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Der Drachenkampf.pdf - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong><br />

<strong>Horst</strong> <strong>Südkamp</strong><br />

Nach dem Relief auf dem Gosfort-Stein


Inhalt<br />

I 4<br />

Das heutige Drachenbild 6<br />

Zur Herkunft des Wortes: Drachen 11<br />

<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> als Bewährungsprobe 14<br />

Über andere Referenzen der Deutungsversuche 30<br />

II 35<br />

Die germanische Mythe neben der Märchenversion und anderen Traditionen 35<br />

<strong>Der</strong> Ring aus Metall 38<br />

<strong>Der</strong> Schlangenring 51<br />

Elementen- und Geschlechterwechsel der Akteure 54<br />

<strong>Der</strong> Ring aus Mutter und Drachensohn, des Stirb und Werde 56<br />

<strong>Der</strong> biblische Sündfall, eine Inversion des <strong>Drachenkampf</strong>es ? 65<br />

Die Schätze "Volk" und "Weisheit" 85<br />

III 89<br />

Das Zwei-Brüder-Märchen in der Sammlung Grimm 89<br />

Ausschnitte aus dem Kesar-Epos 106<br />

Nüwa und Fuxi 113<br />

Amerikanische Themen 115<br />

Literatur 123<br />

3


4<br />

Einleitung<br />

<strong>Drachenkampf</strong>mythen oder -sagen zählen zu jenem Typus von Mythen über<br />

den aufklärenden Charakter von Grenzsituationen oder über die Existenzerhellung<br />

durch Grenzsituationen, zu den Mythen der Beschreibung von Grenz-<br />

oder Schwellenüberschreitungen als kalkulierten Gefahren, die entweder als<br />

innerliche, emotionale oder charakterliche zu bewältigen sind oder als öffentliche<br />

Prüfungen des Könnens und Sollens durch den Ernstfall; Mythen welche<br />

dementsprechend entweder die Überwindung von Angst und Furcht als<br />

Voraussetzung dafür darstellen, sich überhaupt der Herausforderung stellen<br />

zu können, oder ein bestimmtes Urvertrauen in das erworbene und von seiner<br />

Kultur vermittelte Wissen und Können vorstellen, das im Ernstfall auf die<br />

Probe gestellt wird. Sie repräsentieren also auch einen Typus des Übergangsmythos,<br />

eine Typus von Mythen der Prüfung und der Bewährungsproben.<br />

Die Herausforderung kann die Zustände, Verhältnisse oder Sitten eines Volkes<br />

generell betreffen, ja den ganzen Kosmos überhaupt oder den Charakter,<br />

die Reife oder das Können von bestimmten Person ansprechen.<br />

Die Gefahren, die herausfordern, werden stets ambivalent vorgestellt, also<br />

nicht ausschließlich negativ, weshalb es auch nicht um deren bloße Abwehr<br />

geht, sondern um den Gewinn, den die Überwindung oder Bewältigung der<br />

Gefahr verspricht. Es geht bei den Gefahren, die herausfordern, vor allem um<br />

die Chancen, die Rettung oder den Schatz, die ihre Übrwindung versprechen,<br />

und ohne diese Leistung nicht zu erwerben sind.<br />

Die Gefahren der <strong>Drachenkampf</strong>mythen erscheinen als der Preis der aufzubietenden<br />

Mühen für den Erwerb der in Aussicht gestellten Schätze, welche den<br />

Helden erst dazu zu bewegen vermögen, ihnen überhaupt entgegen zu treten,<br />

von Versprechungen des Glücks, des innerlichen wie äußerlichen Gewinns,<br />

versteckt hinter dem Schrecken und den Todesdrohungen, mit denen sie jeden<br />

anderen als den Helden davon abhalten, sich ihnen zu stellen, versteckt hinter<br />

den Beispielen an Leid und Schmerz oder den Nachrichten vom Tode der<br />

Gescheiterten, die das ihre dazu beitragen, eine Mehrzahl davon abzuhalten,<br />

die Herausforderung anzunehmen. Wenn die herkömmlichen Tugenden, Regeln<br />

und Bräuche der Gemeinschaft zur Abwehr der Gefahren im Ernstfall<br />

oder Notstand nicht mehr ausreichen, dann hofft sie auf den Helden, der nicht<br />

nur die Gefahren überwindet, sondern auch nach der Aufhebung des Notstandes<br />

ihre Ordnung bestätigt und sich eingliedert in die Gemeinschaft.<br />

Das typische Erzählschema des <strong>Drachenkampf</strong>mythos ist die Geschichte der<br />

Herausforderung eines meist jugendlichen Helden durch eine tödliche Gefahr<br />

(Grenzsituation, Ernstfall), vergegenständlicht in der Gestalt eines Ungeheuers,<br />

meist reptilischen Wesens, welches dem Helden entweder etwas verweigert,<br />

was ihm oder seinem Volke zusteht, oder welches ihn oder sein Volk


unmittelbar an Leib und Leben bedroht, und damit dessen oder deren Entfaltungs-<br />

und Entwicklungsmöglichkeiten bedroht oder beeinträchtigt. Dementsprechend<br />

variieren auch die Bilder des Helden, der Gefahr und des Schatzes<br />

mit den Optionen des Ausgangs der Handlung, aber vor allem mit der Kultur<br />

und dem Entwicklungszustand der Gesellschaften, welche diese Mythen oder<br />

Sagen erzählen.<br />

5


6<br />

I<br />

Das heutige Drachenbild<br />

<strong>Der</strong> Anblick der Drachenbilder, gezeigt entweder in der Kultsymbolik<br />

oder vorgestellt in den Mythen, Märchen und Sagen der Welt, läßt den<br />

Betrachter unwillkürlich an Saurier denken, an jene ausgestorbenen<br />

Tierarten, die im Kontext der gegenwärtig wieder brisanten Katastrophentheorien<br />

der Astronomie und Geologie die Rolle von Kronzeugen<br />

übernommen haben, um verschiedenen Theorien (z.B. der Hypothese<br />

vom Sonnebegleiter Nemesis, der Theorie von den irregulären Polschwankungen<br />

oder von der Explosion einer Supernova 1 ) als Beleg zu<br />

dienen.<br />

Selbst die biologische Bestimmung dieser Artengruppen ist heute<br />

strittig geworden. Galten sie früher unbestritten als Echsen, so gibt es<br />

mittlerweile schwerwiegende Einwände gegen diese Auffassung.<br />

Nachdem thermische Versuche 2 die Zuordnung der großen Saurier zu<br />

den Kaltblütern erheblich in Zweifel gezogen haben, steht neuerdings<br />

fest, daß sowohl Dino- als auch Pterosaurier Warmblüter waren, wie<br />

die Pseudosuchier auch, von denen beide Typen heute abgeleitet<br />

werden. 3<br />

Obwohl die Assoziation der Mythen- und Märchengestalten mit den<br />

Sauriern durchaus aktuell zu sein scheint, und auch von Paläontologen,<br />

Astronomen und Geologen ständig wachgehalten wird, ist sie keineswegs<br />

modern. Schon einige Paläontologen und Biologen der Jahrhundertwende<br />

(O.Abel, E.Dacque, W. Bölsche etc.) hatten gegen die<br />

Meinung ihrer Zeit die Drachen der Mythologie mit den Sauriern ihres<br />

Fachgebietes in Beziehung gebracht und die Behauptung aufgestellt,<br />

daß die fühesten Formen des Menschen mit diesen Urwelttieren schon<br />

zusammengelebt hätten, und daß deren Erfahrung mythologisch verar-<br />

1 Russel, Tucker, Supernovae and the Extinction of Dinosaurs, Nature,229, 1971,<br />

S.553<br />

2 Colbert, Cowles, Bogert, Rates of Temperature Increase in the Dinosaurs, Copeia<br />

1947, S.141-2; und C.M.Bogert, How Reptiles Regulate their Body Temperature,<br />

Scientific American 200,4, 1959, S.105-120<br />

3 Bakker, Galton, Dinosaur Monophyly and a New Class of Vertebrates, Nature 248,<br />

1974, S.171


eitet auf uns gekommen wäre. Diese Spekulationen sind auch durch<br />

die jüngsten Frühmenschenfunde, welche das Alter des Menschen immer<br />

weiter in die Vergangenheit zurück verlegen, noch nicht widerlegt,<br />

aber trotz der sensationellen Funde menschlicher Fußabdrücke neben<br />

den Abdrücken des Brontosaurus aus der Kreidezeit an der Uferbank<br />

des Paluxy-Flusses (Texas) allerdings auch noch nicht zweifelsfrei<br />

bestätigt worden.<br />

Obwohl also diese Hypothesen aus dem Umfeld der Astrophysik, der<br />

Erdgeschichte und der Paläontologie unbedingt anregen, zumal sogar<br />

menschliche Fußabdrücke in der Karbonformation gefunden wurden,<br />

und die Bedeutung ihrer Klärung nicht hoch genug veranschlagt werden<br />

kann, verliert man in ihrem Horizont das mythologische Problem<br />

selbst aus dem Auge, das die Drachenmärchen und speziell die <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />

uns stellen, deren Bearbeitung man aber auch nicht<br />

allein dem modernen Mythos der Psychoanalyse überlassen sollte. Sowohl<br />

die Historisierung der Drachenmythen und Drachenmärchen mit<br />

Hinweis auf die Ergebnisse der genannten Naturwissenschaften als<br />

auch die Übersetzung ihrer Geschichten in die Schemata der Persönlichkeitsentwicklung<br />

verlassen die Ebene von Mythos und Märchen<br />

und reduzieren sie auf die Rolle von Beispielen für moderne Paradigmata,<br />

die auf ganz anderen Wegen der Erkenntnis gefunden worden<br />

sind als auf dem Wege des mythischen Bewußtseins.<br />

Es paßte den Psychoanalytikern gut, daß die offizielle Auffassung der<br />

Paläontologie über das Alter des Menschen eine Begegnung des Menschen<br />

mit den Sauriern ausschloß, so konnten sie schließlich auch das<br />

<strong>Drachenkampf</strong>motiv als ein rein psychogenes Motiv postulieren. Die<br />

Schule von Jung zählt es zu den Archetypen des kollektiven Unbewußtseins.<br />

Tiefenpsychologisch steht der Drache für das Streben und<br />

die Vitalität, die noch nicht von der Vernunft gezähmt worden sind, für<br />

den Kampf mit sich selbst, d.h. mit den eigenen Trieben. Und da der<br />

Drache in uns im Verlaufe der Persönlichkeitsentwicklung meistens<br />

besiegt wird, repräsentiert der <strong>Drachenkampf</strong> dann auch einen Übergangsprozeß<br />

von einer Entwicklungsstufe zur nächsten, der Sieg dann<br />

den erfolgreichen Abschluß einer früheren Entwicklungsstufe und den<br />

Eintritt in eine neue. <strong>Der</strong> Held erscheint als das entwickelte Ich, das<br />

endlich die Führung des Verhaltens der Persönlichkeit übernommen<br />

hat und die Forderungen seiner Antriebe von dieser Realfunktion<br />

(=Ich) her beurteilt, erfüllt, verdrängt oder verweigert. In einer Perspektive,<br />

die sich besonders auf die Prägungen in der seelischen Entwicklung<br />

der Kindheit bis zur Pubertät konzentriert, wird der Kontra-<br />

7


8<br />

hent der Selbstentfaltung schnell zum Drachen, der gebändigt, wenn<br />

nicht gar getötet (überwunden) werden muß. <strong>Der</strong> dramatische Konflikt<br />

der Handlung steht für das familiäre Gruppendreieck: Vater-Mutter-<br />

Kind (Geschwister) und die Beziehungen der Märchenpersonen<br />

verarbeiten die elementaren familiären Konflikte zwischen Vater und<br />

Sohn, Vater und Tochter, Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, älterem<br />

und jüngerem Bruder, Bruder und Schwester. In diesem Kontext<br />

soll etwa das Brüdermärchen den Identifizierungskonflikt in der<br />

ödipalen Situation vorstellen, und zwar am Beispiel der Übertragung<br />

der feindlichen Gefühle vom Vater auf den älteren Bruder (Geschwisterneid).<br />

