Der Drachenkampf.pdf - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien
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<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong><br />
<strong>Horst</strong> <strong>Südkamp</strong><br />
Nach dem Relief auf dem Gosfort-Stein
Inhalt<br />
I 4<br />
Das heutige Drachenbild 6<br />
Zur Herkunft des Wortes: Drachen 11<br />
<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> als Bewährungsprobe 14<br />
Über andere Referenzen der Deutungsversuche 30<br />
II 35<br />
Die germanische Mythe neben der Märchenversion und anderen Traditionen 35<br />
<strong>Der</strong> Ring aus Metall 38<br />
<strong>Der</strong> Schlangenring 51<br />
Elementen- und Geschlechterwechsel der Akteure 54<br />
<strong>Der</strong> Ring aus Mutter und Drachensohn, des Stirb und Werde 56<br />
<strong>Der</strong> biblische Sündfall, eine Inversion des <strong>Drachenkampf</strong>es ? 65<br />
Die Schätze "Volk" und "Weisheit" 85<br />
III 89<br />
Das Zwei-Brüder-Märchen in der Sammlung Grimm 89<br />
Ausschnitte aus dem Kesar-Epos 106<br />
Nüwa und Fuxi 113<br />
Amerikanische Themen 115<br />
Literatur 123<br />
3
4<br />
Einleitung<br />
<strong>Drachenkampf</strong>mythen oder -sagen zählen zu jenem Typus von Mythen über<br />
den aufklärenden Charakter von Grenzsituationen oder über die Existenzerhellung<br />
durch Grenzsituationen, zu den Mythen der Beschreibung von Grenz-<br />
oder Schwellenüberschreitungen als kalkulierten Gefahren, die entweder als<br />
innerliche, emotionale oder charakterliche zu bewältigen sind oder als öffentliche<br />
Prüfungen des Könnens und Sollens durch den Ernstfall; Mythen welche<br />
dementsprechend entweder die Überwindung von Angst und Furcht als<br />
Voraussetzung dafür darstellen, sich überhaupt der Herausforderung stellen<br />
zu können, oder ein bestimmtes Urvertrauen in das erworbene und von seiner<br />
Kultur vermittelte Wissen und Können vorstellen, das im Ernstfall auf die<br />
Probe gestellt wird. Sie repräsentieren also auch einen Typus des Übergangsmythos,<br />
eine Typus von Mythen der Prüfung und der Bewährungsproben.<br />
Die Herausforderung kann die Zustände, Verhältnisse oder Sitten eines Volkes<br />
generell betreffen, ja den ganzen Kosmos überhaupt oder den Charakter,<br />
die Reife oder das Können von bestimmten Person ansprechen.<br />
Die Gefahren, die herausfordern, werden stets ambivalent vorgestellt, also<br />
nicht ausschließlich negativ, weshalb es auch nicht um deren bloße Abwehr<br />
geht, sondern um den Gewinn, den die Überwindung oder Bewältigung der<br />
Gefahr verspricht. Es geht bei den Gefahren, die herausfordern, vor allem um<br />
die Chancen, die Rettung oder den Schatz, die ihre Übrwindung versprechen,<br />
und ohne diese Leistung nicht zu erwerben sind.<br />
Die Gefahren der <strong>Drachenkampf</strong>mythen erscheinen als der Preis der aufzubietenden<br />
Mühen für den Erwerb der in Aussicht gestellten Schätze, welche den<br />
Helden erst dazu zu bewegen vermögen, ihnen überhaupt entgegen zu treten,<br />
von Versprechungen des Glücks, des innerlichen wie äußerlichen Gewinns,<br />
versteckt hinter dem Schrecken und den Todesdrohungen, mit denen sie jeden<br />
anderen als den Helden davon abhalten, sich ihnen zu stellen, versteckt hinter<br />
den Beispielen an Leid und Schmerz oder den Nachrichten vom Tode der<br />
Gescheiterten, die das ihre dazu beitragen, eine Mehrzahl davon abzuhalten,<br />
die Herausforderung anzunehmen. Wenn die herkömmlichen Tugenden, Regeln<br />
und Bräuche der Gemeinschaft zur Abwehr der Gefahren im Ernstfall<br />
oder Notstand nicht mehr ausreichen, dann hofft sie auf den Helden, der nicht<br />
nur die Gefahren überwindet, sondern auch nach der Aufhebung des Notstandes<br />
ihre Ordnung bestätigt und sich eingliedert in die Gemeinschaft.<br />
Das typische Erzählschema des <strong>Drachenkampf</strong>mythos ist die Geschichte der<br />
Herausforderung eines meist jugendlichen Helden durch eine tödliche Gefahr<br />
(Grenzsituation, Ernstfall), vergegenständlicht in der Gestalt eines Ungeheuers,<br />
meist reptilischen Wesens, welches dem Helden entweder etwas verweigert,<br />
was ihm oder seinem Volke zusteht, oder welches ihn oder sein Volk
unmittelbar an Leib und Leben bedroht, und damit dessen oder deren Entfaltungs-<br />
und Entwicklungsmöglichkeiten bedroht oder beeinträchtigt. Dementsprechend<br />
variieren auch die Bilder des Helden, der Gefahr und des Schatzes<br />
mit den Optionen des Ausgangs der Handlung, aber vor allem mit der Kultur<br />
und dem Entwicklungszustand der Gesellschaften, welche diese Mythen oder<br />
Sagen erzählen.<br />
5
6<br />
I<br />
Das heutige Drachenbild<br />
<strong>Der</strong> Anblick der Drachenbilder, gezeigt entweder in der Kultsymbolik<br />
oder vorgestellt in den Mythen, Märchen und Sagen der Welt, läßt den<br />
Betrachter unwillkürlich an Saurier denken, an jene ausgestorbenen<br />
Tierarten, die im Kontext der gegenwärtig wieder brisanten Katastrophentheorien<br />
der Astronomie und Geologie die Rolle von Kronzeugen<br />
übernommen haben, um verschiedenen Theorien (z.B. der Hypothese<br />
vom Sonnebegleiter Nemesis, der Theorie von den irregulären Polschwankungen<br />
oder von der Explosion einer Supernova 1 ) als Beleg zu<br />
dienen.<br />
Selbst die biologische Bestimmung dieser Artengruppen ist heute<br />
strittig geworden. Galten sie früher unbestritten als Echsen, so gibt es<br />
mittlerweile schwerwiegende Einwände gegen diese Auffassung.<br />
Nachdem thermische Versuche 2 die Zuordnung der großen Saurier zu<br />
den Kaltblütern erheblich in Zweifel gezogen haben, steht neuerdings<br />
fest, daß sowohl Dino- als auch Pterosaurier Warmblüter waren, wie<br />
die Pseudosuchier auch, von denen beide Typen heute abgeleitet<br />
werden. 3<br />
Obwohl die Assoziation der Mythen- und Märchengestalten mit den<br />
Sauriern durchaus aktuell zu sein scheint, und auch von Paläontologen,<br />
Astronomen und Geologen ständig wachgehalten wird, ist sie keineswegs<br />
modern. Schon einige Paläontologen und Biologen der Jahrhundertwende<br />
(O.Abel, E.Dacque, W. Bölsche etc.) hatten gegen die<br />
Meinung ihrer Zeit die Drachen der Mythologie mit den Sauriern ihres<br />
Fachgebietes in Beziehung gebracht und die Behauptung aufgestellt,<br />
daß die fühesten Formen des Menschen mit diesen Urwelttieren schon<br />
zusammengelebt hätten, und daß deren Erfahrung mythologisch verar-<br />
1 Russel, Tucker, Supernovae and the Extinction of Dinosaurs, Nature,229, 1971,<br />
S.553<br />
2 Colbert, Cowles, Bogert, Rates of Temperature Increase in the Dinosaurs, Copeia<br />
1947, S.141-2; und C.M.Bogert, How Reptiles Regulate their Body Temperature,<br />
Scientific American 200,4, 1959, S.105-120<br />
3 Bakker, Galton, Dinosaur Monophyly and a New Class of Vertebrates, Nature 248,<br />
1974, S.171
eitet auf uns gekommen wäre. Diese Spekulationen sind auch durch<br />
die jüngsten Frühmenschenfunde, welche das Alter des Menschen immer<br />
weiter in die Vergangenheit zurück verlegen, noch nicht widerlegt,<br />
aber trotz der sensationellen Funde menschlicher Fußabdrücke neben<br />
den Abdrücken des Brontosaurus aus der Kreidezeit an der Uferbank<br />
des Paluxy-Flusses (Texas) allerdings auch noch nicht zweifelsfrei<br />
bestätigt worden.<br />
Obwohl also diese Hypothesen aus dem Umfeld der Astrophysik, der<br />
Erdgeschichte und der Paläontologie unbedingt anregen, zumal sogar<br />
menschliche Fußabdrücke in der Karbonformation gefunden wurden,<br />
und die Bedeutung ihrer Klärung nicht hoch genug veranschlagt werden<br />
kann, verliert man in ihrem Horizont das mythologische Problem<br />
selbst aus dem Auge, das die Drachenmärchen und speziell die <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />
uns stellen, deren Bearbeitung man aber auch nicht<br />
allein dem modernen Mythos der Psychoanalyse überlassen sollte. Sowohl<br />
die Historisierung der Drachenmythen und Drachenmärchen mit<br />
Hinweis auf die Ergebnisse der genannten Naturwissenschaften als<br />
auch die Übersetzung ihrer Geschichten in die Schemata der Persönlichkeitsentwicklung<br />
verlassen die Ebene von Mythos und Märchen<br />
und reduzieren sie auf die Rolle von Beispielen für moderne Paradigmata,<br />
die auf ganz anderen Wegen der Erkenntnis gefunden worden<br />
sind als auf dem Wege des mythischen Bewußtseins.<br />
Es paßte den Psychoanalytikern gut, daß die offizielle Auffassung der<br />
Paläontologie über das Alter des Menschen eine Begegnung des Menschen<br />
mit den Sauriern ausschloß, so konnten sie schließlich auch das<br />
<strong>Drachenkampf</strong>motiv als ein rein psychogenes Motiv postulieren. Die<br />
Schule von Jung zählt es zu den Archetypen des kollektiven Unbewußtseins.<br />
Tiefenpsychologisch steht der Drache für das Streben und<br />
die Vitalität, die noch nicht von der Vernunft gezähmt worden sind, für<br />
den Kampf mit sich selbst, d.h. mit den eigenen Trieben. Und da der<br />
Drache in uns im Verlaufe der Persönlichkeitsentwicklung meistens<br />
besiegt wird, repräsentiert der <strong>Drachenkampf</strong> dann auch einen Übergangsprozeß<br />
von einer Entwicklungsstufe zur nächsten, der Sieg dann<br />
den erfolgreichen Abschluß einer früheren Entwicklungsstufe und den<br />
Eintritt in eine neue. <strong>Der</strong> Held erscheint als das entwickelte Ich, das<br />
endlich die Führung des Verhaltens der Persönlichkeit übernommen<br />
hat und die Forderungen seiner Antriebe von dieser Realfunktion<br />
(=Ich) her beurteilt, erfüllt, verdrängt oder verweigert. In einer Perspektive,<br />
die sich besonders auf die Prägungen in der seelischen Entwicklung<br />
der Kindheit bis zur Pubertät konzentriert, wird der Kontra-<br />
7
8<br />
hent der Selbstentfaltung schnell zum Drachen, der gebändigt, wenn<br />
nicht gar getötet (überwunden) werden muß. <strong>Der</strong> dramatische Konflikt<br />
der Handlung steht für das familiäre Gruppendreieck: Vater-Mutter-<br />
Kind (Geschwister) und die Beziehungen der Märchenpersonen<br />
verarbeiten die elementaren familiären Konflikte zwischen Vater und<br />
Sohn, Vater und Tochter, Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, älterem<br />
und jüngerem Bruder, Bruder und Schwester. In diesem Kontext<br />
soll etwa das Brüdermärchen den Identifizierungskonflikt in der<br />
ödipalen Situation vorstellen, und zwar am Beispiel der Übertragung<br />
der feindlichen Gefühle vom Vater auf den älteren Bruder (Geschwisterneid).<br />
Die Heldensage wird als Drama des Generationskonflikts gedeutet,<br />
seine Szenen im Märchen dagegen als Abwehr dieses Konfliktes,<br />
als Warnung vor der Auflehnung gegen die Autorität.<br />
Jung und seine Schule unterscheiden sich von der psychoanalytischen<br />
Märchendeutung durch die Wahl eines anderen seelischen Referenzkonflikts<br />
und einer anderen Entwicklungsperiode als Referenzperiode,<br />
vor derem Hintergrund sie die Motive der Mythen und Märchen deuten.<br />
Rekurriert die Psychoanalyse bevorzugt auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />
der Kindheit bis zur Pubertät, so bezieht sich die Schule<br />
Jungs auf den Zeitraum der Lebensmitte. Nach der persönlichen, sozialen<br />
und wirtschaftlichen Integration in die Welt der Erwachsen, nach<br />
Berufswahl, Statuserwerb und Ehestand, wird schließlich eine Zwischenbilanz<br />
gezogen. Es meldet sich die Frage nach dem Sinn des Lebens.<br />
Die Realität des Todes wird erneut zum Problem. Transzendenz<br />
oder ihr Fehlen, Seelentiefe oder Oberflächlichkeit werden in dieser<br />
Entwicklungsperiode wieder stärker erfahren. Die Blickrichtung auf<br />
die Welt wird jetzt nach innen gewendet. Die Beziehungen von<br />
Bewußtsein und Unterbewußtsein, zwischen der inneren und der<br />
äußeren Welt, stellen sich auf der Höhe der Reife als ihre Prüfung neuerlich<br />
vor.<br />
Auch in dieser Perspektive wird der <strong>Drachenkampf</strong> in die Innenwelt<br />
verlegt, aber der Preis des Kampfes und die Begegnung mit der Prinzessin<br />
wird jetzt als Integration von Verstand und Gefühl gedeutet, von<br />
Geist und Seele, und deren Usurpatoren oder Erbschleicher als unbegründete<br />
oder zum Scheitern verurteilte Prätentionen. <strong>Der</strong> Unterweltsaufenthalt<br />
der Helden, ihr Suchen in transzendenten Sphären,<br />
wird in diesem Kontext dann zur Suche nach dem eigenen Selbst, zum<br />
Verlangen nach Selbstverwirklichung.<br />
Alles im Mythos wie im Märchen wird in der psychologischen Interpretation<br />
zu Repräsentanzen des Psychischen, der Periodisierung seiner
Äußerungen, zu Gleichnissen des Verhaltens, des Konflikts, des Komplexes<br />
oder der Strukturen, die das Verhalten integrieren, d.h. Mythos<br />
und Märchen verwandeln sich unter der Hand der Psychologen<br />
unversehens in die literarische Form der Allegorie. Wir haben es also<br />
in den meisten Fällen psychologischer Deutung weniger mit einer Mythen-<br />
und Märchendeutung als vielmehr mit einer paraphrasierenden<br />
Neuschöpfung psychologischer Allegorien zu tun, wenn die Interpretation<br />
sich ausschließlich auf die Schlüssel der Psychologie beschränkt.<br />
<strong>Der</strong> Psychologe beutet die Symbolwelt des Mythos und des Märchens<br />
aus, um die Träume, die er zu deuten versucht, in weitere sinnvolle<br />
Zusammenhänge des Geistes stellen zu können, oder er reduziert diese<br />
Gattung auf das System seiner Traumdeutungen, wenn ihn die oft<br />
verblüffenden Übereinstimmungen dazu hinreißen und vergessen<br />
lassen, daß sein Vergleichen nur ein Abspiegeln verschiedener Formen<br />
des Geistes ist, die man nicht ohne triftige Gründe auf einander reduzieren<br />
oder aus einander ableiten kann.<br />
Dieser allegorisierende Umgang der Psychologen mit überliefertem<br />
Geistesgut ist durchaus<br />
abendländische Tradition. Sie<br />
hat ihre Vorläufer und Vorbilder<br />
in den Beispielen der christlichen<br />
Integration und Umdeutung<br />
autochthonen, d.h. von ihm<br />
selbst als heidnisch abqualifizierten<br />
Traditionsgutes. Im<br />
Zusammenhang unserer Thematik<br />
dürfte wohl das bekannteste<br />
Beispiel die Legende vom hl.<br />
Georg sein. Georg von Lydda, ein Heerführer des Kaisers Diocletian,<br />
der als Märtyrer seines Glaubens starb, soll vor seinem Opfertod noch<br />
einen Drachen besiegt haben, der die Königstochter Cleolinde als<br />
Opfer für sein Wohlverhalten forderte. <strong>Der</strong> dankbaren Cleolinde<br />
erklärte Georg nach seiner Heldentat, daß die Kraft, welche seinen<br />
Sieg ermöglicht hatte, von Gott gekommen wäre und deshalb auch<br />
Gott als der wahre Sieger dieses Kampfes angesehen werden müßte,<br />
woraufhin das Volk der Prinzessin Cleolinde zum Christentum konvertierte.<br />
Zeitraum und Ort dieser Legendenbildung lassen unschwer erkennen,<br />
daß wir mit ihr nur eine christlich überarbeitete Fassung aus der<br />
Heilsgeschichte des Mithras-Kultes vor uns haben, der unter den römi-<br />
9
10<br />
schen Soldaten weit verbreitet und populär war. Aus dem Sonnenhelden<br />
Mithras wurde hier die Allegorie des heiligen Märtyrers Georg,<br />
der wie Mithras einen Drachen besiegte und damit seine göttliche<br />
Macht (im Falle Georgs, die stellvertretende Ausübung dieser Macht)<br />
als Drachentöter unter Beweis stellte. Diese Legitimationsfigur erlaubte<br />
es den an diese Einkleidung der Heilsgeschichte bereits gewöhnten<br />
Konvertiten, auch weiterhin an älterem Glaubensgut festzuhalten.<br />
Das Argument für die Konversion zum neuen Glauben lieferte<br />
hier, ähnlich wie in vielen anderen Fällen auch, der alte Glaube, ein<br />
Mythologem dieses Glaubens, der als Allegorie des neuen Glaubens<br />
dann nicht nur weiter gepflegt werden durfte, sondern für die Konvertiten<br />
zur Basis des neuen Glauben wurde.<br />
Vergleichbare christliche Adaptionen des <strong>Drachenkampf</strong>motivs, welche<br />
die lokalen Sondertraditionen berücksichtigt haben, sind die Legenden<br />
der Heiligen: Adelphus (Metz), Clemens (Bretagne) Gilles de<br />
Chin (Belgien), Martha (Tarascon), Beautus (Schweiz) und Margarethe<br />
(Tirol).
Zur Herkunft des Wortes: Drachen<br />
Das Wort "Schlange" ist eine ablautende Bildung des Zeitworts<br />
"schlingen" in der Bedeutung von "sich krümmen". Die spätnordische,<br />
althochdeutsche und altsächsische Wortbildung scheint vom mittelnordischen<br />
Wort slango abgeleitet zu sein. Dieses Wort verdrängte langsam<br />
die germanischen Worte: Natter, Unke und Wurm.<br />
Unke steht neben lat. angius, das gleichfalls durch serpens verdrängt<br />
wurde, und zwar seiner numinosen Bedeutung<br />
wegen, und beide gehören zur<br />
indogermanisch-hamitisch-semitischen<br />
Wurzel 4 ank, für welche die alten Ägypter<br />
ein spezielles Zeichen (i) schrieben,<br />
dessen fruchtbarkeitskultische Deutung<br />
es als Kombination aus Lingam (oder<br />
Hammer) und Yoni (oder Ring) auffaßt,<br />
als mythisches Symbol des Uranfangs<br />
und damit als Symbol mann-weiblicher<br />
Einheit oder als Einheit von Himmel und<br />
Erde, oder yang und yin (☯), die alles<br />
Seiende und Lebendige hervorbringt und deshalb selbst auch als androgynes<br />
Wesen vorgestellt wird. In der Umgangssprache kursiert das<br />
Ank-Symbol als Henkelkreuz (i).<br />
Die Schlangenungeheuer stehen im Mythos als chthonische, tellurische<br />
Wesen und Kräfte den lichten Wesen und Prinzipien meistens herausfordernd<br />
und drohend gegenüber, werden aber<br />
nicht nur diesen polar gegenübergestellt,<br />
sondern erscheinen als "gefiederte Schlangen"<br />
(Quetzalcoatl, Kukulkan etc.) oder als Drachen<br />
auch als Bild des Lichtwirkens. "Feurige fliegende<br />
Schlangen" kommen nach Jesaia (XXX,6)<br />
aus Ägypten und Chaldäa.<br />
= ich sehe, sagt der Grieche und<br />
ist wörtlich der "scharf Blickende". Dieser Hinweis auf<br />
Hellsichtigkeit oder auf übermäßige Intelligenz, der im griechischen<br />
Wort anklingt, findet sein Echo im Chinesischen, wo der Drache<br />
4 Russische Linguisten sprechen von der „nostratischen Sprachfamilie“.<br />
11
12<br />
"lung" genannt wird, was bedeuten soll: "das Wesen, das sich durch<br />
Intelligenz auszeichnet". Aber auch der Schlangenstab, der Caducaeus<br />
der Kabiren, des Merkur oder Aeskulap, des Moses (4Mos 21,8) oder<br />
Thot, verweist auf die gleiche Bedeutung, auf die Klugkeit und Weisheit,<br />
die auch der neutestamentliche Jesus der Schlange bescheinigte.<br />
„Seid klug wie die Schlangen“ (Mt 10,16).<br />
<strong>Der</strong> negative Namensgebrauch ist auch hier nicht der ursprüngliche,<br />
aber in den Metamorphosen des Ovid (7,120 f) steht die Drachenzahnaussaat<br />
des Kadmos als Inbegriff für die Aussaat der Zwietracht. <strong>Der</strong><br />
Akzent liegt auch in diesem Mythologem nicht ausschließlich auf der<br />
Bedeutung der Zwiespältigkeit. Die Drachenabkunft begründet die autochthone<br />
Herkunft der Spartaner, d.h. sie erklärt, wieso Menschen, die<br />
immer von einem Vater und einer Mutter abstammen, d.h. von zwei<br />
Wesen verschiedener Abstammung, denselben Ursprung haben (Drache→<br />
Ursprung) und wie Pflanzen gleichsam aus dem Boden hervorwachsen,<br />
was sie anders ohne fortgesetzten Inzest nicht könnten. Weil<br />
aber dieser Aussaat des Volkes ein Gewaltakt, ein Tod, vorausging,<br />
haftet ihr auch der zwiespältige Charakter an, der ihr zugrundelag. Von<br />
den sich gegenseitig ermordenden Σπαρτοι blieben nur fünf als Gefolgsleute<br />
und als Krieger des Kadmos übrig. Obwohl Kadmos einen<br />
Drachen, der seine Gefolgsleute fraß, getötet hatte, berichtet die Heroenlegende<br />
von der Verwandlung des Kadmos und seiner Gattin Harmonia<br />
in Schlangen, nachdem sie Theben verlassen und die Regentschaft<br />
an ihren Sohn Polydoros abgegeben hatten, um sie, die Gründer<br />
eines neuen Geschlechtes und einer Dynastie, als chthonische Gottheiten<br />
oder göttliche Ahnen (Rückkehr in den Ursprung) auszuweisen. So<br />
wurde von Kadmos nicht der Drache schlechthin getötet, sondern nur<br />
jener, der die Ahnen eines anderen, feindlich eingestellten Geschlechtes<br />
repräsentierte, das nun von der Dynastie des Kadmos abgelöst<br />
wurde.<br />
Neben der religiösen Bedeutung erkennen einige in diesem Mythos<br />
auch den Bericht von Stammeskämpfen, von dem Wechsel der Filiationsregel<br />
als rechtlicher Zuschreibungsform und der damit verbundenen<br />
lokalen Besitzrechte. <strong>Der</strong> Eroberer und Sieger über die Autochthonen<br />
wird später, und zwar mit der Zeitdauer, in der sein Übernahmeanspruch<br />
die Geltung behaupten kann, selbst ein Autochthoner.<br />
Es wird sich zeigen, daß nur eine Kulturepoche den Drachen ausschließlich<br />
negativ zeichnet, seine chthonischen Attribute durchweg<br />
diabolisiert, nämlich die christliche Epoche Europas, welche den Hel-
lenismus und die religiösen Sondertraditionen des anderen Missionsraumes<br />
abgelöst hat.<br />
<strong>Der</strong> Drache als Urwesen und Ursprungsgestalt, als Wahrer und Wächter<br />
der tiefsten Geheimnisse, im Märchen als Hüter der mannigfaltigen<br />
Schätze, mit der Anspielung auf seine Hellsichtigkeit, die mit dem<br />
Vorhandensein eines realen dritten Auges bei Reptilien und Echsen<br />
(Parietalorgan, das bei den Säugetieren zur Zirbeldrüse verkümmert<br />
ist) gut zusammengeht, ist wohl das mythische Vorbild der griechischen<br />
Wort- und Namenswahl und macht seine semantische Verwendung,<br />
speziell zur Bezeichnung von besonderen Schlangen und Echsen<br />
und den ihnen ähnlichen Fabelwesen verständlich. Noch in diesem<br />
Wesen selbst erscheint also jener Zwiestreit, von dem die Mythen<br />
handeln, in denen sie die Hauptrolle spielen. Die Empfindlichkeit für<br />
das Lichte und Geistige, welche im Parietalorgan zum Ausdruck<br />
kommt, und die erdverbundene Schlangengestalt des Körpers (ohne<br />
Extremitäten), welche das tellurische Wesen dieses Tieres wie bei keinem<br />
anderen Tiere unterstreicht, macht es zum Inbegriff des Geheimnisses<br />
der Einsenkung des Geistes in die Materie, in den Stoff, in die<br />
Erde.<br />
<strong>Der</strong> Ableitung des Lehnwortes "Drachen" von lat. "draco" steht eine<br />
andere ebenso wahrscheinliche Ableitung von dem germanischen<br />
"Track" gegenüber, der nicht nur als ein bösartiges Wesen dargestellt<br />
wurde, sondern auch als Diener seines Herrn, der ihn unterworfen<br />
hatte. <strong>Der</strong> in Grimms "Deutscher Mythologie" erwähnte Milchtracken,<br />
der den Kühen die Milch aussaugt, ist eine der bekannteren Trackengestalten.<br />
Dieses "track" könnte auf idg. trak= "ziehen, sich bewegen"<br />
oder auf idg. trak= "drehen, drängen, drücken" zurückgehen. Genauso<br />
möglich wäre aber auch, das germanische Track als eine Dialektabweichung<br />
des Wortes „Drache“ (nach draco) anzusehen, nachdem es<br />
einmal als Lehnwort Eingang in die Sprache gefunden hat. Welche<br />
Wurzel dem Drachennamen zugrunde zu legen ist, werden die Etymologen<br />
entscheiden müssen.<br />
13
14<br />
<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> als Bewährungsprobe<br />
Schon der oberflächlichen Lektüre von <strong>Drachenkampf</strong>mythen und -sagen<br />
fällt auf, daß der <strong>Drachenkampf</strong> eine besondere Form der Prüfung<br />
darstellt, und daß dementsprechend alle <strong>Drachenkampf</strong>versionen in<br />
den weiteren Kontext der Initiationsgeschichten zu stellen sind. Sie<br />
lassen sich nicht zuletzt auch deshalb nach drei Gesichtspunkten gliedern<br />
und vergleichen: 1) nach der in ihnen geschilderten Herausforderung,<br />
2) nach der von ihnen gezeichneten Natur der Herausforderer<br />
und 3) nach dem Charakter der Individuen und Mächte, welche auf die<br />
Herausforderung antworten.<br />
Beispiele:<br />
Die Herausforerung kann einmalig und schicksalshaft begründet sein,<br />
sie kann als reguläre Übergangsbedingung von Entwicklungsprozessen<br />
zwischen Reifestadien oder Wissensstufen erscheinen, die mit einer bestimmten<br />
Lebensform, mit geschlechtlicher Identität, mit einer kulturbedingten<br />
Lebensweise oder mit Altersgraden und Statuserwerb zusammenhängen,<br />
und dann als regulärer Begleitumstand der leiblichen,<br />
seelischen und geistigen, der beruflichen, ständischen und persönlichen<br />
Entwicklung in Erscheinung treten. Dann wäre der <strong>Drachenkampf</strong> nur<br />
ein Symbol für die Konflikte, welche die rites de passage (Übergangs-<br />
riten) zu regulieren hätten.<br />
rites de passage<br />
Übergangsriten Trennungsriten Eingliederungsriten<br />
liminale Riten präliminale Riten postliminale Riten<br />
Schwangerschafts- Trauer Riten Heirats- Riten<br />
Verlobungs- Riten<br />
Initiations- Riten A.v.Gennep, ibid, S.11<br />
Arnold van Gennep, The Rites of Passage, London 1960<br />
<strong>Der</strong> Herausforderer wird, wie es in einer Kategorie von Geschichten,<br />
die durch seine Natur bestimmt werden, nicht anders zu erwarten ist,<br />
durchgängig als Drache vorgestellt, aber seine besonderen Eigenschaften<br />
und seine Wesensart variiert mit dem Charakter der Herausforderung,<br />
welche er sich selbst, seinen Opfern, Prüflingen, Heranreifenden
oder Initianden bereitet. Das Schicksal prüft den Mann, die Initiation<br />
den Jüngling oder Freund der Weisheit, die Aufgabe prüft den Meister,<br />
das Leben prüft den Heranreifenden, seine Selbstfindung und seine<br />
Integration in die Möglichkeiten, welche Kultur und Gesellschaft jedem<br />
Einzelnen und jedem Geschlecht bereithalten.<br />
Im Rahmen dieser Alternativen variiert dann auch die Gestalt der Person,<br />
welche die Herausforderung beantwortet, welche sich der Prüfung<br />
stellt, welche die Aufgabe übernimmt, welche ihr Schicksal annimmt,<br />
welche nach Weisheit und Selbstvollendung verlangt, ihre Tugenden<br />
unter Beweis stellen oder ihre Wünsche befriedigen will.<br />
Die Herausforderung wird dann in den <strong>Drachenkampf</strong>geschichten entweder<br />
kosmologisch, vegetationsmythisch, jahreskreislich, aitiologisch,<br />
stammesgeschichtlich oder sittlich, d.h. entweder als universale<br />
und regionale kosmische Katastrophe (Weltflut, Weltbrand, Entvölkerung,<br />
Winter, Dürre, Absterben etc.) oder als Bedrohung der Ordnung<br />
der kosmischen, sozialen, religiösen oder sittlichen Welt dargestellt<br />
oder schließlich als die Bedrohung der Seele und ihrer verhaltensgestaltenden<br />
und ansteckenden Kräfte.<br />
Auch die gleichfalls in aller Welt<br />
vorkommenden Seelendrachen<br />
oder die Seelenschlangen, die in<br />
den romanischen Bildnissen Europas<br />
stets doppelt und ineinander<br />
verschlungen dargestellt wurden<br />
(vielleicht keltischer Einfluß), oder<br />
die (wie auf der Hartmannssäule<br />
der Domkapelle in der Goslaer<br />
Kaiserpfalz) aus dem Munde eines<br />
Menschenhauptes heraustreten und<br />
ihre Hälse über dem Haupt ineinander<br />
verschlingen, sollen hier<br />
nicht unerwähnt bleiben, weil dieser Seelendrachenglauben mit der<br />
Symbolik der kosmologischen Drachen oder Schlangen direkt verbunden<br />
ist, wie man das noch ganz deutlich in Nordwest-Australien (Ungarinyin,<br />
Unambal, Worara) in der Beziehung der welterschaffenden<br />
Ungud zu den Ungud-Wondjina oder Ungur als den inkarnationsbereiten<br />
Seelen und Seelen Verstorbener sehen kann.<br />
15
16<br />
Dem Goslaer Bilde, das in dieser Gegend häufiger vorkommt, entsprechen<br />
z.B. eine Abbildung auf einem nigerianischen Kultgefäß 5 und das<br />
Ritual des Tschöd Lama in der Jonangpa-Tradition, bei dem zwei<br />
Schlangen aus dem Mund oder den Nasenlöchern des praktizierenden<br />
Lama austreten, sowie die dazugehörigen tibetischen und nepalesischen<br />
Abbildungen. Dieses Ritual gehört unmittelbar zum Seelen- und<br />
Totenglauben des nichtreformierten Lamaismus.<br />
Über die weite Verbreitung eines vergleichbaren Glaubens auch im<br />
ältesten Deutschland erfahren wir aus kunstgeschichtlichen Quellen. 6<br />
Auch diese in die Mysterien gehende Wendung des <strong>Drachenkampf</strong>es<br />
als einem Kampf des Heroen (auch als fortwirkende Seele begriffen)<br />
gegen seine niederen Instinkte oder<br />
gegen das Böse, gegen seine Schwäche<br />
und Hinfälligkeit (Initiationsmythe)<br />
muß hier also berücksichtigt werden,<br />
denn der Seelendrachenglauben<br />
ist, wenn er noch mit dem lebendigen<br />
Mythos verbunden ist, nur eine mikrokosmische<br />
Version des kosmologischen<br />
<strong>Drachenkampf</strong>es. In dieser Welt<br />
oder Kultur heißt es noch: „Unten so<br />
wie Oben“.<br />
Entsprechend fällt die Begründung der<br />
Situation aus, in welche die Mythe die<br />
Handlung versetzt: einmal ist es der<br />
Kampf um die Vormacht im Pantheon<br />
(mesopotamisch, ägyptisch, griechisch,<br />
germanisch, chinesisch, japanisch etc.), dann ist die Mythe<br />
theogonisch-kosmologisch. Diese Fassung löst das Bild vom kosmologischen<br />
Gleichklang des Werdens und Vergehens, des Lebens und<br />
Sterbens oder von yin und yang ab. <strong>Der</strong> geschlossene Drachenring löst<br />
sich auf in seine zwei Pole, die sich nun dramatisch bekämpfen. Aus<br />
jener Konsonanz ist diese Dissonanz zwischen Leben und Sterben<br />
hervorgegangen.<br />
<strong>Der</strong> Vorgang der Polarisierung aus dem Ring der Einheit läßt sich nach<br />
drei symbolischen Schemata unterscheiden: 1) <strong>Der</strong> Schlangenring aus<br />
5 Ritualgefäß von Koiwo Layout, Ife Nationalmuseum Lagos, Inv. Nr. 79 R 13<br />
6 H.Karlinger, Die romanische Steinplastik in Altbayern und Salzburg, Augsburg<br />
1924; E.Jung, Götter und Helden in christlicher Zeit, München 1922
einer Schlange, die sich frißt und selbst gebiert, 2) der Schlangenring<br />
aus zwei Schlangen, die sich gegenseitig zu fressen versuchen oder<br />
ausspeien und dementsprechend entweder einander verschlingen oder<br />
auseinanderhervorwachsen (die neue erbrechen). Hier wird die Möglichkeit<br />
des Sieges einer der beiden Schlangen als Schein gedeutet,<br />
denn die Steigerung der Mächte der einen Seite zieht automatisch eine<br />
Steigerung auch der Kräfte der anderen Seite nach sich.<br />
Die Vorstellung vom Sieg einer Partei in diesem Kampf erscheint erst,<br />
nachdem der Schlange nur noch eine Hälfte des kosmologischen Raumes<br />
zugeordnet wird, den die Schlange dann vertritt, und nach der<br />
ethischen Festlegung der Seite, zu der die Schlange gehört, und zwar in<br />
beiden Alternativen: die Schlange entweder als Sieger oder Verlierer,<br />
wodurch sie kosmologisch entweder als Repräsentant des Lebens oder<br />
der Todeskräfte gedeutet wird, d.h. dementsprechend auch das Schicksal<br />
des Kosmos.<br />
3) Die Ausdifferenzierung des Ringes in verschiedene Bilder seiner<br />
Kräfte, von denen das Bild der Schlange zur Darstellung der negativen<br />
Kräfte beibehalten wird, während<br />
die positive Seite entweder<br />
durch die Mutter oder durch den<br />
siegreichen, lichten Helden<br />
dargestellt wird. Aber auch in<br />
dieser ikonographischen Differenzierung<br />
können die Vorzeichen<br />
von Gut und Böse vertauscht<br />
sein und der Drache<br />
oder die Schlange die gute Seite<br />
und dementsprechend der<br />
menschliche oder nicht-drachenhafte Widerpart die böse Seite verkörpern.<br />
In den Versionen des Kindhelden kulminiert der kritische Zustand,<br />
während der Held schläft oder noch ein Kind ist, das erst noch aufwachsen<br />
muß (tartarisch, belorussisch, persisch), oder noch im Mutterleib<br />
auf seine wunderbare Geburt wartet oder durch andere entsprechende<br />
Mängel oder Zeitumstände behindert ist, seiner Aufgabe gerecht<br />
zu werden. Als Mythos ist die Episode häufig kosmologischvegetationsmythisch,<br />
kosmologisch-jahreskreislich oder stammesgeschichtlich.<br />
Sie projiziert eine Krisis genealogischer Kontinuität auf<br />
den Kosmos, den Stamm oder die herrschende Dynastie, die problematische<br />
Ablösung einer Generation durch die ihr nachfolgende, und<br />
17
18<br />
zwar, wenn die Alten zu früh, d.h. vor der Reife der Nachkommen,<br />
absterben. Dem Verstand erscheint jede Krise verfrüht, da die Gegenmittel<br />
in ihm noch nicht herangereift sind.<br />
Eine weitere Situation geht von einer Katastrophe aus und schildert,<br />
wie nach ihr durch das Wirken des Helden oder der Helden die Menschen<br />
des Volkes erscheinen, die diese Mythe erzählen. Dann ist sie<br />
aitiologisch-stammesgenealogisch oder kosmologisch-aitiologisch. <strong>Der</strong><br />
Drache muß hier getötet werden, damit aus ihm, wie in der thebanischen<br />
Mythe, in der die Menschen aus der Erde aufwachsen, die Menschen<br />
aus ihm selbst wiedergeboren (von ihm befreit) werden können.<br />
In diesen Beispielen bewacht der Drache keine Schwelle oder Grenze,<br />
sondern er erfüllt selbst die Funktion der Schwelle, des Tores. Bei den<br />
völkerverzehrenden Drachen erscheint die Ambivalenz der Drachennatur<br />
ganz unverstellt: er gebiert, was er verschlingt, oder: er verschlingt,<br />
was er gebiert. Das sagt man auch von der „Großen Mutter“.<br />
Als Herausforderer erscheinen dementsprechend Gottheiten des dunklen<br />
Prinzips, Ungeheuer oder Katastrophen, Invasionen oder Unterdrückung<br />
und diese Kategorien erscheinen einzeln oder kombiniert,<br />
auf einzelne Individuen bezogen oder auf Herausforderergruppen mit<br />
ihrem Anführer.<br />
<strong>Der</strong> Herausforderer, der Drache oder die Schlange, erfüllt in den Mythen<br />
drei Funktionen: er ist Hüter und damit auch Vermittler übersinnlicher<br />
Mächte (ihr Gewinn ist die Voraussetzung des Heldentums,<br />
um das gerungen wird), er ist also ein Wächter der Schwelle, die nur<br />
der Held überschreiten kann; er ist Beherrscher der Unterwelt, der<br />
Winterwelt, der kosmologisch negativen Kräfte, d.h. er ist die Ursache<br />
des Todes wie er die Quelle des (neuen) Lebens ist, und endlich ist er<br />
Weltschöpferin oder Materiallieferantin der Weltschöpfung; dann erscheint<br />
er stets als der Grund des Seins. In verschiedenen mystischen<br />
Systemen repräsentieren diese drei Funktionen wiederum nur drei<br />
Aspekte einer einzigen Bedeutung. <strong>Der</strong> Drache erscheint als Inbegriff<br />
des Komplementärs von und , von und ,<br />
d.h. als , in der ja „das Aufgehen von sich her“ und das in sich<br />
zurückgehende Walten des Seins begriffen wurde.<br />
Diese drei Bedeutungskomplexe (Wächter, Lehrer, Schöpfer oder negativ:<br />
Angreifer, Verführer, Zerstörer) respektive ihre Integration korrespondieren,<br />
unter dem Aspekt ihrer einseitigen Betonung, jeweils mit<br />
Zeit- und Kulturstufen, die sie in dieser Akzentuierung bevorzugen:<br />
mit dem Zeitalter der Heldensage, deren Träger meist durch die neo-
lithische Revolution hindurchgegangene Hirtenvölker im Stande eines<br />
Erobereradels sind, ihr Drachenschatz ist das metallurgische Geheimnis<br />
(Ring, goldenes Vließ etc); mit dem Zeitalter der Hochkultur und<br />
seiner neolithischen Vorbereitung, in der der Ackerbau dominiert, ihr<br />
Drachenschatz sind die paradiesischen Gärten (Hesperiden) und Wunderfrüchte,<br />
sowie mit dem Zeitalter des Wildbeuter- und Hackbauerntums,<br />
deren Helden ihre Völker aus dem Bauch der Drachen befreien<br />
müssen.<br />
Typische Drachenschätze sind in den Geschichten: Völker, Unterwelten,<br />
paradiesische Gärten (Hesperiden), Früchte (Äpfel), Kräuter (Lebenskraut,<br />
), Körner, Edelsteine (der Stein<br />
der Weisen), Ringe (Ring der Macht), und dementsprechend die Aufenthaltsorte:<br />
markante Bäume, Höhlen, Quellen, Tore, Türen.<br />
Gleichfalls zeigen die Mythen, daß sie den Drachen sowohl im Kontext<br />
einer dieser Bedeutungen als auch im Zusammenhange ihrer<br />
Kombination ansprechen, und in diesem Falle auch kulturhistorische<br />
Überschichtungen reflektieren können, dies aber nicht in jedem Falle<br />
müssen, wo Wandergut integriert worden ist.<br />
Schicksal und Aussehen der Drachen variieren auch: mehrköpfige Drachen,<br />
einköpfige Drachen, die getötet oder zerstückelt werden, damit<br />
aus ihren Teilen die Welt geschaffen werden kann, oder die weiter-<br />
und fortleben und das negative Vexierbild des Helden abgeben oder als<br />
Hüter der Schwelle das Übel von der Welt abwehren, oder jenen Ursprungsort<br />
des Lebens, die „heilig unbetretbaren Räume“ (Pindar), vor<br />
der Zudringlichkeit dieser Welt schützen.<br />
Ananta, die Schlange der Ewigkeit, die Vishnu durch das Manvantara<br />
trägt, die Ur-Shesha der Puranen oder die akkadische Schlange werden<br />
mit sieben Köpfen dargestellt. Die Assoziation der Zahl 7 mit diesen<br />
Urschlangen oder Urdrachen unterstreicht ihre kosmologische Ursprungsfunktion.<br />
Die drei schöpferischen Prinzipien (Bewußtsein,<br />
Trieb und Wille), die eine Seinsverbindung mit den vier Elementarpotenzen<br />
der Welt (Luft/Geist; Feuer/Wille; Wasser/Gefühl; Erde/Sittlichkeit)<br />
eine Verbindung eingehen (3+4) oder der Prozeß der<br />
sphärischen Periodisierung der Weltharmonie, der nach 7 Ton- oder<br />
Klangfolgen in der 8ten Folge zum ersten Urklang zurückkehrt, der<br />
Kreislauf, der sich in der Oktave vollendet, wie sie die Kosmogenesis<br />
schon im alten China vorstellt oder jene der Orphiker, erweisen sich als<br />
Gleichnisse desselben Prinzips, das der kosmologische Drache schon<br />
für sich verkörpert.<br />
19
20<br />
Auf die funktionale Äquivalenz des zerstückelten Weltdrachens mit<br />
dem zerstückelten Weltmenschen (Purusha, Panku, Ymir, Baiame etc.)<br />
soll hier auch hingewiesen werden. Die Völsungensage der Edda stellt<br />
diese Gleichung indirekt her. Fafnir ist der Sohn Hreidmars, des Riesen,<br />
an den der Schatz Andwaris ging, und Fafnir ist auch der Drache,<br />
den Sigurd auf der Gnitaheide besiegt.<br />
Die Gegenspieler (Helden) der Herausforderer (Drachen) werden als<br />
Götter, Gottheiten oder Helden, als frühreife Kinder, Jungen und Übermenschen,<br />
Schamanen oder als Initiationskandidaten dargestellt. In einigen<br />
wenigen Versionen erscheinen sie auch als Jungfrauen oder<br />
junge Frauen. Die Helden sind außerdem auch als "Heilbringer" zu erkennen.<br />
Sie treten entweder alleine auf oder haben hilfreiche Unterstützung<br />
aus der Zauberkraft ihrerselbst oder der ihrer Helfer. Auf diese<br />
Weise kommen Tiere und Sachen ins Spiel, die auf wundersame Weise<br />
oder wie Individuen das Handeln ihrer Meister unterstützen. Diese<br />
Helfer verweisen häufig auf einen schamanistischen Kontext in der<br />
Kultur, welche die Geschichte erzählt, oder auf eine einst gültige<br />
schamanistische Schicht in der Kulturentwicklung, besonders, wenn<br />
sie mit der Amputation von Körperteilen des Helden in Beziehung gebracht<br />
werden, die mit ihrer Hilfe wieder rückgängig gemacht wird<br />
(Wiederzusammensetzung des Zerstückelten).<br />
<strong>Der</strong> Held ist häufig auch vater- und/ oder mutterlos, d.h. ohne legitimes<br />
Herkommen oder erbberechtigte Abstammung. Er tritt als Fremder ein<br />
in die Sphäre des Volkes, dem er hilft, und wird dank seine Taten, oder<br />
speziell durch die Belohnung mit seiner Aufnahme in das Volk (Heirat<br />
der Prinzessin) zu einem Mitglied des Volkes. Oder er ist halbgöttlicher<br />
Herkunft, d.h. eines seiner Elternteile ist dann göttlich. Aber ihm<br />
wird auch parthenogenetischer Ursprung nachgesagt, was seiner Stellung<br />
als ein Gott entspricht, der sich inkarniert hat, d.h. er gilt dann als<br />
ein Avatar.<br />
Alle Gründer patriarchaler Dynastien, die eine andere patrilineare oder<br />
eine matrilineare Filiationsrechnung ablösen, werden im Mythos als<br />
ausgesetzte Kinder dargestellt, die glücklich gefunden werden und<br />
entweder in aller Stille heranwachsen, bis die Zeit ihres Wirkens da ist,<br />
oder als frühreife und wunderbare Kinder von sich reden machen. Ihre<br />
Vorgeschichte erklärt, warum sie Götter oder Helden ohne Eltern sind,<br />
die sie nach der vorherrschenden Deszendenzregel in dem Volk ihres<br />
Wirkens nicht haben können. Diese später als große Drachentöter oder<br />
Bezwinger von Ungeheuern hervortretenden Helden werden mit ihrer<br />
Heldentat zu den Gründern ihrer Dynastien. Ihre eigentümliche
Kindheitsgeschichte stellt in manchen Mythen auch das Ende einer<br />
Form des rituellen Königsmordes dar, bei dem der geopferte Stellvertreter<br />
auch den sterbenden und wiederkehrenden Vegetationsgott repräsentiert.<br />
Gilgamesch, Moses, Dionysos, Jason oder Ödipus sind<br />
Beispiele für diese außergewöhnliche, elternlose (vaterlose) Herkunft.<br />
Auch der Ödipusmythos reflektiert noch den rituellen Königsmord,<br />
den er als Vatermord ächtet, obwohl er scheinbar unschuldig begangen<br />
wurde, und auch diesem Königs-Vater-Mord ist ein sublimierter Dra-<br />
Epaphos Memphis<br />
Lybie Poseidon<br />
Elektra<br />
Aphrodite Ares Telephassa Agenor<br />
Dardanos Jasion Harmonia Kadmos Thasos Europa Phoinix Kilix<br />
Zeus Semele Polydoros<br />
Dionysos Labdakos<br />
chenkampf vorausgegangen, der Sieg über die Chimäre Sphinx, die<br />
durchaus als ein Drachenwesen anzusprechen ist (Chimäre= Wesen,<br />
das sich aus den Totemtieren eines Stammes zusammesetzt, deren Totemgruppen<br />
er integriert). Aber das <strong>Drachenkampf</strong>mythologem erfüllt<br />
in der griechischen Tragödie einen anderen Zweck. Es muß herhalten<br />
für die Rechtfertigung und Begründung der Zeichnung des Ödipus als<br />
den gebrochenen, tragischen Helden, dem nichts anderes bleibt, als<br />
sein Schicksal, seine Schuld auf sich zu nehmen, für die er sich selbst<br />
nicht schuldig gemacht hatte. Die Tragödie kennt wohl die Erbsünde<br />
(die Sünde der Väter), aber nicht die Erlösung.<br />
Laios Jokaste<br />
Oidipos<br />
Als Götter sind die Helden Vegetations-, Tier-, Wetter-, Mond- oder<br />
Sonnengötter, frühreife Kinder oder Repräsentanten des lichten Prin-<br />
21
22<br />
zips, aber auch Zwillingsheroen, als Helden sind die Helden wiedergekehrte<br />
Ahnen, verheißene Übermenschen (Erlöser) oder Schamanen.<br />
Die Genealogie dieser Götter verbindet sie mit bestimmten mythologischen<br />
Dualen und Triaden, die wiederum auf bestimmte mytholgische<br />
Kreise und regionale Kulttraditionen verweisen. Solche Triaden bilden<br />
in der alten Welt z.B. die hier in der nebenstehenden Tabelle genannten<br />
Gestalten.<br />
Einige dieser Triaden deuten noch ihre Ableitung aus Dualen an, die<br />
Isis, Osiris u. Horus (ägyptisch).<br />
Ishtar, Tammuz u. Tammuz (kleinasiatisch).<br />
Cybele, Attis I u. Attis II (kleinasiatisch).<br />
Aphrodite, Adonis I u. Adonis II (kleinasiatisch).<br />
Danu, Dagda u Angus (irisch).<br />
Arianrhod, Lew Law u. Dylan (walisisch).<br />
zu Triaden nur weiterentwickelt wurden, indem sie eine der Gestalten<br />
zeitlich in zwei Gestalten ausdifferenzierten.<br />
Echte Zwillingspaare, die mit dem <strong>Drachenkampf</strong> direkt verbunden<br />
sind, wären die hier unten aufgelisteten Beispiele.<br />
Daß auch die oben genannten altorientalischen Triaden einen Dualismus<br />
verbergen, zeigen, wie schon gesagt, die Beispiele mit den zwei<br />
Repräsentanten oder Namen, die aber triadisch differenziert werden:<br />
sie unterscheiden die große Göttin, ihren sterbenden Gatten oder Geliebten<br />
und ihren wiedergeborenen Sohn oder Geliebten. Auch die<br />
Unterscheidung von<br />
Tiri u. Karu (Süd- Amerika).<br />
Kanigyilak u. Nemo'kois (Nord-Amerika). Mutter, Vater und<br />
Ninguningu u. Nambalia etc. (Neu Guinea).<br />
Sohn identifiziert<br />
den Vater und den<br />
Sohn im Hinblick auf das gemeinsame Geschlecht, begreift also den<br />
Horus als wiedergeborenen Osiris, um einen Dualismus: männlichweiblich,<br />
auszudrücken, etwa mit der Bedeutung von Leben und Tod.<br />
Die patrilineare Folge reflektiert das Geschehen zwar als Rhythmus<br />
eines in sich zurücklaufenden Kreises, aber sie projiziert die Zeit des<br />
ewigen Kreislaufs auf die genealogische Linie und setzt sie damit<br />
ihrem Risiko aus, der Wahrscheinlichkeit des Geschlechterendes. In<br />
dieser panparentelen Weltanschauung der verwandtschaftsrechtlich<br />
organisierten Stämme ist die durch die Heiratsallianz sanktionierte<br />
Fortpflanzung neben der Stiftung und Affirmation politischer Allianz<br />
auch eine Kulthandlung.
