105. Die Mullersche unter der Tortur (ms) - Hildesheim

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25.04.2013 Aufrufe

Die Mullersche unter der Tortur Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 105) / von Michael Schütz Erneut wird hier ein Archivale präsentiert, das äußerlich unspektakulär ist. Es handelt sich um einen auf Folioformat (20,5 mal 33,5 Zentimeter) gefalteten Bogen Papier, der auf der ersten und zweiten Seite von einem Schreiber der Hildesheimer Neustadt mit einer gleichmäßigen, sauberen Kanzleikurrent beschrieben wurde. Im unteren Teil der zweiten Seite wurde von anderer Hand ein Vermerk hinzugefügt, der auf den 20. Oktober 1607 datiert ist. Er ist unterschrieben von einem Christoff Bismarck. Das Schriftstück, das wegen eines chemischen Prozesses im Papier Verfärbungen aufweist, wird im Stadtarchiv unter der Signatur Bestand 100-38 Nr. 63 verwahrt. Im krassen Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild steht der Inhalt. Es geht um nicht weniger als die Aussage der Ehefrau des Arndt Muller – auch Moller ist als Familienname überliefert –, „wie sie mit der Daumenschrauben undt Stieffelen angegriffen wurde“. Die Anklage und die Rechtfertigung für diese Folter lautete: Hexerei. Wie damals bei Frauen üblich, wird sie einfach als die Mullersche bezeichnet. Hexenwahn Der Begriff Hexerei tritt erst seit Beginn des 15. Jahrhunderts auf und meint meistens die Benutzung natürlicher und übernatürlicher Kräfte zum Schaden anderer (maleficium). Man unterschied die „schwarze Magie“ von der „weißen Magie“, zur der das Wahrsagen und die Heilkünste zählten. Der Glaube an übernatürliche Kräfte und den Schadenzauber war im Mittelalter stark verbreitet. Die Thesen von Thomas von Aquin (1224/25 bis 1274) legten die Grundlage für die Lehre vom Teufelsbündnis und Satanskult, die im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit zu einem Hexenwahn führte und in der Hexenverfolgung und der Einrichtung der Inquisition gipfelte. Im Rahmen der Hexenverfolgung wurde es schließlich üblich, zur (vermeintlichen) Wahrheitsfindung den Delinquenten mit speziellen Werkzeugen einer körperlichen Folter auszusetzen. Die Daumenschrauben, mit denen Finger einer Hand bei derTortur“ gequetscht wurden, sind uns umgangssprachlich noch heute geläufig und sprechen für sich. Unter „Stieffelen“ sind die auch „spanische Stiefel“ genannten Beinschrauben oder Beinklemmen zu verstehen, mit denen die Unterschenkel gequetscht wurden. Daneben ist noch die „Leiter“ als Folterwerkzeug besonders verbreitet gewesen, mit der der Körper – vornehmlich von angeklagten Männern – gestreckt wurde, schlimmstenfalls bis zum Ausrenken der Gliedmaßen. Mit den genannten Foltermethoden sollten bei einer Befragung vor allem folgende Haupttatbestände der Hexerei festgestellt werden: die Eheschließung und der vollzogene Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, die Teilnahme am Hexensabbat, der dämonische Nachtflug, der Schadenzauber, zum Beispiel durch das Giftmischen und die Herstellung von Liebestränken, der Bildzauber, durch den Menschen angeblich willenlos, sexuell hörig und krank gemacht oder sogar getötet werden konnten, das Wettermachen und das Annehmen einer Tiergestalt. Das im Stadtarchiv erhaltene Protokoll dokumentiert nur einen Teil des bereits Anfang September begonnenen Verfahrens gegen die Mullersche. Es war durch den für einen Kranken tödlich verlaufenen Versuch der Frau ausgelöst worden, „gute Hollen“ (= kleine Geister) auszutreiben. Die bei der Folter gemachten Aussagen enthalten vornehmlich Anschuldigungen, die die Delinquentin gegenüber zwei anderen Frauen erhob, der Witwe des Barwertt Krumfoet (auch Krumfues genannt) und ihrer Magd. Danach soll die Krumfoetsche zusammen mit ihrer Magd nicht nur den Neustädter © Stadtarchiv Hildesheim – Am Steine 7, 31134 Hildesheim Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de

<strong>Die</strong> <strong>Mullersche</strong> <strong>unter</strong> <strong>der</strong> <strong>Tortur</strong><br />

Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 105) / von Michael Schütz<br />

Erneut wird hier ein Archivale präsentiert, das äußerlich unspektakulär ist. Es handelt sich um<br />

einen auf Folioformat (20,5 mal 33,5 Zentimeter) gefalteten Bogen Papier, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> ersten<br />

und zweiten Seite von einem Schreiber <strong>der</strong> <strong>Hildesheim</strong>er Neustadt mit einer gleichmäßigen,<br />

sauberen Kanzleikurrent beschrieben wurde. Im <strong>unter</strong>en Teil <strong>der</strong> zweiten Seite wurde von<br />

an<strong>der</strong>er Hand ein Vermerk hinzugefügt, <strong>der</strong> auf den 20. Oktober 1607 datiert ist. Er ist<br />