Die Heldensage wird als Drama des Generationskonflikts gedeutet,<br />

seine Szenen im Märchen dagegen als Abwehr dieses Konfliktes,<br />

als Warnung vor der Auflehnung gegen die Autorität.<br />

Jung und seine Schule unterscheiden sich von der psychoanalytischen<br />

Märchendeutung durch die Wahl eines anderen seelischen Referenzkonflikts<br />

und einer anderen Entwicklungsperiode als Referenzperiode,<br />

vor derem Hintergrund sie die Motive der Mythen und Märchen deuten.<br />

Rekurriert die Psychoanalyse bevorzugt auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />

der Kindheit bis zur Pubertät, so bezieht sich die Schule<br />

Jungs auf den Zeitraum der Lebensmitte. Nach der persönlichen, sozialen<br />

und wirtschaftlichen Integration in die Welt der Erwachsen, nach<br />

Berufswahl, Statuserwerb und Ehestand, wird schließlich eine Zwischenbilanz<br />

gezogen. Es meldet sich die Frage nach dem Sinn des Lebens.<br />

Die Realität des Todes wird erneut zum Problem. Transzendenz<br />

oder ihr Fehlen, Seelentiefe oder Oberflächlichkeit werden in dieser<br />

Entwicklungsperiode wieder stärker erfahren. Die Blickrichtung auf<br />

die Welt wird jetzt nach innen gewendet. Die Beziehungen von<br />

Bewußtsein und Unterbewußtsein, zwischen der inneren und der<br />

äußeren Welt, stellen sich auf der Höhe der Reife als ihre Prüfung neuerlich<br />

vor.<br />

Auch in dieser Perspektive wird der <strong>Drachenkampf</strong> in die Innenwelt<br />

verlegt, aber der Preis des Kampfes und die Begegnung mit der Prinzessin<br />

wird jetzt als Integration von Verstand und Gefühl gedeutet, von<br />

Geist und Seele, und deren Usurpatoren oder Erbschleicher als unbegründete<br />

oder zum Scheitern verurteilte Prätentionen. <strong>Der</strong> Unterweltsaufenthalt<br />

der Helden, ihr Suchen in transzendenten Sphären,<br />

wird in diesem Kontext dann zur Suche nach dem eigenen Selbst, zum<br />

Verlangen nach Selbstverwirklichung.<br />

Alles im Mythos wie im Märchen wird in der psychologischen Interpretation<br />

zu Repräsentanzen des Psychischen, der Periodisierung seiner


Äußerungen, zu Gleichnissen des Verhaltens, des Konflikts, des Komplexes<br />

oder der Strukturen, die das Verhalten integrieren, d.h. Mythos<br />

und Märchen verwandeln sich unter der Hand der Psychologen<br />

unversehens in die literarische Form der Allegorie. Wir haben es also<br />

in den meisten Fällen psychologischer Deutung weniger mit einer Mythen-<br />

und Märchendeutung als vielmehr mit einer paraphrasierenden<br />

Neuschöpfung psychologischer Allegorien zu tun, wenn die Interpretation<br />

sich ausschließlich auf die Schlüssel der Psychologie beschränkt.<br />

<strong>Der</strong> Psychologe beutet die Symbolwelt des Mythos und des Märchens<br />

aus, um die Träume, die er zu deuten versucht, in weitere sinnvolle<br />

Zusammenhänge des Geistes stellen zu können, oder er reduziert diese<br />

Gattung auf das System seiner Traumdeutungen, wenn ihn die oft<br />

verblüffenden Übereinstimmungen dazu hinreißen und vergessen<br />

lassen, daß sein Vergleichen nur ein Abspiegeln verschiedener Formen<br />

des Geistes ist, die man nicht ohne triftige Gründe auf einander reduzieren<br />

oder aus einander ableiten kann.<br />

Dieser allegorisierende Umgang der Psychologen mit überliefertem<br />

Geistesgut ist durchaus<br />

abendländische Tradition. Sie<br />

hat ihre Vorläufer und Vorbilder<br />

in den Beispielen der christlichen<br />

Integration und Umdeutung<br />

autochthonen, d.h. von ihm<br />

selbst als heidnisch abqualifizierten<br />

Traditionsgutes. Im<br />

Zusammenhang unserer Thematik<br />

dürfte wohl das bekannteste<br />

Beispiel die Legende vom hl.<br />

Georg sein. Georg von Lydda, ein Heerführer des Kaisers Diocletian,<br />

der als Märtyrer seines Glaubens starb, soll vor seinem Opfertod noch<br />

einen Drachen besiegt haben, der die Königstochter Cleolinde als<br />

Opfer für sein Wohlverhalten forderte. <strong>Der</strong> dankbaren Cleolinde<br />

erklärte Georg nach seiner Heldentat, daß die Kraft, welche seinen<br />

Sieg ermöglicht hatte, von Gott gekommen wäre und deshalb auch<br />

Gott als der wahre Sieger dieses Kampfes angesehen werden müßte,<br />

woraufhin das Volk der Prinzessin Cleolinde zum Christentum konvertierte.<br />

Zeitraum und Ort dieser Legendenbildung lassen unschwer erkennen,<br />

daß wir mit ihr nur eine christlich überarbeitete Fassung aus der<br />

Heilsgeschichte des Mithras-Kultes vor uns haben, der unter den römi-<br />

9


10<br />

schen Soldaten weit verbreitet und populär war. Aus dem Sonnenhelden<br />

Mithras wurde hier die Allegorie des heiligen Märtyrers Georg,<br />

der wie Mithras einen Drachen besiegte und damit seine göttliche<br />

Macht (im Falle Georgs, die stellvertretende Ausübung dieser Macht)<br />

als Drachentöter unter Beweis stellte. Diese Legitimationsfigur erlaubte<br />

es den an diese Einkleidung der Heilsgeschichte bereits gewöhnten<br />

Konvertiten, auch weiterhin an älterem Glaubensgut festzuhalten.<br />

Das Argument für die Konversion zum neuen Glauben lieferte<br />

hier, ähnlich wie in vielen anderen Fällen auch, der alte Glaube, ein<br />

Mythologem dieses Glaubens, der als Allegorie des neuen Glaubens<br />

dann nicht nur weiter gepflegt werden durfte, sondern für die Konvertiten<br />

zur Basis des neuen Glauben wurde.<br />

Vergleichbare christliche Adaptionen des <strong>Drachenkampf</strong>motivs, welche<br />

die lokalen Sondertraditionen berücksichtigt haben, sind die Legenden<br />

der Heiligen: Adelphus (Metz), Clemens (Bretagne) Gilles de<br />

Chin (Belgien), Martha (Tarascon), Beautus (Schweiz) und Margarethe<br />

(Tirol).


Zur Herkunft des Wortes: Drachen<br />

Das Wort "Schlange" ist eine ablautende Bildung des Zeitworts<br />

"schlingen" in der Bedeutung von "sich krümmen". Die spätnordische,<br />

althochdeutsche und altsächsische Wortbildung scheint vom mittelnordischen<br />

Wort slango abgeleitet zu sein. Dieses Wort verdrängte langsam<br />

die germanischen Worte: Natter, Unke und Wurm.<br />

Unke steht neben lat. angius, das gleichfalls durch serpens verdrängt<br />

wurde, und zwar seiner numinosen Bedeutung<br />

wegen, und beide gehören zur<br />

indogermanisch-hamitisch-semitischen<br />

Wurzel 4 ank, für welche die alten Ägypter<br />

ein spezielles Zeichen (i) schrieben,<br />

dessen fruchtbarkeitskultische Deutung<br />

es als Kombination aus Lingam (oder<br />

Hammer) und Yoni (oder Ring) auffaßt,<br />

als mythisches Symbol des Uranfangs<br />

und damit als Symbol mann-weiblicher<br />

Einheit oder als Einheit von Himmel und<br />

Erde, oder yang und yin (☯), die alles<br />

Seiende und Lebendige hervorbringt und deshalb selbst auch als androgynes<br />

Wesen vorgestellt wird. In der Umgangssprache kursiert das<br />

Ank-Symbol als Henkelkreuz (i).<br />

Die Schlangenungeheuer stehen im Mythos als chthonische, tellurische<br />

Wesen und Kräfte den lichten Wesen und Prinzipien meistens herausfordernd<br />

und drohend gegenüber, werden aber<br />

nicht nur diesen polar gegenübergestellt,<br />

sondern erscheinen als "gefiederte Schlangen"<br />

(Quetzalcoatl, Kukulkan etc.) oder als Drachen<br />

auch als Bild des Lichtwirkens. "Feurige fliegende<br />

Schlangen" kommen nach Jesaia (XXX,6)<br />

aus Ägypten und Chaldäa.<br />

= ich sehe, sagt der Grieche und<br />

ist wörtlich der "scharf Blickende". Dieser Hinweis auf<br />

Hellsichtigkeit oder auf übermäßige Intelligenz, der im griechischen<br />

Wort anklingt, findet sein Echo im Chinesischen, wo der Drache<br />

4 Russische Linguisten sprechen von der „nostratischen Sprachfamilie“.<br />

11


12<br />

"lung" genannt wird, was bedeuten soll: "das Wesen, das sich durch<br />

Intelligenz auszeichnet". Aber auch der Schlangenstab, der Caducaeus<br />

der Kabiren, des Merkur oder Aeskulap, des Moses (4Mos 21,8) oder<br />

Thot, verweist auf die gleiche Bedeutung, auf die Klugkeit und Weisheit,<br />

die auch der neutestamentliche Jesus der Schlange bescheinigte.<br />

„Seid klug wie die Schlangen“ (Mt 10,16).<br />

<strong>Der</strong> negative Namensgebrauch ist auch hier nicht der ursprüngliche,<br />

aber in den Metamorphosen des Ovid (7,120 f) steht die Drachenzahnaussaat<br />

des Kadmos als Inbegriff für die Aussaat der Zwietracht. <strong>Der</strong><br />

Akzent liegt auch in diesem Mythologem nicht ausschließlich auf der<br />

Bedeutung der Zwiespältigkeit. Die Drachenabkunft begründet die autochthone<br />