Während die Triaden das Verhältnis der Unsterblichkeit zur Sterblichkeit,<br />
der Fruchtbarkeit zur Unfruchtbarkeit, der Filiation zum individuellen<br />
Geschlecht, des Guten zum Bösen, im Bilde der Geschlechtsdifferenzierung<br />
darstellen oder sogar einen Geschlechtsdualismus repräsentieren,<br />
und das Individuationsprinzip sich in der Filiationsfolge<br />
ausdrückt, zeichnen die Zwillingsmythen diese Unterscheidung nach<br />
der Geschicklichkeit, nach der moralischen Qualität der Helden oder<br />
nach dem Seele-Körper-Gegensatz. (Diesseits-Jenseits). Ihre Polarisierung<br />
erscheint als Differenzierung zweier Personen gleichen Geschlechts<br />
im gleichen kosmologischen Raum, d.h. als gleichzeitige Erscheinung,<br />
von der aber eine Hälfte stets verborgen bleibt, während<br />
jene Differenzierung von Attis oder Adonis in die Dimension der Zeit<br />
verlegt worden ist: Vater-Sohn, alter- und neuer Geliebter. Das Objekt<br />
der Anregung weiblicher Schöpfungskraft variiert, ist endlich und<br />
zeitabhängig, während die weibliche Zeugungskraft als potentia<br />
(), aber nicht als actus () unbegrenzt und zeitlos da<br />
ist.<br />
Wenn wir den Hinweisen des Cicero und Varrus über Herakles folgen,<br />
die zuletzt von de Maury 7 mit einer noch größeren Fülle von Belegen<br />
wiederholt worden sind, dann stellt er ohne Zweifel eine kabirische<br />
Zwillingsgottheit dar, die nicht nur dem Dioskurenschema entspricht,<br />
sondern auch einen Prototyp des Drachenkämpfers abgibt.<br />
Wie im Grimmschen Zweibrüdermärchen ist er ein Gemahl der Göttin<br />
der Wälder, der er im Halbjahresturnus geopfert wird, um auf diesem<br />
Weg, nachdem seine Haut vom Leibe gerissen wurde, nachdem er den<br />
Berg Oeta erklommen hatte und durch seinen Fall die Eiche seines<br />
Scheiterhaufens gespalten hatte, in Gestalt eines Adlers mit dem Rauch<br />
zum Himmel zu ziehen.<br />
Dieser große Sohn einer noch größeren Mutter ist auch ein frühreifes<br />
Wunderkind, daß schon als Kind Schlangen erwürgt und als Jüngling<br />
der unbesiegbare Vernichter der Drachen und Ungeheuer ist. Er ist der<br />
Vater und der Sohn in Personalunion oder die Zwillinge oder der Geliebte,<br />
der die Göttin erfreut oder den sie betrauert. Als all das ist er die<br />
personifizierte Geschlechterfolge, d.h. die ganze Reihe präskriptiver<br />
Gatten der großen Mutter oder ihrer/seiner Söhne, und als Vater ein<br />
Vater ohne Töchter, gemäß der uxorilokalen Konfiguration der kabirischen<br />
Gruppierung. Er ist also ein Äquivalent für alle männlichen Kabiren<br />
des Orients und stand schon in der Antike für die meisten, zu-<br />
7 A.de Maury, La magie et l´astrologie dans l´antiquité et au moyen âge, Paris 1860<br />
23
24<br />
mindest unter einzelnen Aspekten von ihnen, als Stellvertreter, d.h.<br />
Gleicher unter anderem Namen.<br />
Die Drachenkämpfer und die Drachen erscheinen hier als Repräsentanten<br />
mythologischer Prinzipien, die universal sind, und speziell in<br />
den altorientalischen Mysterien so eigentümlich ausgebildet worden<br />
sind, daß Lenormant sie unter dem Begriff der "kabirischen Gruppierung"<br />
8 zusammengefaßt hatte, deren Vorbild die Gruppe von Samothrake<br />
war, von einem pelasgischen Kultzentrum, das aber auf das religiöse<br />
Weltbild der dualen Ordnung (Hälftenorganisation) der Hackbauern-<br />
und Wildbeuterkulturen zurückgeführt werden kann. Die ursprüngliche<br />
Konstellation dieser altorientalischen Triaden lautet: große<br />
Mutter-Drache (feindlicher Bruder, alternder Gatte oder Geliebter)-<br />
Held (geliebter Sohn, Kind oder neuer Geliebter). Drache und Held<br />
stehen sich hier gegenüber entweder als feindlicher Onkel und vaterrächender<br />
Sohn (ein Hinweis auf die prekäre Situation des Avunkulats),<br />
als alternder und neuer Geliebter der großen Mutter oder böser und<br />
guter Sohn. In diesem Kontext kann der <strong>Drachenkampf</strong> auch als eine<br />
Version der Ausgestaltung der dualen Ordnung (Stammeshalbierung)<br />
verstanden werden und seine Bedeutung im mythologischen System<br />
reflektiert die Bedeutung des Dualismus in ihm, denn der <strong>Drachenkampf</strong>mythos<br />
steht nicht in jedem mythologischen System im Zentrum<br />
der Kosmogenese.<br />
Einheit androgyner Weltdrache Uroborus 1<br />
Zweiheit Drache I Drache II<br />
männlich weiblich Uroborus 2<br />
Tod Leben<br />
Dreiheit Drache große Mutter Held<br />
Vierheit Drache große Mutter Vater Sohn<br />
Drache große Mutter Held Bruder<br />
Die Dreiheiten und Vierheiten entstehen durch die weitere Halbierung<br />
der Hälften, d.h. aus der Anwendung des Dualismus auf eine seiner<br />
Hälften. Das Weibliche repräsentiert hier die ewige Schöpferkraft, also<br />
auch das, was den Tod fordert, das Männliche die Zwiespältigkeit der<br />
Individuation, des Eigenwillens, des sterblichen und individuellen Lebens,<br />
das Sterbende, Regenerierungsbedürftige. Auch dies ist ein<br />
Hinweis auf matrilineare Körperschaften und matri- oder uxorilokale<br />
Residenzregeln.<br />
8 Siehe: Lenormant bei: Daremberg / Saglio, Diction. s.v. Art. Cabiri, 1887
Das folgende Schema faßt die knappe Skizze der mythologischen Integration<br />
des <strong>Drachenkampf</strong>mythos zusammen:<br />
Die Drachen sind männlich, wenn ihre Mütter ihr menschliches Antlitz<br />
zeigen und sie werden zum Gegenpol des Helden, den er besiegt, z.B.<br />
zum feindlichen Bruder.<br />
Herausforderer Antworter<br />
Drache Held<br />
Drache Zwillinge<br />
feindlicher Bruder Bruder<br />
eifersüchtige Geliebte neuer Geliebter<br />
ihre Kinder fressende Mutter Opfer/ Held<br />
ihre Kinder fressender Vater Opfer/Held<br />
Auch jene Helden des <strong>Drachenkampf</strong>es, die in ihren Mythen nicht direkt<br />
als astrale oder metereologische Götter angesprochen werden,<br />
verweisen aber durch einzelne Attribute auf jene Funktionen: Keule,<br />
Schleuder, Speer, Pfeil etc. für Donner, Blitz und Strahl etc.<br />
Damit haben wir vorläufig einen allgemeinen Rahmen für die Zuordnung<br />
auch der <strong>Drachenkampf</strong>mythen gewonnen, in denen ein menschlicher<br />
oder anthropomorpher Held der Gegner des Drachen ist, dessen<br />
Geschlecht entsprechend seiner thematischen Konfiguration entweder<br />
weiblich oder männlich ist wie übrigens auch der Held.<br />
Ein weitergehender Vergleich sollte auch Mythen hinzuziehen, die<br />
zwar diesem Schema folgen, aber einige Elemente von ihnen variieren.<br />
So finden sich Mythen, welche die Tiere, die das Ungeheuer repräsentieren,<br />
die Schlange oder den Drachen, austauschen; ihrer symbolischen<br />
Funktion äquivalente Tiere sind: Wal, Wolf, Kuh (Ochs), Bär,<br />
Tiger, Pferd oder menschenähnliche Ungeheuer etc. In dieser Variation<br />
lassen sich dann die entsprechenden amerikanischen und sino-tibetischen<br />
Mythen zuordnen (z.B. das chinesische Bärensohn-Märchen).<br />
Dabei wird man auch auf Überlieferungen stoßen, die sich nicht auf ein<br />
Tier festlegen, sondern in ihrer Auswahl schwanken oder mehrere berücksichtigen,<br />
z.B. zwei oder drei Ungeheuertiere aufbieten, die<br />
entweder in der Rolle des Helfers oder des Herausforderers erscheinen.<br />
Die germanische Mythologie nennt neben der Midgardschlange den<br />
Fenriswolf und Urko, die Weltkuh (Weltstier). Auch der den Mond<br />
fressende Managarmr (Mondwolf) wird oft als Drache abgebildet<br />
(siehe das Nordportal der Schottenkirche (St.Jakob) zu Regensburg); in<br />
der babylonischen, ägyptischen und griechischen Mythologie sind das<br />
25
26<br />
die mit Tiamat, Apepi, Typhon etc. verwandten oder verbundenen<br />
Gottheiten in ihren verschiedenen chimärischen Gestalten.<br />
Drachentöter Drache Drachentöter Drache<br />
Marduk Tiamat Tammurath Dev<br />
Ninurta Asag Yü neunköpfiger Drache<br />
Ninurta Labbu Zhuanxu Gong Gong (Drachenflut)<br />
Bal Jamm Jamato- take Drache<br />
Anshar Drache Susanoo Schlange<br />
Assurbanipal Drache (Kind der Tiamat) Drachentöter Drache<br />
Teshup Illujanka Indra Vritra/Ahi<br />
Hupaschia Illujanka Indra Purusha<br />
Osiris Apepi/Apophis Coniraya Schlange<br />
Horus Apepi/Seth Thor Midgardschlange<br />
Amon Apophis Sigurd Fafnir<br />
Karttikeya Taraka Wolfdietrich Drache<br />
Krishna Kaliya Tristan Drache<br />
Jhw Rahab Beowulf Nightsceada<br />
Michael roter Drache Jason Drache<br />
Daniel babylon. Drache Kesar Ungeheuer<br />
St. Georg Drache Held Kar-juptas<br />
St. Beatus Drache Tiri Riesenschlange<br />
St. Adelphus Drache Tristan Drache<br />
St. Clemens Drache Beowulf Nightsceada<br />
St. Martha Tarasque Jason Drache<br />
St. Margarethe Drache Kesar Ungeheuer<br />
Gilles de Chin Drache Held Kar-juptas<br />
Zeus Typhon Tiri Riesenschlange<br />
Apoll Pythia Kanigyilak Riesenschlange<br />
Kadmos Drache (Sohn des Ares) Gott Neaunir<br />
Herakles Hesperidendrache Kind Kolomodumo<br />
Perseus Drache Kind Lulu<br />
Peleus Drache Ninguningu+Nambalia Johac<br />
Cama Azay Dahaka Schamane Nomurnggun<br />
Atar Azay Dahaka etc. etc.<br />
Feridun Azay Dahaka<br />
Eine initiationsmythische Variante ist der Bericht von Jonas im Bauche<br />
des Walfischs. Im <strong>Drachenkampf</strong> des Herakles, in dem es um Hesione<br />
geht, begibt sich der Held in den Schlund des Drachens so wie Jonas in<br />
den Bauch des Wals. Nommurnggun, welche die Kinder des Schamanen<br />
verschlang, die von ihrem Vater gerettet wurden, oder Eingana, die<br />
mit der ganzen Welt schwanger lag, die Barraiya durch seinen Speerwurf<br />
zur Geburt der Welt nötigte, oder Lulu, der die Menschheit verschlang,<br />
die ein Junge, der schon bei der Geburt erwachsen war,<br />
wieder aus dem Bauch des Ungeheuers befreite, stellen das gleiche
Motiv dar, wenn man die funktionale Äquivalenz des Wals mit den<br />
Drachen oder der Riesenschlange im Auge behält.<br />
Diese Ungeheuer können aber auch anthropomorphe Züge haben, als<br />
rasende und blindwütige, ihre Kinder fressende große Mütter (alteuropäische<br />
und altorientalische Muttergottheiten) oder Väter (Uranos, Johac<br />
etc.) erscheinen.<br />
Die Bedeutung der Hauptfiguren und ihre Attribute führen zu weiterreichenden<br />
Fragen, von denen wir einige schon mit der Erwähnung der<br />
kabirischen Gruppierung angedeutet haben. Aber auch die ganz allgemeinen<br />
Fragen der Mythologie stellen sich hier angesichts der Deutung.<br />
Reflektiert das Götterdrama kosmologisch-naturmythische Ereignisse,<br />
wenn vom Anspruch des Meeres auf die Herrschaft über die<br />
Erde die Rede ist? Reflektiert es kosmologisch-astralmythische Vorkommnisse,<br />
wenn die Planeten und der Himmel neu geschaffen werden?<br />
Wird die Androhung des Weltuntergangs und die Rettung davor<br />
als Strafe für unsittliches Verhalten dargestellt? Dienen kosmologische<br />
Tatsachen als Gleichnis einer an sich moralisch begriffenen Weltordnung<br />
(Kausalität aus Freiheit und Ernte der eigenen Saat) oder ist der<br />
Kosmos selbst sogar der Schmuck oder Glanz eines moralischen oder<br />
ethischen Prinzips (Samsara, Karma)? Spiegeln die Hierarchien und<br />
Relationen der Wesen die Struktur der Gesellschaft wieder, ihre Verwandtschafts-,<br />
Kasten- oder Ständegliederung? Projizieren sie nur ein<br />
innerseelisches Geschehen, persönliche Reifeprozesse?<br />
Um die Motive der dramatis personae richtig zu verstehen, wird man<br />
unbedingt auch auf die Sozialstrukturen der Erzähler dieser Mythen<br />
achten müssen, welche sich häufig in den Motiven der handelnden<br />
Wesen im Mythos spiegeln; denn das mythische Geschehen, das mit<br />
ihnen verbunden wird, ist meistens auch eine Bewertung seiner sozialen<br />
Beziehungen und Haltungen durch das Volk, das den Mythos erzählt.<br />
Es wird daher nicht überraschen, wenn man feststellt, daß die<br />
Verwandtschaftsrelationen der Mythen den Werten der Verwandtschaftsrelationen<br />
entsprechen, in denen die Völker leben, die sie erzählen.<br />
Die Kennzeichnung des Drachen als Mitbewerber um die<br />
Braut, als Bruder, Mutterbruder oder Vater des Helden, als gute oder<br />
böse Mutter, -Schwiegermutter, als feindlicher Nachbar, unterstreicht<br />
die besseren und schlechteren sozialen Bindungen des Helden zu den<br />
alternativen Linien seiner unilinearen und affinalen Verwandtschaft.<br />
Einige Beispiele für genealogische Relationen, in denen die Akteure<br />
des Drachkampfgeschehens erscheinen, seien hier in schematischer<br />
Kürze angedeutet (siehe die folgenden Schemata).<br />
27
28<br />
Wir skizzieren hier nur die Relationen der unmittelbar am Drachen-<br />
Br Br Jungfrau Drache Br Br ←→ Drache<br />
Mu ??? Volk ←→ Drache Mu Volk ←→ Drache<br />
Sohn Br Br<br />
Mu ??? Freund+ Held Jungfrau Drache<br />
Br Drache<br />
kampfgeschehen beteiligten Personen. Diese Spur der Informationsgewinnung<br />
führt aber nur dann zum Ziel, wenn man die Relationen<br />
aller in der Geschichte erwähnten Wesen unter dem Gesichtspunkt der<br />
Verwandtschaftsregeln der erzählenden Gruppe und ihrer Sittenregeln<br />
im Umgang mit Fremden und anderen Lebewesen verfolgt. Die verwandtschaftlichen<br />
Beziehungen der Akteure der Handlung in den einzelnen<br />
Mythen- und Märchenversionen variieren also nach den Beispielen<br />
der Schemata oben, deren Wiedergabe hier keineswegs erschöpfend<br />
ist.<br />
In den <strong>Drachenkampf</strong>versionen des Zwei-Brüder-Märchens aus der<br />
Grimmschen Sammlung erklärt das Senioritätsprinzip und das patrilineare<br />
Erbrecht die Aussetzung der Zwillings- oder Brüder-Helden, de-<br />
Va<br />
Va Va<br />
Drache Sw Sw Sw Br Drache Sw So Fr Drache<br />
Mu ← Drache<br />
Br Br Sw Held<br />
Zeichenerklärung: = gemeinsame Abstammung Br=Bruder<br />
Va= Vater<br />
= verheiratet Mu= Mutter<br />
Sw= Schwester<br />
= Filiation
en Vater der jüngere Bruder des reicheren Linienhalters und Führers<br />
des korporativen Verwandtschaftsverbandes ist. Seine Stellung erklärt,<br />
warum der Vater als jüngerer Bruder ihrem Onkel Gehorsam schuldig<br />
ist, der sogar soweit geht, daß er sie, seine Kinder, auf dessen Geheiß<br />
auszusetzen bereit ist (Im sozialen Horizont: die Segmentabspaltung<br />
von Lineages, die Auswanderung absgpaltener Stammesteile). Filiationslogisch<br />
stellt diese Einleitungsepisode die Abspaltung einer Lineage<br />
aus einem patrilinear organisierten Verwandtschaftsverband<br />
(Sippe) dar und die Abenteuer der neuen Lineages auf ihrer Suche<br />
nach Allianzpartnern und ihrem Bemühen um körperschaftliche Konsolidierung.<br />
Die ausgesetzten Brüder können ihre Frauen nicht mehr<br />
aus dem Kreise der Frauengeber ihres Vaters oder der väterlichen Lineage<br />
beziehen, und ihre Heiraten können daher auch nicht mehr die<br />
traditionellen Allianzen reproduzieren. Sie selbst sind also gezwungen,<br />
ganz neue Wege der Verbindung und Kooperation zu gehen und das<br />
einzige, was ihnen in dieser Situation ihrer Aussonderung noch geblieben<br />
ist, ist ihre brüderliche Solidarität (ein konstitutives Merkmale<br />
jeder Verwandtschaftsorganisation), welche sich aber im Märchen allen<br />
Herausforderungen gegenüber tatsächlich als gewachsen erweist.<br />
Auch dieses hier nur kurz skizzierte Deutungsschema wurde schon<br />
verschiedentlich ausprobiert, mehr oder minder glücklich und mehr<br />
oder minder möglich.<br />
29
30<br />
Über andere Referenzen der Deutungsversuche<br />
Die kosmologische Version des <strong>Drachenkampf</strong>es bezieht sich nicht nur<br />
auf die Weltflut- oder Weltbrandversionen, sondern auch auf die Darstellung<br />
der Vegetations-, Fruchtbarkeits-, Lunar- und Jahreskreiszyklen.<br />
Älter als die Fassung des Gegensatzes: anthropomorph dargestellter<br />
Held versus Drachen, sind die Versionen des Kampfes zweier Drachen<br />
im Kontext der Kosmologien, des Kampfes zwischen dem schwarzen<br />
und dem weißen Drachen, der Yara-Ungud gegen die Walamba- Ungud<br />
(respektive anderer äquivalenter Ungeheuertiere), von denen aus<br />
Nordwest-Australien, Ozeanien, China, Tibet, Süd- und Mittelamerika<br />
die meisten Versionen überliefert sind, wo aber auch die anderen Fassungen,<br />
allerdings in anderem mythologischen Kontext (Initiation, Mysterium<br />
etc.), geläufig sind. Das mexikanische Pujpatza-Märchen, die<br />
araukanische Mythe von Threngthreng und Kaikai-filu oder die<br />
Ungud- und Ingurug-Mythen der Ungarinyin, Worora, Nyigina und<br />
Unambal sind Beispiele dieses Typs.<br />
<strong>Der</strong> Kampf der zwei Drachen zeichnet den zerbrochenen und aus seinen<br />
Hälften wiederhergestellten Ring des Kosmos (siehe das alchimistische<br />
-Symbol oder das chinesische Yin-Yang-Symbol),<br />
die zyklische Wiederkehr des Lebens und Sterbens im Kosmos.<br />
Auch die Oktave kann dafür symbolisch stehen. Im Kampf dieser beiden<br />
Drachen wird der Kampf des Lebens gegen den Tod, des Lichts<br />
gegen die Finsternis, der Himmelsgötter gegen die Unterirdischen etc.<br />
geschaut, die Zerrissenheit des ehedem Einen () in seinem<br />
sich ständig selbstverzehrenden Dualismus, des Überfalls des Todes<br />
auf das Leben und der Auferstehung des Lebens aus dem Tode. Folgt<br />
man der Überlieferung des Leviticus Rabba (Wilna 1884), dann stehen<br />
auch Leviathan, das Seeungeheuer (Drache), und Behemot, das Landungeheuer,<br />
sich in einem kosmologischen Ringkampf gegenüber, in<br />
dem sie beide und der ganze Kosmos zu Tode kommen, und zwar ganz<br />
ähnlich wie Thor und die Midgardschlange in der Edda das Ragnarökr<br />
besiegeln. Dieses Bild wird dann auch variiert in der Symbolik des<br />
Griffs der Schlange nach dem Baum (Kraut, Frucht etc.), nach der<br />
Jungfrau, nach der Kostbarkeit oder dem Schatz, in derem Kontext das<br />
Eingreifen des Helden das helle Prinzip begünstigt oder am Drachen<br />
scheitert. <strong>Der</strong> Drachen steht neben dem Baum und seinen Früchten ent-
weder als Feind des Lebens, als Verführer oder Dieb, d.h. als Schatzräuber,<br />
oder als Hüter des Schatzes; dann erscheint der Held als<br />
Schatzräuber oder als Vermittler, der die Menschheit wie der Tschonguri-Spieler<br />
des georgischen Märchens durch sein wahrhaft orphisches<br />
Spiel mit dem Drachen aussöhnt.<br />
In <strong>Drachenkampf</strong>märchen dieses Typs wird die Gegnerschaft nicht<br />
absolut ausgesprochen, so daß auch der Kampf nicht bis zu seinem<br />
letzten Ende ausgefochten werden muß.<br />
Im Ring verbunden, verweisen die Schlangen aber noch auf eine ihnen<br />
übergeordnete Macht, die ihren Kampf reguliert und die kosmologische<br />
Harmonie garantiert. In der griechischen Mythologie heißt sie<br />
Schicksal (), das Elemente wie Formen und die besonderen<br />
Vermögen zuweisende Prinzip, welches das Sein in seinen festen Banden<br />
hält (Parmenides).<br />
Man kann auch einige Versionen mit bestimmten kultur- und sozialgeschichtlichen<br />
Vorgängen in Beziehung bringen. Die Götterkämpfe, die,<br />
wie Delitzsch, Winckler oder Friedrich am mesopotamischen Beispiel,<br />
Brugsch, Wallis-Budge, Erman und Sethe am ägyptischen und Samter<br />
sowie Robert Graves am griechischen Beispiel gezeigt haben, Stammes-<br />
und Reichskämpfe reflektieren und mit der Weltreich- oder "Universalstaatsbildung"<br />
(Toynbee) verknüpft werden können, sind Mythen<br />
der Hochkultur, was Frobenius wiederum in einer noch anderen, seiner<br />
kulturmorphologischen Perspektive zeigen konnte. In diesen Mythen<br />
werden alle Aspekte nicht nur astralmythisch integriert, sondern die<br />
Hierarchie der Götter folgt auch der Hierarchie der Reichs- und<br />
Gaustädte, deren Lokalgötter sie sind.<br />
Über die hauptsächlichen Vermittler der Quellen zur chinesischen Mythologie<br />
schreibt M.Soymie: "Die Schriftgelehrten aber haben stets<br />
eine offenkundige Neigung gezeigt, die Mythen zu chronologisieren<br />
und zu historisieren oder, bestenfalls, sie zur Rechtfertigung moralischer<br />
oder politischer Theorien in historische Schemata einzubauen." 9<br />
So bestätigen auch noch diese historisierten Mythen jenen völkerkundlichen<br />
Grundsatz, daß das Verhältnis der mythischen Personen die<br />
Sozialstruktur des Stammes oder Staates reproduziert, der den Mythos<br />
erzählt.<br />
Die Heldensagen der Stämme, die nicht im Ausstrahlungsbereich der<br />
Hochkulturen wohnen, begreifen den Kampf kosmo-moralisch, beziehen<br />
ihn auf Vegetation und Fruchtbarkeit ebenso wie auf die soziale<br />
9 M.Soymie, in: P.Grimal, Mythen der Völker II, Frankfurt 1977, S.262-3<br />
31
32<br />
Ordnung und Unordnung, denn sie bilden die soziale Ordnung im<br />
Bilde der Naturordnung und die Naturordnung nach dem Muster gültiger<br />
Sittlichkeit ab oder gestalten mit dem Bild des Kampfes eine Heilbringersage.<br />
Sie haben in der Regel keine umfangreiche und systematische<br />
Astronomie entwickelt, sondern beschränken sich auf die<br />
beiden Hauptgestirne und ihr jahreszeitliches Wirken im Wechselverhältnis<br />
zu einigen anderen, auffallenden Gestirnen; hier und da kommen<br />
also auch einzelne Sternbilder oder die Milchstraße inbetracht,<br />
wenn auch nicht immer im Kontext der <strong>Drachenkampf</strong>mythen.<br />
<strong>Der</strong> Held dieser Quellen stellt das in Unordnung geratene Gleichgewicht<br />
der kosmologischen Ordnung, die mit der Sozialordnung strukturell<br />
übereinstimmt, wieder her. Er bringt hier in Ordnung, was seine<br />
Stammesgenossen durch ihr eigenes Handeln, durch Unachtsamkeit<br />
dem Gesetz gegenüber, durch Verbots- oder Tabuverletzungen in Unordnung<br />
gebracht haben; deshalb überwiegen hier die kosmo-moralischen<br />
und aitiologischen Motive alle anderen. Die Naturkatastrophe an<br />
sich gibt es im Weltbild der Epoche vor der Hochkultur noch nicht,<br />
dort erscheint sie vielmehr nur als Sein für anderes (stat pro aliquid),<br />
als Symptom moralischen Fehlverhaltens, als Ergebnis der Gesetzesübertretung,<br />
natürliche, soziale und seelische Vorgänge sind Vorgänge<br />
ein und desselben Kosmos.<br />
In gewisser Hinsicht sind diese Vorstellungen auch noch in den Hochkulturmythen<br />
wiederzufinden, die schließlich die Bereitschaft der<br />
Götter, ihr Volk zum Sieg zu führen, ihrer eigenen Frömmigkeit zurechnen,<br />
oder ihren Erfolg der größeren Macht ihrer Götter.<br />
Bestimmte Attribute der Helden aus den Mythen der präneolithischen<br />
Kulturen und der neolithischen, die nicht zum Hochkulturkreis gehören,<br />
verweisen trotz ihrer spärlichen Andeutung auf die astralmythischen<br />
Versionen: so die Begründung der Möglichkeit des Übels durch<br />
den Tiefschlaf (Tod) des Helden oder durch seine Kindheit, so die Bewaffnung<br />
des Helden, der mit Vorliebe (Blitz)-Speere, (Blitz)-Bögen,<br />
(Donner)-Keulen oder (Donner)-Beile gebraucht. Auch die Götter Teshup,<br />
Zeus, Odin, Ukko, Perun, Wotan, Ahura Mazda, Marduk, Seth,<br />
Shiva, Huitzilopochtli etc. werden mit Blitzen, Blitzpfeilen und Blitzspeeren<br />
in der Hand dargestellt. Die Speere, Keulen und Quarzkristalle<br />
der Helden der Pygmäen, Basuto, Massai, Tataren, Kombo, Djanan,<br />
Ungarinyin oder Nyigina etc. scheinen sie mit diesen Göttern zumindest<br />
im Hinblick auf die Ausrüstung als dem symbolischen Träger<br />
der astralmythischen Attribute in Beziehung zu bringen, ebenso wie<br />
die Keulen der belorussischen Märchen, die auf die Donnerattribute
der entsprechenden Götter verweisen. Solche Übereinstimmungen<br />
sprechen aber nicht zuerst für Entlehnungen, sondern für die epochalen<br />
Neubewertungen und Neuinterpretationen des älteren Mythengutes,<br />
das bei Wildbeutern und archaischen Hackbauern häufig noch in seinen<br />
ursprünglichsten Fassungen greifbar ist.<br />
In der Wildbeuter- und Hackbauernkultur variieren ganz allgemein<br />
zwei mythologische Begründungen der kosmologischen Ordnung, die<br />
sich an der sozialen Ordnung der Sippe (Clan, Lineage, etc) oder an<br />
dem Konzept der dualen Organisation (soziale wie kulturelle Hälftenteilungen)<br />
orientieren: "Sippe sind solche unechten Verwandtschaftsgruppen,<br />
welche die in ihnen zusammengefaßten echten Verwandtschaftskegel<br />
an einen geschlossenen „Schöpfungsakt“ fixieren. Dual-<br />
Ordnungen sind solche unechten Verwandtschaftsgruppen, welche die<br />
in ihnen zusammengefaßten echten Abstammungskegel an einen in<br />
zwei komplementäre Hälften aufgeteilten "Schöpfungsakt" fixieren." 10<br />
Diese mythologischen Konzeptionen, Traditionen und die ihnen zugrundeliegenden<br />
sozialen Ordnungen überleben häufig den Kulturwandel,<br />
durch den die früheren Stadien und Ordnungsmodelle (ihrer<br />
Differenz zur Gegenwart wegen) erst die genuin mythologischen Weihen<br />
empfangen. Aber auch deren Fortsetzung kommt unter den veränderten<br />
Bedingungen vor mit einer auf die gegenwärtigen Verhältnisse<br />
abgestimmten Akzentverschiebung. Auch deren Angleichung<br />
reflektiert ihre Integration in Systeme, die sie mehr oder minder deutlich<br />
nach ihren leitenden Strukturen umdeuten.<br />
Auffallend ist der Dualismus einiger altorientalischer und aller altgriechischen<br />
Mysterienmythologien, die im Gegensatz zu der genealogischen<br />
Ordnung des olympischen Systems stehen, das selber nur schwer<br />
das andere Konzept verdrängen konnte (siehe: Giganten, Titanen,<br />
Kabiren etc.). Hier, wo verschiedene Völker mit unterschiedlichster<br />
verwandtschaftsrechtlicher Organisation (verschiedene Deszendenz-,<br />
Residenz- und Heiratssysteme) und religiöser Tradition im Verlaufe<br />
dreier Völkerwanderungen aufeinandergestoßen waren und integriert<br />
werden mußten, was keineswegs überall in gleicher Weise geschah,<br />
lohnt es sich allerdings den Entlehnungen und ihren Motiven nachzugehen,<br />
da sie historisch, d.h. mit Rücksicht auf andere Quellen, z.T.<br />
noch greifbar sind.<br />
Die Mythen und Märchen sind grundsätzlich nach den verschiedensten<br />
Schlüsseln interpretierbar und können mit ihnen allen gleichermaßen<br />
10 C.A.Schmitz, Grundformen der Verwandtschaft, Basel 1964, S.99<br />
33
34<br />
interpretiert werden. Anthropologische, psychologische, ethische, soziale,<br />
naturmythische, astral-kosmologische, kultgeometrisch und<br />
arithmetisch-kosmologische und mystische Verschlüsselungen korrespondieren<br />
miteinander oder ergänzen einander. Im Einzelfall liegt die<br />
Lesung nach dem einen oder anderen Schlüssel näher, aber wirklich<br />
ausgeschlossen werden darf keiner. <strong>Der</strong> betrachtete Stoff und der<br />
Betrachter entscheiden darüber, mit welchen Schlüsseln die Botschaft<br />
dechiffriert werden mag.