<strong>unter</strong>schrieben von einem Christoff Bismarck. Das Schriftstück, das wegen eines chemischen<br />

Prozesses im Papier Verfärbungen aufweist, wird im Stadtarchiv <strong>unter</strong> <strong>der</strong> Signatur Bestand<br />

100-38 Nr. 63 verwahrt.<br />

Im krassen Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild steht <strong>der</strong> Inhalt. Es geht um nicht<br />

weniger als die Aussage <strong>der</strong> Ehefrau des Arndt Muller – auch Moller ist als Familienname<br />

überliefert –, „wie sie mit <strong>der</strong> Daumenschrauben undt Stieffelen angegriffen wurde“. <strong>Die</strong><br />

Anklage und die Rechtfertigung für diese Folter lautete: Hexerei. Wie damals bei Frauen<br />

üblich, wird sie einfach als die <strong>Mullersche</strong> bezeichnet.<br />

Hexenwahn<br />

Der Begriff Hexerei tritt erst seit Beginn des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts auf und meint meistens die<br />

Benutzung natürlicher und übernatürlicher Kräfte zum Schaden an<strong>der</strong>er (maleficium). Man<br />

<strong>unter</strong>schied die „schwarze Magie“ von <strong>der</strong> „weißen Magie“, zur <strong>der</strong> das Wahrsagen und die<br />

Heilkünste zählten. Der Glaube an übernatürliche Kräfte und den Schadenzauber war im<br />

Mittelalter stark verbreitet. <strong>Die</strong> Thesen von Thomas von Aquin (1224/25 bis 1274) legten die<br />

Grundlage für die Lehre vom Teufelsbündnis und Satanskult, die im Spätmittelalter und <strong>der</strong><br />

frühen Neuzeit zu einem Hexenwahn führte und in <strong>der</strong> Hexenverfolgung und <strong>der</strong> Einrichtung<br />

<strong>der</strong> Inquisition gipfelte.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Hexenverfolgung wurde es schließlich üblich, zur (vermeintlichen)<br />

Wahrheitsfindung den Delinquenten mit speziellen Werkzeugen einer körperlichen Folter<br />

auszusetzen. <strong>Die</strong> Daumenschrauben, mit denen Finger einer Hand bei <strong>der</strong> „<strong>Tortur</strong>“ gequetscht<br />

wurden, sind uns umgangssprachlich noch heute geläufig und sprechen für sich. Unter<br />

„Stieffelen“ sind die auch „spanische Stiefel“ genannten Beinschrauben o<strong>der</strong> Beinklemmen zu<br />

verstehen, mit denen die Unterschenkel gequetscht wurden. Daneben ist noch die „Leiter“ als<br />

Folterwerkzeug beson<strong>der</strong>s verbreitet gewesen, mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> Körper – vornehmlich von<br />

angeklagten Männern – gestreckt wurde, schlim<strong>ms</strong>tenfalls bis zum Ausrenken <strong>der</strong><br />

Gliedmaßen.<br />

Mit den genannten Foltermethoden sollten bei einer Befragung vor allem folgende<br />

Haupttatbestände <strong>der</strong> Hexerei festgestellt werden: die Eheschließung und <strong>der</strong> vollzogene<br />

Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, die Teilnahme am Hexensabbat, <strong>der</strong> dämonische<br />

Nachtflug, <strong>der</strong> Schadenzauber, zum Beispiel durch das Giftmischen und die Herstellung von<br />

Liebestränken, <strong>der</strong> Bildzauber, durch den Menschen angeblich willenlos, sexuell hörig und<br />

krank gemacht o<strong>der</strong> sogar getötet werden konnten, das Wettermachen und das Annehmen<br />

einer Tiergestalt.<br />

Das im Stadtarchiv erhaltene Protokoll dokumentiert nur einen Teil des bereits Anfang<br />

September begonnenen Verfahrens gegen die <strong>Mullersche</strong>. Es war durch den für einen<br />

Kranken tödlich verlaufenen Versuch <strong>der</strong> Frau ausgelöst worden, „gute Hollen“ (= kleine<br />

Geister) auszutreiben. <strong>Die</strong> bei <strong>der</strong> Folter gemachten Aussagen enthalten vornehmlich<br />

Anschuldigungen, die die Delinquentin gegenüber zwei an<strong>der</strong>en Frauen erhob, <strong>der</strong> Witwe des<br />

Barwertt Krumfoet (auch Krumfues genannt) und ihrer Magd.<br />

Danach soll die Krumfoetsche zusammen mit ihrer Magd nicht nur den Neustädter<br />

© Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> – Am Steine 7, 31134 <strong>Hildesheim</strong><br />

Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de


Bürgermeister Lorentz Cappen aus Rache vergiftet haben, son<strong>der</strong>n anschließend auch noch<br />

ihren eigenen Mann. In beiden Fällen wurde „witt Tuech“ (= Weißzeug, weißes Pulver), ein<br />

