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Stundenbücher

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<strong>Stundenbücher</strong> – „Bestseller“ des späten Mittelalters<br />

Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 123) / Von Michael Schütz<br />

Zu Beginn des 10. Jahrhunderts setzten erstmals Bestrebungen ein, ausgewählte Teile der Gebete<br />

und Gesänge zu den verschiedenen Tagzeiten (Horen) zusammen mit bestimmten Offizien<br />

(Stundengebete) für das offizielle priesterliche und liturgische Gebet in einer eigenen Buchform zu<br />

vereinigen. Im 11. Jahrhundert kam für dieses nach der Abfolge des Kirchenjahres gegliederte Buch<br />

die lateinische Bezeichnung breviarium oder Brevier (Auszug, Ausschnitt) auf. Auch adlige und<br />

wohlhabende bürgerliche Laien wünschten ein solches Andachtsbuch zu besitzen, das sie allerdings<br />

nach ihren speziellen Gebetsvorlieben zusammenstellen wollten. Aus diesem Bedürfnis entwickelte<br />

sich Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts in Frankreich das Stundenbuch (franz.: Livres<br />

d’heures), das sich schnell über West- und Mitteleuropa ausbreitete und bis ins 16. Jahrhundert sehr<br />

beliebt blieb – also modern gesprochen ein „Bestseller“ war. Seinen Namen erhielt es vermutlich<br />

vom Kernstück der <strong>Stundenbücher</strong>, dem Kleinen Marienoffizium, das häufig mit der Formel<br />

Incipiunt horae beatae Mariae Virginis (= [Hier] beginnen die Stunden[gebete] der seligen<br />

Jungfrau Maria) eingeleitet wurde. Horae, heures (Stunden) wurde schließlich auf das gesamte<br />

Buch übertragen. Das Stundenbuch enthielt zwar überwiegend Elemente der offiziellen<br />

Gebetbücher, doch musste es auf die Abfolge des Kirchenjahres keine Rücksicht nehmen und<br />

unterlag auch keiner kirchlichen Aufsicht. Persönlich in Auftrag gegeben, spiegeln die<br />

<strong>Stundenbücher</strong> den Geschmack ihrer Besitzer wider und geben zugleich Aufschluss über deren<br />

finanzielle Möglichkeiten. Die meisten <strong>Stundenbücher</strong> waren vorrangig Statussymbole.<br />

Das Stadtarchiv besitzt mehrere Breviere und zwei <strong>Stundenbücher</strong> aus dem 15. Jahrhundert, die<br />

durch einen Ratsbeschluss des Jahres 1882 zusammen mit anderen Handschriften dem Stadtarchiv<br />

zur Verwahrung überwiesen wurden. Hier gehören sie alle zum Bestand 52 (Handschriften). Zuvor<br />

wurden die Handschriften vom Roemer-Museum verwahrt und sind von diesem ursprünglich für<br />

Ausstellungszwecke erworben oder ihm geschenkt worden – die genauen Erwerbungsumstände<br />

lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Wegen seines aufwändigen Buchschmucks kommt dem<br />

Stundenbuch mit der Signatur Best. 52 Nr. 385 eine besondere Stellung zu. Es wurde nicht in<br />

Hildesheim hergestellt, sondern um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Flandern. Die Grafschaft<br />

Flandern gehörte damals zum Herrschaftsbereich der einflussreichen und kunstsinnigen Herzöge<br />

von Burgund. Ihre Schreibwerkstätten setzten bei der künstlerischen Ausgestaltung der<br />

Handschriften neue Maßstäbe.<br />

Das genannte Stundenbuch hat, wie es für die private Andacht an unterschiedlichen Orten und auf<br />

