Evangelischer Erwachsenenkatechismus: Was ist Sünde?
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<strong>Evangelischer</strong> <strong>Erwachsenenkatechismus</strong>: <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>Sünde</strong>?<br />
Gen 3, 1 Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte<br />
zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? 2 Die Frau<br />
entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; 3 nur von den<br />
Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und<br />
daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben. 4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr<br />
werdet nicht sterben. 5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet<br />
wie Gott und erkennt Gut und Böse. 6 Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen,<br />
daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten<br />
und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. 7 Da gingen beiden die Augen auf, und<br />
sie erkannten, daß sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.<br />
8 Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam<br />
und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens. 9 Gott, der Herr, rief Adam zu und<br />
sprach: Wo b<strong>ist</strong> du? 10 Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht,<br />
weil ich nackt bin, und versteckte mich. 11 Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, daß du nackt b<strong>ist</strong>? Hast<br />
du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe? 12 Adam antwortete: Die Frau, die<br />
du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen. 13 Gott, der Herr,<br />
sprach zu der Frau: <strong>Was</strong> hast du da getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt, und so<br />
habe ich gegessen. 14 Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: Weil du das getan hast, b<strong>ist</strong> du verflucht<br />
unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle<br />
Tage deines Lebens. 15 Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs<br />
und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse. 16 Zur Frau sprach er: Viel<br />
Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen<br />
nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen. 17 Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau<br />
gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So <strong>ist</strong> verflucht der<br />
Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. 18 Dornen und<br />
D<strong>ist</strong>eln läßt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes mußt du essen. 19 Im Schweiße deines<br />
Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm b<strong>ist</strong> du ja<br />
genommen. Denn Staub b<strong>ist</strong> du, zum Staub mußt du zurück. 20 Adam nannte seine Frau Eva (Leben),<br />
denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen. 21 Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus<br />
Fellen und bekleidete sie damit. 22 Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch <strong>ist</strong> geworden wie wir;<br />
er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt,<br />
davon ißt und ewig lebt! 23 Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den<br />
Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. 24 Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des<br />
Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des<br />
Lebens bewachten.<br />
Einheitsübersetzung<br />
<strong>Sünde</strong> <strong>ist</strong> nicht nur eine Angelegenheit zwischen Gott und dem einzelnen, sondern auch eine zwischenmenschliche<br />
Realität. Jeder findet sich schon in einer Situation vor, die durch Schuld geprägt <strong>ist</strong>. Von<br />