Herkunft der Spartaner, d.h. sie erklärt, wieso Menschen, die<br />

immer von einem Vater und einer Mutter abstammen, d.h. von zwei<br />

Wesen verschiedener Abstammung, denselben Ursprung haben (Drache→<br />

Ursprung) und wie Pflanzen gleichsam aus dem Boden hervorwachsen,<br />

was sie anders ohne fortgesetzten Inzest nicht könnten. Weil<br />

aber dieser Aussaat des Volkes ein Gewaltakt, ein Tod, vorausging,<br />

haftet ihr auch der zwiespältige Charakter an, der ihr zugrundelag. Von<br />

den sich gegenseitig ermordenden Σπαρτοι blieben nur fünf als Gefolgsleute<br />

und als Krieger des Kadmos übrig. Obwohl Kadmos einen<br />

Drachen, der seine Gefolgsleute fraß, getötet hatte, berichtet die Heroenlegende<br />

von der Verwandlung des Kadmos und seiner Gattin Harmonia<br />

in Schlangen, nachdem sie Theben verlassen und die Regentschaft<br />

an ihren Sohn Polydoros abgegeben hatten, um sie, die Gründer<br />

eines neuen Geschlechtes und einer Dynastie, als chthonische Gottheiten<br />

oder göttliche Ahnen (Rückkehr in den Ursprung) auszuweisen. So<br />

wurde von Kadmos nicht der Drache schlechthin getötet, sondern nur<br />

jener, der die Ahnen eines anderen, feindlich eingestellten Geschlechtes<br />

repräsentierte, das nun von der Dynastie des Kadmos abgelöst<br />

wurde.<br />

Neben der religiösen Bedeutung erkennen einige in diesem Mythos<br />

auch den Bericht von Stammeskämpfen, von dem Wechsel der Filiationsregel<br />

als rechtlicher Zuschreibungsform und der damit verbundenen<br />

lokalen Besitzrechte. <strong>Der</strong> Eroberer und Sieger über die Autochthonen<br />

wird später, und zwar mit der Zeitdauer, in der sein Übernahmeanspruch<br />

die Geltung behaupten kann, selbst ein Autochthoner.<br />

Es wird sich zeigen, daß nur eine Kulturepoche den Drachen ausschließlich<br />

negativ zeichnet, seine chthonischen Attribute durchweg<br />

diabolisiert, nämlich die christliche Epoche Europas, welche den Hel-


lenismus und die religiösen Sondertraditionen des anderen Missionsraumes<br />

abgelöst hat.<br />

<strong>Der</strong> Drache als Urwesen und Ursprungsgestalt, als Wahrer und Wächter<br />

der tiefsten Geheimnisse, im Märchen als Hüter der mannigfaltigen<br />

Schätze, mit der Anspielung auf seine Hellsichtigkeit, die mit dem<br />

Vorhandensein eines realen dritten Auges bei Reptilien und Echsen<br />

(Parietalorgan, das bei den Säugetieren zur Zirbeldrüse verkümmert<br />

ist) gut zusammengeht, ist wohl das mythische Vorbild der griechischen<br />

Wort- und Namenswahl und macht seine semantische Verwendung,<br />

speziell zur Bezeichnung von besonderen Schlangen und Echsen<br />

und den ihnen ähnlichen Fabelwesen verständlich. Noch in diesem<br />

Wesen selbst erscheint also jener Zwiestreit, von dem die Mythen<br />

handeln, in denen sie die Hauptrolle spielen. Die Empfindlichkeit für<br />

das Lichte und Geistige, welche im Parietalorgan zum Ausdruck<br />

kommt, und die erdverbundene Schlangengestalt des Körpers (ohne<br />

Extremitäten), welche das tellurische Wesen dieses Tieres wie bei keinem<br />

anderen Tiere unterstreicht, macht es zum Inbegriff des Geheimnisses<br />

der Einsenkung des Geistes in die Materie, in den Stoff, in die<br />

Erde.<br />

<strong>Der</strong> Ableitung des Lehnwortes "Drachen" von lat. "draco" steht eine<br />

andere ebenso wahrscheinliche Ableitung von dem germanischen<br />

"Track" gegenüber, der nicht nur als ein bösartiges Wesen dargestellt<br />

wurde, sondern auch als Diener seines Herrn, der ihn unterworfen<br />

hatte. <strong>Der</strong> in Grimms "Deutscher Mythologie" erwähnte Milchtracken,<br />

der den Kühen die Milch aussaugt, ist eine der bekannteren Trackengestalten.<br />

Dieses "track" könnte auf idg. trak= "ziehen, sich bewegen"<br />

oder auf idg. trak= "drehen, drängen, drücken" zurückgehen. Genauso<br />

möglich wäre aber auch, das germanische Track als eine Dialektabweichung<br />

des Wortes „Drache“ (nach draco) anzusehen, nachdem es<br />

einmal als Lehnwort Eingang in die Sprache gefunden hat. Welche<br />

Wurzel dem Drachennamen zugrunde zu legen ist, werden die Etymologen<br />

entscheiden müssen.<br />

13


14<br />

<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> als Bewährungsprobe<br />

Schon der oberflächlichen Lektüre von <strong>Drachenkampf</strong>mythen und -sagen<br />

fällt auf, daß der <strong>Drachenkampf</strong> eine besondere Form der Prüfung<br />

darstellt, und daß dementsprechend alle <strong>Drachenkampf</strong>versionen in<br />

den weiteren Kontext der Initiationsgeschichten zu stellen sind. Sie<br />

lassen sich nicht zuletzt auch deshalb nach drei Gesichtspunkten gliedern<br />

und vergleichen: 1) nach der in ihnen geschilderten Herausforderung,<br />

2) nach der von ihnen gezeichneten Natur der Herausforderer<br />

und 3) nach dem Charakter der Individuen und Mächte, welche auf die<br />

Herausforderung antworten.<br />

Beispiele:<br />

Die Herausforerung kann einmalig und schicksalshaft begründet sein,<br />

sie kann als reguläre Übergangsbedingung von Entwicklungsprozessen<br />

zwischen Reifestadien oder Wissensstufen erscheinen, die mit einer bestimmten<br />

Lebensform, mit geschlechtlicher Identität, mit einer kulturbedingten<br />

Lebensweise oder mit Altersgraden und Statuserwerb zusammenhängen,<br />

und dann als regulärer Begleitumstand der leiblichen,<br />

seelischen und geistigen, der beruflichen, ständischen und persönlichen<br />

Entwicklung in Erscheinung treten. Dann wäre der <strong>Drachenkampf</strong> nur<br />

ein Symbol für die Konflikte, welche die rites de passage (Übergangs-<br />

riten) zu regulieren hätten.<br />

rites de passage<br />

Übergangsriten Trennungsriten Eingliederungsriten<br />

liminale Riten präliminale Riten postliminale Riten<br />

Schwangerschafts- Trauer Riten Heirats- Riten<br />

Verlobungs- Riten<br />

Initiations- Riten A.v.Gennep, ibid, S.11<br />

Arnold van Gennep, The Rites of Passage, London 1960<br />

<strong>Der</strong> Herausforderer wird, wie es in einer Kategorie von Geschichten,<br />

die durch seine Natur bestimmt werden, nicht anders zu erwarten ist,<br />

durchgängig als Drache vorgestellt, aber seine besonderen Eigenschaften<br />

und seine Wesensart variiert mit dem Charakter der Herausforderung,<br />

welche er sich selbst, seinen Opfern, Prüflingen, Heranreifenden


oder Initianden bereitet. Das Schicksal prüft den Mann, die Initiation<br />

den Jüngling oder Freund der Weisheit, die Aufgabe prüft den Meister,<br />

das Leben prüft den Heranreifenden, seine Selbstfindung und seine<br />

Integration in die Möglichkeiten, welche Kultur und Gesellschaft jedem<br />

Einzelnen und jedem Geschlecht bereithalten.<br />

Im Rahmen dieser Alternativen variiert dann auch die Gestalt der Person,<br />

welche die Herausforderung beantwortet, welche sich der Prüfung<br />

stellt, welche die Aufgabe übernimmt, welche ihr Schicksal annimmt,<br />

welche nach Weisheit und Selbstvollendung verlangt, ihre Tugenden<br />

unter Beweis stellen oder ihre Wünsche befriedigen will.<br />

Die Herausforderung wird dann in den <strong>Drachenkampf</strong>geschichten entweder<br />

kosmologisch, vegetationsmythisch, jahreskreislich, aitiologisch,<br />

stammesgeschichtlich oder sittlich, d.h. entweder als universale<br />

und regionale kosmische Katastrophe (Weltflut, Weltbrand, Entvölkerung,<br />

Winter, Dürre, Absterben etc.) oder als Bedrohung der Ordnung<br />

der kosmischen, sozialen, religiösen oder sittlichen Welt dargestellt<br />

oder schließlich als die Bedrohung der Seele und ihrer verhaltensgestaltenden<br />

und ansteckenden Kräfte.<br />

Auch die gleichfalls in aller Welt<br />

vorkommenden Seelendrachen<br />

oder die Seelenschlangen, die in<br />

den romanischen Bildnissen Europas<br />

stets doppelt und ineinander<br />

verschlungen dargestellt wurden<br />

(vielleicht keltischer Einfluß), oder<br />

die (wie auf der Hartmannssäule<br />

der Domkapelle in der Goslaer<br />

Kaiserpfalz) aus dem Munde eines<br />

Menschenhauptes heraustreten und<br />

ihre Hälse über dem Haupt ineinander<br />

verschlingen, sollen hier<br />

nicht unerwähnt bleiben, weil dieser Seelendrachenglauben mit der<br />

Symbolik der kosmologischen Drachen oder Schlangen direkt verbunden<br />

ist, wie man das noch ganz deutlich in Nordwest-Australien (Ungarinyin,<br />

Unambal, Worara) in der Beziehung der welterschaffenden<br />

Ungud zu den Ungud-Wondjina oder Ungur als den inkarnationsbereiten<br />

Seelen und Seelen Verstorbener sehen kann.<br />

15


16<br />

Dem Goslaer Bilde, das in dieser Gegend häufiger vorkommt, entsprechen<br />

z.B. eine Abbildung auf einem nigerianischen Kultgefäß 5 und das<br />

Ritual des Tschöd Lama in der Jonangpa-Tradition, bei dem zwei<br />

Schlangen aus dem Mund oder den Nasenlöchern des praktizierenden<br />

Lama austreten, sowie die dazugehörigen tibetischen und nepalesischen<br />

Abbildungen. Dieses Ritual gehört unmittelbar zum Seelen- und<br />

Totenglauben des nichtreformierten Lamaismus.<br />

Über die weite Verbreitung eines vergleichbaren Glaubens auch im<br />

ältesten Deutschland erfahren wir aus kunstgeschichtlichen Quellen. 6<br />

Auch diese in die Mysterien gehende Wendung des <strong>Drachenkampf</strong>es<br />

als einem Kampf des Heroen (auch als fortwirkende Seele begriffen)<br />

gegen seine niederen Instinkte oder<br />

gegen das Böse, gegen seine Schwäche<br />

und Hinfälligkeit (Initiationsmythe)<br />

muß hier also berücksichtigt werden,<br />

denn der Seelendrachenglauben<br />

ist, wenn er noch mit dem lebendigen<br />

Mythos verbunden ist, nur eine mikrokosmische<br />

Version des kosmologischen<br />

<strong>Drachenkampf</strong>es. In dieser Welt<br />

oder Kultur heißt es noch: „Unten so<br />

wie Oben“.<br />

Entsprechend fällt die Begründung der<br />

Situation aus, in welche die Mythe die<br />

Handlung versetzt: einmal ist es der<br />

Kampf um die Vormacht im Pantheon<br />

(mesopotamisch, ägyptisch, griechisch,<br />

germanisch, chinesisch, japanisch etc.), dann ist die Mythe<br />

theogonisch-kosmologisch. Diese Fassung löst das Bild vom kosmologischen<br />

Gleichklang des Werdens und Vergehens, des Lebens und<br />

Sterbens oder von yin und yang ab. <strong>Der</strong> geschlossene Drachenring löst<br />

sich auf in seine zwei Pole, die sich nun dramatisch bekämpfen. Aus<br />

jener Konsonanz ist diese Dissonanz zwischen Leben und Sterben<br />

hervorgegangen.<br />

<strong>Der</strong> Vorgang der Polarisierung aus dem Ring der Einheit läßt sich nach<br />

drei symbolischen Schemata unterscheiden: 1) <strong>Der</strong> Schlangenring aus<br />