II<br />
Die germanische Mythe neben der Märchenversion und anderen<br />
Traditionen<br />
Die Völsungensage verbindet das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit dem Raub<br />
des metallurgischen Geheimnisses. Lokis List bringt die Asen in den<br />
Besitz des roten Goldes (Schatz) und des Ringes der Macht, mit dem<br />
sie allein sich aus der Verlegenheit gegenüber dem Riesen Hreidmar<br />
und seinen Söhnen Regin und Fafnir,<br />
in die sie Loki gleichfalls brachte, befreien<br />
können. Aber der Fluch des<br />
Hechtes, des Zwergen Andwari<br />
(siehe: Otter und Hecht; Edda), ruht<br />
auf dem Ring, der jedem, der ihn<br />
trägt, Verderben bringt. Da die Götter<br />
beides, Ring und Schatz, als Lösegeld<br />
sich aneignen, das sie Hreidmar<br />
auszahlen müssen, mischt sich zudem<br />
Lokis Schadenfreude in diesen Fluch.<br />
So wechseln Schatz und Ring von den schmiedekundigen Zwergen<br />
über die Götter zu den Riesen, die gleichfalls schmiedekundig und teilweise<br />
sogar als Zwerge (Ambivalenz) dargestellt werden, und mit dem<br />
Ring geht auch sein Fluch weiter.<br />
Fafnir tötet seinen Vater Hreidmar aus Besitzgier und macht Regin und<br />
seinen Schwestern die Ansprüche auf den Ring erfolgreich streitig. In<br />
der Gestalt eines Drachen bewacht er den Ring und seinen Schatz auf<br />
der Gnitaheide. Das genealogische Verhältnis der Drachenverwandtschaft<br />
in dieser Überlieferung skizziert das folgende Schema.<br />
Hreidmar<br />
Sigurd Fafnir Regin<br />
←→<br />
Held Drache Schmied<br />
Inzestsproß Vatermörder feindlicher Bruder<br />
Regin erscheint unterdessen in Hjalpareks Reich als Schmied des Herrschers,<br />
in dessen Lehre Sigurd, der Völsungenheld, eingetreten ist. Metallurgie,<br />
Schmiedekunst und Drachenhaftigkeit werden auch in dieser<br />
Sage als tellurische Metaphern miteinander in eine Beziehung gesetzt,<br />
35
36<br />
die in der kabirischen Mythologie aufgeklärt wird, in der nämlich die<br />
Söhne der großen und unterirdischen Mutter auch die Erfinder der<br />
Schmiedekunst sind.<br />
Eine andere Sage verbürgt Sigurds heroische Abkunft, die ihm auch<br />
hier als Sproß eines Inzests ungeschmälert zukommt, denn der Inzest<br />
ist und bleibt in der Mythologie und anders als in der modernen Gegenwart<br />
ein Vorrecht der Götter und Helden. Die Zeichnung des Gegensatzes<br />
zwischen dem Herausforderer und dem Helden, der die Herausforderung<br />
annimmt, durch den Gegensatz zwischen Vatermord<br />
(Fafnir) und Inzest (Sigurd) ist nicht nur auffallend, sondern auch lehrreich.<br />
Ihren Konsequenzen entsprechend gelten beide Taten als das<br />
gleiche Vergehen; denn wer Inzest begeht, der tötet auch seine Eltern:<br />
realiter als Bestätigung fehlender Identifizierung und auch in einem<br />
übertragenen Sinne duch die Verweigerung der üblichen Heiratsallianz<br />
(Kündigung der Allianz, welche die Eltern mit ihrer Ehe besiegelt haben).<br />
Von seinen Eltern erbt der Sproß ihres Vergehens auch das<br />
Makel dieses Vergehens, er ist das leibhaft gewordene Zeichen ihres<br />
Vergehens, das Sigurd auch nach dem homöopathischen Grundsatz,<br />
nachdem das, was krank macht, auch heilt, als den angemessenen Gegner<br />
Fafnirs ausweist. Die Lehrzeit bei Regin, dem Bruder Fafnirs, erweist<br />
sich als Vorbereitung auf die große Prüfung oder als die Einleitung<br />
einer Verführung, denn Regin, der ihn erzieht, bringt ihn auch<br />
dazu, den Drachen zu töten. Gripirs Vision skizziert die Szene des Geschehens:<br />
11 Allein erschlägst du 13 Finden wirst du<br />
den schillernden Wurm, Fafnirs Lager,<br />
der gierig liegt auf der Gnitaheide; heben sollst du<br />
gar bald bringst du den Hort, den reichen.<br />
beiden den Tod, Granis Rücken<br />
Regin und Fafnir- mit Gold beladen<br />
ich rede Wahrheit... zu Gjuki kommst du,<br />
kampfstolzer Held. 11<br />
Nach dem Sieg über den Drachen kann Sigurd auch die Vogelsprache<br />
verstehen; denn die Drachennatur ist das Versteck des Geistes, den<br />
seine Tötung befreit, und zu des Drachen Schätzen gehören auch seine<br />
Künste. Mit der Aufnahme des Drachenwesens geht auch dessen<br />
Klugheit auf den Helden über. Die Vögel warnen ihn vor Regin, den er<br />
11 F.Genzmer, Die Edda, Köln, Düsseldorf 1981, S.271-2
daraufhin auch tötet, und bringen ihn zu Brunhild, der Walküre, die<br />
Sigurd aus ihrem "Dornröschenschlaf" weckt. Nachdem er mit Brunhild<br />
verkehrt hat, überreicht Sigurd ihr als Pfand seiner Treue, Andwaris<br />
Ring, und besiegelt mit ihm ein Versprechen, das er später brechen<br />
und das ihm deshalb auch zum Verhängnis werden wird.<br />
Philostratus berichtete, daß die Einwohner Indiens und Arabiens Herz<br />
und Leber der Schlange essen, um die Sprache aller Tiere verstehen zu<br />
lernen. Ähnlich erzählt das Märchen "Die weiße Schlange" (Grimm<br />
Nr.60), daß der Genuß ihres Schlangenfleisches zum Verständnis der<br />
Tiersprache führt. Beide Geschichten weisen die Schlangennatur als<br />
Materie aller überpflanzlichen Natur und Hüter ihrer Weisheit aus. Zu<br />
dieser Nachricht paßt der Hinweis des Epiphanias, daß die Ophiten die<br />
Schlange verehrten, weil sie den ersten Menschen die Mysterien gab.<br />
Beide Hinweise erklären also auch, warum Sigurd nach Aneignung der<br />
Drachenkraft die Sprache der Vögel verstehen lernte.<br />
Nach Brunhilds Erlösung erzählt die Sage die Gjukungen-Niflungen-<br />
Episode. Sigurd heiratet nicht Brunhild sondern Gudrun und hilft Gunnar<br />
bei Brunhild, obwohl er in deren Schuld steht, erfolgreich zu werben,<br />
die nun zu Attlis Tochter geworden ist. Von Gudrun erfährt Brunhild<br />
indirekt, daß Sigurd der Mann ist, der eigentlich für sie bestimmt<br />
gewesen sei und plant daraufhin ihre Rache, durch die Sigurd schließlich<br />
umkommt. Als Sühne ihrer Tat folgt sie dann Sigurd in den Tod.<br />
<strong>Der</strong> Ring kommt auf diese Weise zu Gunnar und Hogni, aber auch<br />
Attli will ihn unbedingt erwerben, und macht sein Recht geltend, weil<br />
der Ring ja seiner Tochter gehörte. Scheinheilig lädt Attli beide, Gunnar<br />
und Hogni, zu sich ein, aber bevor Gunnar und Hogni zu Attli reisen,<br />
versenken sie den Schatz und den Ring im Rhein. Attli bringt<br />
später beide nach grausamer Folter um.<br />
37
38<br />
<strong>Der</strong> Ring aus Metall<br />
Die Kupfer-Bronze (Schatz-Ring) erscheint in dieser Sage in der Bedeutung<br />
und Funktion, die in den anderen Mythen dem Wasser oder<br />
Feuer (Bedrohung kosmologischen Ausmaßes oder Kräfte kosmologischer<br />
Potenz) zukommt. <strong>Der</strong> Drache, der hier der Schatzwächter ist,<br />
bestätigt diese Gleichung, aber die Bedeutung des Schatzes hat sich, im<br />
Vergleich zu anderen Schatzversionen, in sein Gegenteil verwandelt,<br />
denn er trägt hier die Drachenzüge seines Wächters, er ist verflucht.<br />
Das Gleichnis des Ringes steht in Metathese: der Ring wird für jeden,<br />
der ihn unrechtmäßig trägt oder an sich nimmt, zum Ausdruck dieses<br />
Unrechts, der Zerissenheit, der Krise, des Konflikts, des Ungleichgewichts,<br />
des Vertragsbruchs, zum Zeichen der Kontinuität des Übels.<br />
Weil der Ring aus einem besonderen Metall ist, symbolisiert er nicht<br />
mehr die Verbindung und den Bund, sondern die Habgier, die sich seiner<br />
bemächtigen will. <strong>Der</strong> Stoff der Gier, im Metall versinnbildlicht,<br />
wird zum Ring geschmiedet, d.h. zu jener Kraft, die von nun an die<br />
Welt zusammenhält: dem Willen zur Macht. Ein pessimistisches<br />
Gleichnis für eine auf die civitas diaboli reduzierte Natur.<br />
äquivalente Gefahren:<br />
Sintflut<br />
Weltbrand<br />
Entvölkerung<br />
Metall<br />
Schmuck<br />
Erkenntnis<br />
etc.<br />
Wurden Flut und Brand, Typhon, Tiamat oder Azay Dahaka als makrokosmische,<br />
übermenschliche Bedrohung der Welt gezeichnet, so erscheint<br />
in dem Metall, in dem Schatz und dem Ring, der Inbegriff<br />
niedriger Begierde und des Machstrebens, die Negation jeder Transzendenz,<br />
so zeichnet die Sage in dem Ring das Siegel des Thanatos als<br />
eine dem Menschen tiefinnerliche Bedrohung in der Rolle jener zerstörerischen<br />
und alles gefährdenden Herausforderung durch den Machtwillen<br />
und die Gier.<br />
Mit dem Besitzwechsel von den Vorzeitwesen zu den Menschen<br />
erscheint die Bronzezeit. Spielen auch die Götter eine katalysierende
Rolle, sie selbst bleiben vorerst verschont, denn zu ihrem Glück<br />
forderte Hreidmar als Lösegeld alles, d.h. auch den Ring.<br />
Die Versuchung, den Ring, der immer neue Schätze gab, zu behalten,<br />
war auch bei Odin groß. Diese Eigenschaft des Ringes, immer neue<br />
Reichtümer hervorzubringen, spielt auf das metallurgische Geheimnis<br />
an, auf die Fähigkeit und Kenntnis der Veredlung der Rohstoffe:<br />
Kupfer und Eisen, und auf die Kenntnis der Verarbeitung der Edelmetalle.<br />
Ein metallener Ring ist immer das Werkstück eines Schmiedes. Das<br />
metallurgische Wissen wird vermittelt durch den Hinweis auf das<br />
Werkstück. Erst dieses Wissen, erst der Besitz dieser Kunst bieten die<br />
Grundlage der Macht, die dieser Ring verspricht und erklären das<br />
Ansehen oder die Verachtung der Schmiede. Als Vermittler machtsteigernder<br />
Mittel werden sie verehrt, aber als Erzeuger der todbringenden<br />
Waffen oder als Werker im Schmutz (Unreinheit) werden sie<br />
geächtet oder verflucht. <strong>Der</strong> Hauptverwendungszweck ihrer Produkte<br />
bestimmt den Status der Schmiede in der jeweiligen Kultur und der<br />
durch sie geprägten Gesellschaft.<br />
Obwohl die germanische Sage nicht direkt von der Götterdämmerung<br />
spricht, weist doch alles auf sie hin; den Göttern sind jedenfalls die<br />
Hände gebunden. Hinnehmen müssen sie auch, was sonst noch um des<br />
Ringes willen geschieht, da ihr Schicksal allgemein mit dem der<br />
Menschen verbunden ist.<br />
<strong>Der</strong> menschliche Held verfehlt in dieser Sage seine Mission. Genauso<br />
wie der Ring die Riesen vernichtet, kommt auch der Held um, denn um<br />
seiner eigenen Interessen willen bediente er sich der gleichen listigen<br />
Machenschaften, die das Verhängnis, das er eigentlich abwenden sollte,<br />
erst heraufbeschworen haben.<br />
<strong>Der</strong> Schatz (Ring) und der Held werden von der Heldensage von Anfang<br />
an in jene Korrespondenz gebracht, die das Scheitern des Helden<br />
aus der Verwandlung des Wertes des Schatzes in sein Gegenteil erklärt,<br />
auf dessen Gewinn ja die ganze Genese des Helden aufgebaut ist,<br />
d.h. also auf dessen Untergang. So vermag zwar der Üble den Üblen zu<br />
besiegen, aber aus und von dem Übel kann solange nichts Gutes erstehen,<br />
wie das Üble nicht durch Unschuld und Reinheit geläutert wurde.<br />
Das Metall hat endgültig den alten kosmologischen Gleichklang vernichtet.<br />
Nicht mehr die Gewalten der Natur und der Unsterblichen<br />
beherrschen das menschliche Treiben, sondern jene Gier und Macht,<br />
die das durch Menschenhand verwandelte Metall in der Menschheitsgeschichte<br />
entfesselt hat. Die Schmiede und die Unterirdischen werden<br />
39
40<br />
nicht mehr als die Teuflischen, nach dem Begriff der neuen Lehre<br />
(Christentum), bekämpft und ihre Kunst nicht mehr als schwarzes<br />
Blendwerk verteufelt, denn allzu offensichtlich war der praktische<br />
Nutzen ihrer Künste auch für die Vertreter der neuen Lehre.<br />
Die Psychoanalyse erkennt in diesem Bilde die destruktiven Kräfte des<br />
von ihr (?) entdeckten Todestriebes wieder.<br />
Die ältere Sage, das Märchen und der Mythos zeichnen die Rolle des<br />
Helden, seine Mission im kosmologischen Streit, noch zuversichtlich:<br />
dem Held gelingt, wozu ihn die Götter oder das Schicksal auserkoren<br />
haben; seine Rolle ist astral-, vegetations-, jahreskreismythisch, genealogisch<br />
oder kosmomoralisch (siehe Chupaschija, Atar und Mesang<br />
Jaru Khate oder die Märchenhelden, die wie Jamato take >Amano<br />
Mura Kumo< das Land von einem achtköpfigen Drachen retten. <strong>Der</strong><br />
Drachen der japanischen Mythe kam jährlich in das unglückliche<br />
Reich und verwüstete dort alles. Man konnte ihn nur durch die Übergabe<br />
einer jungen, schönen Fürstentochter besänftigen. Jamato take besiegte<br />
den Drachen mit der Hilfe seines Freundes Koo Kano Samuroo.<br />
Das japanische Beispiel demonstriert hier auch die weite Verbreitung<br />
dieses Mythologems, das nach Heine-Geldern aber mit der pontischen<br />
Wanderung dorthin gelangt ist, mit der neolitisch-bronzezeitlichen Expansion<br />
der Steppenreiterkultur).<br />
Die Märchen, Sagen und Mythen, in denen der Schatz, den der Drache<br />
hütet oder der ihm geopfert wird, eine Jungfrau ist, eine Königstochter<br />
auch noch, die der Held befreit und heiratet, zeichnen deutlich den restaurativen<br />
Charakter seiner Aufgabe mit der matrilokalen Residenzregel,<br />
die seine Heirat ausnahmsweise charakterisiert. <strong>Der</strong> Held ist ja hier<br />
der Fremde, der mit seiner Heldentat nicht nur das Recht der Einheirat<br />
erwirbt (oder im Falle patrilokaler Residenzregeln die Braut raubt),<br />
sondern zugleich auch der Begründer einer neuen patrilinearen<br />
Dynastie und Filiationsregel, die sich seit seiner Heldentat auf ihn als<br />
Ahnherren bezieht. Reflektiert der <strong>Drachenkampf</strong> z.B. das Ende der<br />
matrilinearen Organision einer Gesellschaft, dann schafft der Held vor<br />
allem einen bezeichnenden Opferbrauch ab, nämlich das Opfer der<br />
Priesterin des Mutterkultes, das als patriarchales Äquivalent des rituellen<br />
Königsmordes erscheint. Auch in diesem Falle beziehen sich<br />
seine Nachkommen nach der Heldentat auf ihn patrilinear. <strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong><br />
beendet eine autochthone Genealogie, die die mütterlichen<br />
Rechte betont und setzt mit dem Sieg über das Siegel dieser Autochthonie,<br />
dem Wächter ihres Geheimnisses und ihrer Macht, den Helden,<br />
der sich mit der Heirat der Jungfrau und Erbin des Schatzes auch der
chthonischen Mächte versichert. Im Kontext matri-patrilokaler Residenzregeln<br />
(Sonderform der virilokalen Residenzregel) erscheint sowohl<br />
der Brauch des Brautdienstes als auch der Schwiegersohnprüfung,<br />
als deren gesteigerte Alternative auch der <strong>Drachenkampf</strong> oder die<br />
Prüfung der Sphinx (Rätsel) gelten dürfen, dann allerdings auch ohne<br />
Wechsel der Deszendenzregeln und angestammter Traditionen als<br />
Prüfungsmythos.<br />
Die germanische Heldensage beurteilt die Bedeutung der Metallzeit<br />
und seine Eroberungskriege dagegen in seiner dämonischen und unheilvollen<br />
Wirkung, der auch der Held nicht mehr gewachsen ist, sie<br />
verarbeitet die "Heldendämmerung" als Zeitsignatur. Sie schaut die<br />
Beschleunigung der Kontakte und Verbindungen zwischen den Kulturen<br />
der Völkerwanderungszeit, die das Metall provoziert hatte, sie<br />
schaut die früher unvorstellbar gewesene Ausdehnung der Reisewege,<br />
der Raub- und Expeditionszüge, die stets auch immer wieder durch die<br />
nackte Gier und Raublust veranlaßt worden ist, wenngleich die Not die<br />
Völker auf die Wanderung schickte. Die germanische Heldensage beurteilte<br />
einen historischen Prozeß, der mit der Bronzezeit erkennbare<br />
Züge angenommen hat und bis heute andauert; sie schaute im Schatz<br />
und Ring das Gegenbild zur beschützten oder bewachten Jungfrau,<br />
eine ungezügeltes Verlangen stimulierende oder weckende Lockung,<br />
den Aufreiz zu Übermüt und Wagnis, aber auch zum unmäßigen Genuß<br />
animalischer Lüste.<br />
Dem göttlichen Kosmos droht hier keine Gefahr mehr von den alten<br />
Drachen, die immer auch die Repräsentanten des nun dämonisierten<br />
Dunklen waren, keine Gefahr von den vorweltlichen Katastrophen und<br />
Herausforderungen, die Gefahr erscheint vielmehr innerhalb der neuen<br />
Ordnung selbst, die mit der Metallzeit die Kosmologie verwandelte<br />
und alle Sitten immer schneller preisgab an den Fortschritt und schließlich<br />
auch die Götter.<br />
Auch der Argonautenfahrt geht eine fluchbeladene Geschichte voraus,<br />
die in den gleichen Kontext verweist. Phrixus opferte den Widder, dem<br />
er sein Leben verdankte, dem laphytischen Zeus, und schenkte das goldene<br />
Vließ dem Vater seiner Frau, dem König von Kolchis, als diese<br />
ihm einen Sohn gebar. <strong>Der</strong> König der Kolchier nagelte das Vließ an eine<br />
Eiche (!), die von einem schlaflosen Drachen im heiligen Hain des<br />
Ares gehütet wurde. Auch der Raub dieses Vließes ist mit dem Sieg<br />
über den Wächter-Drachen und dem Gewinn einer königlichen Jungfrau<br />
verbunden, die aber hier gleichfalls nur als ein Motiv der Begierde<br />
41
42<br />
und als Zugabe zum Vließ erscheint, das in dieser Version als der<br />
eigentliche Zweck des Abenteuers gilt.<br />
Während Sigurd scheinbar noch vor der Möglichkeit der Wahl der Erlösung<br />
von Brunhild oder dem Verzicht auf den Ring und seinen Versprechungen<br />
steht (die Psychoanalyse diagnostiziert hier die Angst des<br />
jungen Mannes vor der Frau), d.h. als Held am Scheidewege seiner Bestimmung,<br />
wenigstens der Andeutung der Sage nach, gewinnt Jason<br />
das Vließ zwar auch nur durch die Hilfe der Jungfrau, aber die Alternative<br />
zwischen dem Besitz des Vließes und der Befreiung der Jungfrau<br />
Αιητες Ειδυα<br />
Drache Vließ Μεδεα Ιασον<br />
ist in der griechischen<br />
Mythe nicht mehr angelegt;<br />
denn die Jungfrau ist<br />
die Belohnung für die<br />
bestandene Prüfung.<br />
Jungfrau oder Ring und<br />
Jungfrau oder Vließ (siehe Phrixus) heißen die Alternativen für die<br />
vegetationsmythische und autochthon-kultische Wiederherstellung des<br />
neolithischen Gleichgewichts oder für die unberechenbaren Abenteuer<br />
der Heldenzeit. Das goldene Vließ wie der metallene Ring stehen für<br />
ein über die Beschränkung auf die Stammeswelt hinausgehendes Interesse<br />
an der Welt und an ihren in der Fremde winkenden Schätzen,<br />
kurz: sie stehen für die gefährliche und eroberungsbereite Neugier und<br />
den Mut des Wagnisses, für Tugenden, die vor allem wandernde<br />
Völker oder multi-ethnische Gesellschaften brauchen.<br />
Das Märchen bewahrt dagegen mit dem<br />
Jungfrauenopfer für den Drachen, das<br />
der Held vereitelt, ein älteres Motiv als<br />
jene Fassung der Völsungensage oder<br />
der Rahmenhandlung der Argonautensage.<br />
<strong>Der</strong> Held erscheint als der Garant<br />
der Wiedergeburt des Lebens, der Bestätigung<br />
des Gesetzes im Jahreskreis, im<br />
Vegetationszyklus, in der Fortdauer des<br />
Volkes. Er wird, obwohl herausragend,<br />
doch zurückgenommen als Glied in der Kette der Geschlechterfolge<br />
des Lebens und der Dauer der Wiederkehr dessen, was sich durch sein<br />
Handeln als das Immergleiche offenbart. Er ist in den ursprünglichsten<br />
und ältesten Versionen das Opfer, das der Drache (die böse Mutter, die<br />
eifersüchtige Geliebte oder der feindliche Bruder) besiegt, das aber<br />
durch die Hilfe seiner trauernden Mutter, Gattin und Geliebten in einen
Sieg verwandelt wird, der das Geheimnis der ältesten Mysterien bedeutet,<br />
das gleichfalls von einem Drachen bewacht wurde. Die mystischen<br />
Versionen haben diese Sicht am reinsten bewahrt, allerdings in<br />
der Reflexion des Übergangs vom unwissenden Kind zum initiierten<br />
Stammesmitglied, vom Toren zum Erwachten. Genealogisch ist dieser<br />
Held der Sohn des Volkes, das seine Mutter ist, die ihn nur opfert, um<br />
durch seine Nachkommen über den Tod zu triumphieren. Er kann aber<br />
auch als der Neubeginn einer patrilinearen Verwandtschaftsordnung<br />
erscheinen, also als der Grund für den Hiatus einer autochthonen Genealogie<br />
in der Fremde, die er aber durch die Heirat der Jungfrau nach<br />
den neuen Zuschreibungsregeln wiederherstellt und damit das Ereignis<br />
mit der Überlieferung und der autochthonen Genealogie unter den<br />
neuen Vorzeichen aussöhnt.<br />
Ist die Mutter des Drachen menschlich gezeichnet, dann ist der Drache<br />
ihr Sohn, also männlich. Ist sie selber der Drache, der besiegt werden<br />
muß, dann streiten sich ihretwegen feindliche Brüder oder Nachkommen<br />
verfeindeter Stämme ohne Schlangenmerkmale oder zwei dynastische<br />
Götterlinien um ihre Position.<br />
<strong>Der</strong> Held in den Erzählungen mit<br />
einem derartigen Kontext erscheint<br />
deshalb auch nie tragisch,<br />
sondern als ein Auserwählter des<br />
Schicksals, der seine Bestimmung<br />
erfüllt, der die Prüfung bei der<br />
Überschreitung der Schwelle<br />
besteht.<br />
Die Jungfrau und der Schatz<br />
(Ring) sind symbolische Gleichungen<br />
für die "Kostbarkeit", die<br />
der Drache hütet oder verweigert, sie sind beides Symbole, die auf den<br />
Drachen als große Mutter positiv oder negativ bezogen werden können.<br />
Die Jungfrau als helfende Geliebte oder Gattin der orientalischen<br />
Mythen, die noch in Medeas Rolle angedeutet wird, stellt in den Mythen<br />
matrilinearer Völker nur eine Form der großen Mutter selber dar,<br />
die das Opfer des Helden, des Gatten oder Geliebten fordert und trotz<br />
der mildernden Haltung ihrer Töchter oder ihrer eigenen positiven Erscheinungen<br />
die bedrohlichen Züge bewahrt, die der patrilinear umgedeutete<br />
Mythos abspaltend überzeichnet und durch den Sieg seines<br />
Helden endlich gebannt weiß. Jungfrau ist die große Mutter der Mysterien<br />
nicht wegen ihrer patriarchal unterstellten Keuschheit, sondern<br />
43
44<br />
kraft ihrer Autonomie gegenüber allem Männlichen; aus dem gleichen<br />
Grunde ist sie auch Hetäre.<br />
Mit der Jungfrau und dem Schatz wird der patrilineare Held Inhaber<br />
des mütterlichen Geheimnisses, das er der väterlichen Autorität unterwirft,<br />
aber im Märchen wie im Mythos ist die Mäßigung des Begehrens,<br />
ja seine völlige Bezwingung, die Voraussetzung der Erlösung der<br />
Jungfrau oder des Schatzes, während die Hebung des Nibelungenschatzes<br />
und der Ringbesitz der Heldensage unzügelbare Gewalten entfesselt,<br />
er zwar auch das Begehren erzeugt, aber es vor allem mit der<br />
aggressiven Kraft destruktiver Triebe ausstattet, weil das von ihm<br />
wachgerufene Begehren sich auf etwas richtet, das dem Helden nicht<br />
zusteht (gestohlener Schatz, den er selbst auch wieder stehlen will),<br />
also die ungezügelte Gier herausfordert, die sich leicht verleiten läßt.<br />
Auch hier hätte Mäßigung zum wahren Sieg geführt, wie in den Versionen,<br />
die durch diese Version also mit dem Hinweis kommentiert wird,<br />
daß der Held dieser Epoche die Gabe der Mäßigung oder Besonnenheit<br />
verloren habe und deshalb in sein Verderben stürzt. <strong>Der</strong> Held ist von<br />
seiner sittlichen Reife her der Herausforderung des Schatzes nicht<br />
gwachsen und wird als gescheiterter Held auch für seine Gefolgschaft<br />
zum Türöffner des Verderbens.<br />
Das Metall und seine Zeit werden in der Völsungensage zum Symbol<br />
der Todesmächte und ihrer Herrschaft. A.J.Toynbee kommentiert als<br />
Historiker: "Die Erfindung der Metallverarbeitung legte die Saat der<br />
Klassenunterschiede und Klassenkämpfe." 12<br />
Auch die etymologischen Gleichungen der entsprechenden Worte deuten<br />
die gleichen Zusammenhänge an: idg. reudh für rot, lat. raud(us)<br />
für Metall, altsl. rud(a) für Metall, an. raudhe für Roterz und sumerisch<br />
(u)rud für Kupfer vermitteln den Symbolwert des "roten Goldes"<br />
der Sage (Rot-Kupfer-Metall) und den Weg des Kupfers als Rohstoff<br />
der Metallverarbeitung.<br />
Ahd. smid(a) für Metall, smeid(ar) für Metallkünstler gehören zu<br />
(sch)mett(ern), >mett< und (sch)meiß(en), welche selber wieder auf<br />
aisl. meitil für Meißel, gr. matall(on) für Metall, aram. Matl(a) für<br />
Stange, hebr. Metil für geschmiedeter Stab und ägypt. Madh(at) für<br />
Meißel verweisen. Mit diesen Wörtern sind auch (Ge)schmeid(e) und<br />
hebr. samid für Armband zu verbinden und diese wieder mit Schmutz<br />
und Schmant (Fett), womit der Glanz des Geschmeides umschrieben<br />
wird. Glanz und Geschmeide, d.h. Schmuck, werden auch in der ur-<br />
12 A.J.Toynbee, Menschheit und Mutter Erde, Frankfurt, Berlin, Wien 1982, S.48
sprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes aufeinander<br />
bezogen, der Kosmos als das Geschmeide oder der Glanz des göttlichen<br />
Seins in seinem schicksalhaften Ring vorgestellt, aus dem sich<br />
alles Seiende erhält, und dieser Ring als der gleichermaßen.<br />
In der griechischen Kosmologie ist die Erde oder Physis () als<br />
Mitte zwischen Olymp und Hades, zwischen Himmel und Unterwelt<br />
die Kostbarkeit, um welche die Kräfte oder Wesenheiten jener beiden<br />
Reiche über und unter ihr ringen oder streiten, weshalb Heraklit auch<br />
den als den Vater aller Dinge begreifen konnte, und erst das<br />
Ende dieses Streites entscheidet, ob die Physis in der himmlischen<br />
Vollendung erscheinen wird oder in der unterweltlichen Verbergung<br />
versteckt werden wird.<br />
Auch lat. Mont- und Münze, lat. monet(a), hebr. Man(e) und gr.<br />
Min(a) sind hier zu berücksichtigen. In der Edda hieß Men die Halskette,<br />
was uns wieder zu dem Berg zurückführt, aus dem das alles ist.<br />
<strong>Der</strong> Berg der Metalle ist im alten Orient die große Mutter selbst und<br />
die göttlichen Metallkünstler, die Schmiede: Ptah, Kedalion, Hephaistos.<br />
Kelmis, Damnameneus, Akmon etc., sind ihre Kinder, die Hephaisten,<br />
Kabiren, Telchinen oder Vulkanier. Diese unterirdischen Kinder,<br />
die aus dem Schoße der Mutter ihre Schätze hervorholen, unterstreichen<br />
das Eigentumsrecht der großen Mutter, der Mutter Erde, die auch<br />
Gaia<br />
Orakel Python Apollon (Olympier)<br />
Schatz Drache Held<br />
45<br />
der große Weltdrache<br />
ist. In der matrilinear<br />
geprägten Weltanschauung<br />
besitzt dieser Weltdrache<br />
noch nicht jene<br />
negativen Züge, die er in der patrilinear umgestalteten Göttergenealogie<br />
erhält. In der theogonisch-kosmologischen Mythe wird der<br />
weibliche Drache zum Inbegriff des Bedrohlichen, des Chaos, der den<br />
Kosmos angreift, aber auch zum Gefolgsmann ihres Prinzips, zum<br />
männlichen Schatzhüterdrachen, der die weiblichen Schätze und<br />
Geheimnisse hütet, d.h. zu einem ihrer sterblichen Vasallen, denen der<br />
Glanz des Gatten, Sohnes und Geliebten der großen Mutter vollends<br />
abhanden gekommen ist. Ein Beispiel ist der Drache Python, der den<br />
Platz der Gaia bewachte und von Apoll besiegt wurde.<br />
In der Heldensage rächt sich der besiegte theogonisch-kosmologische<br />
Drache, indem er die Chaosdrohung durch seine Lockmittel oder<br />
Schätze, die er verliert, realisiert, indem sie den männlichen Hel-
46<br />
denverstand in seine Besitz- und Machtgier verstricken, was man heute<br />
mit der Fusion von Eros und Todestriebes wieder zu begreifen beginnt.<br />
So straft der besiegte Drache noch in seinem Untergange jene Lügen,<br />
die ihn als Ungeheuer und als Gefahr schlechthin negativ gedeutet wissen<br />
wollen, weil erst nach seinem Tode deutlich zu werden beginnt,<br />
wovor dieser Wächter den Kosmos wirklich bewahrt hat. Daß der<br />
Drache ursprünglich als Symbol der Weisheit begriffen wurde, um die<br />
Bäume der Erkenntnis zu hüten, den Goldapfelbaum der Hesperiden,<br />
die "üppigen Bäume" des Berges Meru oder Junos Hochzeitsgabe für<br />
Jupiter, wird selbst in dieser Bedrohung sichtbar, der der Held hier mit<br />
seinem Schatzgewinn preisgegeben wird.<br />
Daß der Erwerb der Weisheit, des Lebensapfels, d.h. des Schatzes,<br />
nicht immer mit dem Tod des Schatzhüters endet, zeigt das schon erwähnte<br />
georgische Märchen vom Tschongurispieler, das den Schatz<br />
auch noch mit dem Geheimnis um Leben, Tod und Wiedergeburt verbindet.<br />
Samen und Frucht,<br />
Kind und Mann,<br />
Geliebter vor- und Geliebter nach der Zeugung,<br />
verborgener- und entdeckter Schatz,<br />
Geheimnis und Wissen.<br />
Historisch mag sich<br />
die Nibelungensage<br />
entweder auf das<br />
Ende der Nibelungen<br />
beziehen, so<br />
wie Kunstmann es<br />
rekonstruiert hat, d.h. auf die Protobulgaren, oder auf die mittelalterlichen<br />
Herrschaftsverhältnisse in Nord- und Mitteldeutschland,<br />
wie sie Ritter-Schaumburg 13 in Korrelation zur Dietrichsage skizziert.<br />
Mythisch bleiben aber in diesem Kontext das <strong>Drachenkampf</strong>motiv, das<br />
Schatz- und Ringbild sowie der Ringfluch.<br />
<strong>Der</strong> Ring steht symbolisch neben den anderen Bildern der Verbindung<br />
und Treue für die Ewigkeit, für das Sein ohne Anfang und Ende, er ist<br />
das Symbol auch der Urzeit vor dem Zeitanfang, und zwar, weil er als<br />
Yoni das Weibliche schlechthin darstellt, die große Mutter repräsentiert,<br />
zu der auch ihr Jungfrauenaspekt durch den Helden wieder befreit<br />
wird. Obwohl unabhängig von allem Männlichen, regt erst ihr göttlicher<br />
Geliebter sie zu der Gestaltung ihrer eigenen Schöpfung an, denn<br />
die Vegetationsgötter sind nicht nur phallisch, sondern auch die Vegetation<br />
selbst, die aufkeimt und verblüht. In der Unterscheidung ihrer<br />
Schöpfung erscheinen sie in den Bildern, welche die folgende Tabelle<br />
zusammenfaßt.<br />
13 H.Ritter- Schaumburg, Die Nibelungen zogen nordwärts, München, Berlin 1983
So wird das Leben nur in seinen unterweltlichen und weltlichen Aufenthaltsorten,<br />
in der Geburts- und Todesperiode unterschieden; denn<br />
genauso wie Samen und Frucht dasselbe sind, aber in der Zeit differenziert,<br />
so sind das Kind und der Gatte der großen Göttin dasselbe,<br />
nämlich die göttlichen Geliebten, die das Herz der Mutter erfreuen<br />
oder mit Trauer erfüllen.<br />
<strong>Der</strong> Ring ist deshalb auch das Symbol der eigentlichen Kraft und<br />
Macht, denn nur das Weibliche kann aus sich selbst heraus etwas<br />
Neues, das Leben und die Schöpfung, hervorbringen, so daß die Substanz,<br />
die Spinoza als causa suis begriffen hat, in der Mythologie<br />
immer die Große Mutter ist, was auch die alten Hebräer mit ihrem Begriff<br />
der Schechina wußten oder die voraristotelische Weisheit, die das<br />
griechische Wort als das "All des Seienden", das sich selbst<br />
hervorbringt, begriff, als : Götter, Sterbliche und<br />
alles andere.<br />
Simrock 14 und nach ihm andere haben behauptet, daß in der germanischen<br />
Sage die Begründung für den Fluch des Ringes fehlt, eine Feststellung,<br />
die nur oberflächlich richtig ist.<br />
Schon die Beschreibung des Ringes selbst wäre eine ausreichende Begründung.<br />
Er ist aus dem "roten Gold", d.h. aus Metall geschmiedet,<br />
und näher bestimmt: aus Kupfer. <strong>Der</strong> Fluch, der über der Macht und<br />
Kraft liegt, die der Ring versinnbildlicht, wird schon durch seinen<br />
Stoff begründet. Weil er aus Metall ist, ist auch seine Kraft und Macht<br />
von seinem Geiste. Den Germanen der Heldenzeit war das selbstverständlich.<br />
Die Worte Erz, Metall, Schmied, schmieden, Meißel, Stange<br />
etc. bringen den Ring und das Wissen und die Kunst der Kupfer- und<br />
Eisenverarbeitung, d.h. den Ring und das Schmiedehandwerk direkt<br />
zusammen. Hammer und Meißel, Axt und Schwert, Spaten und Pflug,<br />
Ring und Kette stehen für eine neue Zeit. <strong>Der</strong> Mythos unterstreicht das<br />
durch die Rolle, die er immer wieder dem Schmied zuweist. Man kann<br />
aber auch in der Reihenfolge, in der der Ring seinen Besitzer wechselt,<br />
einen kulturgeschichtlichen Hinweis auf die Bedeutung der Schmiede<br />
entdecken: Zwerge, Götter, Riesen und Menschen. <strong>Der</strong> Ring des Andwari,<br />
des Zwergen, ist schon das geschmiedete Metall, mit dessen<br />
Möglichkeiten die Nachtseiten des Menschlichen entfesselt werden,<br />
der Egoismus, die Begierde, das Interesse etc. Er ist damit auch schon<br />
der Ausdruck eines seelischen Verhängnisses, einer Versuchung der<br />
titanischen Selbstüberhebung, der Leugnung des eigenen Grundes, des<br />
14 K.Simrock, Die Edda, Stuttgart 1888, S.423 ff<br />
47
48<br />
Machtmißbrauchs, der ohne Rücksicht auf die Folgen das ausführt,<br />
was er ohne Widerstand zu fürchten, vollstrecken zu können vermeint<br />
und die Seele in ihr eigenes Verderben treibt.<br />
Aber auch die Anknüpfung des Ringfluches an die "Otter-Hecht-Episode"<br />
der Edda liefert seine Begründung. Die germanischen Volkslieder<br />
erklären, daß die Episode "Otter und Hecht" zu einem Mythologem<br />
gehört, das das Würfeln oder Losen um die Seele behandelt. In einem<br />
farörischen Lied heißt es:<br />
Würfelt der Ries und der Bauersmann,<br />
verlor der Bauer, der Riese gewann.<br />
Gewonnen hab ich im Wettstreit hier,<br />
nun begehr ich den Sohn von dir.<br />
Nun begehr ich den Sohn von dir,<br />
es sei denn, daß du ihn birgst vor mir. 15<br />
Odin versteckt ihn als Korn in der Ähre und der Riese mäht das Feld,<br />
aber das Korn fällt beiseite. Hönir versteckt ihn als Flaum am Schwanenhals<br />
und der Riese reißt ihm den Hals ab, aber der Flaum entschwebt<br />
ihm. Loki versteckt ihn als Roggenkorn (Sohn, Ring) im Bauche<br />
des Fisches und der Riese fängt ihn, aber Loki tötet ihn dabei.<br />
Das ist der wirkliche Grund des Fluches, der auf dem Ring lastet, das<br />
gebrochene Versprechen (Metathese des Ringsymbols), der Vertrauensbruch<br />
der Götter, der Hreidmars seltsame Lösegeldforderung erklärt,<br />
denn ein versehentlicher Totschlag hätte Hreidmar nicht so aufgebracht<br />
und nur die normale Höhe des Wergeldes gekostet. Die erste<br />
List des Loki verlangte schon die nächste, den Raub des Andwari-<br />
Schatzes, der deshalb, d.h. als Diebesgut, von Anfang an verflucht war.<br />
Ein Mord brachte den Schatz also in die Hände der Götter, der ihren<br />
Diebstahl erst ermöglichte. Auf diese Weise wurde also die Kraft und<br />
die Macht, die der Ring darstellt, in sein Gegenteil verkehrt, <strong>Der</strong><br />
Schatz wurde zum Diebesgut, das der Räuber verstecken muß, um es<br />
genießen oder behalten zu können. Und die Verstocktheit, mit der sich<br />
Mörder und Räuber weigern, ihr Unrecht wieder gut zu machen, lastet<br />
als Fluch auf dem Schatz, verhext jeden, der ihn berührt. <strong>Der</strong> Mythos<br />
zeichnet die unverholene Goldgier der Götter, d.h. ihre dunkle Seite<br />
also sehr deutlich.<br />
Dieses Bild der Verbergung durch die Verwandlung, um der Verfolgung<br />
zu entgehen, gestaltete auch die keltische Mythologie, um Ta-<br />
15 Rosa Warrens, Germanische Volkslieder der Vorzeit III, Hamburg 1866, S.183-194
liesin als Gwion auszuweisen, der verbotenermaßen vom Kessel der<br />
Ceridwen trank und daraufhin inspiriert und hellsichtig wurde. Seiner<br />
Verfolgung durch Ceridwen versuchte er genauso zu entgehen wie der<br />
Bauernsohn dem Riesen. Auch Bechsteins Märchen von den Kindern<br />
des Zauberers arbeitet mit diesem Gleichnis: Entweichen durch Verwandlung.<br />
Zum Lebenssymbol des Ringes aus Metall gehört aber auch der Hammer<br />
als Werkzeug seiner Gestaltung, zum Lebenssymbol des Ringes in<br />
der Gestalt des Ank-Symbols aber der Lingam als dessen Entsprechung,<br />
dessen phallische Bedeutung auch in der Variation als Axt,<br />
Schwert oder Degen, d.h. in den Bildern männlicher Aktivität oder Tätigkeit,<br />
zu beachten ist. Das Wort Metall bedeutet originär dasselbe wie<br />
die Wörter Stange oder Meißel, d.h. es spricht den Sinn des Werkzeugs<br />
an sich aus. <strong>Der</strong> Ring und der Hammer (Axt, Stange, Schwert etc.)<br />
zusammen repräsentieren daher auch den ursprünglichen, androgynen<br />
Drachen, der nicht nur beide, Frau und Mann, schützt, sondern deren<br />
schöpferische Potentialität selbst darstellt, und dessen Tod daher auch<br />
im initiationsmythischen Kontext den Tod der Jungfrau und des Knaben,<br />
der göttlichen Verliebten (oder ihre Gram) und den Tod des göttlichen<br />
Kindes im Manne bedeutet.<br />
Das Verhältnis von Hammer und Ring kommt in solchen Geburtshelfermythen,<br />
wie den griechischen Mythen von Prometheus oder Hephaistos<br />
zum Ausdruck; dem kabirischen Titanen und dem lemnischen<br />
Kabiren, der auch als Sohn des Titanen galt. Ihre kabirische Genealogie<br />
stellt sie direkt neben die große Mutter, über die sie für diese Rolle<br />
der mythischen Geburtshelfer prädestiniert sind. Hammergeburten sind<br />
in der griechischen Mythologie stehende Metaphern für Götter- oder<br />
Heldengeburten.<br />
Die eine Hälfte des Drachenringes steht also auch in diesem Kontext<br />
für das Leben und die andere für den Tod; und der Ring des Drachens<br />
stellt die ewige Wiederkehr des Lebens durch den Tod hindurch dar.<br />
Im Schema: Drache- anthropomorpher Held, befreit der Tod des Drachen<br />
die Jungfrau zur Mutter und den Knaben zum Mann, er ist die<br />
Voraussetzung der Geburt des sterblichen Menschen und in der Wiederkehr<br />
der Heldenprobe die Herausforderung des Lebens durch den<br />
Tod. Dies wird besonders deutlich in jenen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />
initiationsmythischen Charakters, in denen das oder die Opfer des Drachens<br />
vom Sieger, der hier stets Schamane oder Initiierter ist, zum<br />
Leben wiedergeboren wird. Die australische Mythe von Nomurngguns<br />
Kinderraub führt uns in diesen Kontext ein.<br />
49
50<br />
Sigurd/Siegfried erscheint in der Nibelungensage trotz aller Heldentaten<br />
als gescheiterter Held, der die Prüfung zur Überschreitung der<br />
Schwelle nicht bestanden hat, obwohl er mit vielen guten Gaben ausgestattet<br />
war, weil ihm vor allem die entscheidende Tugend fehlte, die<br />
Tugend der Besonnenheit, welche die Gier zu zähmen weiß.