Geburt an <strong>ist</strong> er in Gemeinschaften hineingestellt, und diese sind auch der Ort des Egoismus, der<br />
Vorurteile, der Gleichgültigkeit, der Unterdrückung usw. Die <strong>Sünde</strong> herrscht gewissermaßen zwischen<br />
den Menschen und nicht nur im einzelnen Menschen. Die anderen Menschen prägen mich durch ihre<br />
Haltung und ihr Handeln, und ich wiederum wirke auf die anderen ein. Es handelt sich hierbei um ein<br />
dichtes Netz gegenseitiger Schuldverflechtungen. Jeder hat teil an der Schuld des anderen, weil er versagt<br />
hat, lieblos, hochmütig gewesen <strong>ist</strong> usw. Die Handlungen einzelner Personen und Gruppen verdichten<br />
sich zu Strukturen. So begegnet uns das Böse auf doppelte Weise: in der schuldhaften Tat des einzelnen<br />
und in den Verstrickungen, in die wir. miteinander geraten. Gerade bei Krieg, Verfolgung, Unterdrückung<br />
zeigt sich, dass die <strong>Sünde</strong> nicht nur persönlich, sondern auch überpersönlich <strong>ist</strong>. Eine genaue Abgrenzung<br />
<strong>ist</strong> nicht möglich; denn in jeder Einzelschuld wirkt auch Verstrickung mit, und jede Verstrickung beruht<br />
auf persönlicher Schuld. Keiner kann sich aus diesem Zusammenhang lösen; denn keiner lebt für sich<br />
allein.<br />
Man kann auch nicht die Vorteile der menschlichen Gemeinschaft in Anspruch nehmen und sich gleich-<br />
zeitig von der Verantwortung für das Ganze freisprechen. Nicht nur durch böse Taten, sondern auch<br />
durch Flucht vor der Verantwortung werde ich schuldig; denn wer seine Mitverantwortung leugnet,<br />
schiebt damit die Schuld auf andere, die nun die Rolle des <strong>Sünde</strong>nbocks spielen müssen. Das geschieht
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auf verschiedene Weise: Die einen schieben alle Schuld auf die schlechten Strukturen, auf das System,<br />
auf die Verhältnisse, die anderen entrüsten sich über einzelne Straftäter. Dieses Verschiebespiel <strong>ist</strong> bereits<br />
in der Urgeschichte vom <strong>Sünde</strong>nfall (1 Mose 3) als Merkmal der <strong>Sünde</strong> entlarvt worden. Von dieser<br />
Schuldverstrickung <strong>ist</strong> auch der gute Mensch nicht ausgenommen. Auch er kann sich nicht aus der<br />
menschlichen Gemeinschaft lösen, er wirkt auf andere, und andere wirken auf ihn. Auch in seinem<br />
Innersten befinden sich Abgründe des Bösen. Erkennt er sie als zu sich gehörig an, wird er wissen, dass<br />
seine Güte nur relativ <strong>ist</strong>. Will er sie nicht wahrhaben, gerät er in die Gefahr, sich über<br />
andere zu erheben – und wird gerade damit schuldig [...]<br />
Die Erkenntnis, dass die <strong>Sünde</strong> bei allen Menschen vorkommt und dass sie den ganzen Menschen prägt,<br />
drückt die Theologie mit den Begriffen »Ursünde«, »Personsünde« oder »Erbsünde« aus. Man hat dies<br />
manchmal so verstanden, als werde die <strong>Sünde</strong> wie eine schlechte Anlage vererbt, ja, als sei der Akt der<br />
Zeugung selbst sündig. Diesem Missverständnis gegenüber muss zweierlei betont werden:<br />
• Die verkehrte Grundrichtung des Menschen Gott gegenüber <strong>ist</strong> weder ein körperliches noch ein ge<strong>ist</strong>iges<br />
Merkmal, das im biologischen Sinne vererbt werden könnte.<br />
• Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen. Er hat ihm die Sexualität als Ausdruck<br />
gegenseitiger Liebe und als Mittel der Fortpflanzung gegeben. Sexualität <strong>ist</strong> eine gute Gabe Gottes.<br />
Zeugung und Empfängnis s'ind weder Ursache noch Träger der Erbsünde. Zwar kann die Sexualität<br />
durch Lieblosigkeit missbraucht werden, aber dies gilt ja für alle guten Gaben und Fähigkeiten des<br />
Menschen. Der Begriff Erbsünde drückt aus, dass jeder in die Trennung von Gott, die wir <strong>Sünde</strong><br />