5 Ritualgefäß von Koiwo Layout, Ife Nationalmuseum Lagos, Inv. Nr. 79 R 13<br />

6 H.Karlinger, Die romanische Steinplastik in Altbayern und Salzburg, Augsburg<br />

1924; E.Jung, Götter und Helden in christlicher Zeit, München 1922


einer Schlange, die sich frißt und selbst gebiert, 2) der Schlangenring<br />

aus zwei Schlangen, die sich gegenseitig zu fressen versuchen oder<br />

ausspeien und dementsprechend entweder einander verschlingen oder<br />

auseinanderhervorwachsen (die neue erbrechen). Hier wird die Möglichkeit<br />

des Sieges einer der beiden Schlangen als Schein gedeutet,<br />

denn die Steigerung der Mächte der einen Seite zieht automatisch eine<br />

Steigerung auch der Kräfte der anderen Seite nach sich.<br />

Die Vorstellung vom Sieg einer Partei in diesem Kampf erscheint erst,<br />

nachdem der Schlange nur noch eine Hälfte des kosmologischen Raumes<br />

zugeordnet wird, den die Schlange dann vertritt, und nach der<br />

ethischen Festlegung der Seite, zu der die Schlange gehört, und zwar in<br />

beiden Alternativen: die Schlange entweder als Sieger oder Verlierer,<br />

wodurch sie kosmologisch entweder als Repräsentant des Lebens oder<br />

der Todeskräfte gedeutet wird, d.h. dementsprechend auch das Schicksal<br />

des Kosmos.<br />

3) Die Ausdifferenzierung des Ringes in verschiedene Bilder seiner<br />

Kräfte, von denen das Bild der Schlange zur Darstellung der negativen<br />

Kräfte beibehalten wird, während<br />

die positive Seite entweder<br />

durch die Mutter oder durch den<br />

siegreichen, lichten Helden<br />

dargestellt wird. Aber auch in<br />

dieser ikonographischen Differenzierung<br />

können die Vorzeichen<br />

von Gut und Böse vertauscht<br />

sein und der Drache<br />

oder die Schlange die gute Seite<br />

und dementsprechend der<br />

menschliche oder nicht-drachenhafte Widerpart die böse Seite verkörpern.<br />

In den Versionen des Kindhelden kulminiert der kritische Zustand,<br />

während der Held schläft oder noch ein Kind ist, das erst noch aufwachsen<br />

muß (tartarisch, belorussisch, persisch), oder noch im Mutterleib<br />

auf seine wunderbare Geburt wartet oder durch andere entsprechende<br />

Mängel oder Zeitumstände behindert ist, seiner Aufgabe gerecht<br />

zu werden. Als Mythos ist die Episode häufig kosmologischvegetationsmythisch,<br />

kosmologisch-jahreskreislich oder stammesgeschichtlich.<br />

Sie projiziert eine Krisis genealogischer Kontinuität auf<br />

den Kosmos, den Stamm oder die herrschende Dynastie, die problematische<br />

Ablösung einer Generation durch die ihr nachfolgende, und<br />

17


18<br />

zwar, wenn die Alten zu früh, d.h. vor der Reife der Nachkommen,<br />

absterben. Dem Verstand erscheint jede Krise verfrüht, da die Gegenmittel<br />

in ihm noch nicht herangereift sind.<br />

Eine weitere Situation geht von einer Katastrophe aus und schildert,<br />

wie nach ihr durch das Wirken des Helden oder der Helden die Menschen<br />

des Volkes erscheinen, die diese Mythe erzählen. Dann ist sie<br />

aitiologisch-stammesgenealogisch oder kosmologisch-aitiologisch. <strong>Der</strong><br />

Drache muß hier getötet werden, damit aus ihm, wie in der thebanischen<br />

Mythe, in der die Menschen aus der Erde aufwachsen, die Menschen<br />

aus ihm selbst wiedergeboren (von ihm befreit) werden können.<br />

In diesen Beispielen bewacht der Drache keine Schwelle oder Grenze,<br />

sondern er erfüllt selbst die Funktion der Schwelle, des Tores. Bei den<br />

völkerverzehrenden Drachen erscheint die Ambivalenz der Drachennatur<br />

ganz unverstellt: er gebiert, was er verschlingt, oder: er verschlingt,<br />

was er gebiert. Das sagt man auch von der „Großen Mutter“.<br />

Als Herausforderer erscheinen dementsprechend Gottheiten des dunklen<br />

Prinzips, Ungeheuer oder Katastrophen, Invasionen oder Unterdrückung<br />

und diese Kategorien erscheinen einzeln oder kombiniert,<br />

auf einzelne Individuen bezogen oder auf Herausforderergruppen mit<br />

ihrem Anführer.<br />

<strong>Der</strong> Herausforderer, der Drache oder die Schlange, erfüllt in den Mythen<br />

drei Funktionen: er ist Hüter und damit auch Vermittler übersinnlicher<br />

Mächte (ihr Gewinn ist die Voraussetzung des Heldentums,<br />

um das gerungen wird), er ist also ein Wächter der Schwelle, die nur<br />

der Held überschreiten kann; er ist Beherrscher der Unterwelt, der<br />

Winterwelt, der kosmologisch negativen Kräfte, d.h. er ist die Ursache<br />

des Todes wie er die Quelle des (neuen) Lebens ist, und endlich ist er<br />

Weltschöpferin oder Materiallieferantin der Weltschöpfung; dann erscheint<br />

er stets als der Grund des Seins. In verschiedenen mystischen<br />

Systemen repräsentieren diese drei Funktionen wiederum nur drei<br />

Aspekte einer einzigen Bedeutung. <strong>Der</strong> Drache erscheint als Inbegriff<br />

des Komplementärs von und , von und ,<br />

d.h. als , in der ja „das Aufgehen von sich her“ und das in sich<br />

zurückgehende Walten des Seins begriffen wurde.<br />

Diese drei Bedeutungskomplexe (Wächter, Lehrer, Schöpfer oder negativ:<br />

Angreifer, Verführer, Zerstörer) respektive ihre Integration korrespondieren,<br />

unter dem Aspekt ihrer einseitigen Betonung, jeweils mit<br />

Zeit- und Kulturstufen, die sie in dieser Akzentuierung bevorzugen:<br />

mit dem Zeitalter der Heldensage, deren Träger meist durch die neo-


lithische Revolution hindurchgegangene Hirtenvölker im Stande eines<br />

Erobereradels sind, ihr Drachenschatz ist das metallurgische Geheimnis<br />

(Ring, goldenes Vließ etc); mit dem Zeitalter der Hochkultur und<br />

seiner neolithischen Vorbereitung, in der der Ackerbau dominiert, ihr<br />

Drachenschatz sind die paradiesischen Gärten (Hesperiden) und Wunderfrüchte,<br />

sowie mit dem Zeitalter des Wildbeuter- und Hackbauerntums,<br />

deren Helden ihre Völker aus dem Bauch der Drachen befreien<br />

müssen.<br />

Typische Drachenschätze sind in den Geschichten: Völker, Unterwelten,<br />

paradiesische Gärten (Hesperiden), Früchte (Äpfel), Kräuter (Lebenskraut,<br />

), Körner, Edelsteine (der Stein<br />

der Weisen), Ringe (Ring der Macht), und dementsprechend die Aufenthaltsorte:<br />

markante Bäume, Höhlen, Quellen, Tore, Türen.<br />

Gleichfalls zeigen die Mythen, daß sie den Drachen sowohl im Kontext<br />

einer dieser Bedeutungen als auch im Zusammenhange ihrer<br />

Kombination ansprechen, und in diesem Falle auch kulturhistorische<br />

Überschichtungen reflektieren können, dies aber nicht in jedem Falle<br />

müssen, wo Wandergut integriert worden ist.<br />

Schicksal und Aussehen der Drachen variieren auch: mehrköpfige Drachen,<br />

einköpfige Drachen, die getötet oder zerstückelt werden, damit<br />

aus ihren Teilen die Welt geschaffen werden kann, oder die weiter-<br />

und fortleben und das negative Vexierbild des Helden abgeben oder als<br />

Hüter der Schwelle das Übel von der Welt abwehren, oder jenen Ursprungsort<br />

des Lebens, die „heilig unbetretbaren Räume“ (Pindar), vor<br />

der Zudringlichkeit dieser Welt schützen.<br />

Ananta, die Schlange der Ewigkeit, die Vishnu durch das Manvantara<br />

trägt, die Ur-Shesha der Puranen oder die akkadische Schlange werden<br />

mit sieben Köpfen dargestellt. Die Assoziation der Zahl 7 mit diesen<br />

Urschlangen oder Urdrachen unterstreicht ihre kosmologische Ursprungsfunktion.<br />

Die drei schöpferischen Prinzipien (Bewußtsein,<br />

Trieb und Wille), die eine Seinsverbindung mit den vier Elementarpotenzen<br />

der Welt (Luft/Geist; Feuer/Wille; Wasser/Gefühl; Erde/Sittlichkeit)<br />

eine Verbindung eingehen (3+4) oder der Prozeß der<br />

sphärischen Periodisierung der Weltharmonie, der nach 7 Ton- oder<br />

Klangfolgen in der 8ten Folge zum ersten Urklang zurückkehrt, der<br />

Kreislauf, der sich in der Oktave vollendet, wie sie die Kosmogenesis<br />

schon im alten China vorstellt oder jene der Orphiker, erweisen sich als<br />

Gleichnisse desselben Prinzips, das der kosmologische Drache schon<br />

für sich verkörpert.<br />

19


20<br />

Auf die funktionale Äquivalenz des zerstückelten Weltdrachens mit<br />

dem zerstückelten Weltmenschen (Purusha, Panku, Ymir, Baiame etc.)<br />

soll hier auch hingewiesen werden. Die Völsungensage der Edda stellt<br />

diese Gleichung indirekt her. Fafnir ist der Sohn Hreidmars, des Riesen,<br />

an den der Schatz Andwaris ging, und Fafnir ist auch der Drache,<br />

den Sigurd auf der Gnitaheide besiegt.<br />

Die Gegenspieler (Helden) der Herausforderer (Drachen) werden als<br />

Götter, Gottheiten oder Helden, als frühreife Kinder, Jungen und Übermenschen,<br />

Schamanen oder als Initiationskandidaten dargestellt. In einigen<br />

wenigen Versionen erscheinen sie auch als Jungfrauen oder<br />

junge Frauen. Die Helden sind außerdem auch als "Heilbringer" zu erkennen.<br />

Sie treten entweder alleine auf oder haben hilfreiche Unterstützung<br />

aus der Zauberkraft ihrerselbst oder der ihrer Helfer. Auf diese<br />

Weise kommen Tiere und Sachen ins Spiel, die auf wundersame Weise<br />

oder wie Individuen das Handeln ihrer Meister unterstützen. Diese<br />

Helfer verweisen häufig auf einen schamanistischen Kontext in der<br />

Kultur, welche die Geschichte erzählt, oder auf eine einst gültige<br />

schamanistische Schicht in der Kulturentwicklung, besonders, wenn<br />

sie mit der Amputation von Körperteilen des Helden in Beziehung gebracht<br />

werden, die mit ihrer Hilfe wieder rückgängig gemacht wird<br />

(Wiederzusammensetzung des Zerstückelten).<br />

<strong>Der</strong> Held ist häufig auch vater- und/ oder mutterlos, d.h. ohne legitimes<br />

