"Lieber Schorse!" - Briefe eines Kriegsverbrechers (mh) - Hildesheim

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25.04.2013 Aufrufe

Lieber Schorse!” – Briefe eines Kriegsverbrechers Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 46) / Von Martin Hartmann Die Zeitgeschichtlichen Sammlungen des Stadtarchivs dienen dem Zweck, die üblicherweise in den Archiven aufbewahrte amtliche Überlieferung zu ergänzen. In diesen Sammlungen aufbewahrte Dokumente können Lücken in der öffentlichen Überlieferung, z. B. bei Kriegsverlusten, füllen, das vorhandene Archivgut ergänzen, indem sie historische Vorgänge aus einer anderen Perspektive betrachten und sie können dazu beitragen, ein anschaulicheres Bild der in der Geschichte handelnden Personen zu vermitteln, also der amtlichen, gewissermaßen öffentlichen Perspektive die private Sicht gegenüberstellen. Im Bestand 802, der Sammlung Drittes Reich, befindet sich ein Konvolut von Briefen, die hier mit dem aus dem Schriftwechsel stammenden Begriff „Schorse-Briefe“ bezeichnet werden. Bei diesem „Schorse“ (Georg) handelte es sich um einen Landwirt aus dem Landkreis, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Schulfreund Otto Ohlendorf korrespondierte, dem zu der Zeit in Nürnberg der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht wurde. Der 1907 in Hoheneggelsen als Sohn eines Landwirts geborene Ohlendorf war bereits während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium Andreanum (1917-1928) in die SA eingetreten und hatte am Aufbau einer lokalen Parteiorganisation in Hoheneggelsen mitgewirkt. Er studierte 1928-1931 in Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften. Nach einer Tätigkeit an der Universität Kiel wurde er 1934 Abteilungsleiter im Institut für angewandte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, wechselte 1936 zum SD, dem Sicherheitsdienstes der SS, und berichtete in den „Meldungen aus dem Reich“ über die Stimmung in Deutschland. Mit seiner kompromisslos-kritischen Berichterstattung insbesondere über die Auswirkungen des Vierjahresplans auf den Mittelstand zog er sich aber bald die Gegnerschaft verschiedener NS-Größen zu und wurde praktisch kaltgestellt. 1939 von Heydrich für den SD reaktiviert, wurde er für den gesamten Bereich der Meinungsausforschung der SS zuständig. Die schonungslose Berichterstattung war nach dem Sicherheitskonzept der SS notwendig, wenn sie als Frühwarnsystem für die Führung Wirkung haben sollte. Im Juni 1941 wurde Ohlendorf als Leiter der Einsatzgruppe D im Bereich der 11. Armee nach Russland abkommandiert. Die sogenannten Einsatzgruppen sollten hinter der Front in Russland Juden, Zigeuner, Kommunisten und andere Gruppen systematisch ausrotten. Die Einsatzgruppe D ermordete in der Ukraine mehr als 90.000 Menschen. Ohlendorf versuchte vergeblich, sich der Abkommandierung unter Hinweis auf seine UK-Stellung aufgrund seiner Tätigkeit bei der Reichsgruppe Handel zu entziehen. Ohlendorfs Beweggründe, sich zunächst gegen den Russlandeinsatz zu wehren, sind nicht politischer oder gar moralischer Natur. Auch wenn er mit seinen für einen überzeugten Nationalsozialisten unorthodoxen Ansichten verschiedentlich mit der offiziellen Parteilinie in Konflikt geraten war, bejahte er doch wesentliche Kernpunkte des Nationalsozialismus, etwa den Rassismus und hegte in Russland keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Tätigkeit. Im Sommer 1942 wurde er zum SD zurückgeholt. Seine Dienste als „Meinungsforscher“ wurden jetzt von Himmler wegen der Vertrauenskrise nach dem ersten Kriegswinter und dem Attentat auf Heydrich benötigt. Ohlendorf übte seine Tätigkeit beim SD Inland bis zum Kriegsende aus und wurde am 23. Mai 1945 im Dienste der letzten geschäftsführenden Reichsregierung von den Alliierten verhaftet. Die hier vorliegenden Unterlagen, die 1970 von „Schorse“ aufgrund persönlicher Bekanntschaft dem damaligen Archivdirektor Dr. Helmut von Jan für das Stadtarchiv © Stadtarchiv Hildesheim – Am Steine 7, 31134 Hildesheim Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de

