nah dran 2009 - Kinderschutz eV

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27.04.2013 Aufrufe

6 gebracht werden dürfen. Sie führt allerdings zu einem Drehtüreffekt, ähnlich wie in der überfüllten Diskothek: Erst wenn ein Gast gegangen ist, kann der nächste hineingelassen werden. Wer so handelt begeht unterm Strich Rechtsbruch, denn das Recht auf eine geeignete Hilfe kann und darf nicht unter dem Vorbehalt einer finanziellen Grenze stehen. Beteiligung an der Erschließung der Hilfe Eltern und junge Menschen müssen an der Erschließung der für ihre Situation geeigneten Hilfe beteiligt werden. Beteiligung bedeutet Mitsprache und Mit-Gestaltungsmöglichkeit. Sie bedeutet auch, zu Dingen Nein sagen zu können. Beteiligung wird jedoch schwierig, wenn die Vorstellung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters im Jugendamt darüber, was im Einzelfall zu tun ist, ausschließlich auf dem reichhaltigen Erfahrungsschatz beruht, ganz nach dem Motto „Wir wissen schon was richtig ist!“, „Das kennen wir schon!“, „Das ist ein klassischer Fall von …..“. Den klassischen Fall gibt es weder in der Erziehungshilfe noch anderswo, wo es um menschliche Schicksale und Lebenslagen geht. Beteiligung setzt voraus, dass der junge Mensch oder seine Eltern verstehen um was es geht. Sie ist daher für viele Menschen nahezu unmöglich, die beispielsweise einem anderen Kulturkreis entstammen, die andere Werte haben oder die sich schwer tun mit unserer sehr verwaltungsorientierten Sprache. Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihres Intellekts oder ihres Bildungshintergrunds wissend oder unwissend in ihren Beteiligungsmöglichkeiten einzuschränken bedeutet, ihnen ein grundlegendes Recht zu verwehren. Denkanstöße für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe Diese Beispiele machen eines deutlich: Rechte von Kindern und Jugendlichen sind keine Verfassungsfrage. Die Fragen, die zu klären sind, und die Aufgaben, die anstehen, sind andere. Ob junge Menschen zu ihrem Recht kommen, ist eine Frage des Handelns und zwar auf den unterschiedlichen Ebenen: Politik, Verwaltung, Jugendhilfeträger sowie jeder einzelnen Bürgerin bzw. jedes einzelnen Bürgers. nah dran Eine Frage des Gleichgewichts Die Kinder- und Jugendhilfe beginnt zu spät. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist kein „Feuerwehreinsatzplan“. Es ist ein Leistungsgesetz mit dem Ziel der Förderung junger Menschen und ihrer Familien. Wenn uns Kinder und deren Familien etwas wert sind, darf es kein „Entweder-Oder“ geben. Dann brauchen wir ein System des „Sowohl-als-auch“. Ein ausgewogenes Konzept von Prävention und Intervention. Wir brauchen sowohl die generalisierte und eher präventiv wirkende Jugendhilfe als auch die hochgradig spezialisierten intervenierenden Angebote. Eine Frage der Ressourcen Wenn uns junge Menschen und ihre Familien das wert sind, was sie uns wert sein sollten, dann brauchen wir ein Investitionsprogramm des Sozialen: Eine bessere Ausstattung der Jugendämter und Sozialdienste, eine bessere Ausstattung der Schulen unter anderem auch mit Jugendhilfeleistungen und ausreichend finanzielle Mittel sowohl für die so genannten freiwilligen Leistungen als auch für die Pflichtleistungen. Geeignete Hilfen im Einzelfall anbieten zu können setzt auch voraus, dass die Angebotslandschaft sowohl ausreichend spezialisiert als auch flexibel ist, um auf die individuellen Bedürfnisse junger Menschen passende Antworten geben zu können. Und schließlich muss es ausreichend Angebote geben. Das bedeutet auch, dass nicht jeder Platz zu jeder Zeit ausgelastet sein kann. Ein gewisses Maß an „Vorratshaltung“ ist notwendig, damit geeignete Hilfen grundsätzlich gewährleistet sind. Eine Frage der Verantwortung Schließlich brauchen wir eine neue Kultur der Verantwortung – und zwar nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe. Jede und jeder muss geleitet sein von der Maxime, dass Kinder und Jugendliche das höchste Gut unserer Gesellschaft sind und dass das Gemeinwesen verantwortlich für ihre Entwicklung ist. Die Verantwortung der Kindergärtnerin endet ebenso wenig an der Gruppentüre, wie die der Lehrkraft an der Klassenzimmertüre. Die Verantwortung des Kinderarztes nicht am Ausgang der Praxis und die der Erziehungsberatungsstelle nicht am Ende des Beratungsgespräches. Es bedarf der Sozialen Arbeit um Netzwerke gut zu spannen und um mit ihren Methoden die gegenseitigen Vorbehalte der unterschiedlichen Berufsgruppen zu überwinden. Schließlich ist Verantwortung auch eine Bürgerpflicht. Die beginnt bereits damit hinzuschauen, wenn eine Mutter ihrem Kind erlaubt, in der U-Bahn mit Straßenschuhen auf der Sitzbank herumzuturnen. Verantwortung heißt auch, sich fürsorgend trauen nachzufragen, wenn das Kind des Nachbarn nachts ständig schreit. Eine Frage des Wertes Was grundsätzlich gilt, gilt auch für eine gelungene Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Wir müssen uns positionieren: Was sind uns junge Menschen und deren Familien wert? Und was ist erforderlich, um diesen Wert zu sichern? Ein ausführlicher Wertediskurs um Antworten darauf zu finden erfordert Zeit, die wir uns nehmen sollten und die Bereitschaft aller Beteiligten zum vorbehaltlosen Diskurs, die wir wagen sollten. Es gibt Wichtigeres zu tun, als über die Verfassungsfrage zu debattieren. Wagen wir den Sprung hin zum Bekenntnis, dass das höchste Gut einer freiheitlichen Gesellschaft ihre jungen Menschen sind. Sie tragen eine Gesellschaft in ihre Zukunft. Sie müssten es uns wert sein, dass wir alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen und ihnen das geben, worauf sie einen Anspruch haben: Ein Recht auf Zukunft! Norbert Blesch Dieser Artikel fasst eine Rede zum Thema „Kinderrecht(e) im Alltag – Kinderrechte in die Landesverfassung aufnehmen und was das für Auswirkungen hat“ zusammen, die Norbert Blesch im Rahmen des „Sondergipfels der Kinder- und Jugendhilfe Berlin“ im Herbst 2008 hielt. Der vollständige Wortlaut ist auf unserer Internetseite www.kinderschutz.de zu finden in der Rubrik „Service“ – „Zur Kinder- und Jugendhilfe“.