Herkommen oder erbberechtigte Abstammung. Er tritt als Fremder ein<br />

in die Sphäre des Volkes, dem er hilft, und wird dank seine Taten, oder<br />

speziell durch die Belohnung mit seiner Aufnahme in das Volk (Heirat<br />

der Prinzessin) zu einem Mitglied des Volkes. Oder er ist halbgöttlicher<br />

Herkunft, d.h. eines seiner Elternteile ist dann göttlich. Aber ihm<br />

wird auch parthenogenetischer Ursprung nachgesagt, was seiner Stellung<br />

als ein Gott entspricht, der sich inkarniert hat, d.h. er gilt dann als<br />

ein Avatar.<br />

Alle Gründer patriarchaler Dynastien, die eine andere patrilineare oder<br />

eine matrilineare Filiationsrechnung ablösen, werden im Mythos als<br />

ausgesetzte Kinder dargestellt, die glücklich gefunden werden und<br />

entweder in aller Stille heranwachsen, bis die Zeit ihres Wirkens da ist,<br />

oder als frühreife und wunderbare Kinder von sich reden machen. Ihre<br />

Vorgeschichte erklärt, warum sie Götter oder Helden ohne Eltern sind,<br />

die sie nach der vorherrschenden Deszendenzregel in dem Volk ihres<br />

Wirkens nicht haben können. Diese später als große Drachentöter oder<br />

Bezwinger von Ungeheuern hervortretenden Helden werden mit ihrer<br />

Heldentat zu den Gründern ihrer Dynastien. Ihre eigentümliche


Kindheitsgeschichte stellt in manchen Mythen auch das Ende einer<br />

Form des rituellen Königsmordes dar, bei dem der geopferte Stellvertreter<br />

auch den sterbenden und wiederkehrenden Vegetationsgott repräsentiert.<br />

Gilgamesch, Moses, Dionysos, Jason oder Ödipus sind<br />

Beispiele für diese außergewöhnliche, elternlose (vaterlose) Herkunft.<br />

Auch der Ödipusmythos reflektiert noch den rituellen Königsmord,<br />

den er als Vatermord ächtet, obwohl er scheinbar unschuldig begangen<br />

wurde, und auch diesem Königs-Vater-Mord ist ein sublimierter Dra-<br />

Epaphos Memphis<br />

Lybie Poseidon<br />

Elektra<br />

Aphrodite Ares Telephassa Agenor<br />

Dardanos Jasion Harmonia Kadmos Thasos Europa Phoinix Kilix<br />

Zeus Semele Polydoros<br />

Dionysos Labdakos<br />

chenkampf vorausgegangen, der Sieg über die Chimäre Sphinx, die<br />

durchaus als ein Drachenwesen anzusprechen ist (Chimäre= Wesen,<br />

das sich aus den Totemtieren eines Stammes zusammesetzt, deren Totemgruppen<br />

er integriert). Aber das <strong>Drachenkampf</strong>mythologem erfüllt<br />

in der griechischen Tragödie einen anderen Zweck. Es muß herhalten<br />

für die Rechtfertigung und Begründung der Zeichnung des Ödipus als<br />

den gebrochenen, tragischen Helden, dem nichts anderes bleibt, als<br />

sein Schicksal, seine Schuld auf sich zu nehmen, für die er sich selbst<br />

nicht schuldig gemacht hatte. Die Tragödie kennt wohl die Erbsünde<br />

(die Sünde der Väter), aber nicht die Erlösung.<br />

Laios Jokaste<br />

Oidipos<br />

Als Götter sind die Helden Vegetations-, Tier-, Wetter-, Mond- oder<br />

Sonnengötter, frühreife Kinder oder Repräsentanten des lichten Prin-<br />

21


22<br />

zips, aber auch Zwillingsheroen, als Helden sind die Helden wiedergekehrte<br />

Ahnen, verheißene Übermenschen (Erlöser) oder Schamanen.<br />

Die Genealogie dieser Götter verbindet sie mit bestimmten mythologischen<br />

Dualen und Triaden, die wiederum auf bestimmte mytholgische<br />

Kreise und regionale Kulttraditionen verweisen. Solche Triaden bilden<br />

in der alten Welt z.B. die hier in der nebenstehenden Tabelle genannten<br />

Gestalten.<br />

Einige dieser Triaden deuten noch ihre Ableitung aus Dualen an, die<br />

Isis, Osiris u. Horus (ägyptisch).<br />

Ishtar, Tammuz u. Tammuz (kleinasiatisch).<br />

Cybele, Attis I u. Attis II (kleinasiatisch).<br />

Aphrodite, Adonis I u. Adonis II (kleinasiatisch).<br />

Danu, Dagda u Angus (irisch).<br />

Arianrhod, Lew Law u. Dylan (walisisch).<br />

zu Triaden nur weiterentwickelt wurden, indem sie eine der Gestalten<br />

zeitlich in zwei Gestalten ausdifferenzierten.<br />

Echte Zwillingspaare, die mit dem <strong>Drachenkampf</strong> direkt verbunden<br />

sind, wären die hier unten aufgelisteten Beispiele.<br />

Daß auch die oben genannten altorientalischen Triaden einen Dualismus<br />

verbergen, zeigen, wie schon gesagt, die Beispiele mit den zwei<br />

Repräsentanten oder Namen, die aber triadisch differenziert werden:<br />

sie unterscheiden die große Göttin, ihren sterbenden Gatten oder Geliebten<br />

und ihren wiedergeborenen Sohn oder Geliebten. Auch die<br />

Unterscheidung von<br />

Tiri u. Karu (Süd- Amerika).<br />

Kanigyilak u. Nemo'kois (Nord-Amerika). Mutter, Vater und<br />

Ninguningu u. Nambalia etc. (Neu Guinea).<br />

Sohn identifiziert<br />

den Vater und den<br />

Sohn im Hinblick auf das gemeinsame Geschlecht, begreift also den<br />

Horus als wiedergeborenen Osiris, um einen Dualismus: männlichweiblich,<br />

auszudrücken, etwa mit der Bedeutung von Leben und Tod.<br />

Die patrilineare Folge reflektiert das Geschehen zwar als Rhythmus<br />

eines in sich zurücklaufenden Kreises, aber sie projiziert die Zeit des<br />

ewigen Kreislaufs auf die genealogische Linie und setzt sie damit<br />

ihrem Risiko aus, der Wahrscheinlichkeit des Geschlechterendes. In<br />

dieser panparentelen Weltanschauung der verwandtschaftsrechtlich<br />

organisierten Stämme ist die durch die Heiratsallianz sanktionierte<br />

Fortpflanzung neben der Stiftung und Affirmation politischer Allianz<br />

auch eine Kulthandlung.


Während die Triaden das Verhältnis der Unsterblichkeit zur Sterblichkeit,<br />

der Fruchtbarkeit zur Unfruchtbarkeit, der Filiation zum individuellen<br />

Geschlecht, des Guten zum Bösen, im Bilde der Geschlechtsdifferenzierung<br />

darstellen oder sogar einen Geschlechtsdualismus repräsentieren,<br />

und das Individuationsprinzip sich in der Filiationsfolge<br />

ausdrückt, zeichnen die Zwillingsmythen diese Unterscheidung nach<br />

der Geschicklichkeit, nach der moralischen Qualität der Helden oder<br />

nach dem Seele-Körper-Gegensatz. (Diesseits-Jenseits). Ihre Polarisierung<br />

erscheint als Differenzierung zweier Personen gleichen Geschlechts<br />

im gleichen kosmologischen Raum, d.h. als gleichzeitige Erscheinung,<br />

von der aber eine Hälfte stets verborgen bleibt, während<br />

jene Differenzierung von Attis oder Adonis in die Dimension der Zeit<br />

verlegt worden ist: Vater-Sohn, alter- und neuer Geliebter. Das Objekt<br />

der Anregung weiblicher Schöpfungskraft variiert, ist endlich und<br />

zeitabhängig, während die weibliche Zeugungskraft als potentia<br />

(), aber nicht als actus () unbegrenzt und zeitlos da<br />

ist.<br />

Wenn wir den Hinweisen des Cicero und Varrus über Herakles folgen,<br />

die zuletzt von de Maury 7 mit einer noch größeren Fülle von Belegen<br />

wiederholt worden sind, dann stellt er ohne Zweifel eine kabirische<br />

Zwillingsgottheit dar, die nicht nur dem Dioskurenschema entspricht,<br />

sondern auch einen Prototyp des Drachenkämpfers abgibt.<br />

Wie im Grimmschen Zweibrüdermärchen ist er ein Gemahl der Göttin<br />

der Wälder, der er im Halbjahresturnus geopfert wird, um auf diesem<br />

Weg, nachdem seine Haut vom Leibe gerissen wurde, nachdem er den<br />

Berg Oeta erklommen hatte und durch seinen Fall die Eiche seines<br />

Scheiterhaufens gespalten hatte, in Gestalt eines Adlers mit dem Rauch<br />

zum Himmel zu ziehen.<br />

Dieser große Sohn einer noch größeren Mutter ist auch ein frühreifes<br />

Wunderkind, daß schon als Kind Schlangen erwürgt und als Jüngling<br />

der unbesiegbare Vernichter der Drachen und Ungeheuer ist. Er ist der<br />

Vater und der Sohn in Personalunion oder die Zwillinge oder der Geliebte,<br />

der die Göttin erfreut oder den sie betrauert. Als all das ist er die<br />

personifizierte Geschlechterfolge, d.h. die ganze Reihe präskriptiver<br />

Gatten der großen Mutter oder ihrer/seiner Söhne, und als Vater ein<br />

Vater ohne Töchter, gemäß der uxorilokalen Konfiguration der kabirischen<br />

Gruppierung. Er ist also ein Äquivalent für alle männlichen Kabiren<br />

des Orients und stand schon in der Antike für die meisten, zu-<br />

7 A.de Maury, La magie et l´astrologie dans l´antiquité et au moyen âge, Paris 1860<br />

23


24<br />

mindest unter einzelnen Aspekten von ihnen, als Stellvertreter, d.h.<br />

Gleicher unter anderem Namen.<br />

Die Drachenkämpfer und die Drachen erscheinen hier als Repräsentanten<br />

mythologischer Prinzipien, die universal sind, und speziell in<br />

den altorientalischen Mysterien so eigentümlich ausgebildet worden<br />

sind, daß Lenormant sie unter dem Begriff der "kabirischen Gruppierung"<br />

8 zusammengefaßt hatte, deren Vorbild die Gruppe von Samothrake<br />

war, von einem pelasgischen Kultzentrum, das aber auf das religiöse<br />

Weltbild der dualen Ordnung (Hälftenorganisation) der Hackbauern-<br />

und Wildbeuterkulturen zurückgeführt werden kann. Die ursprüngliche<br />

Konstellation dieser altorientalischen Triaden lautet: große<br />

Mutter-Drache (feindlicher Bruder, alternder Gatte oder Geliebter)-<br />

Held (geliebter Sohn, Kind oder neuer Geliebter). Drache und Held<br />

stehen sich hier gegenüber entweder als feindlicher Onkel und vaterrächender<br />

Sohn (ein Hinweis auf die prekäre Situation des Avunkulats),<br />

als alternder und neuer Geliebter der großen Mutter oder böser und<br />

guter Sohn. In diesem Kontext kann der <strong>Drachenkampf</strong> auch als eine<br />

Version der Ausgestaltung der dualen Ordnung (Stammeshalbierung)<br />

verstanden werden und seine Bedeutung im mythologischen System<br />

reflektiert die Bedeutung des Dualismus in ihm, denn der <strong>Drachenkampf</strong>mythos<br />

steht nicht in jedem mythologischen System im Zentrum<br />

der Kosmogenese.<br />

Einheit androgyner Weltdrache Uroborus 1<br />

Zweiheit Drache I Drache II<br />

männlich weiblich Uroborus 2<br />

Tod Leben<br />

Dreiheit Drache große Mutter Held<br />

Vierheit Drache große Mutter Vater Sohn<br />

Drache große Mutter Held Bruder<br />

Die Dreiheiten und Vierheiten entstehen durch die weitere Halbierung<br />

der Hälften, d.h. aus der Anwendung des Dualismus auf eine seiner<br />

Hälften. Das Weibliche repräsentiert hier die ewige Schöpferkraft, also<br />

auch das, was den Tod fordert, das Männliche die Zwiespältigkeit der<br />

Individuation, des Eigenwillens, des sterblichen und individuellen Lebens,<br />

das Sterbende, Regenerierungsbedürftige. Auch dies ist ein<br />

Hinweis auf matrilineare Körperschaften und matri- oder uxorilokale<br />

Residenzregeln.<br />

8 Siehe: Lenormant bei: Daremberg / Saglio, Diction. s.v. Art. Cabiri, 1887


Das folgende Schema faßt die knappe Skizze der mythologischen Integration<br />

des <strong>Drachenkampf</strong>mythos zusammen:<br />

Die Drachen sind männlich, wenn ihre Mütter ihr menschliches Antlitz<br />

zeigen und sie werden zum Gegenpol des Helden, den er besiegt, z.B.<br />

zum feindlichen Bruder.<br />

Herausforderer Antworter<br />

Drache Held<br />

Drache Zwillinge<br />

feindlicher Bruder Bruder<br />

eifersüchtige Geliebte neuer Geliebter<br />

ihre Kinder fressende Mutter Opfer/ Held<br />

ihre Kinder fressender Vater Opfer/Held<br />

Auch jene Helden des <strong>Drachenkampf</strong>es, die in ihren Mythen nicht direkt<br />

