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Offener Brief von Werner Schulz - Robert Havemann Gesellschaft

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<strong>Werner</strong> SCHULZ<br />

Mitglied des Europäischen Parlaments<br />

Sehr geehrte Stadträte <strong>von</strong> Wittenberg,<br />

werner.schulz@europarl.europa.eu www.werner-schulz-europa.eu<br />

ASP 8H259 Rue Wiertz 60 B-1047 Brüssel<br />

Tel 0032 2 28 45399 Fax 0032 2 28 79399<br />

Brüssel, den 22. Oktober 2012<br />

würde man dieser Tage nach einem Preis suchen, um das Engagement der russischen<br />

Frauen-Punkband Pussy Riot treffend zu würdigen, dann müsste man ihn das<br />

„Unerschrockene Wort“ nennen. Einen Preis, der Menschen auszeichnet „für<br />

unerschrockenes Auftreten Unbill in Kauf zu nehmen“. Zum Glück gibt es genau diesen Preis<br />

und der Hauptausschuss der Lutherstadt Wittenberg hat nach intensiver Beratung und aus<br />

guten Gründen und völlig zu Recht vorgeschlagen diesen Preis der Lutherstädte an „Pussy<br />

Riot“ zu verleihen.<br />

Doch leider hagelt es jetzt, wie ich höre und lese, abstruse Kritik, die <strong>von</strong> großem Unwissen,<br />

Vorurteilen und fataler Ablehnung geprägt ist. Auf MDR-Figaro hat Friedrich Schorlemmer<br />

gesagt:<br />

„Wenn man den Preis ruinieren will, muss man das so machen. Die jungen Damen<br />

meinten sie werden weltbekannt wenn sie einfach vor dem Altar richtige deftige<br />

Schweinereien loslassen. Was das mit politischen Protest zu tun hat möchte ich gern<br />

wissen, angefangen vom Namen dieser Band.“<br />

Diesem Wissensbedarf möchte ich gern nachkommen und schicke Ihnen im Anhang eine<br />

ausführliche Preisbegründung. Sie soll diejenigen ermutigen, die den Vorschlag unterbreitet<br />

haben, daran festzuhalten und sich ihm Rahmen der Jury der 16 Lutherstädte für diese<br />

Preisverleihung einzusetzen. Soweit ich die anderen Vorschläge kenne, ist bei allem<br />

Respekt und Anerkennung für die Nominierten keiner mit dem Mut dieser Frauen<br />

vergleichbar.<br />

Ich schicke diese Begründung aber auch an die Kritiker in der Hoffnung, dass sie die Fakten<br />

und Argumente aufnehmen und sich ernsthaft durch den Kopf gehen lassen, ob ihre Skepsis<br />

berechtigt ist und ihre Ablehnung Substanz hat. Gerade am Ursprung der Reformation sollte<br />

das Bewusstsein dafür wach gehalten werden, dass die Kirche ein geeigneter Ort ist, um<br />

gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Demütigung zu protestieren und es auch heutzutage<br />

elementare Gründe für diesen Protest gibt. Das unerschrockene, freie Wort und die Suche<br />

nach Wahrheit dürfen nicht vor der Kirchentür halt machen. Das hat Martin Luther, die<br />

Bekennende Kirche und unsere friedliche Revolution im Herbst '89 bewegt. In der Tradition<br />

Dietrich Bonhoeffers besteht der Grundauftrag des Christentums darin, sich deutlich und<br />

unmissverständlich gegen Machtmissbrauch und Unterdrückung zu äußern. Die Religion als<br />

solche spielt, wie Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen betont hat, in diesem<br />

Zusammenhang keine Rolle. Er sprach vom „religionslosen Christentum“. Nadeschda<br />

Tolokonnikowa, die <strong>von</strong> Jesus Worten und Taten beeindruckt ist, begründete die Wahl der<br />

Kirche als Ort für das Punkgebet auch damit, dass das Christentum „die Suche nach


Wahrheit und Selbstüberwindung unterstützt“. Das sollten Theologen wie Siegfried<br />

Kasparick und Friedrich Schorlemmer eigentlich wissen, die das „Priestertum aller<br />

Gläubigen“ vertreten. Ich hoffe, dass sie die Größe haben ihre Meinung zu revidieren oder<br />

aber ausführlich begründen, warum sie das alles nur für einen „Muschi-Krawall“ halten.<br />

Ich fürchte nicht, dass die Preisverleihung an Pussy Riot den Preis kaputt macht. Ganz im<br />

Gegenteil: Das unerschrockene Wort soll doch Zivilcourage und nicht besinnliche Andacht<br />

auszeichnen und ginge tatsächlich an furchtlose und würdige Preisträger. Anders als der im<br />

vorigen Jahr vorgesehene „Quadriga Preis für Aufbruch, Erneuerung und Pioniergeist“ an<br />

Wladimir Putin. Es wird nicht passieren, dass der „Baum der orthodoxen Kirche im<br />

Luthergarten eingeht“ wie der „Russland-Kenner“ Heinz Wehmeier befürchtet. Denn zum<br />

Glück besteht kein Zusammenhang zwischen Baumsterben und umstrittenen<br />

Preisverleihungen. Sonst hätte uns der Friedensnobelpreis an Barack Obama schon ganze<br />

Regenwaldregionen gekostet. Mit dem „LennonOno Grant for Peace“, der <strong>von</strong> Yoko Ono und<br />

Amnesty International an Pussy Riot vergeben wurde und der Nominierung für den<br />

Sacharowpreis des EU-Parlaments, befände man sich sogar in bester <strong>Gesellschaft</strong>.<br />

Wittenberg wird sich nicht blamieren, allenfalls durch die Rücknahme der Nominierung. Das<br />

dürfte sich dann vermutlich und nachhaltig bis zum großen Reformationsjubiläum erstrecken.<br />

Wie ich gelesen habe, hat es ursprünglich trotz zweifacher Nachfrage der Stadtverwaltung,<br />

keinen Vorschlag für den Preis gegeben. Deswegen hoffe ich jetzt, dass man die<br />

Preisbegründung publiziert und die Wittenberger nach all den Einsprüchen den Mut<br />

aufbringen, die Nominierung für Pussy Riot zu unterstützen und deren unerschrockenen<br />

Protest gegen Putins autoritäre Herrschaft anerkennend würdigen.<br />

Als politisch engagierter Christ kann ich abschließend nur hoffen, dass Sie, geehrte Stadträte,<br />

sich die Zeit nehmen werden um meinen Argumenten zu folgen und eine mutige<br />

Entscheidung nicht revidieren.<br />

Mit freundlichen Grüßen,<br />

<strong>Werner</strong> S c h u l z<br />

Mitglied des Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten<br />

Vizepräsident des Parlamentarischen Kooperationsausschusses EU-Russland<br />

werner.schulz@europarl.europa.eu www.werner-schulz-europa.eu<br />

ASP 8H259 Rue Wiertz 60 B-1047 Brüssel<br />

Tel 0032 2 28 45399 Fax 0032 2 28 79399

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