <strong>de</strong>r Bank, sodass ich Lucy<br />
für e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute o<strong>de</strong>r so aus <strong>de</strong>n Augen verlor. Als mir <strong>de</strong>r Blick nicht<br />
64<br />
mehr verstellt war, hatte sich die Wolke verzogen, und das Mondlicht<br />
leuchtete so hell, dass ich sehen konnte, wie Lucy halb auf <strong>de</strong>r Bank lag<br />
und ihr Kopf auf <strong>de</strong>r Lehne ruhte. Sie war ganz alle<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong>e Spur von<br />
e<strong>in</strong>em Lebewesen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Nähe.<br />
Ich sah, dass sie immer noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet, und<br />
sie atmete – aber nicht leise und sanft wie sonst, son<strong>de</strong>rn mühsam und<br />
schwer, als wollte sie mit je<strong>de</strong>m Atemzug ihre ganze Lunge füllen. Als ich<br />
mich näherte, hob sie im Schlaf ihre Hand und schloss <strong>de</strong>n Kragen ihres<br />
Nachtgewands enger um ihren Hals. Dabei erschauerte sie leicht, als<br />
fröre sie. Ich warf das warme Umhängetuch über sie, damit sie sich,<br />
leicht beklei<strong>de</strong>t wie sie war, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kühlen Nachtluft nicht <strong>de</strong>n Tod holte.<br />
Ich wollte sie nicht abrupt aus <strong>de</strong>m Schlaf reißen, und um me<strong>in</strong>e Hän<strong>de</strong><br />
später frei zu haben, befestigte ich <strong>de</strong>n Saum <strong>de</strong>s Tuchs an ihrem Hals mit<br />
e<strong>in</strong>er großen Sicherheitsna<strong>de</strong>l. Aber ich muss mich recht ungeschickt an-<br />
gestellt und sie damit gezwickt o<strong>de</strong>r gepiekst haben, <strong>de</strong>nn als ihr Atmen<br />
langsam ruhiger wur<strong>de</strong>, griff sie sich mit <strong>de</strong>r Hand an <strong>de</strong>n Hals und<br />
stöhnte. Nach<strong>de</strong>m ich sie sorgfältig e<strong>in</strong>gewickelt hatte, zog ich ihr me<strong>in</strong>e<br />
Schuhe an und weckte sie dann sanft. Zunächst reagierte sie nicht, dann<br />
aber wur<strong>de</strong> ihr Schlaf zusehends unruhig, wobei sie mehrmals stöhnte<br />
und seufzte. Schließlich (…) rüttelte ich sie heftiger, bis sie endlich die<br />
Augen öffnete und aufwachte. Sie war nicht überrascht, mich zu sehen,<br />
da sie zunächst natürlich nicht wusste, wo sie sich befand. Lucy ist immer<br />
hübsch, wenn sie aus <strong>de</strong>m Schlaf kommt, und selbst unter diesen Um-<br />
stän<strong>de</strong>n, völlig durchgefroren und auch erschrocken, sich so leicht be-<br />
klei<strong>de</strong>t nachts auf <strong>de</strong>m Friedhof zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, verlor sie nichts von ihrer<br />
Anmut. Sie zitterte e<strong>in</strong> wenig und klammerte sich an mich, und als ich<br />
sagte, sie solle sofort mit mir nach Hause kommen, stand sie wortlos auf,<br />
folgsam wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Beim Gehen taten mir von <strong>de</strong>n Kieselste<strong>in</strong>en die<br />
Füße weh, und Lucy merkte, wie ich zusammenzuckte. Sie blieb stehen<br />
und wollte unbed<strong>in</strong>gt, dass ich me<strong>in</strong>e Schuhe anzog, was ich aber ab-<br />
lehnte. Auf <strong>de</strong>m Weg außerhalb <strong>de</strong>s Friedhofs allerd<strong>in</strong>gs trat ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Pfütze, die vom Unwetter übrig geblieben war, und beschmierte me<strong>in</strong>e<br />