als astrale oder metereologische Götter angesprochen werden,<br />

verweisen aber durch einzelne Attribute auf jene Funktionen: Keule,<br />

Schleuder, Speer, Pfeil etc. für Donner, Blitz und Strahl etc.<br />

Damit haben wir vorläufig einen allgemeinen Rahmen für die Zuordnung<br />

auch der <strong>Drachenkampf</strong>mythen gewonnen, in denen ein menschlicher<br />

oder anthropomorpher Held der Gegner des Drachen ist, dessen<br />

Geschlecht entsprechend seiner thematischen Konfiguration entweder<br />

weiblich oder männlich ist wie übrigens auch der Held.<br />

Ein weitergehender Vergleich sollte auch Mythen hinzuziehen, die<br />

zwar diesem Schema folgen, aber einige Elemente von ihnen variieren.<br />

So finden sich Mythen, welche die Tiere, die das Ungeheuer repräsentieren,<br />

die Schlange oder den Drachen, austauschen; ihrer symbolischen<br />

Funktion äquivalente Tiere sind: Wal, Wolf, Kuh (Ochs), Bär,<br />

Tiger, Pferd oder menschenähnliche Ungeheuer etc. In dieser Variation<br />

lassen sich dann die entsprechenden amerikanischen und sino-tibetischen<br />

Mythen zuordnen (z.B. das chinesische Bärensohn-Märchen).<br />

Dabei wird man auch auf Überlieferungen stoßen, die sich nicht auf ein<br />

Tier festlegen, sondern in ihrer Auswahl schwanken oder mehrere berücksichtigen,<br />

z.B. zwei oder drei Ungeheuertiere aufbieten, die<br />

entweder in der Rolle des Helfers oder des Herausforderers erscheinen.<br />

Die germanische Mythologie nennt neben der Midgardschlange den<br />

Fenriswolf und Urko, die Weltkuh (Weltstier). Auch der den Mond<br />

fressende Managarmr (Mondwolf) wird oft als Drache abgebildet<br />

(siehe das Nordportal der Schottenkirche (St.Jakob) zu Regensburg); in<br />

der babylonischen, ägyptischen und griechischen Mythologie sind das<br />

25


26<br />

die mit Tiamat, Apepi, Typhon etc. verwandten oder verbundenen<br />

Gottheiten in ihren verschiedenen chimärischen Gestalten.<br />

Drachentöter Drache Drachentöter Drache<br />

Marduk Tiamat Tammurath Dev<br />

Ninurta Asag Yü neunköpfiger Drache<br />

Ninurta Labbu Zhuanxu Gong Gong (Drachenflut)<br />

Bal Jamm Jamato- take Drache<br />

Anshar Drache Susanoo Schlange<br />

Assurbanipal Drache (Kind der Tiamat) Drachentöter Drache<br />

Teshup Illujanka Indra Vritra/Ahi<br />

Hupaschia Illujanka Indra Purusha<br />

Osiris Apepi/Apophis Coniraya Schlange<br />

Horus Apepi/Seth Thor Midgardschlange<br />

Amon Apophis Sigurd Fafnir<br />

Karttikeya Taraka Wolfdietrich Drache<br />

Krishna Kaliya Tristan Drache<br />

Jhw Rahab Beowulf Nightsceada<br />

Michael roter Drache Jason Drache<br />

Daniel babylon. Drache Kesar Ungeheuer<br />

St. Georg Drache Held Kar-juptas<br />

St. Beatus Drache Tiri Riesenschlange<br />

St. Adelphus Drache Tristan Drache<br />

St. Clemens Drache Beowulf Nightsceada<br />

St. Martha Tarasque Jason Drache<br />

St. Margarethe Drache Kesar Ungeheuer<br />

Gilles de Chin Drache Held Kar-juptas<br />

Zeus Typhon Tiri Riesenschlange<br />

Apoll Pythia Kanigyilak Riesenschlange<br />

Kadmos Drache (Sohn des Ares) Gott Neaunir<br />

Herakles Hesperidendrache Kind Kolomodumo<br />

Perseus Drache Kind Lulu<br />

Peleus Drache Ninguningu+Nambalia Johac<br />

Cama Azay Dahaka Schamane Nomurnggun<br />

Atar Azay Dahaka etc. etc.<br />

Feridun Azay Dahaka<br />

Eine initiationsmythische Variante ist der Bericht von Jonas im Bauche<br />

des Walfischs. Im <strong>Drachenkampf</strong> des Herakles, in dem es um Hesione<br />

geht, begibt sich der Held in den Schlund des Drachens so wie Jonas in<br />

den Bauch des Wals. Nommurnggun, welche die Kinder des Schamanen<br />

verschlang, die von ihrem Vater gerettet wurden, oder Eingana, die<br />

mit der ganzen Welt schwanger lag, die Barraiya durch seinen Speerwurf<br />

zur Geburt der Welt nötigte, oder Lulu, der die Menschheit verschlang,<br />

die ein Junge, der schon bei der Geburt erwachsen war,<br />

wieder aus dem Bauch des Ungeheuers befreite, stellen das gleiche


Motiv dar, wenn man die funktionale Äquivalenz des Wals mit den<br />

Drachen oder der Riesenschlange im Auge behält.<br />

Diese Ungeheuer können aber auch anthropomorphe Züge haben, als<br />

rasende und blindwütige, ihre Kinder fressende große Mütter (alteuropäische<br />

und altorientalische Muttergottheiten) oder Väter (Uranos, Johac<br />

etc.) erscheinen.<br />

Die Bedeutung der Hauptfiguren und ihre Attribute führen zu weiterreichenden<br />

Fragen, von denen wir einige schon mit der Erwähnung der<br />

kabirischen Gruppierung angedeutet haben. Aber auch die ganz allgemeinen<br />

Fragen der Mythologie stellen sich hier angesichts der Deutung.<br />

Reflektiert das Götterdrama kosmologisch-naturmythische Ereignisse,<br />

wenn vom Anspruch des Meeres auf die Herrschaft über die<br />

Erde die Rede ist? Reflektiert es kosmologisch-astralmythische Vorkommnisse,<br />

wenn die Planeten und der Himmel neu geschaffen werden?<br />

Wird die Androhung des Weltuntergangs und die Rettung davor<br />

als Strafe für unsittliches Verhalten dargestellt? Dienen kosmologische<br />

Tatsachen als Gleichnis einer an sich moralisch begriffenen Weltordnung<br />

(Kausalität aus Freiheit und Ernte der eigenen Saat) oder ist der<br />

Kosmos selbst sogar der Schmuck oder Glanz eines moralischen oder<br />

ethischen Prinzips (Samsara, Karma)? Spiegeln die Hierarchien und<br />

Relationen der Wesen die Struktur der Gesellschaft wieder, ihre Verwandtschafts-,<br />

Kasten- oder Ständegliederung? Projizieren sie nur ein<br />

innerseelisches Geschehen, persönliche Reifeprozesse?<br />

Um die Motive der dramatis personae richtig zu verstehen, wird man<br />

unbedingt auch auf die Sozialstrukturen der Erzähler dieser Mythen<br />

achten müssen, welche sich häufig in den Motiven der handelnden<br />

Wesen im Mythos spiegeln; denn das mythische Geschehen, das mit<br />

ihnen verbunden wird, ist meistens auch eine Bewertung seiner sozialen<br />

Beziehungen und Haltungen durch das Volk, das den Mythos erzählt.<br />

Es wird daher nicht überraschen, wenn man feststellt, daß die<br />

Verwandtschaftsrelationen der Mythen den Werten der Verwandtschaftsrelationen<br />

entsprechen, in denen die Völker leben, die sie erzählen.<br />

Die Kennzeichnung des Drachen als Mitbewerber um die<br />

Braut, als Bruder, Mutterbruder oder Vater des Helden, als gute oder<br />

böse Mutter, -Schwiegermutter, als feindlicher Nachbar, unterstreicht<br />

die besseren und schlechteren sozialen Bindungen des Helden zu den<br />

alternativen Linien seiner unilinearen und affinalen Verwandtschaft.<br />

Einige Beispiele für genealogische Relationen, in denen die Akteure<br />

des Drachkampfgeschehens erscheinen, seien hier in schematischer<br />

Kürze angedeutet (siehe die folgenden Schemata).<br />

27


28<br />

Wir skizzieren hier nur die Relationen der unmittelbar am Drachen-<br />

Br Br Jungfrau Drache Br Br ←→ Drache<br />

Mu ??? Volk ←→ Drache Mu Volk ←→ Drache<br />

Sohn Br Br<br />

Mu ??? Freund+ Held Jungfrau Drache<br />

Br Drache<br />

kampfgeschehen beteiligten Personen. Diese Spur der Informationsgewinnung<br />

führt aber nur dann zum Ziel, wenn man die Relationen<br />

aller in der Geschichte erwähnten Wesen unter dem Gesichtspunkt der<br />

Verwandtschaftsregeln der erzählenden Gruppe und ihrer Sittenregeln<br />

im Umgang mit Fremden und anderen Lebewesen verfolgt. Die verwandtschaftlichen<br />

Beziehungen der Akteure der Handlung in den einzelnen<br />

Mythen- und Märchenversionen variieren also nach den Beispielen<br />

der Schemata oben, deren Wiedergabe hier keineswegs erschöpfend<br />

ist.<br />

In den <strong>Drachenkampf</strong>versionen des Zwei-Brüder-Märchens aus der<br />

Grimmschen Sammlung erklärt das Senioritätsprinzip und das patrilineare<br />

Erbrecht die Aussetzung der Zwillings- oder Brüder-Helden, de-<br />

Va<br />

Va Va<br />

Drache Sw Sw Sw Br Drache Sw So Fr Drache<br />

Mu ← Drache<br />

Br Br Sw Held<br />

Zeichenerklärung: = gemeinsame Abstammung Br=Bruder<br />

Va= Vater<br />

= verheiratet Mu= Mutter<br />

Sw= Schwester<br />

= Filiation


en Vater der jüngere Bruder des reicheren Linienhalters und Führers<br />

des korporativen Verwandtschaftsverbandes ist. Seine Stellung erklärt,<br />

warum der Vater als jüngerer Bruder ihrem Onkel Gehorsam schuldig<br />

ist, der sogar soweit geht, daß er sie, seine Kinder, auf dessen Geheiß<br />

auszusetzen bereit ist (Im sozialen Horizont: die Segmentabspaltung<br />

von Lineages, die Auswanderung absgpaltener Stammesteile). Filiationslogisch<br />

stellt diese Einleitungsepisode die Abspaltung einer Lineage<br />

aus einem patrilinear organisierten Verwandtschaftsverband<br />

(Sippe) dar und die Abenteuer der neuen Lineages auf ihrer Suche<br />

nach Allianzpartnern und ihrem Bemühen um körperschaftliche Konsolidierung.<br />