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gebracht werden dürfen. Sie führt allerdings<br />

zu einem Drehtüreffekt, ähnlich wie in der<br />

überfüllten Diskothek: Erst wenn ein Gast gegangen<br />

ist, kann der nächste hineingelassen<br />

werden. Wer so handelt begeht unterm Strich<br />

Rechtsbruch, denn das Recht auf eine geeignete<br />

Hilfe kann und darf nicht unter dem Vorbehalt<br />

einer finanziellen Grenze stehen.<br />

Beteiligung an der Erschließung<br />

der Hilfe<br />

Eltern und junge Menschen müssen an der Erschließung<br />

der für ihre Situation geeigneten<br />

Hilfe beteiligt werden. Beteiligung bedeutet<br />

Mitsprache und Mit-Gestaltungsmöglichkeit.<br />

Sie bedeutet auch, zu Dingen Nein sagen zu<br />

können. Beteiligung wird jedoch schwierig,<br />

wenn die Vorstellung einer Mitarbeiterin oder<br />

eines Mitarbeiters im Jugendamt darüber, was<br />

im Einzelfall zu tun ist, ausschließlich auf dem<br />

reichhaltigen Erfahrungsschatz beruht, ganz<br />

nach dem Motto „Wir wissen schon was richtig<br />

ist!“, „Das kennen wir schon!“, „Das ist ein<br />

klassischer Fall von …..“. Den klassischen Fall<br />

gibt es weder in der Erziehungshilfe noch anderswo,<br />

wo es um menschliche Schicksale und<br />

Lebenslagen geht. Beteiligung setzt voraus,<br />

dass der junge Mensch oder seine Eltern verstehen<br />

um was es geht. Sie ist daher für viele<br />

Menschen <strong>nah</strong>ezu unmöglich, die beispielsweise<br />

einem anderen Kulturkreis entstammen,<br />

die andere Werte haben oder die sich schwer<br />

tun mit unserer sehr verwaltungsorientierten<br />

Sprache. Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihres<br />

Intellekts oder ihres Bildungshintergrunds<br />

wissend oder unwissend in ihren Beteiligungsmöglichkeiten<br />

einzuschränken bedeutet,<br />

ihnen ein grundlegendes Recht zu verwehren.<br />

Denkanstöße für die Zukunft<br />

der Kinder- und Jugendhilfe<br />

Diese Beispiele machen eines deutlich: Rechte<br />

von Kindern und Jugendlichen sind keine<br />

Verfassungsfrage. Die Fragen, die zu klären<br />

sind, und die Aufgaben, die anstehen, sind andere.<br />

Ob junge Menschen zu ihrem Recht kommen,<br />

ist eine Frage des Handelns und zwar auf<br />

den unterschiedlichen Ebenen: Politik, Verwaltung,<br />

Jugendhilfeträger sowie jeder einzelnen<br />

Bürgerin bzw. jedes einzelnen Bürgers.<br />

<strong>nah</strong> <strong>dran</strong><br />

Eine Frage des Gleichgewichts<br />

Die Kinder- und Jugendhilfe beginnt zu spät.<br />

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist kein<br />

„Feuerwehreinsatzplan“. Es ist ein Leistungsgesetz<br />

mit dem Ziel der Förderung junger Menschen<br />

und ihrer Familien. Wenn uns Kinder<br />

und deren Familien etwas wert sind, darf es<br />

kein „Entweder-Oder“ geben. Dann brauchen<br />

wir ein System des „Sowohl-als-auch“. Ein ausgewogenes<br />

Konzept von Prävention und Intervention.<br />

Wir brauchen sowohl die generalisierte<br />

und eher präventiv wirkende Jugendhilfe<br />

als auch die hochgradig spezialisierten<br />

intervenierenden Angebote.<br />

Eine Frage der Ressourcen<br />

Wenn uns junge Menschen und ihre Familien<br />

das wert sind, was sie uns wert sein sollten,<br />

dann brauchen wir ein Investitionsprogramm<br />

des Sozialen: Eine bessere Ausstattung der<br />

Jugendämter und Sozialdienste, eine bessere<br />

Ausstattung der Schulen unter anderem<br />