Fliegengift, verwendet. Für beide Morde soll die Krumfoetsche das Gift in <strong>der</strong> „Abo-tecken“<br />

(= Apotheke) besorgt haben. <strong>Die</strong> Portion für den Bürgermeister wurde im Haus <strong>der</strong><br />

<strong>Mullersche</strong>n zubereitet und ihm anschließend von <strong>der</strong> Magd beigebracht.<br />

Der Tod des Ehemannes soll dagegen ein Versehen gewesen sein, wobei unklar bleibt, zu<br />

welchem Zweck – wenn nicht, um ihn zu töten – ihm das Weißzeug überhaupt verabreicht<br />

wurde. <strong>Die</strong>ses Mal soll es die Magd zubereitet und bei günstiger Gelegenheit in dessen<br />

Branntweinglas geschüttet haben. <strong>Die</strong> Krumfoetsche beklagte sich aber bei <strong>der</strong> <strong>Mullersche</strong>n,<br />

dass es die Magd zu stark gemacht habe, worauf die <strong>Mullersche</strong> erwi<strong>der</strong>t haben will: „… das<br />

wehre schade, Barwertt Krumfues wehre ein fromer Man gewesen.“ Daneben behauptete die<br />

Delinquentin, dass die Krumfoetsche sie mehrfach aufgefor<strong>der</strong>t habe, „ob sie mitt uff den<br />

Tantz wolle nahe dem Blokesberge“. Das habe sie jedoch abgeschlagen. Sie sei allerdings auf<br />

dem – wohl mitternächtlichen – Tanz „uff dem Hogen Wege“ in <strong>Hildesheim</strong> gewesen, wo die<br />

Krumfoetsche einen Buhlen – damit dürfte <strong>der</strong> personifizierte Teufel gemeint sein –, „einen<br />

hubschen Kerel bey sich gehabt, mitt Fed<strong>der</strong>buschen geziehret“ und in ein braunes Tuch<br />

gekleidet.<br />

Pakt mit dem Teufel<br />

Der Versuch <strong>der</strong> <strong>Mullersche</strong>n ist verständlich, an<strong>der</strong>e Personen zu belasten, um sich selber zu<br />

entlasten. Meistens kamen die Delinquenten aber doch nicht umhin, insbeson<strong>der</strong>e um weiterer<br />

Folter zu entgehen, die eigene Schuld einzugestehen. Und so verwun<strong>der</strong>t es nicht, dass die<br />

<strong>Mullersche</strong> bei <strong>der</strong> dritten „<strong>Tortur</strong>“ zugab, dass sie zusammen mit <strong>der</strong> Krumfoetschen erst den<br />

Bürgermeister und dann den Ehemann vergiftet habe und schon länger einen Pakt mit dem<br />

Teufel eingegangen sei.<br />

Für die Rechtskraft dieser Aussage bedurfte es allerdings <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung des<br />

Schuldbekenntnisses ohne angewendete Folter. <strong>Die</strong>ses wird durch den Vermerk von Christoff<br />

Bismarck am Ende des Protokolls bestätigt, in dem er die anwesenden Zeugen <strong>der</strong><br />

Befragungskommission aufzählt und feststellt: „… und hatt dieselben durchauß gestanden<br />

und bekandt, das dieselben wahr wehren undt ihre Bekandtnuß sich also vorhielte. Wollte<br />

daruff lebs und sterben.“ Durch Joachim Brandis’ Diarium wissen wir, dass Letzteres eintrat.<br />

Am 9. November 1607 wurde die <strong>Mullersche</strong> – im Diarium nach ihrem ersten Mann<br />

Hartmensche genannt – zusammen mit <strong>der</strong> Brunneschen, vermutlich <strong>der</strong> ebenfalls<br />

beschuldigten Magd, die „so velen Leuten sollen wehe gedahn haben“, auf <strong>der</strong> Steingrube<br />

verbrannt. <strong>Die</strong> Krumfoetsche hatte wohl rechtzeitig von den Anschuldigungen gegen sie<br />

erfahren und war aus <strong>Hildesheim</strong> geflohen. Letztendlich nützte es ihr nichts. Sie wurde in<br />

Lauenburg aufgegriffen und dort zu den Beschuldigungen befragt, die sie schließlich alle<br />

zugab. Am 12. Oktober 1608 soll sie vor Rethem/Aller zum Scheiterhaufen geschleift und<br />

dort ebenfalls als Hexe verbrannt worden sein.<br />

Ob die drei Frauen tatsächlich des gemeinschaftlichen Doppelmordes schuldig gewesen sind<br />

o<strong>der</strong> aber die Taten nur aus Angst vor <strong>der</strong> im Hexereiverhör angewendeten Folter<br />

eingestanden haben, bleibt wohl für immer ungeklärt.<br />

© Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> – Am Steine 7, 31134 <strong>Hildesheim</strong><br />

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