Die ausgesetzten Brüder können ihre Frauen nicht mehr<br />

aus dem Kreise der Frauengeber ihres Vaters oder der väterlichen Lineage<br />

beziehen, und ihre Heiraten können daher auch nicht mehr die<br />

traditionellen Allianzen reproduzieren. Sie selbst sind also gezwungen,<br />

ganz neue Wege der Verbindung und Kooperation zu gehen und das<br />

einzige, was ihnen in dieser Situation ihrer Aussonderung noch geblieben<br />

ist, ist ihre brüderliche Solidarität (ein konstitutives Merkmale<br />

jeder Verwandtschaftsorganisation), welche sich aber im Märchen allen<br />

Herausforderungen gegenüber tatsächlich als gewachsen erweist.<br />

Auch dieses hier nur kurz skizzierte Deutungsschema wurde schon<br />

verschiedentlich ausprobiert, mehr oder minder glücklich und mehr<br />

oder minder möglich.<br />

29


30<br />

Über andere Referenzen der Deutungsversuche<br />

Die kosmologische Version des <strong>Drachenkampf</strong>es bezieht sich nicht nur<br />

auf die Weltflut- oder Weltbrandversionen, sondern auch auf die Darstellung<br />

der Vegetations-, Fruchtbarkeits-, Lunar- und Jahreskreiszyklen.<br />

Älter als die Fassung des Gegensatzes: anthropomorph dargestellter<br />

Held versus Drachen, sind die Versionen des Kampfes zweier Drachen<br />

im Kontext der Kosmologien, des Kampfes zwischen dem schwarzen<br />

und dem weißen Drachen, der Yara-Ungud gegen die Walamba- Ungud<br />

(respektive anderer äquivalenter Ungeheuertiere), von denen aus<br />

Nordwest-Australien, Ozeanien, China, Tibet, Süd- und Mittelamerika<br />

die meisten Versionen überliefert sind, wo aber auch die anderen Fassungen,<br />

allerdings in anderem mythologischen Kontext (Initiation, Mysterium<br />

etc.), geläufig sind. Das mexikanische Pujpatza-Märchen, die<br />

araukanische Mythe von Threngthreng und Kaikai-filu oder die<br />

Ungud- und Ingurug-Mythen der Ungarinyin, Worora, Nyigina und<br />

Unambal sind Beispiele dieses Typs.<br />

<strong>Der</strong> Kampf der zwei Drachen zeichnet den zerbrochenen und aus seinen<br />

Hälften wiederhergestellten Ring des Kosmos (siehe das alchimistische<br />

-Symbol oder das chinesische Yin-Yang-Symbol),<br />

die zyklische Wiederkehr des Lebens und Sterbens im Kosmos.<br />

Auch die Oktave kann dafür symbolisch stehen. Im Kampf dieser beiden<br />

Drachen wird der Kampf des Lebens gegen den Tod, des Lichts<br />

gegen die Finsternis, der Himmelsgötter gegen die Unterirdischen etc.<br />

geschaut, die Zerrissenheit des ehedem Einen () in seinem<br />

sich ständig selbstverzehrenden Dualismus, des Überfalls des Todes<br />

auf das Leben und der Auferstehung des Lebens aus dem Tode. Folgt<br />

man der Überlieferung des Leviticus Rabba (Wilna 1884), dann stehen<br />

auch Leviathan, das Seeungeheuer (Drache), und Behemot, das Landungeheuer,<br />

sich in einem kosmologischen Ringkampf gegenüber, in<br />

dem sie beide und der ganze Kosmos zu Tode kommen, und zwar ganz<br />

ähnlich wie Thor und die Midgardschlange in der Edda das Ragnarökr<br />

besiegeln. Dieses Bild wird dann auch variiert in der Symbolik des<br />

Griffs der Schlange nach dem Baum (Kraut, Frucht etc.), nach der<br />

Jungfrau, nach der Kostbarkeit oder dem Schatz, in derem Kontext das<br />

Eingreifen des Helden das helle Prinzip begünstigt oder am Drachen<br />

scheitert. <strong>Der</strong> Drachen steht neben dem Baum und seinen Früchten ent-


weder als Feind des Lebens, als Verführer oder Dieb, d.h. als Schatzräuber,<br />

oder als Hüter des Schatzes; dann erscheint der Held als<br />

Schatzräuber oder als Vermittler, der die Menschheit wie der Tschonguri-Spieler<br />

des georgischen Märchens durch sein wahrhaft orphisches<br />

Spiel mit dem Drachen aussöhnt.<br />

In <strong>Drachenkampf</strong>märchen dieses Typs wird die Gegnerschaft nicht<br />

absolut ausgesprochen, so daß auch der Kampf nicht bis zu seinem<br />

letzten Ende ausgefochten werden muß.<br />

Im Ring verbunden, verweisen die Schlangen aber noch auf eine ihnen<br />

übergeordnete Macht, die ihren Kampf reguliert und die kosmologische<br />

Harmonie garantiert. In der griechischen Mythologie heißt sie<br />

Schicksal (), das Elemente wie Formen und die besonderen<br />

Vermögen zuweisende Prinzip, welches das Sein in seinen festen Banden<br />

hält (Parmenides).<br />

Man kann auch einige Versionen mit bestimmten kultur- und sozialgeschichtlichen<br />

Vorgängen in Beziehung bringen. Die Götterkämpfe, die,<br />

wie Delitzsch, Winckler oder Friedrich am mesopotamischen Beispiel,<br />

Brugsch, Wallis-Budge, Erman und Sethe am ägyptischen und Samter<br />

sowie Robert Graves am griechischen Beispiel gezeigt haben, Stammes-<br />

und Reichskämpfe reflektieren und mit der Weltreich- oder "Universalstaatsbildung"<br />

(Toynbee) verknüpft werden können, sind Mythen<br />

der Hochkultur, was Frobenius wiederum in einer noch anderen, seiner<br />

kulturmorphologischen Perspektive zeigen konnte. In diesen Mythen<br />

werden alle Aspekte nicht nur astralmythisch integriert, sondern die<br />

Hierarchie der Götter folgt auch der Hierarchie der Reichs- und<br />

Gaustädte, deren Lokalgötter sie sind.<br />

Über die hauptsächlichen Vermittler der Quellen zur chinesischen Mythologie<br />

schreibt M.Soymie: "Die Schriftgelehrten aber haben stets<br />

eine offenkundige Neigung gezeigt, die Mythen zu chronologisieren<br />

und zu historisieren oder, bestenfalls, sie zur Rechtfertigung moralischer<br />

oder politischer Theorien in historische Schemata einzubauen." 9<br />

So bestätigen auch noch diese historisierten Mythen jenen völkerkundlichen<br />

Grundsatz, daß das Verhältnis der mythischen Personen die<br />

Sozialstruktur des Stammes oder Staates reproduziert, der den Mythos<br />

erzählt.<br />

Die Heldensagen der Stämme, die nicht im Ausstrahlungsbereich der<br />

Hochkulturen wohnen, begreifen den Kampf kosmo-moralisch, beziehen<br />

ihn auf Vegetation und Fruchtbarkeit ebenso wie auf die soziale<br />

9 M.Soymie, in: P.Grimal, Mythen der Völker II, Frankfurt 1977, S.262-3<br />

31


32<br />

Ordnung und Unordnung, denn sie bilden die soziale Ordnung im<br />

Bilde der Naturordnung und die Naturordnung nach dem Muster gültiger<br />

Sittlichkeit ab oder gestalten mit dem Bild des Kampfes eine Heilbringersage.<br />

Sie haben in der Regel keine umfangreiche und systematische<br />

Astronomie entwickelt, sondern beschränken sich auf die<br />

beiden Hauptgestirne und ihr jahreszeitliches Wirken im Wechselverhältnis<br />

zu einigen anderen, auffallenden Gestirnen; hier und da kommen<br />

also auch einzelne Sternbilder oder die Milchstraße inbetracht,<br />

wenn auch nicht immer im Kontext der <strong>Drachenkampf</strong>mythen.<br />

<strong>Der</strong> Held dieser Quellen stellt das in Unordnung geratene Gleichgewicht<br />

der kosmologischen Ordnung, die mit der Sozialordnung strukturell<br />

übereinstimmt, wieder her. Er bringt hier in Ordnung, was seine<br />

Stammesgenossen durch ihr eigenes Handeln, durch Unachtsamkeit<br />

dem Gesetz gegenüber, durch Verbots- oder Tabuverletzungen in Unordnung<br />

gebracht haben; deshalb überwiegen hier die kosmo-moralischen<br />

und aitiologischen Motive alle anderen. Die Naturkatastrophe an<br />

sich gibt es im Weltbild der Epoche vor der Hochkultur noch nicht,<br />

dort erscheint sie vielmehr nur als Sein für anderes (stat pro aliquid),<br />

als Symptom moralischen Fehlverhaltens, als Ergebnis der Gesetzesübertretung,<br />

natürliche, soziale und seelische Vorgänge sind Vorgänge<br />

ein und desselben Kosmos.<br />

In gewisser Hinsicht sind diese Vorstellungen auch noch in den Hochkulturmythen<br />

wiederzufinden, die schließlich die Bereitschaft der<br />

Götter, ihr Volk zum Sieg zu führen, ihrer eigenen Frömmigkeit zurechnen,<br />

oder ihren Erfolg der größeren Macht ihrer Götter.<br />

Bestimmte Attribute der Helden aus den Mythen der präneolithischen<br />

Kulturen und der neolithischen, die nicht zum Hochkulturkreis gehören,<br />

verweisen trotz ihrer spärlichen Andeutung auf die astralmythischen<br />

Versionen: so die Begründung der Möglichkeit des Übels durch<br />

den Tiefschlaf (Tod) des Helden oder durch seine Kindheit, so die Bewaffnung<br />

des Helden, der mit Vorliebe (Blitz)-Speere, (Blitz)-Bögen,<br />

(Donner)-Keulen oder (Donner)-Beile gebraucht. Auch die Götter Teshup,<br />

Zeus, Odin, Ukko, Perun, Wotan, Ahura Mazda, Marduk, Seth,<br />

Shiva, Huitzilopochtli etc. werden mit Blitzen, Blitzpfeilen und Blitzspeeren<br />

in der Hand dargestellt. Die Speere, Keulen und Quarzkristalle<br />

der Helden der Pygmäen, Basuto, Massai, Tataren, Kombo, Djanan,<br />

Ungarinyin oder Nyigina etc. scheinen sie mit diesen Göttern zumindest<br />

im Hinblick auf die Ausrüstung als dem symbolischen Träger<br />

der astralmythischen Attribute in Beziehung zu bringen, ebenso wie<br />

die Keulen der belorussischen Märchen, die auf die Donnerattribute


der entsprechenden Götter verweisen. Solche Übereinstimmungen<br />

sprechen aber nicht zuerst für Entlehnungen, sondern für die epochalen<br />

Neubewertungen und Neuinterpretationen des älteren Mythengutes,<br />

das bei Wildbeutern und archaischen Hackbauern häufig noch in seinen<br />

ursprünglichsten Fassungen greifbar ist.<br />

In der Wildbeuter- und Hackbauernkultur variieren ganz allgemein<br />

zwei mythologische Begründungen der kosmologischen Ordnung, die<br />

sich an der sozialen Ordnung der Sippe (Clan, Lineage, etc) oder an<br />

dem Konzept der dualen Organisation (soziale wie kulturelle Hälftenteilungen)<br />

orientieren: "Sippe sind solche unechten Verwandtschaftsgruppen,<br />

welche die in ihnen zusammengefaßten echten Verwandtschaftskegel<br />

an einen geschlossenen „Schöpfungsakt“ fixieren. Dual-<br />

Ordnungen sind solche unechten Verwandtschaftsgruppen, welche die<br />

in ihnen zusammengefaßten echten Abstammungskegel an einen in<br />

zwei komplementäre Hälften aufgeteilten "Schöpfungsakt" fixieren." 10<br />

Diese mythologischen Konzeptionen, Traditionen und die ihnen zugrundeliegenden<br />

sozialen Ordnungen überleben häufig den Kulturwandel,<br />

durch den die früheren Stadien und Ordnungsmodelle (ihrer<br />

Differenz zur Gegenwart wegen) erst die genuin mythologischen Weihen<br />

empfangen. Aber auch deren Fortsetzung kommt unter den veränderten<br />

Bedingungen vor mit einer auf die gegenwärtigen Verhältnisse<br />

abgestimmten Akzentverschiebung. Auch deren Angleichung<br />

reflektiert ihre Integration in Systeme, die sie mehr oder minder deutlich<br />

nach ihren leitenden Strukturen umdeuten.<br />

Auffallend ist der Dualismus einiger altorientalischer und aller altgriechischen<br />

Mysterienmythologien, die im Gegensatz zu der genealogischen<br />

Ordnung des olympischen Systems stehen, das selber nur schwer<br />

das andere Konzept verdrängen konnte (siehe: Giganten, Titanen,<br />

Kabiren etc.). Hier, wo verschiedene Völker mit unterschiedlichster<br />

verwandtschaftsrechtlicher Organisation (verschiedene Deszendenz-,<br />

Residenz- und Heiratssysteme) und religiöser Tradition im Verlaufe<br />

dreier Völkerwanderungen aufeinandergestoßen waren und integriert<br />

werden mußten, was keineswegs überall in gleicher Weise geschah,<br />

lohnt es sich allerdings den Entlehnungen und ihren Motiven nachzugehen,<br />

da sie historisch, d.h. mit Rücksicht auf andere Quellen, z.T.<br />

noch greifbar sind.<br />

Die Mythen und Märchen sind grundsätzlich nach den verschiedensten<br />

Schlüsseln interpretierbar und können mit ihnen allen gleichermaßen<br />

10 C.A.Schmitz, Grundformen der Verwandtschaft, Basel 1964, S.99<br />

33


34<br />

interpretiert werden. Anthropologische, psychologische, ethische, soziale,<br />

naturmythische, astral-kosmologische, kultgeometrisch und<br />

arithmetisch-kosmologische und mystische Verschlüsselungen korrespondieren<br />

miteinander oder ergänzen einander. Im Einzelfall liegt die<br />

Lesung nach dem einen oder anderen Schlüssel näher, aber wirklich<br />

ausgeschlossen werden darf keiner. <strong>Der</strong> betrachtete Stoff und der<br />

Betrachter entscheiden darüber, mit welchen Schlüsseln die Botschaft<br />

dechiffriert werden mag.