auch mit Jugendhilfeleistungen und ausreichend<br />

finanzielle Mittel sowohl für die so<br />

genannten freiwilligen Leistungen als auch<br />

für die Pflichtleistungen. Geeignete Hilfen<br />

im Einzelfall anbieten zu können setzt auch<br />

voraus, dass die Angebotslandschaft sowohl<br />

ausreichend spezialisiert als auch flexibel ist,<br />

um auf die individuellen Bedürfnisse junger<br />

Menschen passende Antworten geben zu<br />

können. Und schließlich muss es ausreichend<br />

Angebote geben. Das bedeutet auch, dass<br />

nicht jeder Platz zu jeder Zeit ausgelastet<br />

sein kann. Ein gewisses Maß an „Vorratshaltung“<br />

ist notwendig, damit geeignete Hilfen<br />

grundsätzlich gewährleistet sind.<br />

Eine Frage der Verantwortung<br />

Schließlich brauchen wir eine neue Kultur der<br />

Verantwortung – und zwar nicht nur in der<br />

Kinder- und Jugendhilfe. Jede und jeder muss<br />

geleitet sein von der Maxime, dass Kinder und<br />

Jugendliche das höchste Gut unserer Gesellschaft<br />

sind und dass das Gemeinwesen verantwortlich<br />

für ihre Entwicklung ist. Die<br />

Verantwortung der Kindergärtnerin endet<br />

ebenso wenig an der Gruppentüre, wie die der<br />

Lehrkraft an der Klassenzimmertüre. Die<br />

Verantwortung des Kinderarztes nicht am<br />

Ausgang der Praxis und die der Erziehungsberatungsstelle<br />

nicht am Ende des Beratungsgespräches.<br />

Es bedarf der Sozialen<br />

Arbeit um Netzwerke gut zu spannen und<br />

um mit ihren Methoden die gegenseitigen<br />

Vorbehalte der unterschiedlichen Berufsgruppen<br />

zu überwinden.<br />

Schließlich ist Verantwortung auch eine<br />

Bürgerpflicht. Die beginnt bereits damit<br />

hinzuschauen, wenn eine Mutter ihrem Kind<br />

erlaubt, in der U-Bahn mit Straßenschuhen<br />

auf der Sitzbank herumzuturnen. Verantwortung<br />

heißt auch, sich fürsorgend trauen<br />

nachzufragen, wenn das Kind des Nachbarn<br />

nachts ständig schreit.<br />

Eine Frage des Wertes<br />

Was grundsätzlich gilt, gilt auch für eine gelungene<br />

Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.<br />

Wir müssen uns positionieren: Was sind uns<br />

junge Menschen und deren Familien wert?<br />

Und was ist erforderlich, um diesen Wert zu<br />

sichern? Ein ausführlicher Wertediskurs um<br />

Antworten darauf zu finden erfordert Zeit, die<br />

wir uns nehmen sollten und die Bereitschaft<br />

aller Beteiligten zum vorbehaltlosen Diskurs,<br />

die wir wagen sollten.<br />

Es gibt Wichtigeres zu tun, als über die Verfassungsfrage<br />

zu debattieren. Wagen wir den<br />

Sprung hin zum Bekenntnis, dass das höchste<br />

Gut einer freiheitlichen Gesellschaft ihre<br />

jungen Menschen sind. Sie tragen eine Gesellschaft<br />

in ihre Zukunft. Sie müssten es uns wert<br />

sein, dass wir alle rechtlichen Möglichkeiten<br />

ausschöpfen und ihnen das geben, worauf sie<br />

einen Anspruch haben: Ein Recht auf Zukunft!<br />

Norbert Blesch<br />

Dieser Artikel fasst eine Rede zum Thema „Kinderrecht(e)<br />

im Alltag – Kinderrechte in die Landesverfassung<br />

aufnehmen und was das für Auswirkungen<br />

hat“ zusammen, die Norbert Blesch im Rahmen des<br />

„Sondergipfels der Kinder- und Jugendhilfe Berlin“<br />

im Herbst 2008 hielt. Der vollständige Wortlaut ist<br />

auf unserer Internetseite www.kinderschutz.de zu<br />

finden in der Rubrik „Service“ – „Zur Kinder- und<br />

Jugendhilfe“.

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