Reisen sinnvoll ist, ein handliches Format von nur 9 x 12,5 cm, aufgeschlagen 19 x 12,5 cm. Es<br />

trägt nicht mehr seinen Originaleinband, sondern wurde vermutlich im 18. Jahrhundert neu<br />

gebunden. Heute umfasst es 77 mit roter Tinte liniierte und rubrizierte Pergamentblätter,<br />

ursprünglich waren es wohl vier Blätter mehr. Die Blätter sind – von vier Seiten abgesehen –<br />

beidseitig mit der gotischen Buchschrift Bastarda beschrieben. Der Schreiber nennt sich auf der<br />

letzten Seite selbst: per me (= durch mich) Ger[art] van der Schuren. Er wurde vermutlich 1411 in<br />

Xanten geboren und war spätestens seit 1447 Sekretär der Herzöge Adolf I. und Johann I. von<br />

Kleve, Grafen der Mark. Mit Johann I. soll ihn ein besonderes Vertrauensverhältnis verbunden<br />

haben. Gerart starb um 1490. Von anderer Hand ist wohl noch im 15. Jahrhundert über dem<br />

Schreibernamen die Jahreszahl 1448 notiert worden, doch gibt es Zweifel an der Datierung.<br />

Da es sich beim Stundenbuch um ein Laienbuch handelt, musste es nicht zwingend auf Lateinisch<br />

geschrieben sein, sondern konnte – wie in diesem Fall – auch auf Mittelniederdeutsch abgefasst<br />

werden. Dieses Exemplar enthält die Tagzeiten vom Leiden Jesu Christi (Dit is die pass[ion] ons<br />

here[n] ih[es]u [christi] als lucas, marcus, mathe[us] un[de] ioh[ann]es bescrijven), gefolgt von<br />

den Gebeten zu Jesus Christus für alle Tage, dem Gebet zum Heiligen Hieronymus, den<br />

Bußpsalmen und der Allerheiligenlitanei. Es schließt mit dem sogenannten Marienpreis (Een<br />

lavesanck (= Lobgesank) va[n] onser liever vrouwen) und den Tagzeiten von den Schmerzen


- 2 -<br />

Mariens. Zum aufwändigen Buchschmuck der Handschrift gehören Prunkseiten mit Initialen und<br />

umlaufenden gemalten Bordüren mit reichem Blattgoldauftrag und viele einfacher gestaltete<br />

Schmuckseiten mit gemalten Initialen. Auch finden sich Zierstäbe am Blattrand sowie Rankenwerk<br />

in Fleuronnéetechnik (fleuron = franz., Blumenzierrat) und gemalte Blätter, Knospen und Blüten.<br />

Die Gestaltung der Handschrift wird in der Hand von wenigstens zwei Spezialisten gelegen haben:<br />

neben dem Schreiber Gerart van der Schuren auch bei einem Ornamentmaler für die Blattränder;<br />

vielleicht war auch noch ein Miniaturenmaler beteiligt.<br />

Zu den bereits aufgezählten schmückenden Elementen kommen noch sehr viele gemalte Initialen<br />

und insbesondere Buchstabenfelder mit Wappen und gemalte Wappenbordüren. Letztere<br />

ermöglichen es, den Auftraggeber dieses Stundenbuchs zu identifizieren. Der viergeteilte<br />

Wappenschild zeigt die Wappen der Grafschaft Mark und des Herzogtums Kleve auf der vom<br />

Betrachter gesehen linken Seite. Auf der anderen Seite sind die Wappen der Grafschaft Nevers und<br />

des Herzogtums Burgund zu erkennen, die wahrscheinlich mit dem kleinen Herzschild der<br />

Grafschaft Flandern belegt sind. Diesen Wappenschild dürfte Elisabeth von Burgund-Nevers seit<br />

ihrer Heirat mit dem oben erwähnten Herzog Johann I. von Kleve-Mark im Jahr 1455 geführt<br />

haben, wobei dies der nachgetragenen Jahreszahl 1448 widerspricht – ein Widerspruch, der bisher<br />

nicht aufgelöst werden konnte.<br />

© Stadtarchiv Hildesheim – Am Steine 7, 31134 Hildesheim<br />

Tel. 05121-301-4100 Fax 05121-301-4198 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de

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