<strong>Der</strong> Schlangenring<br />
Die alte Mythologie sah im Drachenring das Bild der ewigen Wiederkehr<br />
des Lebens und des Todes, der Reinkarnation der Seelen der<br />
Lebewesen, des Abstiegs und Aufstiegs des Geistes in die Materie und<br />
aus der Materie heraus. Dieser Ring wurde gezeichnet als eine<br />
Schlange, die sich in den Schwanz beißt<br />
oder als zwei Schlangen, die sich gegenseitig<br />
zu fressen versuchen und auf diese Weise<br />
den Ring reproduzieren, unterschieden als<br />
weiße und als schwarze Schlange, als Diesseits<br />
und Jenseits.<br />
Als das, was mit jeder Bewegung zu sich<br />
selbst zurückkehrt, als das, was es selbst<br />
bleibt in all seinen Verwandlungen von Form oder Gestalt, repräsentiert<br />
dieses Bild die älteste Vorstellung von dem, was später die Philosophen<br />
Substanz nennen werden. Die Griechen nannten den Schlangen-<br />
oder Drachenring (Schwanzesser).<br />
Bis in die Schriften der mittelalterlichen Alchimisten wirkte dieses<br />
Symbol der ewigen Erneuerung oder Urquelle auch in Europa fort und<br />
stand sogar Pate für die Benzolringverbindungen<br />
der modernen Chemie, die Kekule<br />
von Stradonitz entdeckte.<br />
<strong>Der</strong> Uroborus, dessen Bild und Gleichnis universal<br />
verbreitet ist, ist der draco caelestis der<br />
antiken Astrologie oder der Drache der Finsternis<br />
der Gnosis, der nach Macrobius<br />
phönizischer Herkunft ist: "Hinc et Phoenices<br />
in sacris imaginem eius experimentes draconem<br />
finxerunt in orbem redactum caudamque<br />
suam devorantem, ut apparent mundum et ex se ipso ali et in se<br />
revolvi." (Macrobius, Saturn.I,9,12) In der Pistis Sophia, dem einzigen<br />
umfangreichen und vollständigen Text der Gnosis, den wir heute<br />
neben dem Poimander noch besitzen, heißt es: "Die äußere Finsternis<br />
ist ein großer Drache, dessen Schwanz in seinem Munde, in dem sie<br />
außerhalb der Welt ist und die ganze Welt umgibt." (Kap.126)<br />
Die Gnosis kannte ihn aber auch als Sonnenschlange und -<br />
. Beide gehen zurück auf den orphischen , den Kronos-<br />
51
52<br />
Herakles (!) der orphischen Kosmogonie; denn die orphische Etymologie<br />
übersetzt den Namen des Herakles als , d.h. die<br />
sich windende Schlange, der schließlich mit allen orphischen Gottheiten<br />
zusammenfällt, so z.B. mit Phanes: <br />
, - <br />
- (Kern, oprh. Frag.<br />
58) oder mit Helios-Zeus-Dionysos.<br />
Er ist also auch in der orphischen Mythologie das gleiche, was er in<br />
Südamerika und China ist, der Weltdrache<br />
oder die Gottheit, die das Werden<br />
und Vergehen der Welt darstellt, die<br />
ewige Wiederkehr des Gleichen, das<br />
ν κα πν.<br />
Das gleiche besagt der Name des Weltdrachen<br />
in den Zauberpapyri: Abraxas<br />
(siehe: Pap. Leiden, Preisedanz XII,<br />
202). Philo von Byblos führt ihn auf die<br />
Einsetzung durch Thaautos (Thot) zurück,<br />
d.h. auf die altägyptische Theologie (Frag.Hist. Graec.III, 572).<br />
<strong>Der</strong> Uroborus wird auch Leviathan, Äon, Okeanos oder Kneph<br />
(Chnouphis), die älteste Gottheit der ägyptischen Urwelt, genannt.<br />
Gleich mit der sich selbst verschlingenden Schlange ist ihre Darstellung<br />
als zweiköpfige Schlange, wie sie etwa auf keltischen Münzen<br />
dargestellt wird oder auf südamerikanischen und taivanesischen<br />
Abbildungen nichtchinesischer Herkunft, etwa den Bildern der Paiwan,<br />
als zweiköpfige Schlange, die nicht zu einem Ring verbunden ist, sondern<br />
an jedem ihrer Enden einen<br />
Kopf besitzt und deshalb die Einheit<br />
von Leben und Tod polar<br />
zeigt im Gegensatz zu dem Symbol<br />
des Ringes zweier Schlangen.<br />
In dieser Form repräsentiert die<br />
doppelköpfige Schlange das in<br />
zyklischem Wechsel andauernde<br />
Seinspotential in den Gestalten des endlich Seienden, die materia<br />
prima der Schöpfung. Bei den Paiwan heißt diese Schlange Vorovorn,<br />
der Älteste, und gilt als der Ahne des Adelsstandes der Paiwan, dessen<br />
Ursprung in den Zeiten der Weltentstehung, dessen Verbindung über<br />
die Ahnen mit der Gegenwart, und dessen ständige Wiedererneuerung
in den neugeborenen Nachkommen und deren Nachkommen auch in<br />
Zukunft sie verbürgt. Diesem Wesen der Auseinanderbewegung seiner<br />
Pole: Ursprung und Zukunft, droht in jeder Gegenwart das Zerreißen<br />
seiner Kontinuität, das es rituell abzuwehren gilt. Aber auch in diesem<br />
Bild wird der Zwist und seine Krisis zugunsten der Betonung der<br />
Einheit und Kontinuität des Seins unterdrückt, denn es bleibt am Ende<br />
immer unentschieden, welche Seite den Anfang und welche das Ende<br />
markiert, während die Schlange als Verbindung beider Endpunkte<br />
(Köpfe) das Leben als einen umkehrbaren<br />
Weg von der Geburt zum<br />
Tode und vom Tod zum Leben darstellt,<br />
der sichtbar wird als eine Oszillation<br />
der Zeit, die in der Dauer<br />
und Einheit der Bewegung der<br />
Schlange selbst aufgehoben ist. Die<br />
unsichtbare Energie der Schlange verbindet in diesem Bild also ihre<br />
beiden sichtbaren Enden oder Pole zu einem unsichtbaren Ring, da<br />
auch in diesem Konzept der Ursprung in der Gegenwart liegt. Diese<br />
Dauer oder Einheit der Bewegung oder Energie heißt in der australischen<br />
Mythologie: Ur- oder Traumzeit, von den nordwest-australischen<br />
Ungarinyin nach der Schöpferschlange Ungud auch Ungur genannt,<br />
was eben die schöpferische Weltschlange mit dem Seinsprinzip<br />
(ens commune) und Seinspotential gleichsetzt.<br />
Auch in Gallien, Mittelamerika und China ist dieses Symbol wie in<br />
Australien mit der Wiedergeburtslehre verbunden und so auch an den<br />
anderen Plätzen seines Erscheinens.<br />
Das Verschlingen der alten durch die neue Schlange erzählt die Guajiro-Mythe<br />
von der Himmelsschlange Mami. Quetzalcoatl und Uitzilopochtli<br />
bilden den Ring der Weltordnung, die zu garantieren, sie die<br />
beiden anderen Geschwistergottheiten beauftragt haben. Die araukanische<br />
Mythe von Threngthreng und Kaikai-filu stellt auch den<br />
Kampf der schwarzen- gegen die weiße Schlange dar. Auch die altamerikanischen<br />
Heldensagen knüpfen an die altorientalischen kosmologischen<br />
Themen an oder korrespondieren mit ihnen.<br />
53
54<br />
Elementen- und Geschlechterwechsel der Akteure<br />
<strong>Der</strong> kosmologische <strong>Drachenkampf</strong> der Veden, der Kampf Indras gegen<br />
Ahi-Vritra, verbindet den Drachen nicht nur nicht mit dem feuchten<br />
Element, dem Wasser, wie die Gleichnisse des vorderen Orients, genauer<br />
noch: wie jene der semitischen Überlieferung, sondern er variiert<br />
außerdem noch das Geschlecht. Vritra ist ein Dämon der Trockenheit,<br />
des heißen Windes, gegen den Indra ständig zu Felde zieht und den er<br />
schließlich mit seinem Donner und Regen besiegt genauso wie in<br />
China der C'in lung mit seinem Donner und Regen den Tiger des Westens<br />
überwindet.<br />
Zu erwähnen sind hier auch die<br />
Drache Gattin Sw Sw<br />
Kind<br />
wird von Sw bedroht<br />
mythologischen Vorlagen der<br />
Ritter Blaubart-Märchen und -<br />
sagen, in denen die Helden<br />
weiblich sind.<br />
In den russischen und italieni-<br />
schen Fassungen erscheint an seiner (des Blaubarts) Stelle der Drache,<br />
der Winter- oder Todesdrache, der Herr des Totenreiches. Er wird in<br />
diesen Märchen zwar nicht getötet, wohl aber besiegt und nach dem<br />
Vorbild der Heldin wird ein Weg gezeigt, auf dem man seiner Macht<br />
entkommen kann. Die List der Heldin, die alle anderen toten Vorgängerinnen<br />
miterlöst, führt zur Wiedergeburt oder zum Frühlingserwachen.<br />
<strong>Der</strong> Drache erliegt hier nicht dem Kampf, sondern schließlich<br />
seiner eigenen Neigung, die das Leben liebt, das sich aus seiner<br />
Umarmung befreit. Die Jungfrau rettet sich in diesen Versionen selbst,<br />
die Opfer und Held gleichsetzen, und gemahnt an den Dualismus oder<br />
die Stellvertretung von Persephone und Kore, der Gemahlin des Hades,<br />
der sie immer wieder für eine Hälfte des Jahres freigeben muß, oder<br />
verweist auf die Kongruenz der Initiation mit der Wiedergeburt, aber<br />
auch auf spezifische verwandtschaftsrechtliche Strukturen.<br />
In diesem Kontext steht auch ein georgisches Märchen, dessen Schema<br />
man als Vorlage jener aus Frankreich bekannten Bearbeitungen über<br />
die Schöne und das Biest ansehen kann. <strong>Der</strong> Drache ist im georgischen<br />
Märchen ein verwunschener Ehemann, der seine Gattin (die jüngste<br />
von drei Schwestern) mit sich in die Unterwelt nimmt, aus der sie<br />
schwanger nachhause zurückkehrt, um das Kind auszutragen. Vom<br />
Neid der Schwestern verfolgt, gerät sie in große Not, aus der sie ihr
eigenes Kind befreit und schließlich kommt es zu einer neuerlichen<br />
Hochzeit mit ihrem Gatten.<br />
55
56<br />
<strong>Der</strong> Ring aus Mutter und Drachensohn, des Stirb und Werde<br />
Ein altes keltisches Standbild zeigt noch eine andere Version, nämlich<br />
die Mutter, die die Schlange säugt, die sie gerade gebiert, eine Deutung<br />
des Ringes mit der Ausdifferenzierung und Auflösung des Symbols der<br />
weißen Schlange. Auch hier ist die Schlange männlich gedacht und als<br />
Todesprinzip, dessen innigliche Beziehung aber zur großen Mutter genauso<br />
deutlich wird wie bei den männlichen Repräsentanten der<br />
orientalischen Mysterien. Auch von Seth, den die altägyptische Apepi-<br />
Schlange darstellt, heißt es: "geboren aus den Schamteilen der Göttin<br />
Nut"; gemeint ist hier also die Schlange und der große Feind, die Finsternis,<br />
die lange schon vor dem Licht existierten. Die Vegetationsgötter<br />
sind hier offenbar phallisch, die sich von der Mutter nährende Vegetation<br />
und die zu ihr wieder zurückkehrenden, sterbenden Götter.<br />
Dieses Bild erscheint später auch in der<br />
griechischen Lyrik (Stesichoros) und in<br />
der Tragödie. Im Agamemnon läßt Aischylos<br />
die Klytaimnestra träumen, daß<br />
sie einen Drachen gebiert, der ihr mit der<br />
Milch auch ihr Blut aussaugt, und<br />
Orestes verspricht dann dieser Drache zu<br />
sein.<br />
Immer wenn ihre Mütter in menschlicher<br />
Gestalt erscheinen, sind die Drachen<br />
oder Schlangen als ihre Söhne männlich<br />
und die Repräsentanten der mütterlichen<br />
Finsternis, ihrer negativen und tödlichen<br />
Aspekte; trotzdem tötet der Drache niemals<br />
seine Mutter, sondern immer nur<br />
den Vater oder den Bruder, während der<br />
Held in den kosmologischen Versionen<br />
oft als Muttertöter in Erscheinung tritt.<br />
Das assyrische Wort für Drache, Seeschlange<br />
oder Hydra heißt basmu und<br />
ist ein Kompositum aus basu und umu. Basu übersetzt Bezold mit<br />
"sein, dasein" und umu ist das Wort für Mutter. Damit sagt das assyrische<br />
Wort für Drachen basmu (basu-umu), daß der Drachen die Erstlings-,<br />
Anfangs- und Urmutter ist, was das "Enuma elish" vollends
erklärt, in dem von dem Urmeer Tiamat, jenem Wesen, das schon da<br />
war vor der Erschaffung der Welt, die Rede ist. Marduk schafft die<br />
Welt erst aus ihren Teilen, nachdem er Tiamat im <strong>Drachenkampf</strong> besiegt<br />
hat. Hier wird mit aller Deutlichkeit der Drache als die große<br />
Urmutter allen Seins dargestellt (ti- ama- at; ti = leben geben, ama =<br />
Mutter, ada = Urahn). Diese Weltschöpfung, welcher der Tod des Drachens<br />
oder der Schlange nach einem Kampf vorausgeht, erscheint als<br />
Motiv auch bei den australischen Ureinwohnern, deren Welt aus<br />
Eingana hervorgeht, nachdem ein Speerwurf sie getötet hat.<br />
Es wurde bereits gesagt, daß der Drache, der in den Mythen bekämpft<br />
wird, auch nach seinem Geschlecht variiert. <strong>Der</strong> Drache des einschlangigen<br />
kosmologischen Ringes ist androgyn, die zwei Drachen des<br />
zweischlangigen kosmologischen Ringes repräsentieren die Prinzipien:<br />
Leben-Tod, alt-jung, männlich-weiblich etc. <strong>Der</strong> zweischlangige Ring<br />
ordnet diese Gegensätze dem Ringprinzip der Einheit und der ewigen<br />
Wiederkehr unter. Einige australische Systeme und das manichäische<br />
System wissen von einem Ende der Wiederkehr und von dem Sieg<br />
eines der repräsentierten Prinzipien, während der <strong>Drachenkampf</strong> Behemots<br />
gegen Leviathan in der Fassung des Leviticus Rabba mit dem<br />
Tode beider Widersacher endet, das ist das Ende der Welt. Und wieder<br />
taucht ein großes Spiel der Illusionen hinab in einen unfaßlichen Abgrund.<br />
Das Geschlecht des Drachen steht immer in Opposition zu dem Geschlecht<br />
seiner Mutter, wenn diese selbst nicht als Drache erscheint,<br />
d.h. immer wenn er weiblich ist, repräsentiert er auch deutlich die<br />
kosmologische Urmutter.<br />
<strong>Der</strong> Kampf des Helden gegen den Drachen variiert dagegen symbolisch<br />
den dualistischen <strong>Drachenkampf</strong>; der Drache, ob weiblich oder<br />
männlich, wird nur noch negativ gedeutet, wenn der Held positiv dargestellt<br />
wird. Hier finden wir in Hinblick auf die Charakterisierung des<br />
Helden vorzüglich drei Gruppierungen: den jungen männlichen Helden,<br />
den männlichen Götterfürsten und das Kind (oder der Junge), die<br />
einzeln oder als Zwillinge auftreten. In die Gruppe I gehören verschiedene<br />
Märchen, die Initiationsmythen mit der Heldenprobe, verschiedene<br />
Heldensagen und die altägyptische, vegetationsmythische <strong>Drachenkampf</strong>version,<br />
in die Gruppe II die theo-kosmogonischen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />
oder Götterkämpfe und in die Gruppe III die<br />
verschiedenen aitiologischen Versionen.<br />
Auch die mystische Ausdeutung dieser Symbolik ist variantenreich<br />
und komplex und gibt ein schönes Beispiel dafür, daß das Symbol nie<br />
57
58<br />
vollständig ausgedeutet werden kann. Sie verschmilzt makro- und<br />
mikrokosmische Perspektiven in dem System einer universalen Geistlehre,<br />
in der der Makro- und der Mikrokosmos nur Erscheinungsweisen<br />
des Geistes selbst sind.<br />
Antworter Herausforderer Streitgegenstand<br />
I Held Drache Jungfrau<br />
männlich Schatz<br />
Todesdrohung<br />
II Zukünftiger Götterfürst Drache Kosmos<br />
weiblich<br />
Chaos<br />
III Kind Drache Volk<br />
Zwillinge Chaos<br />
Tod<br />
<strong>Der</strong> ägyptische und mesopotamische Mythos oder das Gilgamesh-<br />
Epos, die Argonautensage oder die Hesperidenepisode im Herakleszyklus<br />
verbinden den <strong>Drachenkampf</strong> mit dem Symbol des Lebensbaumes,<br />
und zwar genauso wie das die biblische Sündenfallsgeschichte indirekt<br />
tut. Aber auch Sigurds Kampf fand unter einer großen Linde<br />
statt. In dieser Sage ist das Sujet sicherlich nur noch eine Reminiszens.<br />
Die Tatsache, daß der in dieser Sage scheinbar neutral bewertete Baum<br />
(das fallende Blatt) seine Verwundbarkeit auch in der Zukunft aufrechterhält,<br />
ist aber höchst aufschlußreich. <strong>Der</strong> Baum stellt die Macht<br />
des Mütterlichen dar neben ihrem sterblichen, weil der Gier verfallenen<br />
Drachensohn, dessen Funktion der Held durch den Gewinn des<br />
Ringes übernimmt, was auch ihn, obwohl er die Möglichkeit hatte unsterblich<br />
zu werden, zu einem Sterblichen macht; die große Mutter<br />
sorgt dafür, daß auch der Held, der sich zum Drachen machen will<br />
(Baden im Horn des Drachens), dem Schicksal ihres unterirdischen<br />
Sohnes erliegt; das Blatt, das auf seinen Rücken fiel, hält seine Verletzbarkeit<br />
und Sterblichkeit aufrecht und verweist auf den Tod als Erlösung<br />
der Gescheiterten und sittlich Schwachen.<br />
<strong>Der</strong> Baum steht auf zweierlei Weise neben dem <strong>Drachenkampf</strong>geschehen:<br />
er steht entweder als Kostbarkeit neben den anderen Streitgegenständen<br />
(dann also als ein Schatz) oder als Gleichnis des älteren positiven<br />
Drachenprinzips (dann als Muttersymbol). <strong>Der</strong> Schatz als das Geheimnis<br />
und das Muttersymbol der Mysterien bedeuten aber wiederum<br />
dasselbe.<br />
Auch der Laubbaum ist ein Symbol der Wiederkehr des Lebens und<br />
Sterbens, während der Nadelbaum die Unsterblichkeit darstellt. <strong>Der</strong>
Lebensbaum wird aber auch als die Leiter der Verbindung der kosmischen<br />
Regionen und als Weltachse begriffen oder in dieser Funktion<br />
mit der Nabelschnur verglichen und dann hat er auch phallische<br />
Bedeutung. Diese Bedeutung einer Verbindung der Weltsphären hat<br />
aber auch der Berg. In der Weltmythologie werden der Baum und der<br />
Berg (Stein) auch als die mythischen Urstoffe oder Herkunftsorte des<br />
Menschen angesprochen, vor denen in einigen Gegenden auch heute<br />
noch Fruchtbarkeitsrituale und Hochzeiten abgehalten werden.<br />
Als Schattenspender und Schützer zeigt der Baum die mütterlichen-<br />
und als aufrechter Stamm die widerstrebenden männlichen Eigenschaften,<br />
eine Symbolik, die noch bei der ältesten und bei der primitiven<br />
Feuerzeugung gegenwärtig ist.<br />
Auch der Berg gilt sowohl als die große Mutter als auch als der aufrechte<br />
Stein. Das androgyne Bild der Urwesen ist hier noch präsent.<br />
Mit der Synonomie von Gipfel (Bergspitze) und Haupt im griechischen<br />
Wort spielt der griechische Mythos, wenn er einige Kinder<br />
des Zeus aus dessem Haupt hervorgehen läßt.<br />
Die Verbindung des <strong>Drachenkampf</strong>es mit dem Lebensbaum variiert<br />
also den Streitgegenstand (Kostbarkeit, Schatz, Jungfrau, Früchte etc.)<br />
und kommt zudem in den Mythen vom Raub des Lebenskrautes (Herakleszyklus,<br />
Gilgamesh-Epos, Paradiesmythen) vorzüglich zur Sprache.<br />
Während der Raub des Krautes oder der Frucht den Verlust der Unsterblichkeit<br />
oder des Paradieses zum Ausdruck bringt, steht der Baum<br />
neben dem <strong>Drachenkampf</strong> entweder als Bild der Weltleiter oder Weltachse,<br />
die zwar unter dem Geschehen leidet, aber durch den <strong>Drachenkampf</strong><br />
nicht wirklich gefährdet wird, oder als Gleichnis der großen<br />
Mutter, auf deren Leib sich das Geschehen austrägt. In der Edda aber<br />
ist sie es, die mit der Weltschlange zusammen umkommt, denn die<br />
Götter, Riesen, Zwerge, die Welt und die Menschen werden von der<br />
Völuspa in ihrem Untergang geschaut (Ragnarökr), aus dem aber, wie<br />
anderswo auf der Welt auch erzählt wird, alles wiederkehrt.<br />
Das Motiv des von den kosmologischen Schlangen umringten Lebensbaumes<br />
ist auch auf papuanischen Masken öfter verarbeitet worden<br />
und stellt ikonographisch die makrokosmische Variante zu den europäischen<br />
Seelendrachenbildnissen dar, zumal sie selbst im Initiationsprozeß<br />
eine Rolle spielen. Während die eine hier wiedergegebene Maske<br />
die Stirnpartie als den Erdbereich gestaltet und die Nase als Baum, um<br />
den sich eine Schlange mit zwei Köpfen, die mit den Augen der Maske<br />
zusammenfallen, windet, nimmt die andere Maske den geöffnete Mund<br />
59
60<br />
als den Einstieg in die Unterwelt und setzt die Krone des Baumes in<br />
die Stirn, um die sich zwei Schlangen ringen, deren Köpfe auch hier<br />
mit den Maskenaugen zusammenfallen.<br />
Die Nyigina und Ungarinyin, Stämme Nordwestaustraliens, sprechen<br />
in ihrer Mythologie von dem ewigen Kampf der Süßwasser-Ungud<br />
gegen die Salzwasser-Ungud (Ungud= Regenbogenschlange und Weltschöpferin),<br />
bei dem zuletzt wohl die Yara-Ungud oder Wanguman<br />
(die Salzwasserschlange) siegen wird. Ähnlich siegt auch Luchan, der<br />
Weltdrache der Mongolen, der das große Meer bewohnt und am Ende<br />
der Welt die ganze Welt verschlingen wird. Bis dahin ernährt er sich<br />
von den Früchten des Baumes Asamba Baraschu, der am Fluß Dso<br />
Moloiba steht.<br />
Neben ihrer dualen <strong>Drachenkampf</strong>version haben die Nordwest-Australier<br />
auch die <strong>Drachenkampf</strong>version des Kampfes der schwarzen (bösen)<br />
Schlange, die Menschen frißt und Tambune bedroht und nur von<br />
den heldenhaften Ban-man (Schamanen) besiegt werden kann. Eine<br />
Bildauffassung, die die kosmologischen Symbole auf die anthropomorphe<br />
Gestalt projiziert, haben die Ungarinyin allerdings auch. 16 In<br />
Nordwest-Australien stehen die <strong>Drachenkampf</strong>version: Süßwasser- gegen<br />
Salzwasserschlange und Ban-man gegen Nomurnggun für die<br />
kosmologische (klassifizierender Totemismus), d.h. hier dualistische<br />
und initiationsmythische (Seelendrachen) Perspektive.<br />
Im Falle des zweiten Beispiels stehen die Kinder des Schamanen (sein<br />
Va (Held)<br />
Br (Ego) Br Nomurnggun<br />
(Opfer) (Drache)<br />
symbolisches Gegenstück)<br />
für Unwissen, Vorwitzigkeit<br />
und Ungehorsam, sie gelten<br />
als die gefährdeten Wesen<br />
par excellence, die nur<br />
durch das Wissen und die<br />
Fürsorge der Alten aus dieser Gefahr befreit werden können (Initiation).<br />
<strong>Der</strong> Sieg des Ban-man über Nomurnggun ist der Sieg über diese<br />
Gefahr, und die Befreiung der Kinder aus ihrem Bauch, ist deren<br />
Wiedergeburt und Initiation in die Gesetze der Traumzeitordnung, die<br />
alles Leben regelt und hütet. <strong>Der</strong> Held ist hier ein Vater und Schamane,<br />
der seinen Kindern die Lebenschancen durch Einweihung sichert.<br />
Auch die Melanesier erzählen von Riesenschlangen, die ganze Landstriche<br />
entvölkern, und meistens nur eine alte Frau übrig lassen, die auf<br />
geheimnisvolle Weise Zwillinge gebiert, die die Ungeheuer töten und<br />
16 Siehe: H.Petri, Sterbende Welt in Nordwest- Australien, Braunschweig 1954
damit die Erde wieder für die Menschen bewohnbar machen. 17 Die<br />
melanesischen Mythen ähneln den amerikanischen Zwillingsmythen<br />
teilweise sehr, aber auch einigen afrikanischen Mythen, wenn man von<br />
der Zweiteilung des Helden absieht. Wir nennen hier das Beispiel, das<br />
die Kombo (Nordost-Neuguinea) erzählen, von dem Ungeheuer Johac<br />
und den Zwillingen Ninguningu und Nambalia.<br />
Dagegen schildert die Mythe der Marind-anim vom Dema Yawi das<br />
Motiv vom Raub des Lebenskrautes in Verbindung mit dem <strong>Drachenkampf</strong><br />
ähnlich wie das Gilgamesh-Epos. Hätte der Pflegevater dem<br />
Yawi rechtzeitig die Unsterblichkeits-Medizin gegeben und nicht der<br />
Schlange, dann wäre er unsterblich geworden. Diese Schlange traf die<br />
Frauen beim Waschen an und verschlang sie alle. Nur das Kind einer<br />
schwangeren Frau konnten die Männer, die sie besiegten, retten, den<br />
Stammvater eines totemistischen Clans. 18 Die Konstellation der beteiligten<br />
Personen im Marind-Anim-Mythos und im Gilgamesh-Epos:<br />
Pflegevater (unaufmerksam)<br />
Schlange Yawi Unsterblichkeitsmedizin<br />
(Räuber) (Opfer) (Schatz)<br />
Utnapishtim (Spender)<br />
Schlange Gilgamesh Lebenskraut<br />
(Räuber) (Opfer) (Schatz)<br />
unaufmerksam<br />
Auch Yi, der gute Schütze der chinesischen Mythologie, der die neun<br />
Sonnen abschoß, gelangte zum König des Westens (!) wie Gilgamesh,<br />
von dem er (wie jener) das Lebenskraut erhielt, das ihm die Mondkröte<br />
stahl (wie jenem die Schlange).<br />
Während die Schlange des Gilgamesh-Epos, der Bibel oder der Marind-anim-Mythe<br />
das Lebenskraut oder die Frucht raubt oder den Raub<br />
einfädelt, bewacht der Drache des Hesperidengartens seine Früchte, die<br />
Herakles rauben soll (spiegelsymmetrischer Vorzeichenwechsel).<br />
Er ist hier also ein Hüter des Schatzes wie Fafnir, den er sich in den<br />
anderen Versionen erst noch aneignen muß. Herakles brachte Atlas<br />
17 Siehe: Rose Schubert, Mythologische Untersuchungen an ozeanischem Mythenmaterial,<br />
Wiesbaden 1970<br />
18 Siehe: P.Wirz, Die Marind-anim von Holländisch- Süd-Neu-Guinea, Hamburg<br />
1922/5<br />
61
62<br />
dazu, die Äpfel für ihn herbeizuschaffen, den er unterdessen vertreten<br />
mußte, die Last des Himmels zu tragen. Als Atlas mit den Früchten zurückkam,<br />
konnte Herakles ihm seine Last nur noch durch eine List<br />
wieder aufbürden. <strong>Der</strong> eigentliche Drachenbezwinger ist hier also Atlas,<br />
der aber um den Lohn seiner Tat betrogen worden ist. Auch hier<br />
wird der Schatz zum Diebesgut.<br />
Äquivalente: Berg, Baum, Ring, Schlange, Wasser<br />
in der Bedeutung:<br />
a) Wiederkehr des Lebens und Sterbens<br />
b) Unsterblichkeit<br />
c) Uranfang, Ewigkeit- das Sein vor der Zeit<br />
d) eigentliche Kraft und Macht<br />
e) androgynes Wesen oder Harmonie der Geschlechter<br />
Zu vergleichen ist auch das Bild des altindischen Tierkreises von Kanya-Durga<br />
am Fuße des Baumes, in dem der Drache liegt. Die Jungfrau<br />
des Zodiaks hält den Drachen im Weltenbaum in Schach genauso wie<br />
die Gattinnen des Drachen aus den Blaubartmärchenvorlagen ihren<br />
Drachen in Schach halten oder wie der Tschonguri-Spieler den Dra-<br />
chen aus dem georgischen Märchen durch sein Spiel verzaubert.<br />
(Wasser- ) Schlange(n)<br />
(Wasser- ) Schlange(n)<br />
Ring aus 1 o. 2 Schlangen<br />
Schlange mit zwei Köpfen<br />
am Fuß des Weltberges,<br />
vor dem Schatz<br />
um den Baum,<br />
mit dem Hammer,<br />
in und aus der Mutter<br />
um Baum (oder ohne Baum)<br />
Durch den Stoff<br />
des Schatzes<br />
(Stein, Juwel,<br />
Erz, Gold, Metall<br />
etc.) ist der<br />
<strong>Drachenkampf</strong><br />
auch indirekt<br />
und durch die<br />
Ortsbeschreibung<br />
(Höhle,<br />
Gebirge etc.) direkt<br />
mit dem<br />
Berg oder Stein verbunden. <strong>Der</strong> Tod des Drachens ist hier das Ende<br />
des Schutzes, den der Stein genießt, und zwar als ein Symbol, das<br />
sowohl auf die große Mutter verweist als auch auf die Kostbarkeit oder<br />
das Juwel. Wir haben dafür auch in der griechischen Mythologie einen<br />
eigentümlichen Beleg. Kosmos hat noch bei Homer die Bedeutung von<br />
Schmuck, Kostbarkeit, Geschmeide. Mit diesem Begriff bezeichnet die<br />
griechische Mythologie den Glanz des Seins, sein Geheimnis, das<br />
durch das "Große All" der Welt vermittelt wird und das nach Heraklit
(Diels-Kranz, 22B30) weder von einem der Götter noch von einem der<br />
Menschen geschaffen wurde, das nach Hesiod der gemeinsame Ursprung<br />
der Götter und sterblichen Menschen ist, und den Pindar im 6.<br />
Nemea Liede ähnlich wie Lao-tse oder die Pythagoräer "die eine<br />
Mutter" nannte, die bei Philolaos auch "Herdfeuer des All" heißt. Auch<br />
die babylonische, assyrische und akkadische Sprache kennt ganz ähnliche<br />
Gleichungen wie diese von der Mutter, dem Berg, dem Schatz,<br />
der Kostbarkeit und dem Glanz (siehe Tabelle oben), welche wiederum<br />
die Haupt-Geburten als reguläre Geburten ausweist.<br />
Dieses Bild gebraucht auch die Völsungensage, um den fluchbeladenen<br />
Ring ins Spiel zu bringen und die katastrophalen Folgen zu begründen.<br />
Hymnus Va Mu (Helden)<br />
Perle So Drache<br />
(Schatz) (Opfer)<br />
63<br />
Die Entfesselung der<br />
metallischen Kräfte,<br />
so scheint es schon<br />
diese Sage zu zeigen,<br />
greift an die Wurzeln<br />
des Lebensbaumes und erscheint noch heute in der ökologischen Krise<br />
der Erde in dem Ausmaß einer Bedrohung, die selbst den Mythos<br />
Schweigen macht, wenn auch nicht blind.<br />
Eine weitere schematische Zusammenfassung hilft ihre strukturelle<br />
Übereinstimmung gegenwärtig zu halten und auch den Zusammenhang<br />
der Sündenfallsberichte mit dem <strong>Drachenkampf</strong>motiv. Es entsprechen<br />
sich die in der folgenden Tabelle aufgelisteten Symbole.<br />
Die Schlange wiederum erscheint in Verbindung mit allen diesen Symbolen.<br />
Bei den Baum- und Bergkombinationen mit der Schlange (dem Drachen)<br />
treten als weitere Elemente die Früchte, Kräuter, Samen, Kerne<br />
etc. und Edelsteine, Metalle, der Schatz etc. auf. Hier beziehen sich die<br />
Ungarinyin Va (Held)<br />
Br Br Nomurnggun<br />
Opfer Drache<br />
Kostbarkeitssymbole<br />
direkt auf<br />
mütterliche Symbole:<br />
Mutter und<br />
Kind, Kind im Lo-<br />
tus, Juwel im Lotus, Frucht des Baumes, Schatz des Berges etc. Sie<br />
alle sind Schätze und Früchte der Erde, der Mutter, der Weisheit.<br />
Eine <strong>Drachenkampf</strong>version, die diese Elemente aber mystisch gebraucht,<br />
ist auch in einem Hymnus, der als "Hymnus an die Seele" be-
64<br />
zeichnet wird (siehe Schema oben), eingearbeitet. 19 Ein Kind ist dazu<br />
ausersehen, in der Blüte seiner Jahre die Perle der Gnosis, die ein Drache<br />
bewacht, zu gewinnen und in sein Vaterhaus zurückzubringen.<br />
Das Lied ist ein Gleichnis des Lebens, seiner dioskurischen Bestimmung.<br />
Erst den Anstrengungen seiner himmlischen Eltern gelingt es,<br />
das Kind aus der Verzauberung Ägyptens, von dem Zustand der Vergessenheit,<br />
den die Speisen Ägyptens verursacht haben, zu befreien,<br />
d.h. vegetationsmythisch gesprochen, es aus seiner Winter-Unterwelts-<br />
Gefangenschaft auszulösen; und moralisch: das Begehren zu überwinden.<br />
Die Parallele zur Ungarinyinmythe von "Nomurngguns Kinderraub"<br />
(siehe Schema oben) ist offensichtlich, von den Bezügen zu<br />
den altorientalischen Mysterien ganz zu schweigen.<br />
1 Weiße Schlange Leben<br />
Schwarze Schlange Tod<br />
2 Erde Volk<br />
Schlange Held<br />
3 Pantheon Kosmos<br />
Weltschlange/Urmee<br />
r<br />
In einem weiteren schematischen Vergleich der Versionen von <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />
werden ihre thematischen Zusammenhänge deutli-<br />
cher:<br />
Götterfürs<br />
t<br />
4 Berg Juwel/Feue<br />
r<br />
Schlange Held<br />
5 Baum Frucht<br />
Schlange Held<br />
Mit diesen fünf Schemata sollen einige funktionale Äquivalenzen der<br />
dramatis personae, der Subjekte, Objekte und Absichten der Handlungen,<br />
in verschiedenen <strong>Drachenkampf</strong>versionen so herausgestellt werden,<br />
daß die Vergleichsassoziationen oder der Wechsel zwischen den<br />
Versionen im Verlauf der Darstellung noch transparent bleiben.<br />
19 Siehe Acta Apostulorum apocrypha ed. Lipsius et Bonnet, II,2, S.219-224, dtsch:<br />
R.A.lipsius, Die apocryphen Apostelgeschichten, Braunschweig 1883, I, S.292-6
<strong>Der</strong> biblische Sündfall, eine Inversion des <strong>Drachenkampf</strong>es ?<br />
In den Mythen und Märchen, in denen der Drache Schatzhüter ist, verwehrt<br />
oder hemmt der Schatzwächter das Überschreiten der Schwelle<br />
oder den Zugang zum Schatz, d.h. er sorgt dafür, daß die Prüfung des<br />
Helden ein Ernstfall ist, daß das Mißlingen der Prüfung tödlich endet.<br />
Betrachtet man die Paradiessituation des ersten Menschen, wie sie das<br />
erste Buch Moses schildert, dann erscheinen Adam und Eva in der<br />
Situation der Prüfung, während Jachwe und Samael (=der blinde Gott)/<br />
Lucifer (der Lichtbringer) als Herausforderer auftreten, wenn auch in<br />
funktionaler Differenz. <strong>Der</strong> Verführer nämlich macht aus der von Gott<br />
gestellten Aufgabe erst eine ernste Herausforderung. Die biblische<br />
Version des 5. Schemas (siehe oben) wäre:<br />
Baum Gottessohn<br />
Paradies himmlischer Mensch<br />
Schlange irdischer Mensch<br />
theogonisch dioskurisch<br />
kosmogonisch<br />
initiationsmythische Kombination<br />
Sie entspricht ganz dem Schema der Ungarinyinmythe, wo der Vorwitz<br />
der Kinder den Gehorsam gegen den Vater vereitelt und sie zum Opfer<br />
der Schlange macht, aus deren Bauch sie nur noch der Vater befreien<br />
kann:<br />
Leben Kinder<br />
böse Schlange Schamane<br />
<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong>, der dem Sündenfall in der Bibel vorausging, hatte<br />
den Menschen zum Anlaß, nämlich die Weigerung Samaels und seiner<br />
Schar, dem himmlischen Menschen zu huldigen. Das Streitobjekt zwischen<br />
Gott und „Teufel“ aber blieb der Mensch, seine Verführung war<br />
ein Resultat und die Konsequenz jenes ersten Kampfes.<br />
Ein Streit zwischen Gott, dem Inbegriff der Gerechtigkeit und Besonnenheit<br />
wie der integrativen Vernunft und Samael/Lucifer, dem<br />
65
66<br />
Inbegriff der Begierde und des Eigenwillens, um den himmlischen<br />
Menschen, gezeichnet im Schema des <strong>Drachenkampf</strong>es, begründet den<br />
Fall dieses Engels und seiner Gefolgschaft, d.h. deren Rolle im Sündenfallsdrama.<br />
Paradies= ornatus dei Adam<br />
Samael/Lucifer Gott<br />
Nach dem Sturz in die Finsternis erscheint Samael/Lucifer in der Rolle<br />
der Schlange, die Eva verführt (siehe folgendes Schema).<br />
Samael wird theologisch als der Widerwille oder Eigenwille dargestellt,<br />
der sich von der Regierung des Geistes getrennt hat und nun<br />
seinerseits versucht, den Verstand ausschließlich in seinen Dienst zu<br />
stellen, und damit, Adam Kadmon gegenübergestellt, als Prinzip der<br />
sich selbst bedienenden Begierde, d.h. als selbstsüchtiger Trieb.<br />
Paradies Frucht<br />
Schlange Adam/ Eva<br />
<strong>Der</strong> Fall Adams erscheint dann als die Unterwerfung seines Willens<br />
unter das Verlangen. In der Aufforderung Gottes, dem Menschen, d.h.<br />
seinem Ebenbilde, zu huldigen, erscheint die enge Bindung des Samael<br />
zum himmlischen Menschen als Verhältnis des Verstandes (dem<br />
Abbild des Geistes im Menschen) zum Begehren und in der Möglichkeit<br />
seiner Zügelung die Autonomie des Willens hinsichtlich seines<br />
Gebrauchs von Sinn und Verstand. In dieser Zeichnung erscheinen<br />
Adam (Hoffnung auf die Besonnenheit) und der „Teufel“ (Höriger der<br />
Begierde) als feindliche Brüder und durch seine Beziehung auf Eva<br />
wird Adam wegen seines Verlangs nach ihr zum Opfer der Schlange,<br />
zumal Eva als Objekt des Verlangens der Schlange näher steht, als der<br />
Mythos zunächst zu sagen scheint.<br />
Während das Verhältnis des Adam zu Samael das von Verstand und<br />
Begehren ist, das des Adam zu Gott das Verhältnis von Verstand und<br />
Geist, ist das Verhältnis des Adam zu Eva das eines vom Verstand oder<br />
vom Begehren regierten Willen, dargestellt<br />
im Bilde der Geschlechterdifferenzierung,<br />
da sie als Menschen hinsichtlich ihrer<br />
Verständigkeit gleichen Wesens sind. Mit<br />
dieser Betonung der sexuellen Differenz<br />
wird aber die potentielle Gleichstellung ihrer<br />
Beziehung über den Verstand verhüllt zugunsten jener Affekte und
Leidenschaften, welche in der Geschlechterbeziehung vorherrschen,<br />
d.h. zugunsten des Verhältnisses von Wunsch oder Begehren. Das folgende<br />
Schema zeigt die Beziehungen.<br />
Das Verhältnis Adams zu Gott ist das des Vorbilds zum Abbild oder<br />
Ebenbild, das Verhältnis Adams zu Samael ist das des Verstandes zum<br />
Geist Verstand Wille Verlangen<br />
androgyn/ungeschlechtlich Gott<br />
männlich Adam I Samael<br />
weiblich Eva<br />
Vereinigung/ Ergänzung Adam II Eva<br />
Begehren oder ein Verhältnis des Streits zwischen beiden um die gegenseitige<br />
Leitung; genealogisch aber ist es ein Verhältnis von Geschwistern<br />
(direkten Kindern eines Vaters oder als Geschöpfen Gottes),<br />
während die Beziehung zwischen Gott und Samael nach dessem<br />
Aufstand eine unüberbrückbare Trennung darstellt und Adam mit Eva,<br />
die dem Samael näher steht als dem Adam, an den Scheideweg stellt:<br />
vor die Wahl des Verstandes oder der Begierde.<br />
Die genealogische Beziehung beginnt zunächst mit der folgenden Relation,<br />
in der Jachwe der Vater ist und Samael/Lucifer und Adam<br />
dessen Söhne, sie selbst untereinander also Geschwister sind:<br />
Jhw<br />
abgefal- Samael Adam<br />
lener Lucifer<br />
Sohn (äBr) (jBr)<br />
67<br />
Die Bewertung der Unterscheidung<br />
des älteren vom<br />
jüngeren Bruder entspricht<br />
der Bewertung von Kain<br />
und Abel oder Esau und<br />
Jakob, d.h. der höheren<br />
Wertschätzung des jüngeren gegenüber dem älteren Sohne, der sich im<br />
Falle Samaels von seinem Vater losgesagt hat, wie dies der ältere Sohn<br />
macht, wenn er mit seiner Heirat seinen eigenen Haushalt gründet,<br />
während einer der jüngeren Brüder bei den Eltern bleibt und deren<br />
Haushalt nach ihrem Ableben übernimmt. Diese Genealogie wird<br />
schließlich ergänzt um eine Frau und Schwester oder Tochter, deren<br />
schwesterliche oder töchterliche Bestimmung aber verdrängt wird:<br />
In dieser Konstellation erscheint Eva auf den ersten Blick näher mit<br />
Adam verbunden als mit Samael, nicht zuletzt, weil sie aus Adams<br />
Rippe geformt ist und weil sie als ein Geschenk Gottes an Adam vorgestellt<br />
wird. Doch ihre Herkunft aus der Rippe erinnert an eine andere<br />
Herkunft und Bedeutung der Eva, nämlich an ihre Schlangennatur.