Füße mit Schlamm, sodass niemand, <strong>de</strong>r uns unterwegs begegnen moch-<br />
te, sehen wür<strong>de</strong>, dass ich barfuß g<strong>in</strong>g. (Aus Kapitel 8)<br />
65
Bram Stoker (1847–1912)<br />
Bram Stoker wur<strong>de</strong> am 8. November 1847 <strong>in</strong> Clontarf bei Dub-<br />
l<strong>in</strong> geboren. Bis zu se<strong>in</strong>em siebenten Lebensjahr gehunfähig,<br />
wur<strong>de</strong> er als Stu<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r erfolgreichste Footballspieler <strong>de</strong>s Tri-<br />
nity College <strong>in</strong> Dubl<strong>in</strong>, wo er von 1864 bis 1870 Geschichte,<br />
Literatur, Mathematik und Physik studierte.<br />
Wie se<strong>in</strong> Vater, schlug er zunächst e<strong>in</strong>e Beamtenlaufbahn bei<br />
<strong>de</strong>r Justizverwaltung e<strong>in</strong>. Gleichzeitig veröffentlichte er erste<br />
Kurzgeschichten und war als Journalist und Theaterkritiker<br />
tätig. 1876 lernte er Henry Irv<strong>in</strong>g kennen, <strong>de</strong>n berühmtesten<br />
englischen Schauspieler se<strong>in</strong>er Zeit. 1878 gab Stoker se<strong>in</strong>e Ver-<br />
waltungsstelle auf, zog mit se<strong>in</strong>er Frau, <strong>de</strong>r auch von se<strong>in</strong>em<br />
Freund Oscar Wil<strong>de</strong> umworbenen Florence Balcombe, nach<br />
London, um zunächst als Privatsekretär, dann als Manager für<br />
Irv<strong>in</strong>gs Lyceum Theatre zu arbeiten (wo er Neuerungen wie<br />
die nummerierten Sitzplätze e<strong>in</strong>führte).<br />
Die Arbeit für Henry Irv<strong>in</strong>g, die 27 Jahre andauern sollte, er-<br />
möglichte Stoker <strong>de</strong>n Kontakt mit <strong>de</strong>r Londoner Oberschicht<br />
(so traf er u.a. mit Sir Arthur Conan Doyle zusammen) und<br />
zahlreiche Reisen, vor allem durch Europa und die USA, wo er<br />
neben <strong>de</strong>m von ihm sehr bewun<strong>de</strong>rten Walt Whitman auch<br />
Theodore Roosevelt kennenlernte.<br />
Daneben schrieb Bram Stoker immer wie<strong>de</strong>r Kurzgeschichten<br />
und Romane, wur<strong>de</strong> als Prozessanwalt zugelassen, <strong>in</strong>vestierte<br />
unglücklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Verlag und wirkte als englischer Agent<br />
für Mark Twa<strong>in</strong>. Am 26. Mai 1897 erschien se<strong>in</strong> Roman »Dra-<br />
cula« bei Constable. Den Welterfolg se<strong>in</strong>es Buchs sollte er<br />
nicht mehr erleben. Stoker starb am 20. April 1912 <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anziell<br />
beschei<strong>de</strong>nen Verhältnissen <strong>in</strong> London.<br />
»Diese Geschichte<br />
wird uns zweifellos noch<br />
lange <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Schlaf<br />
verfolgen. Menschen mit<br />
schwachen Nerven sollten diese<br />
gruselige Lektüre strikt auf die<br />
Zeit zwischen Sonnenaufgang<br />
und Sonnenuntergang<br />
beschränken.«<br />
Daily Mail über »Dracula« am 1. Juni 1897<br />
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Bezahlung unser Eigentum.<br />
Reklamationen wer<strong>de</strong>n nur anerkannt,<br />
wenn sie <strong>in</strong>nerhalb von 8 Tagen nach<br />
Erhalt <strong>de</strong>r Ware gemel<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />
Gerichtsstand Gött<strong>in</strong>gen<br />
Gestaltung und Illustrationen:<br />
Sarah W<strong>in</strong>ter