nennen, wie in eine Grundverfassung schon hineingeboren wird. Die <strong>Sünde</strong> bestimmt uns von Geburt<br />
an. Außerdem bringt die Lehre von der Erbsünde die Einheit aller Menschen zum Ausdruck. Sie<br />
betont auch, dass wir in der Geschichte leben. Keiner fängt von vorn an, jeder <strong>ist</strong> abhängig von dem,<br />
was vor ihm war. Diesen Zusammenhang aller Menschen in Vergangenheit und Gegenwart meint<br />
Paulus, wenn er die <strong>Sünde</strong> auf den Ungehorsam Adams zurückführt (Röm 5,12ff; 1 Kor 15,210.<br />
Kommt die <strong>Sünde</strong> zu uns durch Nachahmung oder Fortpflanzung? Das war die Streitfrage zwischen dem<br />
nordafrikanischen Bischof Augustin (354-430) und dem britischen Mönch Pelagius (gestorben nach 418).<br />
Pelagius behauptete, die <strong>Sünde</strong> sei immer nur eine einzelne, in freier Entscheidung begangene Tat, sie<br />
wirke nur durch das schlechte Beispiel. Sündlosigkeit sei also möglich. Gegen diese Lehre, die die<br />
Wurzel der <strong>Sünde</strong> im Gottesverhältnis nicht wahrnimmt und die den Menschen als isolierten einzelnen<br />
betrachtet, richtet sich Augustinus' Formulierung, die <strong>Sünde</strong> werde durch Fortpflanzung übertragen. Seine<br />
Auffassung, die geschlechtliche Lust sei sündig, entstammt nicht der Bibel, sondern leibfeindlichen<br />
Strömungen seiner Zeit. Von diesem Missverständnis abgesehen bringt Augustinus mit seiner Lehre die<br />
Radikalität und Unausweichlichkeit der <strong>Sünde</strong> deutlich zum Ausdruck. Er betont außerdem, dass die<br />
<strong>Sünde</strong> den ganzen Menschen von Geburt an prägt.<br />
Die Auffassung, jeder sei von Geburt an »<strong>Sünde</strong>r«, begegnet immer wieder der Kritik: Wieso bin ich<br />
<strong>Sünde</strong>r, wenn ich noch gar keinen bewussten Willen habe? Wer in seinem Leben den Punkt sucht, an dem<br />
aus dem Unschuldigen ein <strong>Sünde</strong>r wurde, wird ihn kaum finden. Ich finde mich immer schon als <strong>Sünde</strong>r<br />
vor, und soweit ich mich erinnern kann, war ich es immer. Jede einzelne Verfehlung kommt schon aus<br />
einer Haltung, und ich finde keinen Punkt in meinem Leben, an dem diese Haltung nicht vorhanden<br />
gewesen wäre. Jeder wird in die allgemeine Schuldverflechtung des Menschseins hineingeboren, und<br />
jeder aktualisiert sie dann auf seine Weise durch konkretes Verhalten. Von dieser Erkenntnis her ergibt<br />
sich auch ein Weg, die schwierige Frage zu beantworten: Leben auch kleine Kinder schon unter der<br />
Erbsünde?<br />
Im moralischen Sinne sind die Kinder unschuldig. Wenn die Kirche dennoch davon spricht, dass die<br />
<strong>Sünde</strong> uns von Geburt an prägt, <strong>ist</strong> das so zu verstehen: Das kleine Kind <strong>ist</strong> in vollem Sinne Mensch, auch<br />
wenn es sich dessen nicht bewusst <strong>ist</strong>. Es hat sein Menschsein nicht selbständig für sich, sondern in Form<br />
der Teilhabe an den Eltern. Es wird aber in der Zukunft das, was es jetzt schon <strong>ist</strong>, bewusst nachvollziehen.<br />
In vergleichbarer Weise gilt dies auch für die <strong>Sünde</strong>: Die Verflochtenheit in die <strong>Sünde</strong> <strong>ist</strong><br />
beim Kind in der Form der Teilhabe an den Eltern mitgegeben; das Kind empfängt sie zusammen mit<br />
dem Leben, indem es in eine Welt hineinkommt, die schon von der <strong>Sünde</strong> geprägt <strong>ist</strong>. Es wird aber in<br />
seinem Leben diese <strong>Sünde</strong> bewusst und willentlich nachvollziehen.<br />
Hartmut Jetter u.a., <strong>Evangelischer</strong> <strong>Erwachsenenkatechismus</strong>, VELKD (Hg.), Gütersloh, 5., neu bearbeitete und ergänzte Aufl.,<br />
1989, S. 327ff.