68<br />
In der theologischen Deutung der patriarchalen Priesterschaft wird mit<br />
der geschlechtlichen Differenzierung von Adam und Eva schließlich<br />
die Notwendigkeit der Vermittlung des Willens zwischen dem Verstand<br />
und dem Begehren ausgedrückt, das sich dem Verstande fügen<br />
soll, aber auch die Möglichkeit der Unterwerfung des Verstandes unter<br />
das Begehren andeutet genauso wie die Möglichkeit der Rückbeziehung<br />
auf den Geist. Den Zwiespalt repräsentiert hier der Wille, d.h.<br />
seine sittliche Ambivalenz zwischen Vernunft und Eigensinn.<br />
<strong>Der</strong> Verstand als<br />
himmlisches Vermögen,<br />
d.h. seine Geistbezogenheit,<br />
wird<br />
vom Verstand als<br />
Diener der Begierde<br />
unterschieden, und<br />
die Probe des Paradieses ist die Wahl zwischen den beiden<br />
Möglichkeiten des Verstandesgebrauchs: Beherrscher der Begierde<br />
oder ihr Diener. Wir müssen also Adam zeitlich unterscheiden in den<br />
Adam, dem zu dienen, Samael sich weigert, d.h. in den gottbezogenen<br />
Adam, von dem Adam, dessen Verstand in der Versuchung seines Eigensinnes<br />
steht, den Eva zum Vorschein bringt und deshalb als seine<br />
anima repräsentiert, in der Erzählung als Frau, die dem Manne gewogen<br />
ist, und deren Untertänigkeit erst später durch ihr eigenes Versagen<br />
in der Prüfung erzwungen wird. Vor dieser Prüfung ist Adam der<br />
Hörige der Eva, da Eva die Vergegenständlichung seines Verlangens,<br />
euphemistisch: nach Geselligkeit, darstellt, aber nach der Prüfung wird<br />
sie von Gott folgerichtig in die Untertänigkeit zum Manne versetzt, da<br />
sie der Anlaß der Gesetzesübertretung war, das Werkzeug Samaels,<br />
also die Notwendigkeit ihrer Aufsicht oder Kontrolle unter Beweis<br />
gestellt hat.<br />
Jhw (Va)<br />
Samael Adam Eva (Sw) I<br />
Lucifer<br />
Eva (To) II<br />
Gott erscheint durch die Harmonie des Paradieses oder dieses erscheint<br />
als sein Schmuck oder Glanz, dessen schöne Harmonie auf dem Verzicht<br />
eigenwilligen Verlangens oder auf der Achtung vor dem Gesetz<br />
beruht, während Samael den Streit jener Wirklichkeit darstellt, in dem<br />
sich der Eigenwille irdisch realisiert und gegen das Gesetz stellt.<br />
Bedeutsam ist auch, daß der Mensch zuerst als einer und dann als zwei<br />
Wesen vorgestellt wird, so daß Eva zunächst als das Ende der Einsamkeit<br />
oder Isolation Adams erscheint oder als die Befriedigung seines<br />
Verlangens nach Gesellschaft oder nach einer Gefährtin, und die<br />
Versuchung durch Eva damit auch die Wahl darstellt zwischen dem
Ende der Einsamkeit oder Isolation und der Fortsetzung der Einsamkeit,<br />
d.h. sie richtet sich an ein wiederum ambivalentes Verlangen<br />
Adams, ohne das sie als Verführung chancenlos gewesen wäre.<br />
Diese Ausdeutung der Prüfung im Paradies entspricht der Wahl und<br />
der Haltung, d.h. der Prüfung, die die antiken Mysterien ihren Initianden<br />
eröffnet haben und den Schwierigkeiten ihres Weges: in der<br />
exoterischen Initiation: die Reifung des Jungen zum Manne, in der<br />
mystischen Initiation: die Befreiung von dem niederen Selbst und der<br />
Welt, um das höhere Selbst zu gewinnen. <strong>Der</strong> Kampf findet in jedem<br />
Falle im Menschen selbst statt.<br />
<strong>Der</strong> Sündenfallsbericht reflektiert also eine Initiationsprüfung. Gott<br />
stellt die Verzichts- oder Opferbereitschaft Adams und Evas auf die<br />
Probe mit dem Verbot der Frucht vom Baume der Erkenntnis, mit dem<br />
Tabu ihres Genusses. Er prüft nicht nur deren Fähigkeit, ihre Schlangennatur<br />
zu beherrschen, sondern setzt sie als Wächter dieses Baumes,<br />
des paradiesischen Schatzes ein, d.h. er ernennt die potentiellen Gesetzesbrecher<br />
zu Gesetzeshütern, die das Gesetz ja nur dann hüten können,<br />
wenn sie sich selbst zu hüten wissen, was sie grundsätzlich auch<br />
können, aber was durch dieses Können allein noch nicht garantiert<br />
wird. Die Wächter haben die Freiheit, sich dafür zu entscheiden, sich<br />
selbst zu beherrschen oder von ihrer Begierde beherrscht zu werden,<br />
und damit auch die Freiheit, Gott zu überraschen.<br />
Über diese Veränderung der Rollen wird der ursprüngliche Schatzwächter<br />
als Wächter überflüssig und kann daher entsprechend seiner<br />
Vorgeschichte zum Verführer oder Initiator des Schatzraubes umgedeutet<br />
werden. <strong>Der</strong> Preis des Paradieses, seiner solidarisch-seligen<br />
oder harmonischen Welt, wird als die Bewachung des Baumes und als<br />
Verzicht auf die verbotene Frucht dargestellt, deren Genuß das Dasein<br />
in dieser seligen Solidarität verwirkt. <strong>Der</strong> Genuß der paradiesischen<br />
Solidarität, eines Daseins ohne leibliche Mühen und Streit, wird also<br />
nur durch Verzicht und Opferbereitschaft erworben, während das Verlangen,<br />
das Nachgeben der Begierde, ihren Tribut fordern: Streit,<br />
Mühsal und Gefahr, d.h. das Ende der paradiesischen Seligkeit.<br />
<strong>Der</strong> Ort der Handlung ist ein seliger Garten ewigen Lebens. Den unangefochtenen<br />
Aufenthalt darin müssen sich Adam und Eva aber erst<br />
verdienen. Sie allein entscheiden darüber, ob sie bleiben wollen oder<br />
nicht, und ihre Entscheidung für oder gegen die Regeln des Paradieses<br />
wird durch ihre Haltung gegenüber der verbotenen Frucht dargestellt,<br />
durch ihre Entscheidung gegen das Tabu oder für ihre Enthaltsamkeit.<br />
Ihre Aufgabe oder Prüfung ist die Bewachung eines Baumes und der<br />
69
70<br />
Verzicht auf seine Früchte. Er steht für die sexuelle Liebe und seine<br />
Früchte für die sexuelle Fortpflanzung, mit deren Genuß automatisch<br />
das Dasein von Adam und Eva endlich wird, ihre Sterblichkeit einsetzt,<br />
denn Fortpflanzung ist nur für die Sterblichen ein Mittel das Leben zu<br />
verlängern, mit deren Genuß Adam und Eva also selbst zu etwas werden,<br />
vor dem man sich in Zukunft hüten muß.<br />
<strong>Der</strong> Situationshintergrund des Geschehens führt zu der Frage: Wenn<br />
von allem in diesem Garten überreichlich vorhanden ist, warum sollen<br />
die Wächter darüberhinaus das begehren, was sie beschützen sollen?<br />
Und derselbe Situationshintergrund leitet auch zur Antwort: Weil das<br />
Motiv nicht durch das Paradies selbst begründet werden kann, denn in<br />
dem sind Adam und Eva schon; hier partizipieren sie schon an allem,<br />
was dieses Paradies bieten kann, sie können es nur voll und ganz verlieren,<br />
d.h. aus ihm vertrieben werden, und dieser Ausschluß aus dem<br />
Paradies kann nur durch ihr eigenes Verhalten, durch ihr Nein zu den<br />
Regeln begründet werden. Also führt die Geschichte den Versucher<br />
ein, eine Kraft, die zwar ihren Sitz außerhalb jenes Gartens Eden hat,<br />
aber sich dennoch in ihn einzuschleichen weiß, und dort zu verweilen<br />
vermag, solange sie sich an die Regeln hält. <strong>Der</strong> Mythos nennt sie eine<br />
listige Schlange, welche das selbstsüchtige Verlangen von Adam und<br />
Eva nach der verbotenen Frucht, nach jener Kraft verkörpert, die auch<br />
sie selbst geschaffen hat. Die Versuchung suggeriert: sie könnten durch<br />
den Genuß der Frucht mehr sein als sie sind, nämlich so sein wie Gott,<br />
oder genealogisch: die Kinder könnten durch den Genuß der verbotenen<br />
Frucht ihr eigener Vater werden.<br />
<strong>Der</strong> erste Sündenfall, den der biblische Bericht hier voraussetzt, der<br />
Fall Lucifers oder Samaels, entspricht den ägyptischen, mesopotamischen<br />
und griechischen Mythen vom Kampf der Lichtgötter gegen die<br />
Brut der Finsternis, das Wasser, die Unterirdischen etc., gegen Apepi,<br />
Tiamat oder Typhon; er begründet also die duale Ordnung des Kosmos<br />
als seinem mit sich selbst geführten Streit zwischen seinem Geist und<br />
seiner Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten des Willens oder Eigensinns.<br />
Mit diesem Ereignis, des Abfalls des Eigenwillens vom Geiste, wird<br />
die Existenz des Versuchers erklärt, der selbstsüchtige Wille, der das<br />
selbstlose Einssein mit dem Paradies zu dieser seiner anderen Möglichkeit<br />
verführen muß. Mit der Zusammenführung des Verstandes und<br />
des Begehrens, mit der Verbindung von Adam und Eva, erscheint die<br />
Möglichkeit der Wahl zwischen der Orientierung des Wollens an der<br />
Vernunft oder an dem Genuß. Das Sich-auf-sich-beziehen, das im<br />
Willen rein erscheint, liefert erst die Bedingung der Möglichkeit für
die freie Entscheidung, für die Wahl der Neigungen oder der Selbstüberwindung.<br />
Die Prüfung des Paradieses erscheint als die Herausforderung<br />
der Freiheit, sich seiner Vernunft inne zu werden und von der<br />
Unvernunft abzustehen, d.h. die ablenkende Kraft des isolierenden<br />
Verlangens in der Selbstbeherrschung aufzuheben. Es soll sich also der<br />
himmlische Adam auch in der Verbindung mit seiner Gefährtin Eva<br />
gegenüber der Faszination von Samael/Lucifer behaupten, welche in<br />
der Möglichkeit der Verkürzung des Wollens auf die Eigenwilligkeit<br />
des Begehrens beruht, welche das Selbst unter seine Möglichkeiten<br />
stellt, anstatt es über sich hinauszuführen.<br />
Nur die verbotene Frucht, die Konzentration auf das gegenseitige Begehren<br />
aneinander, lockt den Eigenwillen aus dem selbstlosen Dasein<br />
im Paradies hervor und fesselt das künftige Leben an sich, das nach<br />
ihrer Kost nicht mehr Teil ist von allem, sondern alles, was der Eigenwille<br />
nicht ist, von sich abtrennt und als Objekt seines Begehrens sich<br />
gegenüberstellt. Nach dem Sündenfall verfällt das Paradies in die verwirrende<br />
Vielfalt des Wettbewerbs der Verlockungen, welche sich um<br />
die Aufmerksamkeit des Begehrens streiten, und das Leben in den<br />
Widerstreit der Begierden, die sich gegenseitig dessen Kräfte abjagen.<br />
Das Früchteraubmotiv erscheint als ein weiterer Baustein der Handlungsführung,<br />
dessen Herkunft die Bearbeitung der einzelnen Bestandsstücke<br />
der Gesamthandlung durch die Redakteure des Pentateuch<br />
sehr gut verbirgt. Denn es stellt sich doch die Frage, warum der<br />
Mensch sich im Paradies überhaupt als Schatzwächter bewähren sollte,<br />
oder welchen Vorteil ihm der Früchteraub böte, da er doch schon mit,<br />
wie in und an allem partizipierte, was das Paradies zu bieten hatte.<br />
Samael/Lucifer antwortet darauf: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Diese<br />
Gottes-Illusion des Eigenwillens, nicht nur mit allem nach Maß und<br />
Status verbunden und druchtränkt zu sein, was das Paradies ja bot, sondern<br />
alles so zu sein, wie es der Wille anmaßend darüber hinausschreitend<br />
will, der Wunsch gleich Befehl, das ist der Preis, für den das<br />
Paradies aufs Spiel gesetzt worden ist.<br />
Weder den Versucher noch seine Komplizin, die Verräterin ihres paradiesischen<br />
Gefährten, brauchte die Genesis-Redaktion lange im eigenen<br />
Traditionsgut wie dem der Nachbarn zu suchen.<br />
Die Schlange gibt Eva den Apfel, der sie befruchtet wie die großen<br />
antiken Göttinnen die Mandel, das Kraut oder der Granatapfel. Die<br />
orientalischen Mysterien nennen die äquivalenten Früchte, Kerne oder<br />
Samen. Diese Auffassung gebietet schon ihr Name. "Die semitische<br />
Form der Eva "Hawwat" ist mit der lykischen chba-eni= Mutter Hepi,<br />
71
72<br />
der späteren gleichzustellen, der alten syrischen Gottheit<br />
Hebat, die auch in den Formen Heba, Hapatu und Kapatu genannt<br />
wird." 20<br />
Adam und Eva werden also durch den Genuß jener Frucht zu den<br />
sterblichen Urmenschen, der auch jene großen Mütter mit den Urmenschen<br />
ihrer Kultur schwanger machte, d.h. sie werden die Irdischen,<br />
weil sie ihrem egoistischen Verlangen nach sich selbst erliegen,<br />
Gott die Agape verweigern, welche die Persisitenz des Paradieses verbürgte.<br />
<strong>Der</strong> himmlische Mensch, dessen Anbetung Samael verweigerte, war<br />
ein androgynes Wesen, das aus demselben Grunde in zwei Menschen<br />
mit verschiedenem Geschlecht geteilt wurde, den das Brhad Aranyaka<br />
Upanishad für die Teilung des einen Wesens nennt: die Einsamkeit.<br />
<strong>Der</strong> Bawli Eruwin (18a) erzählt, daß der Urmensch ursprünglich als<br />
ein Wesen mit einem männlichen, nach vorn blickenden Gesicht und<br />
einem weiblichen, nach hinten blickenden Gesicht, geschaffen worden<br />
ist, das Gott dann in Adam und Eva teilte, während der Leviticus<br />
Rabba (14,1) den Urmenschen als siamesische Zwillinge verschiedenen<br />
Geschlechts schildert, deren Rücken zusammengewachsen waren.<br />
Dieses Wesen gleicht dem phrygischen Zwitter Agdistis und auch<br />
seine Teilung in Attis und Kybele entspricht jener Teilung des Zwillings<br />
in Adam und Eva, die in jener Schrift berichtet wird und uns zudem<br />
die Weigerung Samaels verständlich macht, da im phrygischen<br />
Mythos von der Angst der Götter vor diesem Zwitter die Rede ist.<br />
Nach der Teilung stehen sich Mann und Frau nun in ihren negativen<br />
mytholgischen Werten einander gegenüber, was besonders die ewige<br />
Wiederkehr der Schändung des Attis durch Kybele demonstriert,<br />
welche der Perpetuierung der Erbschuld entspricht. Aus dem Androgyn<br />
Adam/Eva wird das Geschwister- und Liebespaar Adam und<br />
Eva.<br />
Da Adam nach seiner Androgynität die Möglichkeit der Sterblichkeit<br />
entsprechend der Janusnatur seiner Verständigkeit, die entweder<br />
geistbeherrscht ist oder unterjocht vom Verlangen (seine paradiesische<br />
Existenz ist aus irdischer Sicht einer postmortalen Seligkeit vergleichbar),<br />
d.h. den wiederkehrenden Vater und Sohn der antiken Mysterien<br />
darstellt und Eva die große Mutter und damit die Unsterbliche (Lebenskraft),<br />
richtet die Schlange sich an Eva, die ursprünglich die Jung-<br />
20 V.Haas, Hethitische Berggötter, Mainz 1982, S.30; siehe: B.Hrozny, Une inscription<br />
de Ras Schamra en lange Churrite, Archiv Orientalni Prag 1932, S.121
frau und große Mutter war, d.h. nicht nur mit parthenogenetischen<br />
Fähigkeiten begabt war, sondern auch die Mutter der Schlange, die als<br />
verführender Sohn agiert (also selbst schlangenhaft ist). In diesem<br />
Kontext geht es zunächst um die individualisierende Selbstbeschränkung<br />
der das Dasein hervorbringenden Kraft, die davon für sich selbst<br />
noch nicht betroffen war.<br />
<strong>Der</strong> biblische Sündenfallsbericht tauscht die Funktion des Drachen<br />
oder der Schlange aus. Als Sohn der großen Mutter ist die Schlange<br />
der verführende Teufel und als Verführte ist die Mutter eine sterbliche<br />
Tochter. Als Vater der Tochter oder als Bruder der Schwester ist Adam<br />
der Verführte (Inzest) und als Gatte ist er der Herr ihrer Gabe des<br />
Lebens geworden. In dieser Relation erscheinen die beiden Urmenschen<br />
auch in den Eheverhältnissen der altägyptischen und altmesopotamischen<br />
Königshäuser, für welche sowohl der Geschwisterinzest<br />
als auch der Vater-Tochter-Inzest typisch gewesen ist. Das sittlich positiv<br />
bewertete Verwandtschaftsverhältnis wird durch den Sexualverkehr<br />
dieser Verwandten ins Negative verkehrt.<br />
In der Genesis ist der Drache kein Schatzwächter, sondern der Schatzräuber<br />
und Eva keine große Mutter mehr, sondern die Tochter Adams<br />
und Komplizin der Schlange, während die Schlange die Rolle des<br />
feindlichen Bruders weiter spielt. <strong>Der</strong> Früchteraub stellt sie schließlich<br />
alle in das gleiche Verhältnis zu Gott: Schlange, Eva und Adam; die<br />
Verstoßung Samaels oder Lucifers wiederholt sich jetzt als Vertreibung<br />
des Menschen aus dem Paradies.<br />
Die symbolische Korrespondenz des Helden und seines Schatzes ist<br />
auch in der Nibelungensage zu sehen, die der Funktion dieser Korrespondenz<br />
in allen <strong>Drachenkampf</strong>mythen entspricht, nämlich der Bewertung<br />
der Anstrengungen des Helden durch ihren Zweck. Ist das<br />
Ziel schlecht (wie im Falle des verfluchten Ringes), dann wird auch<br />
der Held dem Verlangen, das schlecht ist, erliegen; ist das Ziel gut (wie<br />
im Falle der Jungfrau oder der anderen Kostbarkeiten), dann veredelt<br />
es auch das Streben des Helden. Auf die gleiche Weise ist Adam auf<br />
die verbotene Frucht durch Eva bezogen wie Eva auf sie durch Samael<br />
bezogen ist, denn im Paradies ist sie ihm als Gattin verboten, weil sie<br />
aus seinem Fleische ist, d.h. Adam ist symbolisch von Anfang an als<br />
der Gefallene, der Irdische, gestaltet oder in soziologischer Deutung<br />
als der, der das Inzestverbot übertritt und damit bereit ist, jedes andere<br />
Gebot zu übertreten. Diese Verbindung des Verbotes der Frucht mit<br />
der Versuchung der Einsamkeit Adams, deren Überwindung Eva<br />
darstellt, welche also das Verlangen nach Eva gegen das Verbot der<br />
73
74<br />
Frucht ausspielt und die Furcht vor der Einsamkeit mit dem Genuß der<br />
Frucht konfrontiert, ist im Pentateuch nur noch andeutungsweise zu<br />
entdecken.<br />
Die Entzweiung des paradiesischen Zwitters ist im Leviticus Rabba mit<br />
dem gegenseitigen Paarungsverbot verknüpft, dessen Übertretung<br />
durch Adam und Eva die späteren Folgen zeitigte. Erst unter dieser<br />
Bedingung ist er dann auch bereit, das zu tun, wozu ihn Samael über<br />
Eva schließlich verführen will, zum Menschenopfer, dessen Problematik<br />
in der Bibel nur noch versteckt angesprochen wird (z.B. Abraham-Isaak),<br />
aber zur Praxis der in diesem Kontext stehenden orientalischen<br />
Kulte gehörte.<br />
Philo berichtet, daß die<br />
Bibel den Menschen als<br />
irdischen und himmlischen<br />
Menschen unterschieden<br />
hat, daß der<br />
himmlische Mensch<br />
nach Gottes Ebenbild<br />
gestaltet wurde und<br />
unsterblich war, während<br />
er nach der Übertretung<br />
zum irdischen<br />
Menschen wurde, der sterblich ist. Über die Schlange () erklärt er,<br />
daß sie die Sinnenlust und Gier (Eigenwille) darstellt, die alles, was<br />
von der Erde kommt, für sich mißbraucht. "Siquidem symbolum<br />
cupiditas est serpens, figurans voluptarium: etc." (Genesin sermo I, 48)<br />
Es erscheint auf Anhieb schwer, in dieser Umschreibung des Philo<br />
auch noch eine Kritik an der matriarchalen Kultpraxis zu entdecken,<br />
und doch ist sie in Philos Worten gegeben, denn zum Sterblichen<br />
wurde der Adam erst im Kult der Muttergöttin, d.h. in der Funktion,<br />
die er dort einzunehmen hatte. Die Schlange war für Philo ein Vasall<br />
oder Sohn der alles Lebendige verlangenden Urmutter, von der<br />
verschwiegen wurde, daß sie auch die alles Leben Gebende war, die<br />
Eva, Hawwat, die Ti-Ama-at oder Tsalaa, Thalassa. Eliminiert wurde<br />
auch, daß "die, welche Leben gibt", auch die war, welche folgerichtig<br />
auch alles gegebene Leben zurückforderte.<br />
Deutlicher bringt Hippolyt in seinem Bericht über die Peraten die<br />
Schlange mit Eva in Beziehung: - , , <br />
. , ,
... -, <br />
, . , , . <br />
(Conf. Jo.I,1).<br />
Ophis, die Schlange, ist hier also der weise Logos der Eva, das Mysterium<br />
Edem, der Fluß von Edem etc. und schließlich die große <br />
(Ursprung), von der geschrieben steht, daß der Logos in ihr war. Hier<br />
wird die Schlange ganz deutlich als der Sohn der Eva oder der großen<br />
Mutter aufgefaßt, ebenso wie der Sohn Marias in dem Jerusalemer<br />
Targum, d.h. als der die Erkenntnis oder den Inzest vermittelnde Gegenspieler<br />
Adams. Wenn man sich die kultursoziologischen Gegeben-<br />
Jhw<br />
Adam Schlange Eva (Sw)<br />
75<br />
heiten der Stammeskultur vergegenwärtigt,<br />
die Tatsache, daß nur ein<br />
initiierter Mann, der alle Mannbarkeitsproben<br />
abgelegt hat und während<br />
der Zeit der Seklusion in die<br />
geheimen Überlieferungen des<br />
Stammes eingeweiht worden ist, das Recht erwarb, eine Frau zu heiraten,<br />
d.h. zu erkennen, wozu er ohne diese Einweihung nicht in der<br />
Lage gewesen wäre, nämlich zu wissen, welche Frau, aus welchem<br />
Clan und welchem Verwandtschaftsgrad ihm erlaubt ist, zu heiraten,<br />
dann begreift man, warum Erkenntnis und legitimer Beischlaf in dieser<br />
Kulturstufe das gleiche bedeuten, nämlich den Ausdruck des Eingeweihtseins<br />
oder des Wissens. Ehefähigkeit setzt in dieser Kulturstufe<br />
das Eingeweihtsein, die erfolgreich absolvierte Initiation, voraus, d.h.<br />
den Besitz des Stammeswissens und der Stammesgeheimnisse, weshalb<br />
Heiraten gleich regulärer Beischlaf und legitimer Beischlaf gleich<br />
Erkennen ist.<br />
Als Adam Evas Angebot, symbolisiert durch den Apfel, die Frucht, die<br />
in anderen Schatzsucherversionen den Schatz oder das Geheimnis darstellt,<br />
annahm, hat er gegen dieses Gebot der Erkenntnis verstoßen,<br />
d.h. Inzest begangen. Die Peraten sahen in der Schlange die Gleichnisse<br />
der alten Großen (orientalischen) Göttinnen und bezogen sie auf<br />
Eva, die Frau Adams, die in der Genesis auf diese Rolle reduziert<br />
wurde, obwohl sie auch Adams Tochter war. Eva repräsentiert vereinzelte<br />
Aspekte der großen Mutter, die durch Samaels Verführung ins<br />
Negative seiner selbst verkehrt worden sind, die Begierde, das Wünschen<br />
und Wollen, das Verlangen und die Neigungen, die ihr in der<br />
Schlange, wie Philo und Hippolyt schreiben, als ihrem Prinzip gegenübertreten,<br />
d.h. sie stellen die große Mutter mit ihrem Schlangensohn
76<br />
in die gleiche Reihe, während sie ihren anderen Sohn als Adam ausschließlich<br />
dem väterlichen Prinzip zuordnen. Hier erscheinen also die<br />
Schlange und Eva als Geschwister und Adam als Gatte, der dann mit<br />
beiden nicht verwandt ist. In dieser Konstellation verführen dann zwei<br />
Geschwister den Gatten der Schwester gegen dessen väterliche Gebote<br />
und der Gegensatz der Prinzipien, welcher der Gegenstand der paradiesischen<br />
Prüfung ist, korreliert mit einem genealogischen Gegensatz,<br />
den jener auch für sich darstellen könnte. Aber diese Genealogie erweist<br />
sich als Fragment und spätere Redaktion.<br />
Auf dieses eigentümliche Verhältnis der Schlange zur Eva verweisen<br />
auch verschiedene jüdische Mythen und einige Legenden. Eine Legende,<br />
die Eugene Rolland veröffentlichte, zeigt etwas von diesem<br />
symbolischen Verhältnis, das zwischen der Schlange und Eva besteht,<br />
ja sie erinnert an die gnostische Aufassung von Samael als dem Schöpfer<br />
des Menschen: "Als Gott die Frau schuf, nahm er eine Rippe von<br />
Adam und legte sie auf die Erde, während er die Wunde wieder zunähte.<br />
Die Schlange aber bemächtigte sich ihrer heimlich und da sie<br />
damals noch Füße hatte, so lief sie schnell davon. Gott schickte darauf<br />
Michael, um sie zu verfolgen. <strong>Der</strong> Erzengel glaubte sie schon sicher zu<br />
Jhw Michael<br />
↔<br />
Adam Schlange Eva (Sw)<br />
Eva (To)<br />
haben, denn er hatte sie bei<br />
den Füßen ergriffen, aber<br />
die Schlange ließ ihm die<br />
Füße in den Händen und riß<br />
sich mit einem Ruck los.<br />
<strong>Der</strong> Erzengel war ganz be-<br />
stürzt und ging hin, um dem lieben Gott sein Mißgeschick zu erzählen.<br />
<strong>Der</strong> liebe Gott, der dadurch in der Schöpfung gehindert war, überlegte<br />
einen Augenblick, nahm die Füße der Schlange, blies hinein und schuf<br />
so unsere Stamm-Mutter" 21 Nicht die Rippe Adams, nicht die Erde,<br />
sondern die Füße der Schlange sind also hier das Material, aus dem<br />
Eva geschaffen wurde, was auf eine stoffliche Gleichung verweist:<br />
Rippe= Erde= Schlangennatur. Hier erscheint Eva als die Schwester<br />
oder Tochter der Schlange und Michael als die Ursache der Alternative<br />
einer Abstammung der Eva von Gott und Adam. Das Handeln des<br />
Michael, um die Abweichung der Abstammung Evas zu erklären, ist<br />
nicht nur verdächtig, sondern auch eine Spur. Zunächst verbindet diese<br />
Geschichte die beiden Alternativen der Abstammung Evas:<br />
21 nach O.Dähnhardt, Natursagen I, Leipzig, Berlin 1907, S.116
Diese Legende setzt die gleiche Beziehung zwischen der Schlange und<br />
Eva wie die peratische Lehre. Ophiten und Peraten sahen in ihr den<br />
Logos der Eva und sie bezogen sich dabei auch auf die Feststellung,<br />
daß hebr. Nachasch auch den Phallus bedeutet (siehe Ezech.XVI,31).<br />
Auch in diesem Hinweis auf das männliche Geschlechtsorgan wird die<br />
Gleichsetzung der Eva mit dem Leben und ihre Ausrichtung auf das<br />
Wollen und Begehren nur unterstrichen, durch deren Zusammenwirken<br />
die Fortpflanzung angeregt wird und stattfindet. Eva wird auch in<br />
dieser Version als ein ursprünglich androgynes Wesen kenntlich,<br />
dessen Teilung ähnlich begriffen werden muß wie im phrygischen<br />
Agdistis-Mythos.<br />
Michal (Eva?) N.N.<br />
Adam Schlange (feindl. Bruder)<br />
77<br />
Die Autoren der Genesis<br />
haben also das Verhältnis:<br />
große Mutter-Gatte/Sohn,<br />
das für das<br />
kabirische Mythologem<br />
typisch ist, umgekehrt und streichen die Mutterschaft der Eva bei der<br />
Schlange ohne ihre Beziehung, die durch sie erklärt wird, aufzugeben<br />
und bedienen sich der mütterlichen Ursprungssymbolik in einer<br />
abstrakteren Fassung, die sie aber über die Verbindung mit der<br />
Schlange negativ werten. Die Schlange ist hier zwar ganz deutlich<br />
männlich gezeichnet, aber das Männliche ist mit ihrer Gestalt von dem<br />
väterlichen Zuständigkeitsbereich (Geist, Licht) in den mütterlichen<br />
(Trieb, Finsternis) übersetzt worden, was seine rein geschlechtliche<br />
Repräsentanz hier zeigt. Die kabirische Gruppierung wird von den<br />
Genesisautoren bewahrt, aber anders differenziert; die Orientierung<br />
nach dem Geschlecht wird ergänzt um die beiden schon genannten<br />
Duale, der unbesiegbare Sohn der großen Mutter wird zur Schlange in<br />
dem Gleichnis des vom Menschen unbesiegbaren Bösen, der als ihr<br />
Opfer das Urmenschenpaar gegenübergestellt wird, zu dem die große<br />
Mutter und ihr Gatte aus der kabirischen Triade umgedeutet werden.<br />
Instruktiv ist auch, wie die Genesisautorenschaft bei der Einführung<br />
der Eva vorgeht. Adam wird zuerst geschaffen, auf seine irdische<br />
Herkunft, d.h. auf seinen erdmütterlichen Ursprung, wird nur noch<br />
andeutungsweise hingewiesen und er wird zum Herrn der Kreatur ernannt.<br />
Nachdem er unter den Tieren keine Gefährtin finden konnte,<br />
schuf Gott Eva aus einer Rippe Adams, ein Vorgang, der auf die ursprünglich<br />
nichtirdische, außergewöhnliche Herkunft der Eva hinweist,<br />
der sie aber zugleich mit Adam in eine ihm untergeordnete Beziehung<br />
bringt, obwohl sie nichts anderes verkörpert als das Verlangen des
78<br />
Adam, das nur eine Gefährtin zu befriedigen vermag. Andererseits<br />
weisen diese Geburtsumstände Evas Besonderheit gegenüber Adam<br />
aus, sie ist aus der Rippe und er aus der Erde, und begründen nach dem<br />
<strong>Drachenkampf</strong>mythologem ihre Funktion als Schatzräuberin und<br />
Mittäterin beim Schatzraub.<br />
Die Genesisautoren betonen aber einen anderen Aspekt der Geburtsumstände:<br />
So wie das Ebenbild Gottes nicht Gott sein kann, so<br />
kann das Ebenbild Adams, das aus ihm gezeugt worden ist, nicht höher<br />
als er selbst stehen und auch nicht gleicher Art sein. Eva repräsentiert<br />
aus theologischer Sicht deswegen einen Teilaspekt Adams, den Triebaspekt,<br />
der den Kontakt mit dem Eigenwillen der Schlange vermittelt,<br />
d.h. die Verführbarkeit Adams erst möglich werden läßt.<br />
Auch über die Rolle, die der Erzengel Michael in der erwähnten Legende<br />
spielt, können wir einen Zugang zu dieser Deutung finden, denn<br />
einen vergleichbaren Beitrag des Michael an der Menschenschöpfung<br />
berichtet auch das Targum Jeruschalmi. Hier sammelt der Erzengel<br />
Michael den Staub, aus dem der Mensch geformt wird. Graves kommentiert<br />
ganz in unserem Sinne: "Da die<br />
Jhw<br />
jüdischen Rabbinen ältere Überlieferungen...<br />
Adam Eva lieber veränderten als eliminierten, könnte man<br />
eine ursprüngliche Geschichte annehmen, in der<br />
Schlange<br />
Michal (nicht Michael) von Hebron, die Göttin,<br />
von der David sein Königtum durch die Ehe mit<br />
ihrer Priesterin erlangte, die Schöpferin Adams<br />
gewesen wäre." 22<br />
Diese Gleichsetzung der Michal mit Michael legt das Ebioniterevangelium<br />
nahe, das Wallis Budge in seinen "Miscellaneos Coptic Texts"<br />
wiedergibt. Graves übersetzt die entsprechende Stelle: "Es steht im<br />
Evangelium an die Hebräer geschrieben, daß der gute Vater im Himmel,<br />
als Christus zu den Menschen auf die Erde kommen wollte, eine<br />
große Macht herbeirief, deren Name Michael war, und in deren Obhut<br />
gab er Christus. Und diese Macht stieg auf die Erde herab und wurde<br />
Maria geheißen, und Christus war sieben Monate in ihrem Schoß, wonach<br />
sie ihn gebar..." 23<br />
Die androgyne Gleichung: Michael= Maria legt förmlich die Schlußfolgerung<br />
nahe, daß diese "Macht Gottes", wie dieser Name (Mika-el)<br />
in der Regel übersetzt wird, weiblichen Charakters ist, und daß diese<br />
22 R.Graves, Die weiße Göttin, Hamburg 1985, S.183<br />
23 R.Graves, Die weiße Göttin, Hamburg 1985, S.184
Namenswahl sehr wahrscheinlich jene von Graves angesprochene Beziehung<br />
in Erinnerung hält. Nach dieser Tradition steht Adam in dem<br />
oben skizzierten genealogischen Verhältnis. Es ergänzt die schon<br />
erwähnten Legendenbeispiele von der ursprünglich androgynen Natur<br />
des Wesens Adam-Eva und verweist auf den kabirischen Kontext.<br />
Diese Konstellation entspricht recht genau einer bekannten Variante<br />
der kabirischen Gruppierung, die wiederum in die jüdische Tradition<br />
so integriert worden ist, wie es die beiden Schemata oben kurz skizzieren.<br />
Nach dem ihnen zugrunde liegenden Schema verführen eine Mutter<br />
und ihr Sohn, der der Stiefsohn ihres Gatten ist, den Gatten der Mutter<br />
gegen die Gesetze des Gattenvaters zu handeln.<br />
Die Rippe heißt hebräisch Tzalaa, ein Wort, dessen Verwandtschaft<br />
mit Thalaath, der von Berossus "Thalassa-Omorka" genannten "Mutter<br />
der Welt" auffällig ist. Zur selben Wurzel gehört auch tselem= der<br />
Schatten, als den die jüdische Geheimlehre den Adam auch begreift.<br />
Aus diesem Schatten, einem anderen Gleichnis für den Ebenbildcharakter<br />
Adams, tritt auch die Eva hervor, d.h. beide Urmenschen werden<br />
aus derselben Quelle gestaltet. Aber schon das Wort, das hier in<br />
Verbindung mit Eva gebraucht wird, weist auf eine Bedeutungsdifferenzierung<br />
beider Figuren hin.<br />