„<strong>Lieber</strong> <strong>Schorse</strong>!” – <strong>Briefe</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kriegsverbrechers</strong><br />

Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 46) / Von Martin Hartmann<br />

Die Zeitgeschichtlichen Sammlungen des Stadtarchivs dienen dem Zweck, die üblicherweise<br />

in den Archiven aufbewahrte amtliche Überlieferung zu ergänzen. In diesen Sammlungen<br />

aufbewahrte Dokumente können Lücken in der öffentlichen Überlieferung, z. B. bei<br />

Kriegsverlusten, füllen, das vorhandene Archivgut ergänzen, indem sie historische Vorgänge<br />

aus einer anderen Perspektive betrachten und sie können dazu beitragen, ein anschaulicheres<br />

Bild der in der Geschichte handelnden Personen zu vermitteln, also der amtlichen,<br />

gewissermaßen öffentlichen Perspektive die private Sicht gegenüberstellen.<br />

Im Bestand 802, der Sammlung Drittes Reich, befindet sich ein Konvolut von <strong>Briefe</strong>n, die<br />

hier mit dem aus dem Schriftwechsel stammenden Begriff „<strong>Schorse</strong>-<strong>Briefe</strong>“ bezeichnet<br />

werden. Bei diesem „<strong>Schorse</strong>“ (Georg) handelte es sich um einen Landwirt aus dem<br />

Landkreis, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Schulfreund Otto Ohlendorf<br />

korrespondierte, dem zu der Zeit in Nürnberg der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht<br />

wurde.<br />

Der 1907 in Hoheneggelsen als Sohn <strong>eines</strong> Landwirts geborene Ohlendorf war bereits<br />

während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium Andreanum (1917-1928) in die SA eingetreten<br />

und hatte am Aufbau einer lokalen Parteiorganisation in Hoheneggelsen mitgewirkt. Er<br />

studierte 1928-1931 in Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften. Nach einer Tätigkeit an<br />

der Universität Kiel wurde er 1934 Abteilungsleiter im Institut für angewandte<br />

Wirtschaftswissenschaften in Berlin, wechselte 1936 zum SD, dem Sicherheitsdienstes der<br />

SS, und berichtete in den „Meldungen aus dem Reich“ über die Stimmung in Deutschland.<br />

Mit seiner kompromisslos-kritischen Berichterstattung insbesondere über die Auswirkungen<br />

des Vierjahresplans auf den Mittelstand zog er sich aber bald die Gegnerschaft verschiedener<br />

NS-Größen zu und wurde praktisch kaltgestellt. 1939 von Heydrich für den SD reaktiviert,<br />

wurde er für den gesamten Bereich der Meinungsausforschung der SS zuständig. Die<br />

schonungslose Berichterstattung war nach dem Sicherheitskonzept der SS notwendig, wenn<br />

sie als Frühwarnsystem für die Führung Wirkung haben sollte.<br />

Im Juni 1941 wurde Ohlendorf als Leiter der Einsatzgruppe D im Bereich der 11. Armee nach<br />

Russland abkommandiert. Die sogenannten Einsatzgruppen sollten hinter der Front in<br />

Russland Juden, Zigeuner, Kommunisten und andere Gruppen systematisch ausrotten. Die<br />

Einsatzgruppe D ermordete in der Ukraine mehr als 90.000 Menschen. Ohlendorf versuchte<br />

vergeblich, sich der Abkommandierung unter Hinweis auf seine UK-Stellung aufgrund seiner<br />

Tätigkeit bei der Reichsgruppe Handel zu entziehen. Ohlendorfs Beweggründe, sich zunächst<br />

gegen den Russlandeinsatz zu wehren, sind nicht politischer oder gar moralischer Natur. Auch<br />

wenn er mit seinen für einen überzeugten Nationalsozialisten unorthodoxen Ansichten<br />

verschiedentlich mit der offiziellen Parteilinie in Konflikt geraten war, bejahte er doch<br />

wesentliche Kernpunkte des Nationalsozialismus, etwa den Rassismus und hegte in Russland<br />

keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Tätigkeit.<br />

Im Sommer 1942 wurde er zum SD zurückgeholt. Seine Dienste als „Meinungsforscher“<br />

wurden jetzt von Himmler wegen der Vertrauenskrise nach dem ersten Kriegswinter und dem<br />