<strong>Der</strong> Sumerologe, S.N. Kramer, fragt: "Warum hielt es der hebräische<br />
Erzähler für angebracht, eine Rippe zu wählen statt eines anderen<br />
Körperteils, um das Weib hervorzubringen, dessen Name Eva nach<br />
biblischem Begriff ungefähr bedeutet: "sie, welche Leben schafft". Das<br />
wird uns klar, wenn wir annehmen, daß ein sumerisches Vorbild, wie<br />
z.B. das Dilmun-Gedicht, der biblischen Legende zugrunde liegt. Im<br />
sumerischen Gedicht befindet sich unter den kranken Organen Enkis<br />
auch die Rippe. Das sumerische Wort für Rippe ist ti. Die zur Heilung<br />
von Enkis Rippe erschaffene Göttin heißt Nin-ti, "Herrin der Rippe".<br />
Aber das sumerische Wort ti bedeutet gleichzeitig "Leben schaffen".<br />
<strong>Der</strong> Name Nin-ti bedeutet also nicht nur die "Herrin der Rippe", sondern<br />
auch die "Herrin, welche Leben schafft". In der sumerischen Literatur<br />
wurde daher die "Herrin der Rippe" mit der "Herrin, welche Leben<br />
schafft" identifiziert... Dieses Wortspiel, eines der ältesten literarischen<br />
Wortspiele, wurde in die Paradieslegende übernommen und verewigt,<br />
obwohl es dort natürlich seinen Wert verliert, da das hebräische<br />
Wort für "Rippe" und das Wort für "sie, welche Leben schafft" nichts<br />
79
80<br />
miteinander gemein haben." 24 Kramers Urteil über den Bedeutungsverlust<br />
dieses Wortspiels im Hebräischen bezieht sich aber nur auf<br />
Wörter mit ti. Was aber passiert, wenn man für das Wort Tzalaa nach<br />
einem vergleichbaren Wortspiel sucht?<br />
Nin-ti<br />
Michal<br />
Eva Jhw<br />
Adam Schlange Adam Eva<br />
Hebräisch Tsalaa, "Rippe", ist etymologisch auf baylonisch thalath,<br />
thalassa zu beziehen, so daß Kramers Einschätzung, daß dieses<br />
sumerische Wortspiel in der Genesis seinen Sinn verloren hat, nicht<br />
mehr zutrifft. Kramers Hinweis zeigt uns sogar die Vorlage der babylonischen<br />
Anspielung, denn Thalassa, Thalath ist Tiamat (ti-ama-at),<br />
was auch nichts anderes als "Mutter (ama), die Leben schafft (ti),"<br />
heißt und die Rippe zudem noch auf die Schlange zu beziehen erlaubt<br />
(siehe auch: tiamtu, tamtu= Meer), denn Tiamat ist der Drache der<br />
kosmologisch-theogonischen Mythe und das Urwasser, über dem der<br />
Geist brütete. Die Homonymie von ti, mit der die sumerische Vorlage<br />
spielt, wird im hebräischen Text durch die ursprüngliche Synonymie<br />
von tsalaa und Talassa ersetzt, welche die gleiche Assoziation<br />
ermöglicht wie die Homnymie des Vorbildes.<br />
Wir finden also auch hier wieder jene Beziehung zwischen Eva und<br />
der Schlange, die wir schon aus der peratischen Lehre und der Legende<br />
erfahren haben.<br />
Das Gleichnis der Rippe weist also Eva als die eigentliche Mutter<br />
Adams und als Schlange aus. An die Stelle der Herrin der Rippe, der<br />
Lebensspenderin, haben die Redakteure des biblischen Textes als<br />
Schöpfer Jhw gesetzt, und aus derem Sohn dessen Sohn Adam gemacht<br />
sowie aus ihrer Schlangennatur oder ihrem Schlangensohn den<br />
gefallenen Sohn Gottes:<br />
Festzuhalten lohnt sich auch, daß der Autor (die Autoren) der Genesis<br />
sich hier auch eines Gleichnisses bedient (bedienen), das wir in der orientalischen<br />
oder altgriechischen Mythologie ebenso wie in der Mythologie<br />
verschiedener Urvölker häufig finden. Dort sind es die Geburten<br />
aus Körperteilen, dem Haupt, dem Schenkel etc. der Götter: Zeus, Hera<br />
etc., und in den Mysterien ist auch diese Geburtsversion mit einem<br />
24 S.N.Kramer, Die Geschichte beginnt mit Sumer, München o.J. S.112
"Sündenfall" verbunden (vergleiche auch die Geburt der Pitris aus der<br />
Seite Brahmas).<br />
Für alle Äquivalente jener Geburten aus einem Körperteil der männlichen<br />
Gottheit läßt sich nachweisen, daß diese Körperteile selbst, Eponyme<br />
von Muttergöttinnen sind, ganz ähnlich wie ti und , so<br />
daß sich das Wunder dieser Geburten dementsprechend relativiert.<br />
Wir sehen also mit welcher Konstruktion der Genesisautor seine Spuren<br />
verwischt, ohne sie ganz unkenntlich zu machen, indem er zwei<br />
Mythologeme verbindet: die seltsamen Geburtsumstände der Helden<br />
oder Gottheiten und die Projektion der Drachenzüge der großen Mutter<br />
auf den weiblichen Urmenschen, die er zugleich mit negativen Vorzeichen<br />
versieht, um sie in dem Früchteraubgeschehen dramatisch zur<br />
Geltung zu bringen, das wiederum zum Mythologem der Feuer- und<br />
Körnerraubmythen gehört, die universal als Sündenfallsmythen der<br />
Ackerbauern erzählt werden. 25 <strong>Der</strong> Früchteraub galt im vorderen<br />
Orient als ein stehendes Gleichnis für den Sündenfall, so daß er auch in<br />
der biblischen Version die Vertreibung aus dem Paradies durch Anspielung<br />
auf dieses Wissen zu begründen vermochte, zumal sie den<br />
Gebrauch der Frucht außerdem mit der Idee der zum Geschlechtsverkehr<br />
auffordernden Gabe verknüpft hatte, deren Annahme die Einwilligung<br />
signalisierte.<br />
Die bekannten <strong>Drachenkampf</strong>versionen verteilen die mythischen Gegenstände<br />
und Wesen auf folgende drei Funktionen:<br />
Schatz, Wächter, Herausforderer oder Dieb, und zwar so, daß die Kostbarkeiten<br />
als Schatz, die Drachen oder Schlangen als Wächter und die<br />
Helden als Herausforderer oder Diebe erscheinen. In der biblischen<br />
Sündenfallsgeschichte werden dagegen die Funktionen des Wächters<br />
und des Herausforderers anders besetzt: <strong>Der</strong> Baum und seine Früchte<br />
bleiben der Schatz, aber der negative Held, Adam, ist hier der Hüter<br />
des Schatzes, und die Schlange erscheint als Schatzräuberin, die sich<br />
der Eva bedient, welche die eigentliche Rolle der Schatzräuberin oder<br />
der Komplizin des Schatzräubers innehat, die mit ihrer Schlangenverwandtschaft<br />
begründet wird. Diese Umbesetzung der Funktionen<br />
gleicht den Funktionen der Schlange und des Helden im Gilgamesh-<br />
Epos oder in der Yawi-Mythe der Marind-anim, sie gehört aber auch in<br />
versteckter Form zu allen anderen Schatzräuberversionen des <strong>Drachenkampf</strong>es,<br />
denn der Held dieser Versionen vereitelt das erstemal<br />
die Schatzübergabe an den Drachen (z.B. das Jungfrauenopfer), indem<br />
25 Siehe: Ad. E.Jensen, Das Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart 1949<br />
81
82<br />
er den Drachen tötet. Damit bedient sich das Pentateuch jener <strong>Drachenkampf</strong>version,<br />
die den Drachentötermythen vorausgeht und die<br />
jene voraussetzen, um den Verlust des Paradieses und die Sterblichkeit<br />
des Lebens zu erklären. Indem Eva Adam dazu bringt, die Frucht, die<br />
er hüten soll, zu essen, verlieren beide, Adam und Eva, den Schatz und<br />
ihre mit ihm verbundene himmlische Stellung und es ereilt sie dasselbe<br />
Schicksal, das sie ihrem Schatz bereitet haben, der Tod und die Erkenntnis<br />
ihrer Gegensätzlichkeit, die sich nicht nur auf ihr Geschlecht,<br />
sondern noch mehr auf ihre Herkunft bezieht, die sie auch in ihrer zeitweiligen<br />
Verbindung nicht überwinden können. So wie das Blatt der<br />
Linde die Unsterblichkeit des Sigurd vereitelt, so hebt die Frucht der<br />
Eva die himmlische Existenz des Adam auf.<br />
Auch in dem Bild der oralen Einverleibung der Frucht erscheint das<br />
Gegenteil zur hegenden und pflegenden Haltung, die von ihnen gefordert<br />
wurde, d.h. das Gegenteil zu jener die eigene Begierde und das<br />
eigene Verlangen zügelnden Haltung der Rücksicht und der Liebe zum<br />
Schatz als dem Wesen, welches das eigene Selbst als Gatte oder als die<br />
anderen Verpflichtungen ist. Die Schuld, in der der Mensch schon immer<br />
stand, konnte ihm aber erst klar werden mit der Übertretung des<br />
Gebotes, das ihn von nun an immer an sie erinnern soll; daß nämlich<br />
alle Erscheinungen des Paradieses nicht sein Eigentum waren, sondern<br />
Gaben der paradiesischen Schöpferkraft in der Gestalt seines Gottes, in<br />
dessen Schuld der Mensch immer steht und damit auch in der Pflicht<br />
ihrer Vergeltung, welche im Paradies das einzige Gebot, das er einhalten<br />
sollte, repräsentierte.<br />
Die regelmäßige Opfergabe an den Drachen (z.B. die Auslieferung der<br />
Jungfrauen) repräsentiert auch die Praxis des rituellen Menschenopfers<br />
oder der ihm vergleichbaren Opfer, wie das in den vegetationsmythischen<br />
und stammesaitiologischen Versionen des <strong>Drachenkampf</strong>mythos<br />
noch ganz deutlich wird, so daß die Versuchung der Eva durch die<br />
Schlange den Versuch darstellt, die Muttergöttin dazu zu überreden,<br />
ihre eigenen Kinder zu fressen (Eva opfert Adam der Schlange für den<br />
Apfel), dessen Ansinnen sie aber mit ihrem Gemahl teilt, was der<br />
patriarchalen Genesisautorenschaft auch wirklich als die abscheulichste<br />
Sünde erscheinen mußte. Tatsächlich aber führte der stellvertretende<br />
rituelle Königsmord, der die Kinder der großen Mutter anstelle<br />
des Königs, ihres Gemahls, betraf, zur Aufhebung der kultischen<br />
Vorherrschaft der großen Mutter und zur Übernahme ihrer Macht<br />
durch den großen Vater und später durch deren Sohn.
<strong>Der</strong> Hinweis der Gnostiker und Kirchenväter auf die Anmaßung und<br />
auf den Selbstgenuß der paradiesischen Gabe zur Befriedigung des Eigenwillens<br />
der Erkenntnis erscheint allerdings abstrakt, aber was hinter<br />
dieser Abstraktion steht, das erklären die Sündenfallsmythen oder Todesaitiologien<br />
der Jäger- und Sammler-Völker oder der Hackbauern.<br />
Durch selbstsüchtigen Übergriff aus dem Gefühl einer Übermacht heraus,<br />
das sie gegenüber ihrem Opfer hegen, vergreifen sich Vorweltliche<br />
oder Urzeitheroen an anderen und verschulden so die Notwendigkeit,<br />
daß geraubtes Leben mit Leben wieder gesühnt werden muß,<br />
d.h. den Überfall des Todes auf den Kosmos. Dieses Vergehen gegen<br />
die Harmonie der urzeitlichen Ordnung steht hinter den Anspielungen<br />
auf Begierde, Egoismus und egoistischem Erkenntnisgebrauch, die<br />
auch in biblischer Tradition die Markenzeichen des Bösen sind, denn<br />
mit dem Urmord der Jäger-Sammler-Mythen wird genauso das eigenwillige<br />
sich über die Urzeitgesetze Hinwegsetzen geahndet wie der Eigenwille<br />
in den Mythen der Hochkulturen, in dem sie den Ursprung<br />
allen Übels erkannten. Diese Zerstörung der kosmischen Harmonie ist<br />
es, die von allen Sündenfallsmythen gleichermaßen heraufbeschworen<br />
wird, deren Erbschuld der Mensch zu übernehmen hat, weil er durch<br />
sie jenen Kosmos erst geschaffen hat, dessen Unordnung ihn jetzt<br />
bedroht.<br />
Wagen wir eine relative Chronologie der hier erwähnten <strong>Drachenkampf</strong>mythen,<br />
dann geht dem Raub der Frucht, der mit dem Verlust<br />
der Unsterblichkeit und des Paradieses verbunden ist, der kosmologische<br />
Dualismus und der Kampf der Lebens- und Todesgötter voraus<br />
und ebenso wurde der Verlust der neolithischen Harmonie als eine<br />
Folge des Schatzraubes dargestellt und die Metallurgie als der dritte<br />
Sündenfall begriffen.<br />
Auch die vegetationsmythischen Elemente oder Relikte im biblischen<br />
Bericht versuchen uns zu einer geschichtlichen Korrelation mit der<br />
neolithischen Revolution.<br />
Dem nomadischen Vorurteil erscheint die domestizierte Frucht oder<br />
das domestizierte Korn als der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte<br />
nicht nur Segen bringen, sondern auch Fluch, die ambivalente Folge<br />
übermenschlicher Eingriffe in das kosmologische Gleichgewicht (siehe<br />
die Ackerbau- Mysterien), denn der Ackerbau bringt soziale Ungleichheit<br />
und den Streit um Besitzrechte (Kain und Abel). Die Genesisautoren<br />
favorisieren deutlich den Abel. Mit Ackerbau und Viehzucht<br />
erscheinen also der Herr und der Knecht und die patriarchale<br />
Unterwerfung des Weibes: "Und dein Verlangen soll nach deinem<br />
83
84<br />
Manne sein, und er soll dein Herr sein." (Gen. I,2,16) Da die Pflanzendomestikation<br />
eine weibliche Leistung gemäß der typischen Arbeitsteilung<br />
und laut ihrer Zuschreibung auf die entsprechenden Göttinnen<br />
und die Hackbaukultur stark matriarchal ausgeprägt war, ist es nur folgerichtig,<br />
daß Eva dem Adam die Frucht reicht und damit jenes verhängnisvolle<br />
Bündnis besiegelt, das zur altorientalischen Hochkultur<br />
führte. Das gleiche symbolisiert auch der Fall Evas von der großen<br />
Mutter zur "Männin" Adams.<br />
Die neuen Anbau- und Landgewinnungsmethoden verbessern nicht nur<br />
die Ernährungsgrundlage, sie führen auch zu Bevölkerungsüberschüssen<br />
und damit zur politischen Expansion oder den Völkerwanderungen,<br />
die zuerst dem Prinzip der Segmentierung und Verpflanzung (Kolonisation)<br />
folgen und schließlich sich offen der kriegerischen Mittel<br />
bedienen. <strong>Der</strong> Fluch, den Gott in der chaldäischen Genesis gegen den<br />
Menschen ausspricht, nennt alle moralischen Vorbehalte gegenüber der<br />
neuen Kultur: "Weisheit und Kenntnis sollen ihn schädigen (Z.23), er<br />
soll Familienzwiste haben (Z.24), der Gewaltherrschaft sich fügen<br />
müssen (Z.25), wird die Götter erzürnen (Z.26), soll nicht genießen die<br />
Frucht seiner Arbeit (Z.27), soll getäuscht werden in seinen Wünschen<br />
(Z.28), soll nutzlose Gebete ausschütten (Z.29/31), soll Beschwerden<br />
haben an Körper und Geist (Z.30/32), soll- und damit bricht die Erzählung<br />
ab- auch in Zukunft noch Sünde begehen (Z.33)." 26<br />
<strong>Der</strong> biblische Bericht deutet scheinbar die "neolithische Revolution"<br />
(Gordon Childe) genauso wie die germanische Heldensage die metallurgische<br />
Revolution. Das menschliche Verhalten, das sie zeichnen,<br />
gleicht sich in beiden Versionen und gestaltet die Situation wie viele<br />
vergleichbare Mythen, z.B. die Prometheusmythe.<br />
26 George Smith, Chaldäische Genesis, Leipzig 1876, S.85
Die Schätze "Volk" und "Weisheit"<br />
Ähnlich wie uns unsere Heldensage und unsere religiöse Tradition zu<br />
einem Verständnis auch der <strong>Drachenkampf</strong>sagen anderer Kulturkreise<br />
führen kann, ja mehr noch: ähnlich wie die Berücksichtigung anderer<br />
Mythen das Verständnis der eigenen Mythen erhellt, erlaubt auch die<br />
Mythe des Pythonkampfes von<br />
Apoll einen Zugang zur <strong>Drachenkampf</strong>mythe<br />
der Pygmäen, die zur<br />
kosmologisch-aitiologischen Version<br />
gehört.<br />
Die Helden beider Mythen tragen<br />
deutlich vergleichbare Züge. <strong>Der</strong><br />
Homerische Hymnus (3 Apoll.,<br />
115) sagt über die Geburt des<br />
Apoll, daß Leto ihre Arme um<br />
einen Palmbaum legte und die<br />
Knie auf die weiche Erde stützte,<br />
als der kleine Apoll an das Licht<br />
der Welt sprang und alle Götter<br />
daraufhin eine anstimmten.<br />
Die Göttinnen wickelten das Kind und Themis benetzte seine Lippen<br />
mit Nektar und Ambrosia. Kaum aber hatte Apoll davon genossen- von<br />
jenem Trunk, der dem Marind-anim Helden vorenthalten wurde-, da<br />
zeriß er auch schon die Windeln und verlangte nach der Leier und dem<br />
Das genealogische Schema der griechischen Mythe:<br />
<br />
<br />
Schatz Schatz Held<br />
(Olympier)<br />
Bogen (frühreifes Kind). Euripides (Iph. Taur. 1234) läßt Leto zu ihrem<br />
Kinde sagen: "Während du noch ein Kind warst, das in den Armen<br />
seiner lieben Mutter hüpfte, erschlugst du das Ungeheuer und bestiegst<br />
deinen glücklichen Sitz der Weissagung".<br />
Diese Heldentat zierte also die Kindertage der Gottheit und machte<br />
aufmerksam auf eine hoffnungsfrohe Zukunft. So wird das Publikum<br />
85
86<br />
auf die Frühreife des Gottes, der schon als Kind ein alter Held war,<br />
aufmerksam gemacht, aber auch das Ereignis und der Typus der Prüfung<br />
spezifisch gewertet.<br />
Während der Held genauso gezeichnet wird wie in der Bambutimythe,<br />
erscheint der delphische Drache aber als ein Orakelwächter (ein Weistumswächter),<br />
d.h. auch in einem weiteren Sinne als ein Schatzhüter.<br />
Von dem Drachen der Bambutimythe heißt es dagegen, daß er das<br />
Land entvölkerte, alle Menschen darin auffraß.<br />
Dieses Resultat der Drachengier schildern neben der Bambutimythe<br />
auch die <strong>Drachenkampf</strong>geschichten der Masai, Basuto, Bawenda<br />
(afrikanische Völker) oder der Djauan und Bola (Australien und<br />
NeuGuinea), also die Drachengeschichten jener Stämme oder Völker,<br />
deren Welt kurz hinter dem Territorium ihrer Nachbarstämme zu sein<br />
aufhört. Die Geschlossenheit und Überschaubarkeit dieses Lebensraums<br />
nährt durchaus die Vorstellung seiner potentiellen Menschenleere,<br />
deren Ziel der pythische Drache nicht mehr verfolgt. Er<br />
forderte dagegen regelmäßige Opfer (Menschenopfer) und verschlang<br />
nur noch die Personen, die seinem Schatz zu nahe kamen. Diese Relativierung<br />
entspricht der Integration der griechischen Mytholgie in einen<br />
größeren Überlieferungs- und d.h. Bevölkerungskontext, vor dessen<br />
Kenntnis die Entvölkerung der Erde unwahrscheinlich wird. In einer<br />
Epoche der Völkerwanderungszeit kann das Verschwinden eines<br />
Volkes oder Stammes nicht mehr das Verschwinden der gesamten<br />
Menschheit bedeuten. Unter diesen Voraussetzungen läßt sich eine<br />
kollektive Katastrope nicht mehr als Katastrophe, die das Sosein in<br />
seiner Gesamtheit betrifft, d.h. als Menschheitskatastrophe, darstellen.<br />
Aber auch diese Einschränkung verweist noch in den Zusammenhang,<br />
den die Bambutiversion herausstellt, der diese Form der Verallgemeinerung<br />
noch möglich ist, während dafür das Schatzhütermotiv (Schatz<br />
der Weisheit) des altgriechischen Beispiels bei den Bambuti nur im<br />
Kontetxt vergleichender Betrachtungen unterschoben werden kann.<br />
Siehe das genealogische Schema des Helden in der Bambuti Mythe<br />
(unten), welche das genealogische Schema der Helden in den Mythen:<br />
Tiri und Karu (Südamerika), Kanigyilak und Nemokois (Nordamerika)<br />
und Ninguningu und Nambalia (Neu Guinea) abbildet und strukturell<br />
mit dem der Bambuti-Mythe übereinstimmt, wenn man die Rollen von<br />
Held und Doppelheld als Alternativen einer Variablen begreift.<br />
Machte die Tat den Pygmäenhäuptling zum Landeshäuptling oder König<br />
(genauso wie sie den Drachentöter der theogonisch-kosmologischen<br />
Mythen zum Götterfürst gemacht hat), so wurde Apoll, der
von Geburt an schon einer der Götter war, zum Orakelbesitzer und<br />
seine Prophezeiungen hatten von da an die Drachenkraft. Beide Helden<br />
nahmen in Besitz, was dem Drachen gehörte, der eine ein Volk, der<br />
andere das Orakel. Aber auch aus der Sicht des Schatzhüterschemas<br />
kann das Volk als ein Schatz angesprochen werden, den der Held dem<br />
Drachen entreißt.<br />
Bambuti-Variante:<br />
Mu ??? Volk Drache<br />
So (Opfer)<br />
(Held)<br />
Zum Vergleich die Variante:<br />
Mu ??? Volk Drache<br />
So (Held) So (Opfer)<br />
Im Schatzhüterbild können wir allem Anschein nach die allgemeinste<br />
und umfassendste Funktion des Drachen erblicken, wenn man das<br />
Attribut der Kostbarkeiten, die er hütet, nur weit genug faßt, denn neben<br />
der expliziten Kennzeichnung des Drachens als Schatzhüter, etwa<br />
bei den Chinesen als Fu-tsang-lung, kann man durchaus feststellen,<br />
daß der kosmologische Drache den Kosmos, der vegetationsmythische-<br />
die Vegetation, der jahreskreisliche- das Jahr oder das Zeitkontinuum,<br />
der aitiologische- das Volk, der initiationsmythische das Initiationswissen,<br />
der mystische- das Erlösungswissen etc. als einen Schatz hütet,<br />
der ihm dann von den Göttern und Helden abgejagt wird, und es ist tief<br />
symbolisch, den Kosmos, die Vegetation, das Jahr, das Leben, das<br />
Volk oder das Wissen aus dem besiegten Drachen hervorkommen zu<br />
sehen, was diese Mythen auch mit den emanativen Kosmologien ohne<br />
Drachen verbindet, d.h. den Drachen mit der natura naturans. Gleichfalls<br />
wird deutlich, daß der <strong>Drachenkampf</strong> kein einmaliges Ereignis<br />
darstellt, sondern eine beständige Aufgabe oder Drohung ist, die<br />
immer wieder auf ihren Helden wartet, der ihr zu begegnen weiß.<br />
Vilhelm Grönbech stellt den gleichen Kontext heraus, in den wir diese<br />
beiden Mythen zu stellen suchen, wenn er auf folgenden Hintergrund<br />
verweist: "Die Sage hebt hervor, daß es der neugeborene Apollon ist,<br />
87
88<br />
der die Heldentat vollbringt, den Drachen zu töten. In dem Bühnenbild,<br />
das wir bereits entrollt haben, steht Leto da, den Gott auf dem Arme,<br />
während der Ruf >Je Paian< ertönt. Wie in Athen sind also die Tötung<br />
des Unholds und die Neugeburt des Gottes als die zwei Seiten des Dramas<br />
nahe verbunden gewesen. Das Opfer ist die Enstehung der Welt,<br />
der Besieger des Dämons ist der Gott, der in seiner ganzen Macht und<br />
Herrlichkeit emporsteigt. In ihrer Bilderpracht bewahrt die Mythologie<br />
lange die Erinnerung an den kultischen Hintergrund der Sage." 27 Die<br />
Anspielung an das Geschehen, das die Mysterien grundsätzlich verschweigen,<br />
der Opfertod eines alten Gottes zugunsten einer neu<br />
entstehenden Welt und seine Wiedergeburt in seinem Widerpart,<br />
unterstreicht einmal mehr die Beziehung der <strong>Drachenkampf</strong>- und Weltmenschmythen.<br />
Apoll erscheint hier kaum noch erkennbar, so Grönbech,<br />
als der große Sohn der großen Mutter und der <strong>Drachenkampf</strong><br />
wird zur Erlösungsgarantie. Die griechische Verwandlung des Vegetationsmythologems<br />
bedient sich dabei durchaus auch der orientalischen<br />
Vorlagen des theogonisch-kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>es und projiziert<br />
ihr Schema auf das Mysterium der vegetationsmythisch gestalteten<br />
Wiedergeburtslehre, das auf diese Weise seine neue, patriarchal<br />
gefärbte Interpretation erfährt. Entweder wird in den altorientalischen<br />
<strong>Drachenkampf</strong>mythen die Erde vor dem Untergang bewahrt oder<br />
aus den Teilen des besiegten Drachens wird der Kosmos neu geschaffen.<br />
Neugeburt des Gottes und Sieg über das Ungeheuer sind also wie<br />
die Weltenstehung mit dem Aufstieg des neuen Götterhelden zu<br />
verbinden oder gleichzusetzen, mit dem Vorrang, den Marduk oder<br />
Horus damit erringen. Das aber ist auch in der Bambutifassung genauso<br />
deutlich wie in den altorientalischen Versionen, während es bei<br />
dem Pythokampf der aufwendigen Arbeit philologischen Schließens<br />
bedarf, um das gleiche auch in dieser Mythe wiederzuerkennen.<br />
27 Vilhelm Grönbech, Götter und Menschen, Greichische Geistesgeschichte II,<br />
Reinbek 1967, S.120
III<br />
Das Zwei-Brüder-Märchen in der Sammlung Grimm<br />
Die <strong>Drachenkampf</strong>episode im Zwei-Brüder-Märchen (Grimms Märchen<br />
Nr.60), dessen Versionen von Schweden über das Mittelmeer und<br />
Kleinasien bis nach Tibet hin verbreitet sind, ist ganz bestimmt nicht<br />
das einzige Motiv des Märchens. Aber dieses Märchen zeigt alle jene<br />
Elemente, die die <strong>Drachenkampf</strong>mythen mit den altorientalischen<br />
Mysterien verbinden, und bietet damit eine Gelegenheit, das Problem<br />
der Beziehung der Pygmäen und der Kabiren zu beleuchten oder die<br />
Ähnlichkeiten der nordwest-australischen Mythologie mit den altorientalischen<br />
Mysterien aus einer gemeinsamen Geisteshaltung heraus zu<br />
begreifen.<br />
Die Geschichte, welche erklärt, warum einer der zwei Brüder in die<br />
<strong>Drachenkampf</strong>situation kam, warum sie also von Zuhause fort mußten,<br />
ist die Geschichte des neidischen Onkels (älterer VaBr), den die beiden<br />
Brüder um das Herz und die Leber eines Wundervogels betrogen<br />
haben. Auch diese Geschichte erscheint in den Versionen dieses Märchens<br />
bis nach Tibet (siehe unten). Das genealogische Schema der Akteure<br />
wiederholt sich dementsprechend, wenn auch mit einigen Abweichungen:<br />
Va VaBr<br />
arm reich<br />
Br Br Jungfrau Drache<br />
1 Held Held Opfer<br />
2 Opfer Opfer<br />
3 Opfer Held<br />
Die Senioritätsregel und die Statuszuschreibung in korporativen Verwandtschaftsverbänden<br />
erklärt, warum ein jüngerer Bruder sich den<br />
Weisungen seines älteren Bruders fügen muß und seine Gehorsamspflicht<br />
sogar soweit geht, daß er auch auf dessen Geheiß seine Söhne<br />
aussetzen muß, deren Aussetzung soziologisch auch die Abspaltung<br />
einer Filiallinie aus einem patrilinearen Verwandtschaftsverband reflektiert.<br />
In dieser Perspektive beschreibt das Märchen dann die Pro-<br />
89
90<br />
blematik und Konflikte der Integration einer neuen Institution in ein<br />
älteres kosmologisches Gefüge.<br />
Das Zwei-Brüder-Märchen verbindet das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit dem<br />
Mythologem der "kabirischen Gruppierung" (Lenormant) und seine<br />
<strong>Drachenkampf</strong>version ist gleichfalls nahezu deckungsgleich mit dem<br />
maltesischen Märchen "<strong>Der</strong> siebenköpfige Drache" (Auch im Tristan<br />
kehrt das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit der Befreiung der Tochter des<br />
irischen Königs in ähnlicher Weise wieder). Das maltesische Märchen<br />
gleicht wiederum der griechischen Mythe von Perseus und Andromeda<br />
oder der von Herakles und Hesione, wenn auch die Figur des Usurpators<br />
in der Heraklesversion fehlt; in der Perseusmythe spielt Agenor<br />
die Rolle des Türken aus dem maltesischen Märchen, obwohl dessen<br />
Ansprüche nicht so gut begründet sind wie die des Agenor.<br />
Die Befreiung der Jungfrau im Zwei-Brüder-Märchen verbindet dieses<br />
Märchen offensichtlich mit der Tradition der anderen <strong>Drachenkampf</strong>mythen,<br />
betrachtet man aber den Helden dieser Geschichte, dann<br />
entdeckt man alle Hinweise, die auf die "kabirische Gruppierung" verweisen.<br />
<strong>Der</strong> Held hat einen Zwillingsbruder, der ihm in allem gleicht, d.h. ihn<br />
funktional vertreten kann, wie es das Märchen selber vorführt. Dieser<br />
Bruder wird zum Subjekt der Handlung in der Phase, in der der Held<br />
versteinert ist, d.h. sich in der Unterwelt aufhält oder selbstvergessen<br />
im Zauber der Hexe schläft. Bruder und Held stehen also dioskurisch<br />
zueinander oder wie der alte und der junge Attis, Adonis oder Tammuz.<br />
Sie sind als handelnde Personen dioskurisch angelegt und dann in<br />
einem weiteren Sinne auch mit der Gruppierung des Osiris und Horus<br />
zu vergleichen.<br />
Bevor die Stellvertretung des einen Bruders durch den anderen durch<br />
die Handlung gefordert wird, versucht ein Nebenbuhler des Helden,<br />
ihn um die Früchte seiner Tat zu bringen, indem er den schlafenden<br />
Helden enthauptet und sich mit dessen Leistungen brüstet. Er versucht<br />
auch die Heirat mit der befreiten Jungfrau zu erschleichen. Doch im<br />
Gegensatz zu Herakles, der den Atlas um den Lohn seiner Tat betrogen<br />
hat, gelingt es dem Nebenbuhler hier nicht. <strong>Der</strong> Held vereitelt die falsche<br />
Hochzeit und heiratet dann selber die Jungfrau, nachdem er den<br />
Widersacher entlarvt und besiegt hat.<br />
Wer denkt nicht bei dem Bild des enthaupteten Helden an das Schicksal<br />
der orientalischen Korngötter, die den Intrigen feindlicher Brüder<br />
oder feindlicher Götter zum Opfer fielen, an Dionysos, Osiris, Orpheus<br />
oder an den keltischen Bran, den Erlen- und Krähengott. Auch diese
Enthauptung muß der zweite Bruder erleiden, nur daß dieser Bruder<br />
vom Helden enthauptet wurde, was unsere mythologische Anspielung<br />
hier nur unterstreicht.<br />
Nachdem der Märchenheld König geworden ist und seine Würden genießt,<br />
gerät er bei der Verfolgung einer Hindin während einer Jagd in<br />
einen verwunschenen Wald und dabei auch in die Hände einer Hexe,<br />
die ihn und seine Tiere in Steine verwandelt. Dies ist seine Unterweltsreise,<br />
von der er allein durch seinen Zwillingsbruder erlöst wird,<br />
der seine Oberweltsreise dort fortsetzt, wo die des Helden aufgehört<br />
hat, aber dabei die Ränke der Hexe durchschaut und die Versteinerten<br />
mit dem ganzen Wald befreit.<br />
Die Zweiteilung des Helden in ihn selbst und in seinen Zwillingsbruder<br />
(ein dioskurisches Bild für das Verhältnis von Seele und Körper in<br />
den Mysterien) erlaubt seinen Aufenthalt in der Unterwelt und unter<br />
den Lebenden zugleich, eine Konstruktion, die wir mit der griechischen<br />
Mythologie nicht ohne Berechtigung dioskurisch nennen, ein<br />
Gleichnis, das aber alle orientalischen Mysterien und viele Zwillingsmythen<br />
der archaischen Völker in verschiedenen Bildern vorstellen.<br />
<strong>Der</strong> Aufenthalt des Helden in der Unterwelt entspricht dem Aufenthalt<br />
des Tammuz bei Allatu, des Attis, Adonis, Osiris, Dionysos, Orpheus<br />
etc. im Totenreich oder des Mondes der Bambutimythe bei Mataligeda.<br />
<strong>Der</strong> Bruder des Helden erfährt von der Todesgefahr, in der sich der<br />
Held befindet, durch ein Messer, das sie vor ihrer Trennung in einen<br />
Baum gestoßen hatten und das mit seinem Rosten die Gefahr angezeigt<br />
hat. <strong>Der</strong> Baum ist hier die Nabelschnur, die die beiden Brüder miteinander<br />
in Verbindung hält, der silberne Faden zwischen Seele und<br />
Körper oder kosmologisch: die Achse, die die Regionen des Kosmos<br />
verbindet (Ober- und Unterwelt).<br />
<strong>Der</strong> Bruder geht den Weg des Helden nach (d.h. er wird zum Helden)<br />
und kommt zu dem Schloß, in dem die Frau des Helden auf ihn wartet,<br />
und ihn mit ihrem Gatten verwechselt. Er übernimmt diese Rolle in<br />
den durch die Sitte als schicklich ausgewiesenen Grenzen und trennt<br />
deshalb ihr Nachtlager mit seinem Schwert. Dann begibt auch er sich<br />
auf die gleiche Jagd wie sein Bruder und befreit ihn schließlich, weil er<br />
der Verführung der Waldhexe nicht erliegt. Als der Held von der<br />
Stellvertretung seines Bruders bei seiner Frau hört, schlägt er ihm im<br />
Zorn das Haupt ab, setzt es ihm aber mit Hilfe des Lebenskrautes<br />
wieder auf, nachdem er von der Keuschheit des brüderlichen Verhaltens<br />
erfahren hat. Auf die Wiedergeburtslehre verweist auch, daß dem<br />
Helden im zweiten Anlauf gelingt, worin er beim erstenmal scheiterte.<br />
91
92<br />
Auffallend ist die Wiederholung der Enthauptung des Helden, der das<br />
Erlösungswerk vollbracht hat. <strong>Der</strong> Widersacher, der sich der Jungfrau<br />
zu versichern suchte, spielt entweder die Rolle des Brauträubers, die<br />
aus anderen Mythen bekannt ist (Kadmos oder Kesar) oder er nimmt<br />
das Motiv vorweg, das erst am Ende des Märchens seine Begründung<br />
findet. So gesehen erläutert die zweite Enthauptung die Motive und<br />
Ansprüche, welche zur ersten Enthauptung geführt haben, nämlich der<br />
Besitz und die Anmeldung älterer Rechte, die erst durch die Heldentat<br />
nichtig werden.<br />
Die Winterzauberwalderlösung (Resurrektion des Helden) wird durch<br />
die Beziehung desselben Schicksals (Enthauptung des Helden), das der<br />
Held erlitten hatte, auf den Zwilling als Äquivalent des <strong>Drachenkampf</strong>es<br />
übertragen: es folgen hier also zwei verschiedene Handlungsbilder,<br />
die das gleiche Thema darstellen mit dem kleinen Unterschied, daß die<br />
Taten der ersten Episode einen Rechtsanspruch begründen, während<br />
die Taten der zweiten Episode einen Rechtsanspruch verteidigen. <strong>Der</strong><br />
Lohn des Zwillings wäre die Hindin, die er verfolgt hatte, ein Thema,<br />
dessen Ausführung das Märchen sparte, weil ihr Geheimnis gelüftet<br />
worden ist und weil die Hindin die Jungfrau in ihren autochthonen<br />
Vorzeichen repräsentiert, die sie verloren hat im Königreich, das der<br />
Drache bedroht. Aber als Jungfrau, welche zugleich die Hexe ist, erscheint<br />
sie in ihrer ganzen matriarchalen Macht, solange sie den Held<br />
als Opfer zu erlisten versteht. Erst der Sieg über die Hexe durch den<br />
zweiten Bruder stellt jenen Zustand her, in dem die Jungfrau und nicht<br />
der Held das Opfer ist, d.h. die Situation des <strong>Drachenkampf</strong>es. So wird<br />
der große Kreis, der Jahres-, Lebens-, Geschlechter-, und Geschehenskreis,<br />
noch einmal geschlossen und der Ring beginnt, sich wieder von<br />
neuem zu drehen. Das Motiv der Rehjagd des Königs unterstreicht die<br />
Umschreibung der Winterwaldverzauberung als Aufenthalt im Totenreich,<br />
denn das Reh oder der Rehbock (Hirsch etc.) gehören zu einer<br />
Symbolik des Totenkultes, die in vielen Mythen verarbeitet worden ist.<br />
Herakles jagt den weißen Hirsch der Artemis, Amataon raubt den Rehbock<br />
des Königs von Annwm und der Schutzpatron der Jäger, der<br />
heilige Hubertus, verfolgt den Hirsch genauso vergeblich wie der erste<br />
der zwei Brüder des Grimmschen Märchens. Das Reh oder der Rehbock<br />
bedeuten das verborgene Geheimnis ihres Totenkultes. Folgt man<br />
der soziologischen Deutung des <strong>Drachenkampf</strong>mythos, der mit dem<br />
<strong>Drachenkampf</strong> einen Wechsel der dynastischen Folge begründet, der<br />
Held wird neuer Ahnherr oder Dynast und die durch den <strong>Drachenkampf</strong><br />
erworbene Gattin repräsentiert die Verbindung mit und zur alten
Linie, dann muß man noch weiter gehen und mit diesem Wechsel der<br />
Filiationsrechnung auch einen Wechsel der Göttergenealogien<br />
verbinden, wozu uns Robert Graves in seiner "Griechischen Mythologie"<br />
und in seiner "Weißen Göttin" förmlich drängt. Die Hirschjagd<br />
beschreibt übrigens den gleichen sozialgeschichtlichen Vorgang. Robert<br />
Graves vermag dieses Mythologem sogar noch mit den Völkerwanderungen<br />
der europäischen Bronzezeit in Verbindung zu bringen,<br />
in denen Völker patrilinearer Filiation (auch ihrer Götter) solche mit<br />
matrilinearer Filiation überschichten, besiegen oder verdrängen.<br />
Das Reh, der Rehbock oder der Hirsch gehören zum verdrängten Kult<br />
und die Versionen der Mythen, in denen der Rehbock erlegt wird oder<br />
der Jäger in Gefahr gerät, zeigen entweder den Sieg über den Totenkult<br />
der großen Mutter und ihrer Söhne (matrilineare Gefolgschaft) oder die<br />
Widerstandskraft ihres Kultes und seiner Gefolgschaft an. Im Zwei-<br />
Brüder-Märchen werden beide Versionen so kombiniert, daß sie auch<br />
der historischen Reihenfolge der Indizien für die bronzezeitlichen<br />
Invasionen entsprechen.<br />
Zwei Geschehenskreise werden in diesem Märchen integriert: In einer<br />
Rahmengeschichte werden der Held und sein Bruder vorgestellt und<br />
ihr Auszug ins Abenteuer begründet, dann wird das Schicksal des<br />
Helden bis zu seiner letzten Not erzählt, das den einen Kreis des Geschehens<br />
darstellt, und mit dem hilfreichen Eingreifen des Bruders, mit<br />
dem Hohelied auf die „Solidarität der Geschwistergruppe“, führt die<br />
Handlung die Episode des gescheiterten Helden, der dank der Hilfe<br />
seines Bruders aus der tödlichen Gefangenschaft entkommen konnte,<br />
in die Rahmenhandlung zurück. Das Ende der Geschichte führt zum<br />
status quo ante ihres Anlasses zurück. Die Gefahren und Prüfungen<br />
wurden von den Ausgesetzten (oder von dem abgepaltenen Verband)<br />
erfolgreich bestanden, das Gleichgewicht, das durch die Ereignisse der<br />
Handlungsbegründung aus den Fugen geriet, war also wiederhergestellt,<br />
die gültige (kosmologische) Ordnung sah sich durch den Verlauf<br />
des Geschehens bestätigt.<br />
Nach der Wiederauffindung der Frühlings- und Wintermythe der<br />
Kesarsage durch A.H.Francke 28 sollen auch hier die beiden Geschehenskreise<br />
des Märchens als Frühlings- und Winterkreis unterschieden<br />
werden, nicht weil wir der naturmythischen oder vegetationsmythischen<br />
Interpretation den Vorzug geben, sondern weil diese<br />
Bilder sich entsprechen und diese Entsprechungen mit anderen Mythen<br />
28 Siehe: A.H.Francke, <strong>Der</strong> Frühlings- und Wintermythus in der Kesarsage, 1902<br />
93
94<br />
über diese Gleichung noch deutlicher werden, die funktionale Äquivalenz<br />
der Jahreskreis-, Fruchtbarkeits- oder Filiationswechsel-, der<br />
Götterwechsel-, der Lebens- und Todesmythologie. Die naturmythische<br />
Deutung dieser Mythen suchte neben Francke auch besonders<br />
Siegbert Hummel 29 zu erhärten, der im Falle der Kesarsage auf viele<br />
eurasische Parallelen (Märchen, Siegfried- Sage) hingewiesen hatte<br />
und deshalb auch hier auf indogermanisches und megalithisches Lehngut<br />
verweisen zu können glaubte (unter Berufung auf die sog. pontische<br />
Wanderung). Aber auch hier gilt es nur auf die mitgeteilten Parallelen<br />
(Werben Siegfrieds um Brumhilde, Odysseus und Calypso,<br />
Waberlohe, das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren<br />
usw) zu achten, während die Untersuchung des Lehngutes oder der<br />
Wanderung des Sagenstoffes und die historische Bestimmung des<br />
Übernahmezeitraums eine kulturhistorische Aufgabe bleibt, die hier<br />
nur erwähnt werden kann.<br />
<strong>Der</strong> Aufenthalt des Helden im Totenreich, seine Versteinerung also,<br />
der durch das Eingreifen des Bruders beendet wird, entspräche dem<br />
Winterkreis, während der Usurpator, der sich den Lohn der Drachentötung<br />
einheimsen will, als eine Winterrückfallsdrohung, als ein Widerstand<br />
der Autochthonen oder als Todesdrohung zu verstehen ist, die<br />
endgültig erst durch seine Entlarvung oder Besiegung (durch den<br />
Helden) gebannt wird.<br />
Mit dieser Episode des Usurpators (Kutschers, Dienstmannes, Türken<br />
etc) erscheint in der Handlung ein altes schamanistisches Motiv. <strong>Der</strong><br />
Schamane erwirbt im Verlaufe seiner Initiation die Gefolgschaft hilfreicher<br />
Wesen, Geister oder Tiere, die ihm in Zukunft beistehen werden,<br />
und ihn vor allem auch in der Periode körperlicher Zerstückelung<br />
oder Teilung vor den Nachstellungen der Krankheitsgeister oder Übeltäter<br />
beschützen. Dieser Gefolgschaft verdankt der Held auch im Märchen<br />
seine körperliche Wiederherstellung, die er selbst dem Drachen<br />
erfolgreich verwehrt hat, nachdem er dessen Zungen herausgeschnitten<br />
hatte und sie an sich nahm. <strong>Der</strong> Usurpator vertritt hier den Geist oder<br />
die Gottheit, vor deren Nachstellungen der Schamane seine Gruppe<br />
bewahren muß, meistens in kräftezehrenden Kämpfen, in denen der<br />
Schamane seines Amtes wegen auf die endgültige Tötung seiner Widersacher<br />
verzichtet. Obwohl mit der Episode der Enthauptung des<br />
Helden durch den Usurpator und seiner Wiederherstellung durch die<br />
29 S.Hummel, Anmerkungen zur Gesar- Sage, Anthropos 54, 1959, S.521; Siehe auch:<br />
Mythologisches aus Eurasien im Gesar- Heldenepos der Tibeter, Ulm 1993
hilfreichen Tiere an dieses schamanistische Initiationsmythologem<br />
erinnert wird, erfährt es im Kontext des Märchens auch jene Umdeutung,<br />
welche erst ihre Verwendung in ihm erlaubt. Es erläutert hier vor<br />
allem den Sinn der Amputationen (die beiden Enthauptungen und das<br />
Zungenabschneiden). Die Zungen der Drachen werden weniger als Urhebernachweis<br />
des Helden herausgeschnitten, sondern vor allem, um<br />
die Endgültigkeit des Sieges über den Drachen zu versichern, der sich<br />
nur über die Zusammensetzung aller seiner Körperteile wieder regenerieren<br />
kann.<br />
Auch der Held und seine Gefolgschaft können ihre erschöpften Kräfte<br />
nach dem Kampf nicht ohne Schlaf wiederherstellen. Obwohl sie die<br />
große Gefahr siegreich überstanden haben, bringt ihr Sieg sie mit ihrer<br />
Erschöpfung auch selbst in jene Gefahr, die der Usurpator als Gelegenheitsdieb<br />
für sich zu nutzen sucht. Er glaubt sich durch die Enthauptung<br />
des Helden auch von dessem Anspruch auf den Sieg und den<br />
Preis für die Tat entledigen zu können, die er beide betrügerisch für<br />
sich geltend macht.<br />
Die Jungfrau, der Frühling, das Leben, die Fruchtbarkeit, die Geliebte,<br />
die Befreite oder die vom Usurpator zeitweilig Geraubte, wehrt sich<br />
dagegen nach Kräften: die erwachende Vegetation also, das enträtselte<br />
Geheimnis oder die neubegründete genealogische Linie, deren Aufkommen<br />
nach dem Tod des Drachens nicht mehr gehemmt werden<br />
kann. Ihre Aktivitäten oder Befürchtungen korrespondieren mit der<br />
Krise, in der das neue Königtum des Helden über das durch ihn aufgeschlossene<br />
Lebensreich, das der Held durch seinen Sieg erworben hat,<br />
einstweilig infrage gestellt wird. <strong>Der</strong> Held ist ja zeitweilig enthauptet.<br />
Aber die Hilfe seiner Tiere (kosmologische Interaktion) ermöglicht es<br />
ihm, seine Ansprüche trotzdem durchzusetzen. Die hilfreichen Tiere<br />
zeichnen den Helden auch als Jäger (!) aus und die Tiere können sogar<br />
in mancher Motivvariation auch noch Totemgruppen repräsentieren.<br />
Eine ähnliche Hilfeleistung bestimmter Tiere schildert z.B. die Coniraya-<br />
Mythe (Südamerika), die das Thema aber etwas variiert: die zur<br />
Hilfe aufgeforderten Tiere differenzieren sich in hilfsbereite und in die<br />
Hilfe verweigernde Tiere und reflektieren damit die Selektion, die dem<br />
Verhältnis des Helden zur Tierwelt zugrunde liegt.<br />
In der zweiten Episode kehren sich die Vorzeichen, unter denen die<br />
handelnden Personen stehen, um. <strong>Der</strong> rechtmäßige König als wenig<br />
umsichtiger Jäger wird von der Waldhexe verzaubert. Jetzt sind er und<br />
seine Tiere versteinert, tot, und das einzige Band, das ihn noch mit seinem<br />
Leben, seiner Königin und seinem Reich verbindet, ist sein Bru-<br />
95
96<br />
der, der seinerseits durch Enthauptung kurzfristig um den Lohn seiner<br />
Tat gebracht wird, wegen eines Verdachts, der auch als Motiv der<br />
ersten Enthauptung zu verstehen ist.<br />
Zwei mythische Bilder, die im Grunde das gleiche bedeuten, werden<br />
hier miteinander verbunden und beide sind auch für sich von orientalischen<br />
Beispielen her bekannt. Die soziologische Deutung sieht hier,<br />
daß der Kampf der Völker, Nachkommen, Rechte und Mächte noch<br />
nicht entschieden ist, die mystische Deutung erinnert sogar daran, daß<br />
der Kampf solange dauert, wie die Menschen leben.<br />
Auch in den schon genannten griechischen Beispielen hilft die Jungfrau<br />
dem Helden, nachdem er sie befreit hat, gegen seinen Widersacher,<br />
hilft Andromeda Perseus oder Medea Jason. Diese beiden älteren<br />
Fassungen der griechischen Mythen sind nur noch aus Abbildungen zu<br />
erschließen, über deren Bedeutung allerdings keine Zweifel bestehen.<br />
Die Konstellation des <strong>Drachenkampf</strong>es in der Perseusmythe:<br />
<br />
Drache <br />
(Opfer)<br />
Im Märchen wie in der Andromeda-Mythe erfüllt der Widersacher des<br />
Helden bei der Brautbefreiung die Funktion der Tatvereitelung, der<br />
Winterrückfallsdrohung, des autochthonen Widerstands gegen die<br />
neuen Rechtsansprüche oder patrilinearen Reformen und die Situation<br />
selber erscheint als Fortsetzung des Unheils, als Frühlingsverunsicherung,<br />
als Erstarken der Widerstände der autochthonen Tradition.<br />
In der Rolle des Widersachers des Grimmschen Märchens erkennen<br />
wir auch den Türken des maltesischen Märchens und den Agenor der<br />
Perseusmythe wieder, der dem Perseus Andromeda streitig zu machen<br />
versucht. In dieser Funktion erscheint in manchen Versionen auch der<br />
feindliche Bruder. <strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> des Grimmschen Märchens<br />
weist erst den ersten Bruder als den Helden seines kommenden Schicksals<br />
aus (Frühjahr, Vegetation, Wiedergeburt, Stammesgründung, Dynastiengründung<br />
etc.), dem noch die eigentliche Prüfung bevorsteht<br />
(Winter, Tod, strittige Filiationsfolge, Widerstand der Autochthonen<br />
etc.), das alltägliche Leben und Reifen im Reiche des Brautvaters.<br />
In der zweiten und eigentlichen Unterweltsituation traf das Schicksal<br />
ihn und alle seine hilfreichen Tiere. In dieser Lage konnte nur noch der
zweite Bruder helfen, weil er als Zwilling dem Helden in allem gleicht,<br />
d.h. selber ein Held ist, der sich aber vor der Gefahr, in der sein Bruder<br />
umkam, zu hüten wußte, denn er war durch das rostende Messer im<br />
Baum vorgewarnt. Das rostende Messer weist auf die Wissenschaften<br />
der Metallvölker hin, d.h. auf Erfahrungen oder Kenntnisse, die eine<br />
Auflösung der Patrilinien, aus denen die Helden stammen, in die Matrilinien<br />
der Hüter ihrer errungenen Schätze zu verhindern wissen. Es<br />
steht aber auch für eine Weisheit, welche die Omina zu deuten versteht.<br />
Am Ende werden mit dem Zwillingshelden der verwunschene Wald<br />
(das Totenreich, der Winter, die bedrängten Verwandten etc.) und alle<br />
Verhexten und Versteinerten erlöst und die Zwillingsgruppierung der<br />
Helden (Wille und Weisheit) wiederhergestellt, so daß die Geschichte<br />
zu der Stelle zurückführen kann, an der sie ihren Ausgang genommen<br />
hat und so den Kreislauf des Geschehens unterstreicht, indem sie seine<br />
ewige Wiederkehr voraussetzt.<br />
Neben den kabirischen Motiven schimmert noch ein älteres Merkmal<br />
der ältesten Zwillingsmythen durch, die Unterscheidung der Zwillinge<br />
nach ihrer Geschicklichkeit; das dioskurische Schema erweist sich als<br />
Sonderfall der uralten Zwillingskonstruktion der Mythologien der<br />
dualen Ordnung. In diesen alten Zwillingsmythen erscheint stets einer<br />
als weise und der andere als tatkräftig aber dumm oder dümmer.<br />
Deutlich unterscheiden sich zwei Handlungsebenen, in denen das Geschehen<br />
abläuft: Leben und Tod, Frühling und Winter, Wachsen und<br />
Absterben, Reifung und Vollendung, neue und alte Filiationsrechnung<br />
der Völker und Götter etc.<br />
In beiden Abschnitten wird eine Herausforderung und ihre Beantwortung,<br />
wenn auch verschieden, gestaltet.<br />
<strong>Der</strong> Frühlingskreis bedient sich einer bekannten orientalischen Version<br />
des <strong>Drachenkampf</strong>es, Widersacher und Drache sind männlich gezeichnet,<br />
etwa in der Funktion, die der Eber gegenüber Attis oder Seth<br />
gegenüber Osiris und Horus einnimmt. Die schwedische Version des<br />
Zwei-Brüder-Märchens zeichnet die Helden als Kinder einer Mutter,<br />
die von einem Apfel schwanger wurde, genauso wie die phrygische<br />
Nana von einer Mandel schwanger den Attis gebar. Die patrilineare<br />
Legitimation der Helden wird also auch hier deutlich infrage gestellt.<br />
Dieser erste Geschehenskreis des Märchens zeichnet also Geburt, Tod<br />
und Wiedergeburt des Helden und stellt die Ursache des Todes als gewaltsame<br />
Tötung und hinterhältige Nachstellung heraus. <strong>Der</strong> zweite<br />
Geschehenskreis stellt den Tod dagegen als Unterweltsaufenthalt, als<br />
97
98<br />
Verzauberung, dar, d.h. als selbst verschuldetes Schicksal, und die<br />
Opferbereitschaft aus Freundschaft oder brüderlicher Solidarität holt<br />
I Ablaufschema der Handlung mit altorientalischen Korrespondenzen:<br />
Tammuz Tammuz Eber Große Mutter<br />
Attis Attis Drache Vegetation<br />
Adonis Adonis Widersacher Gattin/Geliebte<br />
Bruder Held Drache Jungfrau<br />
Widersacher<br />
Sieg des Helden<br />
Befreiung der<br />
Jungfrau<br />
Held Hindin<br />
Hexe<br />
Versteinerung<br />
des Helden<br />
Bruder Hindin<br />
Hexe<br />
Sieg des Bruders<br />
Befreiung der<br />
Verhexten<br />
II Bruder Held Drachen Jungfrau<br />
Held Widersacher<br />
Held Hexe Hindin<br />
Bruder Hexe Hindin<br />
Das Schema II stellt die funktionalen Äquivalente der Symbole dar und das Schema I zeigt ihre Stellung im<br />
Handlungsablauf. Über dem ersten Schema sind die Anschlußverweisungen zur orientalischen Mysterienmythologie<br />
angegeben.<br />
den Helden aus dem Totenreich zurück, ermöglicht seine Erlösung.<br />
<strong>Der</strong> Winterkreis folgt also einem anderen Schema der altorientalischen<br />
Mysterien: der Held wird in der Unterwelt festgehalten, der Zwillingsbruder<br />
allein kann ihn auslösen. Die Widersacherin ist weiblich ge-
zeichnet, eine Hexe, die den Todesgöttinnen Allatu, Persephone oder<br />
Proserpina entspricht. So wie Polydeukes das Schicksal des Kastor<br />
wendet, so der Bruder das Geschick des Helden im Märchen; anstelle<br />
des Streites der Liebesgöttin mit der Todesgöttin um das göttliche Kind<br />
bedient sich das Märchen der dioskurischen Solidarität.<br />
Wie die Kabiren von Samothrake stehen die zwei Brüder als Hades<br />
und Dionysos den Axieros und Axiokersa, d.h. Demeter und Persephone<br />
gegenüber, die hier eher mit Ishtar und Allatu gleichzusetzen<br />
sind, da die griechischen Namen der Kabirinnen auch schon Interpretationen<br />
der alten Griechen sind.<br />
Ein Vergleich des Zwei-Brüder-Märchens mit dem georgischen Märchen<br />
vom Kupferwolf unterstreicht den Zusammenhang dieser Deutung,<br />
auch wenn einzelne Themengruppen des Zwei-Brüder-Märchens<br />
in ihm fehlen, aber andere dafür stehen, und die Stellung der vergleichbaren<br />
Themenkreise im georgischen Märchen geradezu umgekehrt<br />
proportional zusammengestellt worden sind.<br />
In einer ersten Handlung werden die Anstrengungen dreier Brüder um<br />
die Befreiung eines gefangenen Mädchens geschildert, von denen sich<br />
die beiden älteren zusammentun. Zuerst ziehen die beiden älteren<br />
Brüder aus, treffen den Kupferwolf, benehmen sich ihm gegenüber<br />
frech und werden von ihm versteinert. Als der jüngste Bruder dem<br />
Kupferwolf begegnet und ihm hilfreich ist, wird sein Verhalten mit<br />
dem Geschenk eines Wunderauges und einem Fell, das die hilfreichen<br />
Tiere herbeiruft, belohnt. <strong>Der</strong> Kupferwolf klärt ihn über die Bedingungen<br />
der Befreiung des Mädchens auf, so daß dem Helden die Befreiung<br />
des gefangenen Mädchens auch gelingt. Zurück beim Kupferwolf bittet<br />
der Held für seine Brüder, die wieder entzaubert werden, er wird aber<br />
auch vom Kupferwolf vor ihren Nachstellungen gewarnt. Die Brüder<br />
locken ihn in einen Brunnen, an dem sie ihn herablassen, um Wasser<br />
zu schöpfen, und lassen ihn auf dem Grunde des Brunnens zurück,<br />
während sie selber nach Hause zurückkehren und dort vorgeben, das<br />
Mädchen selbst befreit zu haben.<br />
Zwei feindliche Brüder stellen hier einem anderen nach, genauso wie<br />
Seth und Toth dem Osiris nachstellten, und lassen den jüngsten Bruder<br />
vor dem Tor zur Unterwelt (Brunnenloch) zurück.<br />
<strong>Der</strong> Held begegnet dort einer alten Frau, der Wasser fehlt, weil drei<br />
Drachen das Wasser, dessen Quelle sie hüten, nur gegen Menschenopfer<br />
tauschen und sie selbst keinen Tauschgegenstand mehr hat. Er<br />
bietet sich an, das Wasser zu holen und gelangt zur Quelle, wo er eine<br />
Prinzessin antrifft, die ihr Vater, ein König, als Opfer für das Wasser<br />
99
100<br />
dorthin gebracht hat. Er besiegt mit Hilfe der hilfreichen Tiere, die das<br />
Fell des Kupferwolfes herbeirief, einen Drachen und schickt die<br />
Prinzessin mit dem Versprechen, nachzukommen, in einer Kutsche<br />
nach Hause; der Kutscher zwingt sie aber, ihn selbst bei ihrem Vater<br />
als den Drachentöter auszugeben. Am nächsten Tag opfert der König<br />
seine zweite Tochter für das Wasser und der Held befreit auch sie,<br />
nachdem er den zweiten Drachen getötet hat, und schickt sie wie die<br />
Schwester nach Hause mit dem Versprechen, nachzukommen. Auch<br />
sie wird vom Kutscher gezwungen, ihn als den Helden auszugeben.<br />
Einen Tag darauf opfert der König seine dritte Tochter. <strong>Der</strong> Held<br />
besiegt den dritten Drachen und befreit auch sie, die er wie ihre beiden<br />
Schwestern nach Hause schickt mit dem Versprechen, später nachzukommen.<br />
Müde von den Kämpfen legt sich der Held schlafen und auch<br />
die Tiere, die ihm geholfen haben, schlafen vor Erschöpfung ein, so<br />
daß der Kutscher, der sich heimlich herangeschlichen hat, den Helden<br />
enthaupten kann. Als die erwachenden Tiere ihren toten Herrn sehen,<br />
suchen sie für ihn das Lebenswasser und wecken ihn damit wieder auf<br />
zum Leben. Nun begibt sich der Held zur Wohnung der Prinzessinnen,<br />
die ihn sofort umarmen und dem Vater die Wahrheit entdecken. <strong>Der</strong><br />
Kutscher wird hingerichtet und dem Helden die Rückkehr ins Reich<br />
der Lebenden gewährt. Ein Adler bringt ihn in die Oberwelt. Zuhause<br />
klärt der Held seinen Vater über sein Schicksal auf, trennt sich von<br />
seinen Brüdern und heiratet das von ihm befreite Mädchen, um das er<br />
von seinen Brüdern betrogen worden ist.<br />
In diesem Märchen bringt brüderliche Nachstellung den Helden in die<br />
Unterwelt, wo er den <strong>Drachenkampf</strong> dreimal besteht. Neben der Tatsache,<br />
daß der <strong>Drachenkampf</strong> dreimal ausgefochten wird, was selbst<br />
wiederum bedeutsam ist, wird auch die Heirat des zuerst befreiten und<br />
zeitweilig gefährdeten Mädchens in der Funktion des Schatzes anders<br />
begründet, und zwar auch hier wieder entsprechend der anderen genealogischen<br />
Konstellation des Helden. Die Figur des Kutschers, d.h.<br />
ihrer Funktion, entspricht dem gleichen Personenkreis, auf den wir<br />
schon im maltesischen und im Zwei-Brüder-Märchen hingewiesen haben,<br />
ganz zu schweigen von den antiken Beispielen dieser Personenkategorie,<br />
während die hilfreichen Tiere nur in den bereits genannten<br />
Märchen eine Rolle spielen. Das genealogische Schema dieses<br />
Märchens:<br />
Durch seinen Mut und seine Rechtschaffenheit findet der Held hier den<br />
Weg ins irdische Leben zurück, wo er den Lohn seiner Taten genießen<br />
kann, der ihm von seinen Brüdern streitig gemacht worden ist.
101<br />
<strong>Der</strong> listige Nebenbuhler, ein Dienstmann des Vaters der von ihm befreiten<br />
Töchter, wie die feindlichen Brüder, die ihn alle in jene ausweglose<br />
Lage bringen, aus denen die Folgen früherer Taten und sein<br />
Heldentum ihn erlösen, erscheinen allesamt als Gegner des Helden in<br />
Gruppierungen, die aus der altorientalischen Mythologie bekannt sind,<br />
und auch die kultgeographische Zuordnung des Ortes, wo der <strong>Drachenkampf</strong><br />
stattfindet, ist im georgischen Märchen eindeutig: es ist<br />
eine Quelle in der Unterwelt. Die Motive dieses Märchens sind allesamt<br />
kabirischer Natur, auch wenn sie sich nicht in allen Punkten auf<br />
sie beziehen wie das Zwei-Brüder-Märchen.<br />
feindliche Brüder<br />
Br Br Held Mädchen<br />
vereiteln die Heirat Heirat als Lohn des<br />
bringen den Helden in <strong>Drachenkampf</strong>es<br />
die <strong>Drachenkampf</strong>situation<br />
3 Jungfrauen : Drache<br />
Genauso wie das Zwei-Brüder-Märchen den <strong>Drachenkampf</strong> in ein kabirisches<br />
Mythologem integriert, stellt auch die Kadmossage den <strong>Drachenkampf</strong><br />
in den gleichen Kontext, der durch seine Verwandtschaft<br />
mit Dionysos und durch seine Beziehung zu Elektra über seine Frau<br />
Harmonia angezeigt wird.<br />
Weil Zeus Europa, die Schwester des Kadmos, entführte, schickte<br />
Agenor, der Vater von Kadmos und Europa, ihn mit seinen Brüdern<br />
auf die Suche nach der entführten Schwester. So kam Kadmos auf der<br />
Suche nach seiner Schwester nach Thrakien, und zwar in Begleitung<br />
seiner Mutter (Die weithin Leuchtende= Mond) und seines<br />
Zwillingsbruders , nach dem die Nachbarinsel von Samothrake<br />
benannt wird. Er reist also in der kabirischen Gruppierung, die<br />
mit dem Demetermythologem kombiniert worden ist, denn Telephassa<br />
sucht ihre von Zeus entführte Tochter genauso wie Demeter die von<br />
Hades entführte Persephone. Dieses Unternehmen führt Kadmos nach<br />
Samothrake, wo er nach samothrakischer Überlieferung die "zweite<br />
Europa", nämlich die Aphrodite-Ares-Tochter Harmonia entführt und<br />
freit. Harmonia ist die Tochter der samothrakischen Elektra (der griechischen<br />
Aphrodite), deren zwei Brüder Dardanos und Jasion heißen,
102<br />
und so wie Telephassa die Europa, so sucht nun auch Elektra die Harmonia,<br />
die Kadmos geraubt hat. Auch wiederholt sich das Schema der<br />
Kombination der kabirischen Gruppierung mit dem eleusinischen Mythologem.<br />
Aber allem Anschein nach brachte ein Rat des Orakels von Delphi<br />
Kadmos vorher nach Boiotien, wo ihm eine Kuh den Ort der Gründung<br />
Thebens zeigte. Als er seine Gefährten auf die Suche nach einer Quelle<br />
ausschickte, wurden sie bei der Quelle des Ares, dem Vater der<br />
Harmonia (!), von einem Drachen gefressen. Mit einem Stein erlegte er<br />
dieses Ungeheuer und säte dessen Zähne aus, aus denen die kriegerischen<br />
Spartoi entwuchsen, die sich bis auf fünf spätere Gefolgsleute<br />
gegenseitig umbrachten. Weil der Drache ein Sprößling des Ares ist<br />
und Harmonia, die Kadmos raubte, gleichfalls eine Tochter des Ares<br />
ist, liegt es nahe, den <strong>Drachenkampf</strong> mit dem Brautraub in Verbindung<br />
zu bringen, und zwar nach dem Schema von der Befreiung oder<br />
Erlösung der Jungfrau durch den Helden. (Die Akteure im Kadmosmythos<br />
bildet des folgende genealogische Schema ab).<br />
Sowohl die Gründung der Stadt Theben als auch die Begründung der<br />
Dynastie des Kadmos, d.h. der thebanischen Dynastie, bestätigen den<br />
<strong>Drachenkampf</strong> als Voraussetzung für den Abschluß einer autochthonen<br />
Genealogie und die Neugründung einer Stammeslinie, die eine Verbindung<br />
mit der entrechteten Linie durch Heirat herstellt. <strong>Der</strong> Schatz, den<br />
der Drache hier hütet, ist zwar die Quelle des Ares, aber in Wirklichkeit<br />
die Tochter Harmonia.<br />
Elektra Ares<br />
Dardanos Jasion Harmonia Drache ←tötet Kadmos<br />
raubt/heiratet<br />
Verfolgen wir die dynastische Sage Thebens weiter, dann entdecken<br />
wir auch die zweite Bedrohung des Märchenhelden des Grimmschen<br />
Märchens durch die Hexe in der Herausforderung des Oidipos durch<br />
die Sphinx. <strong>Der</strong> Sieg des Oidipos bringt auch ihn in seine angestammten<br />
Rechte zurück, die man ihm zuvor streitig gemacht hatte; er übernimmt<br />
die Herrschaft Thebens nach dem tragischen Mord an seinem<br />
Vater, den er allerdings nicht als seinen Vater erkannte. Die Gliederung<br />
des Helden in verschiedene Personen, die im Märchen dem dioskurischen<br />
Paar entspricht, wird in der thebanischen Sage genealogisch,
103<br />
d.h. in einer zeitlichen Folge, gestaltet. Oidipos ist der Urenkel des<br />
Kadmos, d.h. die Begebenheiten zwischen den beiden Kämpfen mit<br />
den Ungeheuern stehen in einer genealogischen Relation und werden<br />
also generationsweise differenziert. Aber der Rhythmus zyklischer<br />
Wiederkehr bleibt auch hier trotz aller zeitlichen Differenzierung gewahrt.<br />
Genauso wie dieses Märchen die Beziehungen, die das <strong>Drachenkampf</strong>motiv<br />
mit den Mythologien des mittelmeerischen Hochkulturkreises<br />
verbindet, noch herausstellt, zeigt es auch die Übereinstimmungen, die<br />
dieses Motiv mit verschiedenen Mythen des Maya-Sino-Tibetischen<br />
Hochkulturkreises verbindet. So gibt es auch ein Zwei-Brüder-Märchen<br />
in Tibet, das in allen seinen Zügen dem Märchen der Grimmschen<br />
Sammlung vergleichbar ist und verschiedene Motive dieses<br />
Märchens tauchen auch in der Gesar-Legende wieder auf.<br />
Die Genealogie der Helden führt in dem tibetischen Märchen auf zwei<br />
Brüder zurück, von denen einer reich und der andere arm war und der<br />
reiche immer reicher und der arme immer ärmer wurde. <strong>Der</strong> Broterwerb,<br />
zeichnet die eine Familie als bäuerliche und die ärmere von<br />
beiden als Wildbeuterfamilie. Aber der arme Bruder hatte an Stelle des<br />
materiellen Reichtums zwei Söhne. Als diese für ihren Vater einmal<br />
Reisig sammeln gehen, finden sie eine goldene Vogelfeder, die ihr<br />
Vater seinem reichen Bruder verkauft. Nach diesem Fund finden die<br />
Kinder regelmäßig eine goldene Feder, wenn sie Reisig sammeln<br />
gehen. <strong>Der</strong> reiche Bruder ihres Vaters bewegt ihn, den Kindern aufzutragen,<br />
den Vogel zu fangen, dem die Federn gehören. Die Kinder<br />
fangen den Vogel und auch der Vogel wird von ihrem Vater an den<br />
Onkel verkauft. <strong>Der</strong> befiehlt seiner Frau, den Vogel zu kochen und ihm<br />
das Herz des Vogels, das Wunderkräfte besitzt, zum Essen zu bringen.<br />
Die Kinder des armen Bruders vertauschen aber das Herz des goldenen<br />
Vogels mit einem anderen Vogelherzen und essen selber, jedes eine<br />
Hälfte, von dem Herz des goldenen Vogels.<br />
Als das entdeckt wurde, überredete der reiche Onkel ihren Vater, seine<br />
Kinder zu töten. Aber der Vater bringt es nicht übers Herz, die Kinder<br />
umzubringen und setzt sie nur im Walde aus.<br />
Nachdem die Kinder ihren Vater im Walde vergeblich gesucht haben,<br />
wandern sie im Wald umher. Unter dem Schutz der Kräfte des Vogelherzens<br />
konnte ihnen aber niemand etwas anhaben. Sie wurden nicht<br />
hungrig, sie waren nicht durstig, sie vermißten, begehrten und litten<br />
nichts.