Attentat auf Heydrich benötigt. Ohlendorf übte seine Tätigkeit beim SD Inland bis zum<br />

Kriegsende aus und wurde am 23. Mai 1945 im Dienste der letzten geschäftsführenden<br />

Reichsregierung von den Alliierten verhaftet.<br />

Die hier vorliegenden Unterlagen, die 1970 von „<strong>Schorse</strong>“ aufgrund persönlicher<br />

Bekanntschaft dem damaligen Archivdirektor Dr. Helmut von Jan für das Stadtarchiv<br />

© Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> – Am Steine 7, 31134 <strong>Hildesheim</strong><br />

Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de


übergeben wurden, enthalten <strong>Briefe</strong> Ohlendorfs aus der Zeit von 1947 bis 1950 an seinen<br />

Schulfreund „<strong>Schorse</strong>“, Abschriften von <strong>Briefe</strong>n Ohlendorfs an seine Frau und andere<br />

Personen sowie Schriftwechsel zwischen diesen. In den <strong>Briefe</strong>n an „<strong>Schorse</strong>“ – der längste<br />

umfasst 38 Seiten - erfährt der Leser einiges über die moralisch-ethischen Vorstellungen<br />

Ohlendorfs sowie über seine Wirtschafts- und Staatsphilosophie, seine Tätigkeit in Russland,<br />

die ihn schließlich auf die Anklagebank nach Nürnberg gebracht hat, kommt in den <strong>Briefe</strong>n<br />

allerdings nicht vor. Deutlich wird seine Haltung nur in einem Brief an seine Frau vom 6.<br />

August 1947, in dem er Hitlers Konzeption des Krieges gegen den Bolschewismus<br />

rechtfertigte und versuchte, die Verbrechen durch Hinweis auf die gegenwärtige Notsituation,<br />

die er für eine Folge des Morgenthau-Plans hielt, sowie die Vertreibung der Deutschen durch<br />

die Russen zu relativieren. Von irgendwelchen Zweifeln ist in dem Schriftwechsel nichts zu<br />

bemerken. Gegenstand der <strong>Briefe</strong> ist auch die Haltung der Wehrmachtsgenerale, die in den<br />

Nürnberger Prozessen versucht haben, die Kriegsverbrechen ausschließlich der SS anzulasten.<br />

Über die <strong>Briefe</strong> an „<strong>Schorse</strong>“ hinaus ist in der Briefsammlung auch Schriftwechsel mit<br />

Prozessbeteiligten in Nürnberg enthalten. Hier stehen zumeist praktische Fragen von<br />

Ohlendorfs Verteidigung wie Geldbeschaffung für Schreibpapier, Reisekosten und ähnliche<br />

zeittypische Probleme im Mittelpunkt. Einzeln betrachtet mögen die hier vorgestellten <strong>Briefe</strong><br />

wenig aussagekräftig sein, sie sind aber geeignet, als Quellenmaterial eine wissenschaftliche<br />

Untersuchung der historischen Vorgänge zu ergänzen.<br />

In seinem Brief an „<strong>Schorse</strong>“ vom 24. Juli 1948 schreibt Ohlendorf: „Liebe, Wahrheit,<br />

„Gerechtigkeit“ sind keine Abstrakte, sondern sehr reale Ur-Schöpfungskräfte, die sich nicht<br />

ungestraft übertreten lassen.“ Dem schloss sich das Gericht in Nürnberg an. Ohlendorf wurde<br />

am 10. April 1948 zum Tode verurteilt und am 7. Juni 1951 in Landsberg/Lech hingerichtet.<br />

Quelle:<br />

Best. 802 Nr. 129<br />

Literatur:<br />

Sowade, Hanno: Otto Ohlendorf – Nonkonformist, SS-Führer und Wirtschaftsfunktionär.<br />

in: Smelser, Ronald / Zitelmann, Rainer (Hrsg.): Die braune Elite I. 22 biographische Skizzen.<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, Seite 188 – 200 (WB 35532)<br />

IMT-Protokolle<br />

© Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> – Am Steine 7, 31134 <strong>Hildesheim</strong><br />

Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de

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