104<br />
Auf ihrer Wanderung im Walde fanden sie zwei Tigerjungen, dann<br />
zwei Wolfsjungen, zwei Leopardenjungen, zwei Löwenjungen, Bärenjungen,<br />
zwei Hasenjungen und zwei Fuchsjungen, die sie alle aufzogen<br />
und von denen sie, als sie erwachsen waren, begleitet wurden.<br />
Die Brüder beschlossen, sich zu trennen und teilten die Tiere unter sich<br />
auf. Einer zog mit seinem Gefolge nach Norden, der andere nach Süden.<br />
Aber bevor sie sich trennten, stieß jeder sein Messer in einen<br />
großen Baum, das ihnen bei der Rückkehr anzeigen sollte, wie es um<br />
den anderen Bruder bestellt sein würde.<br />
Auf seinem Weg nach Süden kam der Bruder, dessen Richtung der<br />
Süden war, in ein Königreich, das von einem Drachen bedroht wurde.<br />
<strong>Der</strong> Drache forderte jährlich ein Mädchen, das im Jahr des Tigers<br />
geboren wurde (ähnlich gestaltet auch die chinesische Mytholgie<br />
diesen Gegensatz: Ch'in-lung :<br />
po-hu ).<br />
Bliebe das Opfer aus, dann würde er die ganze Erde vernichten.<br />
Nachdem alle Mädchen mit diesen Geburtsumständen geopfert worden<br />
waren, war als letztes Mädchen die Tochter des Königs an der Reihe.<br />
Auf dem Weg zur Opferstelle trat ihnen der südliche Bruder mit seinen<br />
Tieren in den Weg und versprach, den Drachen zu töten.<br />
Mit der Hilfe seiner Tiere tötete der Held den Drachen, schnitt ihm den<br />
Kopf ab und nahm danach die Zunge des Drachen an sich.<br />
Müde vom Kampf schliefen schließlich alle ein, auch der Hase, der mit<br />
der Wache beauftragt war. So konnte der Minister des Königs dem<br />
Helden den Kopf abschneiden und sich den Drachenkopf aneignen, mit<br />
dem er sich als Drachentöter ausgab.<br />
Als die Tiere erwachten, mußten sie den Tod ihres Herrn feststellen<br />
und wollten schon den Hasen dafür töten; doch der Hase wußte Rat<br />
und holte den Stein der Wiederbelebung, den Stein, der Zerbrochenes<br />
wieder ganz macht. Man setzte dem Herrn den Kopf wieder auf und<br />
weckte ihn aus seinem Schlaf.<br />
Wieder gesund, zog der südliche Bruder mit seinen Tieren ins Tal der<br />
Menschenfresser, in dem eine gefürchtete Menschenfresserin ihr Unwesen<br />
trieb. <strong>Der</strong> Held beschloß, auch sie zu töten. In der Schlucht<br />
schlug er sein Lager auf und kochte sich Tee. Die Menschenfresserin<br />
hatte ihn beobachtet und näherte sich ihm in der Gestalt einer Bettlerin,<br />
um Tee zu erbitten. <strong>Der</strong> Held bat sie, sich den Tee zu holen, aber die<br />
Hexe gab vor, sich vor seinen Tieren zu fürchten und bat ihn deshalb,<br />
jedes seiner Tiere mit ihrer Krücke leicht zu schlagen. Kaum berührte
105<br />
der Held seine Tiere mit der Krücke, da waren sie auch schon tot und<br />
gleich darauf auch der Held.<br />
<strong>Der</strong> nördliche Bruder kehrte unterdessen zu ihrem Baum zurück, an<br />
dem sie sich verabschiedet hatten, und sah, daß das Messer seines<br />
Bruders zu Boden gefallen war. Er machte sich deshalb sofort auf den<br />
Weg nach Süden und kam in das Königreich, wo der Drachen besiegt<br />
wurde. Dort wies man ihn weiter in das Tal der Menschenfresser, aus<br />
dem der Held nicht mehr zurückgekommen war. Auch er begab sich<br />
also dorthin und schlug in der Schlucht sein Lager auf. Wieder näherte<br />
sich die Menschenfresserin in Bettlergestalt und bat um etwas Tee und<br />
wieder gab die Bettlerin vor, sich vor den Tieren zu fürchten und bat<br />
den nördlichen Bruder, seine Tiere mit ihrer Krücke leicht zu schlagen.<br />
Doch der nördliche Bruder ging auf diesen Gebrauch der Krücke nur<br />
scheinbar ein, so daß die Hexe, als sie ins Lager sprang, sofort von<br />
seinen Tieren überwältigt werden konnte.<br />
Er zwang sie zur Herausgabe des Bruders und seiner Tiere und nahm<br />
ihr das Versprechen ab, nichts Böses mehr zu tun.<br />
Nachdem sich die Brüder erholt hatten, zogen sie gemeinsam zum<br />
König, dessen Reich sie von dem Drachen befreit hatten, um ihren<br />
Lohn einzufordern.<br />
Auf dem Wege erfuhren sie aber, daß die Prinzessin den Minister heiraten<br />
sollte, der versucht hatte, den südlichen Bruder nach dem <strong>Drachenkampf</strong><br />
zu töten.<br />
So stellten sie vor dem Haus des Königs ihr Lager auf und schickten<br />
den Bären, um Tschang zu holen, den Fuchs um Fleisch und schließlich<br />
den Hasen zur Prinzessin, die sich freute, ihren Retter wiederzusehen.<br />
Nachdem die Prinzessin versicherte, nur ihren wahren Retter heiraten<br />
zu wollen, deckten die Brüder den Betrug des Ministers auf und forderten<br />
die Prinzessin zur Frau, welche die beiden Brüder dann auch<br />
heiratete (Polyandrie), während der Minister ins Gefängnis kam.<br />
Diese tibetische Märchenfassung stimmt also in den wesentlichen Zügen<br />
mit den europäischen Versionen des Zwei-Brüder-Märchens überein,<br />
sie variiert allerdings die Form der Ehe und den Zeitpunkt der<br />
Hochzeit, der hier erst nach der zweiten Prüfung des südlichen Bruders<br />
und der ersten Prüfung des nördlichen Bruders festgesetzt wird, so daß<br />
auch für sie die entsprechenden Korrelationen zur kabirischen<br />
Gruppierung gelten. Die genealogische Konstellation des tibetischen<br />
Zwei-Brüder-Märchens bildet das folgende Schema in deskriptiver<br />
Terminologie ab. Die tibetischen Verwandtschaftsnamen unterscheiden
106<br />
den Vater (apha) vom Vaterbruder (akhu) und den älteren Brüder<br />
(aphu) vom jüngeren Bruder (ajo). Für den Onkel sind die Geschwister<br />
Bruders Söhne (tsha-bu). Die tibetische Verwandtschaftsterminologie<br />
macht also eine ähnliche Unterscheidung zwischen den Kategorien der<br />
Brüder und der Neffen wie die europäische.<br />
Drache Königstochter Br südl. Br nördl.<br />
Va (arm) VaBr (reich)<br />
(Opfer) (Polyandrie)<br />
Aber auch die Heldensage Tibets spielt mit den verschiedenen Variationen<br />
der kabirischen Gruppierung und Genealogie und kommt dabei<br />
auch auf das <strong>Drachenkampf</strong>motiv zurück, um den Helden und die<br />
wunderbare Macht seiner Handlungen hervorzuheben.<br />
Ausschnitte aus dem Kesar-Epos<br />
Die Fassungen der Kesar-Sage sind umfangreich, auch ist sie selbst<br />
reich an Varianten. Nach Hermanns gibt es drei Hauptvarianten der<br />
Gesar-Sage: 1) die westliche in Ladakh, 2) die südöstliche in Khams<br />
und 3) die nordöstliche in A-mdo, aber er vermutet mindestens noch<br />
zwei weitere Sondertraditionen, eine zentral- und eine südtibetische,<br />
entsprechend dem kulturellen Sondergepräge dieser Gegenden. 30 Die<br />
von Francke herausgegebenen Frühlings- und Wintermythen in der<br />
Kesarsage sind Wiedergaben mündlicher Erzählungen, die noch im<br />
Volk von Ladakh erzählt wurden, als er sie aufzeichnete. Wir werden<br />
uns auf diese Fassungen beziehen. Die Frühlingsmythe der Kesarsage<br />
wird durch ein Märchen eingeleitet, das ein kosmologisches Geschehen<br />
nach dem <strong>Drachenkampf</strong>schema beschreibt. In ähnlicher Weise<br />
wird auch im thebanischen Zyklus die Hilfe des Kadmos beim<br />
Kampf des Zeus gegen Typhoeus als eine Form der Einleitung vorangestellt.<br />
Aus dem Körper eines neunköpfigen Riesen, den der Held Agu dPalle<br />
besiegt hat, entsteht die Welt (Weltmenschmythologem). <strong>Der</strong> Held<br />
30 Siehe: M.Hermanns, Das Nationalepos der Tibeter Gling König Gesar, Regensburg<br />
1965, S.371
107<br />
greift in den Kampf der Himmlischen gegen die Unterweltlichen, die<br />
als weißer und schwarzer Vogel (in anderen tibetischen Fassungen als<br />
weißer und schwarzer Stier) miteinander kämpfen, zugunsten des<br />
weißen Vogels ein. Als Gunst bedingt er sich einen Sohn des Himmlischen<br />
aus, der später als Kesar geboren wird, damit die unregierte und<br />
in Anarchie verfallene Erde einen König erhält und die Zeit des Chaos<br />
ihr Ende finden kann.<br />
Auch die Äsopische Fabel kennt das hier gebotene Motiv. Sie erzählt<br />
wie ein Bauer einen Adler, der von einer Schlange fest umschlungen<br />
war, befreit und wie der Adler auch später ihm hilft. Ovid und Horaz<br />
bedienen sich dieses Gleichnisses, um in ähnlicher Weise die lichten-<br />
von den dunklen Göttern zu unterscheiden.<br />
In der Ladakhmythe endet diese kosmologische Phase mit der Einrichtung<br />
des Jahreskreislaufes und der ewigen Wiederkehr des heldenhaften<br />
Eingreifens Kesars in das irdische Geschehen (In dieser Weise stehen<br />
auch die zwei <strong>Drachenkampf</strong>mythen des Zend Avesta zueinander).<br />
Die eigentliche Frühlingsmythe hebt noch einmal zwei Geschehenskreise<br />
hervor: I Dondrubs Wiedergeburt als Kesar (in niedriger Gestalt;<br />
ashboy- Motiv) und die Ereignisse, die seine göttliche Herkunft und<br />
heldenhafte Mision vorankündigen (siehe: folgende Tabelle).<br />
Dongrub als Kesar geboren.<br />
König in nieder Gestalt: Gassenjunge<br />
Ungenutzte oder noch nicht<br />
ausgenutzte Vegetationskraft<br />
Khromo und der Anschlag<br />
der 7 bösen Lamas<br />
Das Kind, das sich schützt und<br />
befreit.<br />
Frühreifes Kind.<br />
Winterdrohung Zeichen der potentiellen Lebensu.<br />
Herrscher- Kraft.<br />
Gegen den niedrig geborenen Kesar wird von Khromo (einer Loki-Gestalt)<br />
ein Anschlag geplant, den 7 böse Lamas auszuführen versuchen.<br />
Die Wunderkräfte und Frühentwicklung des Knaben vereiteln alles<br />
und zeigen eindrucksvoll, was dieser Held vermag. <strong>Der</strong> von Khromo<br />
angezettelte Anschlag lenkt gleichzeitig den Blick auf das kommende<br />
Geschehen, denn es ist die erste Winterdrohung, eine Wiederholung<br />
der großen kosmologischen Herausforderung, von der die Einleitung<br />
berichtet.<br />
II. Die Wurzelsuche der Bruguma oder das Verlangen der Erde nach<br />
ihrer Befruchtung (siehe das Schema oben).<br />
Die Tatsache, daß Kesar alle Wurzeln und Samen findet, während Bruguma<br />
nur die verdorrten Wurzeln entdeckt, zeichnet ihre Beziehung als<br />
das Verhältnis der Kraft (ενεργεια) zur unbefruchteten oder<br />
ausgedörrten Erde (δυναμις), als Verhältnis von Akt und Potenz. Die
108<br />
Begegnungen der beiden Hauptpersonen wird geschildert als ein Austausch<br />
der Rollen und Samen gegen die Ernte und in drei Phasen gegliedert.<br />
Nach der Übergabe des Saatgutes veranstaltet Bruguma ein Gastmahl,<br />
das mit der Verlobung endet. Hier erscheint Kesar kurz als königlicher<br />
Held, um dann sofort wieder in seine Rolle als Gassenjunge (ashboy)<br />
zu schlüpfen (Vorwegnahme der Hochzeits- und Erntefreuden).<br />
Bruguma ist darüber enttäuscht und läßt ihre Enttäuschung an dem<br />
Gassenjungen aus, der daraufhin fortläuft. Ernte und Hochzeit sind in<br />
Gefahr. Daraufhin begibt sich Bruguma auf eine mühsame und entbehrungsreiche<br />
Suche nach ihrem Bräutigam und ihre Klage um den<br />
Verlust des Bräutigams nimmt den Winterschmerz der Erde vorweg.<br />
Endlich findet Bruguma ihren geliebten König, mit dem sie nun die<br />
Dongrub/Kesar, der alle Samen<br />
und Wurzeln findet und<br />
dem sich alles, was er ißt,<br />
ergänzt.<br />
Kesar erscheint kurz als ein<br />
glänzender, von Sonne und<br />
Mond geschützter König.<br />
Begegnung<br />
a) Dongrub gibt Bruguma von seinen<br />
Wurzeln; Bedingung: spätere Rückvergütung:<br />
Saat gegen Ernte.<br />
b) Bruguma vergilt die Gabe mit einem<br />
Gastmahl, das mit der Verlobung<br />
endet.<br />
Winterdrohung c) Dongrub flieht, weil Bruguma ihn<br />
ungebührlich behandelt hat.<br />
Brugumas Suche des Bräutigams und<br />
ihre Klage über sein Verschwinden.<br />
Kesar ist der glänzende, weil<br />
mit Sonne und Mond geschmückte<br />
König.<br />
Prüfungen: Kurze Begegnungen und<br />
Trennungen werden mit der endgültigen<br />
Hochzeit und Ernte abgeschlossen.<br />
Jungfrau Bruguma, die nur dürre,<br />
unfruchtbare Wurzeln findet.<br />
Unfruchtbare Erde.<br />
Ernte, Herbst.<br />
Hochzeit feiern kann.<br />
Kesar wird hier in der Gestalt des Dongrub als männliches Aschenputtel<br />
gezeichnet oder besser noch als ein Beispiel des Ash-boy, der in<br />
amerikanischen Mythen in vielen Varianten auftaucht: als ein Junge<br />
mit niedriger Geburt (ohne Familie oder von illegitimer Geburt), von<br />
unansehlichem Äußeren, dessen Liebe nicht glücklich verläuft, und der<br />
sich kraft seiner übernatürlichen Herkunft von seinem häßlichen<br />
Äußeren befreit und als prächtiger König erscheint. Ganz ähnlich wird<br />
auch Coniraya, der <strong>Drachenkampf</strong>held aus Peru, in seiner Mythe dargestellt.
109<br />
Mit der Unterscheidung des Königs und des Gassenjungen haben wir<br />
eine weitere funktionale Äquivalenz des Dioskuren- oder Zwillingsthemas<br />
vor uns, das hier für die Wirklichkeit und Möglichkeit der Vegetation,<br />
des Lebens und der kosmologischen Ordnung steht. <strong>Der</strong> Gestaltwandel<br />
hier entspricht der Nachzeitigkeit des Handelns der Zwillinge<br />
oder der Gleichzeitigkeit der Dioskuren im Toten- und im Lebensreich.<br />
<strong>Der</strong> verschwundene Gassenjunge und die Brautklage entsprechen dem<br />
Aufenthalt des Tammuz bei Allatu und der Klage der Innana.<br />
Nisamis "Leila und Madschnun", Gorganis "Wis und Ramin" und in<br />
dieser Tradition sogar Mohamad Hedschazis "Baba Kubi" oder Shakespeares<br />
Trauerspiel "Romeo und Julia" haben alle ihre literaturgeschichtliche<br />
Vorlage in diesem altorientalischen Motiv der Bräutigamsuche<br />
und Brautklage der großen Göttinnen und auch das Ramayana<br />
gehört zu dem Kreis der dramatisierten Vegetationsmythen.<br />
M. Hermanns hat in seiner großartigen Ausgabe der Kesarsage 31 die<br />
kulturhistorischen Hintergründe und Einflußvarianten ausführlich erörtert<br />
und dargestellt.<br />
In der Herbstmythe gerät die Frau Erde (Bruguma) in die Gewalt der<br />
Wassergeister und des Schnees. Das ist das Bild, dessen sich die altorientalischen<br />
theogonisch-kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>mythen bedienen,<br />
wenn auch die Akzente dort entsprechend verschoben sind. Als<br />
Brautraub wird diese Mythe geschildert und mit der Befreiung der<br />
Braut abgeschlossen. Die Wintermythe zeigt die Personen in folgendem<br />
symbolischen Zusammenhang:<br />
Leben, Vegetationskraft Tod Erde, Vegetaionsstoff<br />
Kesar Byang (Nordriese) Bruguma<br />
König von Hor aBamzu abum skyid<br />
König von China rGya nag, Prinzessin von China<br />
Die Herausforderer sind hier Winterungeheuer, menschenfressende<br />
Riesen und Teufel, die dunklen Mächte also, und die Zuordnung des<br />
Einfalls der Leute von Hor, der Chara Yugur oder der schwarzen Uiguren<br />
und des Kriegs gegen China, dessen König Kesar schließlich<br />
nach Kesars Sieg auch noch seine Tochter zur Frau geben muß, läßt<br />
die Mythe auch als eine Sage mit geschichtlichen Anhaltspunkten begreifen.<br />
Genauso wie in den anderen Mythen geht es aber auch hier in erster<br />
Linie um die Befreiung von der Todesdrohung, um die Erlösung der<br />
31 M.Hermanns, Das Nationalepos der Tibeter Gling König Gesar, Regensburg 1965
110<br />
Jungfrau zur Ehefrau und über diese Verschlüsselung auch um die Integration<br />
der Verhältnisse zwischen Tibet und China und die Darstellung<br />
des politischen Verhältnisses zwischen Tibet und China in diesem<br />
Rahmen stellt die Bedeutung und die Bewertung heraus, welche die Tibeter<br />
dieser politischen und geschichtlichen Beziehung beimaßen und<br />
heute noch beimessen. <strong>Der</strong> Ash-boy, der zum König geworden ist,<br />
versichert durch den Sieg über den Drachen seine Dynastie, indem er<br />
ihm seine Frau entreißt, die zusätzlich als chinesische Prinzessin<br />
bestimmt wird, so daß das Motiv der Reorganisation der Autochthonie<br />
durch Neugründung einer Stammeslinie und Heirat einer Frau aus der<br />
zurückgedrängten Linie mit dem Motiv der politischen oder sozialen<br />
Vermittlung, das zum Ash-boy-Mythologem gehört, kombiniert wird,<br />
was der Mythe hier also ermöglicht auch geschichtlich zu werden.<br />
Ladakh Mongolei Kham<br />
Himmlischer Vater Agu dPalle Chormusta Thupas Gawa<br />
Held Dongrub Joro Chori<br />
Gegenspieler Khromo Tshotong Todong<br />
Braut/ Frau Bruguma Brugmo Sechang Dugmo<br />
In der urtibetischen Version ist Gesar eine Inkarnation des urzeitlichen<br />
Himmelskönigs in einer Zeit der Wirren. Sproß einer außergwöhnlichen,<br />
d.h. nicht menschlichen Geburt, der von Geburt an Ränke, List<br />
und Nachstellungen gegen sich zu bekämpfen hat und so in einer<br />
Schule des Lebens aufwächst, die ihn für seine eigentliche Aufgabe,<br />
dem Kampf gegen den Teufel und die bösen Ungeheuer des Nordlandes<br />
vorbereitet, den Siegbert Hummel mit Recht neben Siegfrieds<br />
<strong>Drachenkampf</strong> stellt. Während seiner Abwesenheit suchen die Leute<br />
von Hor Tibet heim und nur Kesars Rückkehr aus dem Norden kann<br />
seinem Volk die Rettung bringen. Auch eine orpheusgleiche Reise in<br />
die Unterwelt und die Heimführung seiner Gemahlin aus der Gewalt<br />
des Totengottes in das himmlische Paradies gehören zu den Episoden<br />
dieses tibetischen Heldenepos, das nach der umfassenden Forschung<br />
und tiefschürfenden Deutung durch P. Hermanns in seinen wesentlichen<br />
Zügen als eine vollständige Eigenschöpfung des tibetischen<br />
Volkes verstanden werden muß.<br />
Diese wintermythische Version hat auch viele Anklänge an die Geschichte<br />
des göttlichen Rama, dem es nach vielen Kämpfen endlich gelingt,<br />
seine Gemahlin Sita aus der Macht des Riesenfürsten Ravana zu<br />
befreien, der Sita ihm geraubt hat.
111<br />
In der mongolischen Fassung der Gesar-Sage, die Schmidt 32 herausgegeben<br />
hat, ist es Buddha (in der Fassung von Kham 33 Padmasambhava),<br />
der den Gott Chormusta (Thupa Gawa/ Kham) auffordert, einen<br />
seiner Söhne auf die Erde zu schicken, um dort die Ordnung wiederherzustellen.<br />
Gesar wird als Aschboy Joro (Chori/ Kham) auf der Erde<br />
geboren und muß sich von Geburt an vor den Nachstellung des Agu<br />
Tshotong (Aku Tdong/ Kham) in Acht nehmen, der sein irdischer Onkel<br />
ist, da der Held dem Anschein nach als der Sohn einer Magd<br />
(Gongmo) von Todongs Bruder Sileng gilt.<br />
Auch als er um Brugmos Hand (Sechang Dugmo/ Kham) anhält, versucht<br />
Agu Tshotong die Heirat mit allen Mitteln zu vereiteln. Brugmo<br />
ist der Preis jener Wettkämpfe, die man traditionellerweise in Tibet zu<br />
Neujahr und im Juli ausgerichtet hatte, und die Joro hier alle gewonnen<br />
hatte. Aber Brugmos Vater, Tangpa Gyaltsen, versucht ihn um seinen<br />
Preis zu bringen, indem er ihm noch weitere, scheinbar unlösbare<br />
Aufgaben stellte, darunter auch die Tötung Garudas, des Wundervogels.<br />
Joro offenbahrt sich seiner präsumptiven Gattin als glanzvoller<br />
König durch Donner und Blitz, welche der ausgetrockneten Erde Regen<br />
spenden.<br />
Einer der Höhepunkte in Joros Heldengeschichte ist sein Kampf mit<br />
dem Nordriesen (Lu-tzen/ Kham), den er wie der Held im Märchen<br />
vom Teufel mit den drei goldenen Haaren besiegt, und zwar mit der<br />
Hilfe von dessen Frau.<br />
Während seiner Abwesenheit in Lu-tzens Reich stellt sein Onkel Tshotong<br />
seiner Gattin nach und drei Khane besetzen sein Königreich. Lutzens<br />
Frau raubt Gesar mit einem Trunk des Vergessens das Gedächtnis<br />
und hält ihn so als ihren Liebhaber im unterweltlichen Reich des<br />
Nordriesen wie Circe den Odysseus. Aber ein Pfeil mit einem Brief,<br />
den Brugmo ihm geschickt hatte, weckt wieder seine Erinnerung. Er<br />
kehrt auf die Erde zurück und besiegt seinen Onkel und die drei Khane<br />
und befreit Brugmo aus der Gefangenschaft von König Weißzelt (Gurdkar).<br />
Die Attribute des Riesen von Hor: 9 Augen, 9 Hörner, Menschenfresser<br />
und Höhlenbewohner 34 unterstreichen auch die Drachennatur<br />
dieses Helden.<br />
32 Siehe: I.J.Schmidt, Die Taten des Bogder Gesser Khans, St. Petersburg 1839, Berlin<br />
1925, Osnabrück 1966<br />
33 Siehe: A.David Neel/ Lama Yongden, The Superhuman Life of Gesar of Ling,<br />
Boston, London 1987<br />
34 Siehe A.Tafel, Meine Tibetreise, II, Stuttgar, Berlin, Leipzig 1914, S.158 ff
112<br />
Die chinesische Mythologie verbindet in ihrer <strong>Drachenkampf</strong>gestaltung<br />
dagegen zwei andere Motive.
Nüwa und Fuxi<br />
113<br />
Die chinesische Mythologie berichtet von einer ersten Katastrophe, die<br />
von Nüwa, der Schwester und Frau des Fuxi (Fu-hi) überwunden wird.<br />
Interessant ist hier das genealogische und das Inzuchtsverhältnis der<br />
Gottheiten. Es begab sich zu der Zeit als die vier Pole der Welt umgestürzt<br />
und die neun Provinzen zerissen waren, als der Himmel die Erde<br />
nicht völlig abdeckte, ständig große Feuersbrünste ausbrachen, und die<br />
Wasser die Erde überschwemmten, als wilde Tiere die Menschen<br />
fraßen und große Raubvögel Kinder und Greise entführten, da reparierte<br />
Nü-wa den Himmel, stellte auf Erden die Ordnung wieder her<br />
und tötete den schwarzen Drachen, der das Land Ki drangsalierte. <strong>Der</strong><br />
Hintergrund des Geschehens erscheint auch hier als der Übergang, den<br />
man mit dem Begriff der neolithischen Revolution und der Ausbildung<br />
der Hochkultur umschreiben kann.<br />
Daß wir es hier aber auch mit einer kosmologischen Katastrophe zu<br />
tun haben, unterstreicht Paul Arnold: "In der chinesischen Volksmythologie<br />
wurde der Himmel ursprünglich, als die Göttin Nüwa<br />
Schlamm zerrieb und daraus den Menschen schuf, von einem Pfeiler<br />
gestützt. Darauf brach auf der Erde zwischen dem Gott des Feuers und<br />
dem Gott des Wassers ein Krieg aus. <strong>Der</strong> Gott des Wassers unterlag<br />
und versuchte Selbstmord zu begehen. Dabei stieß er an den Pfeiler,<br />
der den Himmel stützte und zerbrach ihn. Ein Teil des Himmels stürzte<br />
ein. Von Löchern durchbohrt grub er Spalten in die Erde. Da griff die<br />
Schöpfergöttin ein, um das Unheil wiedergutzumachen. Sie holte Steine<br />
aus den Wasserläufen, schmolz sie im Feuer und verstopfte damit<br />
die Löcher. Dann tötete sie eine Schildkröte, schnitt ihr die vier Beine<br />
ab und benutzte sie als Stützpfeiler für die vier Enden der Erde. So ist<br />
also das Wasser, eine Sintflut hier wie dort (bei den Mayas/H.S.) für<br />
die Katastrophe verantwortlich..." 35 Eigentlich war es aber der<br />
Mensch, der den Streit zwischen dem Feuer- und dem Wassergott ausgelöst<br />
hatte, genauso wie in den altorientalischen, speziell semitischen<br />
Überlieferungen.<br />
Die zweite Version stellt die chinesische Tradition in verschiedenen,<br />
aber mindestens in zwei Überlieferungen dar. Nach der einen wird sie<br />
ausgelöst durch den Sieg Zhuangchu's, einem der Urkaiser, über Gong-<br />
35 P.Arnold, Das Totenbuch der Maya, Bern, München, Wien 1980, S.74
114<br />
Gong, der sie auslöst und hier den schwarzen Drachen spielt. Kong-<br />
Kong stößt den Pahtshou-Berg um, der den Himmel trägt und zerschlägt<br />
die Bande zwischen Himmel und Erde. Manche Autoren<br />
möchten in Kong-Kong auch den schwarzen Drachen sehen, den Nüwa<br />
getötet hat, andere verbinden die ganze Mythe mit dem Überlieferungskreis<br />
um Nü-wa und Fu-hi. Nach dem Einbrechen des Weltberges<br />
liefen nämlich die Gestirne nach Westen und die Flüsse nach Osten,<br />
weil sich die Erde dorthin gesenkt hatte, und das geschah solange bis<br />
Nü kua mit ihren fünffarbigen Steinen das Firmament reparierte und<br />
die Ecken der Welt auf die Füße einer Schildkröte stellte.<br />
Nach einer weiteren Version (Shan-hai King des Küh Yüan) versuchte<br />
Kuen als weißer Drache die Flut zu bekämpfen, indem er sich der<br />
aufquellenden Erde bediente, wofür er bestraft wurde (Tod des Vaters).<br />
Sein Sohn Yü (wunderbare Geburt) vollendete das Werk des Vaters mit<br />
dessen Hilfe und wurde so indirekt zum Stammvater der Chia-Dynastie.<br />
Schon die ältesten Kommentatoren und nach ihnen auch fast alle späteren<br />
haben die Mythen von Kuen und Yü in den Kontext der Periode<br />
der Wasserregulierung und Kanalisierung gestellt.<br />
Diese Version verbindet theogonisch-kosmologische Bilder mit denen<br />
der Stammesaitiologie und Reichsgeschichte und ähnelt in dieser Hinsicht<br />
amerikanischen Beispielen.<br />
Auch der Ch'ing lung (blaugrüner Drache), einer der Hüter der vier<br />
Weltrichtungen (Osten) kämpft gegen den Tiger (po-hu), dem Herrn<br />
des Todes und dem Hüter des Westens. Ch'ing lung ist der Zeuger, der<br />
Frühlingsregen und der Regen allgemein, der am 2. Tag des 2. Monats<br />
aus der Erde emportaucht und mit seinem Donner und Regen verkündet,<br />
daß die Felder bestellt werden können. Dieser <strong>Drachenkampf</strong> ist<br />
also vegetationsmythisch, ein Ereignis das zyklisch wiederkehrt.
Amerikanische Themen<br />
115<br />
Das Drachen- oder Schlangenkampfmotiv ist auch in der Mythologie<br />
Amerikas vertreten. Es findet sich dort sowohl in dem kosmologischen<br />
Kontext als auch in einem Zusammenhang mit den Brüder-Helden-<br />
Mythen oder Zwillingsheroen.<br />
Die Übereinstimmungen mit und die Unterschiede zu den Mythen der<br />
Alten Welt sind bezeichnend. So fällt auf, daß in Amerika das Thema<br />
von der Jungfrau, die entweder dem Drachen geopfert oder von ihm<br />
geraubt wird, fehlt. Hier werden die Ziele oder Aufgaben des Helden<br />
anders formuliert.<br />
Quetzalcoatle und Uitzilopochtli teilen sich in die Aufgabe einer Weltordnung<br />
und Gesetzesregulierung, die ihr Zusammenwirken entweder<br />
harmonisch oder konfliktreich zeigt.<br />
Mami ist der Nachkomme einer Schlange, die ihre Alte fraß und von<br />
Mami wiederum gefressen wurde. Sie entvölkerte ganze Landstriche<br />
und wurde nach der Vernichtung des letzten wehrhaften Stammes an<br />
den Himmel versetzt.<br />
Auch die Maya von Yucatan bringen das Weltende mit dem Unhold,<br />
dem großen, grünen Wasserkrokodil in Verbindung, von dem sie allerdings<br />
glauben, daß es zuletzt doch noch besiegt wird.<br />
Die Araukaner berichten den Kampf der Threngthreng gegen Kaikaifilu,<br />
der mit einem Kompromiß endet, dem Fortgelten ihrer Prinzipien<br />
im Gleichgewicht. An dieses Motiv knüpfen auch die <strong>Drachenkampf</strong>episoden<br />
der Brüder-Helden-Mythen in Nord- und Südamerika an.<br />
Va Mu Volk Drache Mu Va Volk Drache<br />
Br Br Br Br<br />
Opfer Opfer<br />
Tiri (Tiri und Karu der Yurukare) und Kanigyilag (Kanigyilag der Nakomgyilisala)<br />
befreien die Menschheit, die von der Schlange entweder<br />
gefangen gehalten (Yurukare) oder von ihr verschlungen wurde (Nakomgyilisala).<br />
Die genealogischen Alternativen der <strong>Drachenkampf</strong>episode<br />
in den amerikanischen Zwillingsmythen zeigt das Schema oben.
116<br />
Dieses Motiv der vom Drachen verschlungenen Menschen, die der<br />
Held oder die Helden befreien, findet sich genauso in der Mythologie<br />
der Tataren, Mongolen, der Melanesier (Bola), Nordwest-Australier<br />
(Ungarinyin, Unambal, Worora, Nyigina, Djauan), der Bambuti, Basuto,<br />
Bavenda und Masai. Es steht dort überall im Kontext des Wiedergeburtsglaubens<br />
und speziell der Initiationsrituale.<br />
Eine Sonderstellung nimmt in Amerika das <strong>Drachenkampf</strong>motiv in der<br />
Coniraya-Mythologie ein, obwohl es einem sonst universal verbreitetem<br />
Schema folgt.<br />
Coniraya gelingt es als Ashboy die Jungfrau Cauillaca, die als eine<br />
Huaca bezeichnet wird, und alle Bewerber abgewiesen hat, mittels einer<br />
Frucht zu befruchten und schwanger zu machen. Sie gebiert ein<br />
Kind und sucht den Vater, der schließlich vom Kind entdeckt wird.<br />
Über den zerlumpten Ashboy schämt sich die Mutter dermaßen, daß<br />
sie mit dem Kinde flieht und auch die nun folgende Werbung des in<br />
seinen Glanz und in seine sonnenhafte Pracht verwandelten Coniraya<br />
ablehnt. Cauillaca flieht mit dem Kind ans Meer, wo sie schließlich<br />
beide versteinern.<br />
Während der Verfolgung<br />
der Mutter seines<br />
Kindes begegnet<br />
Coniraya verschiedenen<br />
Tieren, die er entweder<br />
segnet oder<br />
verflucht.<br />
An diese Geschichte schließt nun die eigentliche <strong>Drachenkampf</strong>mythe<br />
an, die durch diese Einleitung in den kabirischen Kontext gestellt wird,<br />
der allerdings hier nur die dunklen Aspekte des Mütterlichen betont<br />
und den lichten Aspekten des Helden, aber verschmähten Geliebten,<br />
gegenüberstellt.<br />
Die <strong>Drachenkampf</strong>geschichte zeigt Coniraya, der auf zwei Töchter<br />
Pachacamacs (hier als Mondgott bezeichnet) trifft, die von einem Drachen<br />
bewacht werden, weil ihre Mutter bei Cauillaca, d.h. im Reich<br />
der Versteinerten, ist, bei jener Frau also, die Coniraya zwar schwängerte,<br />
aber vergeblich umwarb, und die sich seinem Drängen durch<br />
ihre Verwandlung, d.h. Versteinerung, entzog. Cauillaca erscheint als<br />
der einzige Berührungspunkt, der beide Geschichten hier miteinander<br />
verbindet.
117<br />
Coniraya besiegt den Drachen, der Pachacamacs Töchter bewacht und<br />
vergewaltigt die ältere Schwester, während die jüngere- unterdessen zu<br />
ihrer Mutter fliehen kann.<br />
Die von Cauillaca zurückgekehrte Mutter ist so erzürnt darüber, daß<br />
sie Coniraya verfolgt. <strong>Der</strong> stellt sich ihr scheinbar, aber nur, um ihr<br />
dann vollends entkommen zu können, weil er die List der Mutter<br />
durchschaut hat, mit der sie seiner habhaft werden will.<br />
<strong>Der</strong> Held des <strong>Drachenkampf</strong>s ist hier ein Schatzräuber, dem sein Besitz<br />
wieder von der Mondgöttin abgejagt wird.<br />
In beiden Geschichten der Mythe versucht Coniraya in eine Linie einzudringen,<br />
die sich ihm erfolgreich widersetzt und die Folgen seiner<br />
listigen oder gewaltsamen Überrumpelungsversuche vereitelt, einmal<br />
durch Versteinerung, das andere Mal, in dem die Mutter der geschändeten<br />
Tochter Coniraya vertreibt. So demonstriert der Sieg über den<br />
Drachen zwar Conirayas Stärke, aber er ist doch genauso machtlos gegenüber<br />
dem mütterlichen Geheimnis wie deren Hüter ihm gegenüber.<br />
Kondor + Sonne/ Coniraya Mond/ Pachacamac<br />
Fuchs - Kondor<br />
Puma + Puma Fuchs<br />
Fuchs - Falke Papagei<br />
Falke + Taube<br />
Papagei - Fisch<br />
Nicht nur das Schema der Geschichte, sondern auch die nähere Bezeichnung<br />
der Cauillaca als eine Huaca, läßt die Conirayamythe auch<br />
vegetationsmythisch erscheinen. A. Metreaux schreibt in seinem Aufsatz<br />
über "Die Mythologie der Südamerikaner": "Mit huaca wurde in<br />
Alt-Peru jeder Gegenstand, jede Erscheinung bezeichnet, wenn man<br />
eine Kundgebung des Übernatürlichen darin erblickte. Solche huacas<br />
konnten Berge, Flüsse, Seen oder auch seltsam geformte Felsen<br />
sein." 36 In den huaca haben wir also ein Konzept vor uns, das der<br />
hebräischen Vorstellung von der Schechina verwandt ist. Bis in die<br />
Gegenwart hinein wird den huacas geopfert, deren chthonischer Charakter<br />
ohne Zweifel ist. <strong>Der</strong> erste Teil der Mythe zeichnet also die sehr<br />
einseitige Liebe eines Himmlischen zu seiner auserwählten Chthonischen<br />
und die verhängnisvolle Antwort auf seinen Betrug, während der<br />
zweite Teil das Verhältnis der Sonne zur Mondgöttin, die mit der<br />
chthonischen Religion verbunden ist, darstellt.<br />
36 A.Metreaux, in: P.Grimal, Mythen der Völker III, Frankfurt 1967, S.199
118<br />
In dieser Mythe zeigen also beide Geschichten den Konflikt zwischen<br />
den himmlischen- und den chthonischen Gottheiten und ihren Kulten.<br />
Die Episode der Segnung und Verfluchung der Tiere nimmt in dieser<br />
Geschichte einen auffallend breiten Raum ein, so daß man unbedingt<br />
ihren Hinweisen folgen sollte. Sie ist es auch, die die letzten Zweifel<br />
über die Deutung der Mythe ausräumt. Die hier auftretenden Tiere sind<br />
wohlbedacht gewählt, wie die Tabelle oben zeigt, das die Reihenfolge<br />
der Begegnung mit Coniraya wiedergibt und Segen und Fluch durch<br />
ein Plus- und ein Minuszeichen voneinander unterscheidet.<br />
Wir erfahren, daß in dieser Mythe das Verhältnis der Tiere zu Coni-<br />
1) das Leben duale Ordnung<br />
genealogisch<br />
2) die Menschen genealogisch<br />
kosmologisch<br />
<strong>Der</strong> Drache<br />
bedroht, 3) die Götter theo-kosmogonisch<br />
hütet oder<br />
verschlingt<br />
aitiologisch<br />
4) Jungfrau vegetationsmythisch<br />
Kind astralmythisch, Märchen<br />
Gemischte Versionen:<br />
5) Schatz<br />
Frucht mystisch<br />
Kostbarkeit märchenhaft<br />
6) = 2) + 3)<br />
7) = 1) + 2)<br />
8) = 3) + 4)<br />
9) = 4) + 5)<br />
raya mit ihrer kultischen Bedeutung im nördlichen Südamerika zu vergleichen<br />
ist. Jaguar oder Puma oder Adler und Falke sind neben einem<br />
katzengesichtigen Gott (Raimondi-Stele und Lanzon) die häufigsten<br />
Motive der Chavin- Kultur.<br />
Albert Meyers erwähnt das Vorherrschen des Puma- und Kondormotivs<br />
im Ausstrahlungsbereich der Tiahuanacu-Kultur. "Häufige Ziermotive<br />
sind neben einer Vielzahl von geometrischen Mustern die Darstellung<br />
eines Pumas, der auf der Nase einen Ring zu balancieren<br />
scheint, sowie Köpfe im Profil, vor allem von Kondorvögeln, bei de-
119<br />
nen das Auge in eine helle und dunkele Hälfte zweigeteilt ist." 37 Auch<br />
die olmekische Kultur zeigt Mischwesen aus Kind und Katze und viele<br />
südamerikanische Mythen erzählen von der Verbindung zwischen Jaguar<br />
und Menschenfrau (oder umgekehrt, je nach den Filiationsregeln)<br />
und man fand unter olmekischen Funden auch eine Statue, die genau<br />
dieses Sujet darstellt.<br />
Die Conirayamythe steht zwar neben den anderen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />
Südamerikas einzig da, aber sie gehört trotzdem zur kulturellen<br />
Überlieferung seiner Region, so daß wir hier nicht ihren Beziehungen<br />
zur siamesischen Laosmythe (Frobenius, Ehrenreich etc.) nachzugehen<br />
brauchen. Sie wurde überliefert von Francisco de Avila 38 und de Avila<br />
versicherte, daß er sie von vertrauenswürdigen Gewährsleuten hätte.<br />
Huarochiri liegt im Quellgebiet des Rio Rimac, nordöstlich von Lima.<br />
De Avilas Wiedergabe stellt eine der wenigen auf uns gekommenen<br />
Mythen der peruanischen Sonderstämme dar, die von der Inkatradition<br />
unabhängig sind und sich selbstständig entwickelt haben. Sie gehört<br />
zum Mythenbestand der Yunka- oder Chimu-Gruppe.<br />
<strong>Der</strong> Hinweis also auf die Übereinstimmung der Bedeutung der von Coniraya<br />
gesegneten Tiere mit den Bildnissen, die die Archäologie sicherzustellen<br />
vermochte, unterstreicht die zentrale Bedeutung dieser<br />
Episode in der Mythe, deren genauen Sinn wir nur schwer erschließen<br />
können. Die Abwehr der Ansprüche der himmlischen Götter durch die<br />
chthonischen Götter muß also in diesen kulturhistorischen Kontext gestellt<br />
werden und als eine Verkleidung auch der Behauptung der regionalstammlichen<br />
Autonomie begriffen werden. So scheinen Segen und<br />
Fluch der genannten Tiere auch auf verbündete oder verfeindete<br />
Totemgruppen zu verweisen, auf Bündnisse und Widerstand, denen ein<br />
eroberndes Volk und seine Götter begegnet sind, so daß auch dieser<br />
Teil der Geschichte, und zwar in sich geschlossen, denselben Konflikt<br />
beschreibt, den die beiden anderen Geschichten dargestellt haben. Das<br />
Schema oben zeigt auch die Stellung der amerikanischen Mythen in<br />
dem hier dargestellten Gesamtzusammenhang:<br />
37 A.Meyers, Dornige Austern und Jaguarkinder, in: Pörtner, Davies, Alte Kulturen<br />
der neuen Welt, Frankfurt, Berlin, Wien 1982, S.384<br />
38 Francisco de Avila, Irrtümer, falsche Götter, abergläubische Vorstellungen und<br />
teuflische Gebräuche, welche die Indianer der Provinzen Huarochiri, Mama und<br />
Chacla in alten Zeiten hatten und die sie sogar jetzt noch festhalten, zum großen<br />
Verderbnis für ihr Seelenheil, 1608
120<br />
Ordnen wir die Mythen den Gruppen des Schemas zu, dann finden wir<br />
folgende Verteilung:<br />
1) australische-, melanesische-, amerikanische-, keltische Mythen und<br />
Märchen,<br />
2) amerikanische Zwillingsmythen, Mythen der Kombo, Bambuti, Basuto,<br />
Bavenda, Masai, Tataren, Mongolen, Melanesier, Djanan, Ungarinyin,<br />
Nyigina (Australien),<br />
3) Mythen des Hochkulturkreises (Mittelamerika, Mittelmeer, Indien,<br />
China, vorderer Orient,<br />
4) Mythen der Hochkultur und Märchen der Posthochkultur,<br />
5) mystische, gnostische und alchimistische Gleichnisse und Märchen.<br />
Wir sehen, daß die amerikanischen Mythen sich auf die ersten drei<br />
Gruppen verteilen.<br />
Dieses Schema vermittelt aber nicht nur eine bestimmmte systematische<br />
Gliederung der <strong>Drachenkampf</strong>mythen, sondern es gibt auch eine<br />
soziologische und kulturkreisliche Gliederung der Völker, die diese<br />
Mythen erzählen, wieder. Die kosmologisch-aitiologischen und die<br />
dualistischen Mythen werden vorwiegend von Jäger- und Hackbauer-<br />
Völkern erzählt, obwohl dualistische Relikte in den Mythen der Hochkulturen<br />
nicht selten sind. Die Ackerbauern erzählen in der Regel die<br />
vegetationsmythischen- und astralmythischen Versionen, während die<br />
Schatzgewinnungsversionen von Völkern der Hochkulturen oder solchen,<br />
die in ihrem Einflußbereich standen, erzählt werden. Die Hochkulturen<br />
haben sowohl die theogonisch-kosmologischen, die vegetations-<br />
und astralmythischen- als auch die mystischen Versionen ausgebildet,<br />
d.h. entsprechend ihrer Zusammensetzung aus den ihnen vorausgehenden<br />
Kulturen eine Synthese aus den für diese Kulturen typischen<br />
Versionen. Die Posthochkulturen gestalten dann auch noch die<br />
metallischen Schatzversionen aus. Im Ganzen decken sich diese Gruppen<br />
mit den kulturmorphologischen Gruppen, die Frobenius 39 aufgestellt<br />
hat. Die Darstellung des Stammesursprungs im Anschluß an einen<br />
heldenhaften Sieg über eine Riesenschlange knüpft an das kosmologische<br />
Ringen an, ordnet sie diesem unter. Mit Ausnahme der<br />
Conirayamythe läßt sich die Unterscheidung des kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>es<br />
von einem vegetationsmythischen- oder jahreskreislichen<br />
39 L.Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes, Berlin 1924; ipse: Schicksalskunde,<br />
Leipzig 1932
121<br />
<strong>Drachenkampf</strong> in den amerikanischen Mythen nicht erkennen. Verbinden<br />
zwar die meisten amerikanischen Mythen den <strong>Drachenkampf</strong> mit<br />
der Bedrohung und Entstehung der Erdbevölkerung oder des Stammes,<br />
so zeigt die Conirayamythe deutlich vegetations- und astralmythische<br />
Züge.<br />
Die allgemeine Verbreitung der <strong>Drachenkampf</strong>mythen entspricht jener<br />
Verbreitung des Drachen- und Schlangenmotivs in der Kunst, die<br />
Lommel rekonstruiert hat: "Die früheste Darstellung des Schlangenmotivs<br />
findet sich in Mesopotamien; sie hat indische Darstellungen angeregt,<br />
aber auch das frühe China erreicht, wie neu entdeckte Holzschnitzereien<br />
auf Taiwan (Formosa) beweisen. Eine bedeutsame Variante,<br />
eine Schlange mit je einem Kopf an beiden Enden, ist bis nach<br />
Amerika gelangt, wo sie bei den Indianern im Nordwesten und in der<br />
Kunst der Hochkulturen Mittelamerikas und der Anden auftaucht... Im
122<br />
östlichen Indonesien (Flores, Timor, Celebes, Molukken und angrenzende<br />
Inseln) sind Schlangen- und Drachendarstellungen häufig. Sie<br />
unterscheiden sich nicht erheblich voneinander und werden beide mit<br />
dem indischen Namen >Naga< bezeichnet... Aber die indonesischen<br />
Nagas sehen eher so aus, als seien sie nach chinesischen Mustern geformt...<br />
und indische Motive findet man sogar in entfernten Gegenden<br />
wie Neu-Guinea und Australien; die kulturellen Grundlagen all dieser<br />
Gebiete sind aber im südlichen China zu suchen." 40<br />
40 A.Lommel, Vorgeschichte und Naturvölker, München, Wien 1974, S.80
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