II<br />

Die germanische Mythe neben der Märchenversion und anderen<br />

Traditionen<br />

Die Völsungensage verbindet das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit dem Raub<br />

des metallurgischen Geheimnisses. Lokis List bringt die Asen in den<br />

Besitz des roten Goldes (Schatz) und des Ringes der Macht, mit dem<br />

sie allein sich aus der Verlegenheit gegenüber dem Riesen Hreidmar<br />

und seinen Söhnen Regin und Fafnir,<br />

in die sie Loki gleichfalls brachte, befreien<br />

können. Aber der Fluch des<br />

Hechtes, des Zwergen Andwari<br />

(siehe: Otter und Hecht; Edda), ruht<br />

auf dem Ring, der jedem, der ihn<br />

trägt, Verderben bringt. Da die Götter<br />

beides, Ring und Schatz, als Lösegeld<br />

sich aneignen, das sie Hreidmar<br />

auszahlen müssen, mischt sich zudem<br />

Lokis Schadenfreude in diesen Fluch.<br />

So wechseln Schatz und Ring von den schmiedekundigen Zwergen<br />

über die Götter zu den Riesen, die gleichfalls schmiedekundig und teilweise<br />

sogar als Zwerge (Ambivalenz) dargestellt werden, und mit dem<br />

Ring geht auch sein Fluch weiter.<br />

Fafnir tötet seinen Vater Hreidmar aus Besitzgier und macht Regin und<br />

seinen Schwestern die Ansprüche auf den Ring erfolgreich streitig. In<br />

der Gestalt eines Drachen bewacht er den Ring und seinen Schatz auf<br />

der Gnitaheide. Das genealogische Verhältnis der Drachenverwandtschaft<br />

in dieser Überlieferung skizziert das folgende Schema.<br />

Hreidmar<br />

Sigurd Fafnir Regin<br />

←→<br />

Held Drache Schmied<br />

Inzestsproß Vatermörder feindlicher Bruder<br />

Regin erscheint unterdessen in Hjalpareks Reich als Schmied des Herrschers,<br />

in dessen Lehre Sigurd, der Völsungenheld, eingetreten ist. Metallurgie,<br />

Schmiedekunst und Drachenhaftigkeit werden auch in dieser<br />

Sage als tellurische Metaphern miteinander in eine Beziehung gesetzt,<br />

35


36<br />

die in der kabirischen Mythologie aufgeklärt wird, in der nämlich die<br />

Söhne der großen und unterirdischen Mutter auch die Erfinder der<br />

Schmiedekunst sind.<br />

Eine andere Sage verbürgt Sigurds heroische Abkunft, die ihm auch<br />

hier als Sproß eines Inzests ungeschmälert zukommt, denn der Inzest<br />

ist und bleibt in der Mythologie und anders als in der modernen Gegenwart<br />

ein Vorrecht der Götter und Helden. Die Zeichnung des Gegensatzes<br />

zwischen dem Herausforderer und dem Helden, der die Herausforderung<br />

annimmt, durch den Gegensatz zwischen Vatermord<br />

(Fafnir) und Inzest (Sigurd) ist nicht nur auffallend, sondern auch lehrreich.<br />

Ihren Konsequenzen entsprechend gelten beide Taten als das<br />

gleiche Vergehen; denn wer Inzest begeht, der tötet auch seine Eltern:<br />

realiter als Bestätigung fehlender Identifizierung und auch in einem<br />

übertragenen Sinne duch die Verweigerung der üblichen Heiratsallianz<br />

(Kündigung der Allianz, welche die Eltern mit ihrer Ehe besiegelt haben).<br />

Von seinen Eltern erbt der Sproß ihres Vergehens auch das<br />

Makel dieses Vergehens, er ist das leibhaft gewordene Zeichen ihres<br />

Vergehens, das Sigurd auch nach dem homöopathischen Grundsatz,<br />

nachdem das, was krank macht, auch heilt, als den angemessenen Gegner<br />

Fafnirs ausweist. Die Lehrzeit bei Regin, dem Bruder Fafnirs, erweist<br />

sich als Vorbereitung auf die große Prüfung oder als die Einleitung<br />

einer Verführung, denn Regin, der ihn erzieht, bringt ihn auch<br />

dazu, den Drachen zu töten. Gripirs Vision skizziert die Szene des Geschehens:<br />

11 Allein erschlägst du 13 Finden wirst du<br />

den schillernden Wurm, Fafnirs Lager,<br />

der gierig liegt auf der Gnitaheide; heben sollst du<br />

gar bald bringst du den Hort, den reichen.<br />

beiden den Tod, Granis Rücken<br />

Regin und Fafnir- mit Gold beladen<br />

ich rede Wahrheit... zu Gjuki kommst du,<br />

kampfstolzer Held. 11<br />

Nach dem Sieg über den Drachen kann Sigurd auch die Vogelsprache<br />

verstehen; denn die Drachennatur ist das Versteck des Geistes, den<br />

seine Tötung befreit, und zu des Drachen Schätzen gehören auch seine<br />

Künste. Mit der Aufnahme des Drachenwesens geht auch dessen<br />

Klugheit auf den Helden über. Die Vögel warnen ihn vor Regin, den er<br />

11 F.Genzmer, Die Edda, Köln, Düsseldorf 1981, S.271-2


daraufhin auch tötet, und bringen ihn zu Brunhild, der Walküre, die<br />

Sigurd aus ihrem "Dornröschenschlaf" weckt. Nachdem er mit Brunhild<br />

verkehrt hat, überreicht Sigurd ihr als Pfand seiner Treue, Andwaris<br />

Ring, und besiegelt mit ihm ein Versprechen, das er später brechen<br />

und das ihm deshalb auch zum Verhängnis werden wird.<br />

Philostratus berichtete, daß die Einwohner Indiens und Arabiens Herz<br />

und Leber der Schlange essen, um die Sprache aller Tiere verstehen zu<br />

lernen. Ähnlich erzählt das Märchen "Die weiße Schlange" (Grimm<br />

Nr.60), daß der Genuß ihres Schlangenfleisches zum Verständnis der<br />

Tiersprache führt. Beide Geschichten weisen die Schlangennatur als<br />

Materie aller überpflanzlichen Natur und Hüter ihrer Weisheit aus. Zu<br />

dieser Nachricht paßt der Hinweis des Epiphanias, daß die Ophiten die<br />

Schlange verehrten, weil sie den ersten Menschen die Mysterien gab.<br />

Beide Hinweise erklären also auch, warum Sigurd nach Aneignung der<br />

Drachenkraft die Sprache der Vögel verstehen lernte.<br />

Nach Brunhilds Erlösung erzählt die Sage die Gjukungen-Niflungen-<br />

Episode. Sigurd heiratet nicht Brunhild sondern Gudrun und hilft Gunnar<br />

bei Brunhild, obwohl er in deren Schuld steht, erfolgreich zu werben,<br />

die nun zu Attlis Tochter geworden ist. Von Gudrun erfährt Brunhild<br />

indirekt, daß Sigurd der Mann ist, der eigentlich für sie bestimmt<br />

gewesen sei und plant daraufhin ihre Rache, durch die Sigurd schließlich<br />

umkommt. Als Sühne ihrer Tat folgt sie dann Sigurd in den Tod.<br />

<strong>Der</strong> Ring kommt auf diese Weise zu Gunnar und Hogni, aber auch<br />

Attli will ihn unbedingt erwerben, und macht sein Recht geltend, weil<br />

der Ring ja seiner Tochter gehörte. Scheinheilig lädt Attli beide, Gunnar<br />

und Hogni, zu sich ein, aber bevor Gunnar und Hogni zu Attli reisen,<br />

versenken sie den Schatz und den Ring im Rhein. Attli bringt<br />

später beide nach grausamer Folter um.<br />

37


38<br />

<strong>Der</strong> Ring aus Metall<br />

Die Kupfer-Bronze (Schatz-Ring) erscheint in dieser Sage in der Bedeutung<br />

und Funktion, die in den anderen Mythen dem Wasser oder<br />

Feuer (Bedrohung kosmologischen Ausmaßes oder Kräfte kosmologischer<br />

Potenz) zukommt. <strong>Der</strong> Drache, der hier der Schatzwächter ist,<br />

bestätigt diese Gleichung, aber die Bedeutung des Schatzes hat sich, im<br />

Vergleich zu anderen Schatzversionen, in sein Gegenteil verwandelt,<br />

denn er trägt hier die Drachenzüge seines Wächters, er ist verflucht.<br />

Das Gleichnis des Ringes steht in Metathese: der Ring wird für jeden,<br />

der ihn unrechtmäßig trägt oder an sich nimmt, zum Ausdruck dieses<br />

Unrechts, der Zerissenheit, der Krise, des Konflikts, des Ungleichgewichts,<br />

des Vertragsbruchs, zum Zeichen der Kontinuität des Übels.<br />

Weil der Ring aus einem besonderen Metall ist, symbolisiert er nicht<br />

mehr die Verbindung und den Bund, sondern die Habgier, die sich seiner<br />

bemächtigen will. <strong>Der</strong> Stoff der Gier, im Metall versinnbildlicht,<br />

wird zum Ring geschmiedet, d.h. zu jener Kraft, die von nun an die<br />

Welt zusammenhält: dem Willen zur Macht. Ein pessimistisches<br />

Gleichnis für eine auf die civitas diaboli reduzierte Natur.<br />

äquivalente Gefahren:<br />

Sintflut<br />

Weltbrand<br />

Entvölkerung<br />

Metall<br />

Schmuck<br />

Erkenntnis<br />

etc.<br />

Wurden Flut und Brand, Typhon, Tiamat oder Azay Dahaka als makrokosmische,<br />

übermenschliche Bedrohung der Welt gezeichnet, so erscheint<br />

in dem Metall, in dem Schatz und dem Ring, der Inbegriff<br />

niedriger Begierde und des Machstrebens, die Negation jeder Transzendenz,<br />

so zeichnet die Sage in dem Ring das Siegel des Thanatos als<br />

eine dem Menschen tiefinnerliche Bedrohung in der Rolle jener zerstörerischen<br />

und alles gefährdenden Herausforderung durch den Machtwillen<br />

und die Gier.<br />

Mit dem Besitzwechsel von den Vorzeitwesen zu den Menschen<br />

erscheint die Bronzezeit. Spielen auch die Götter eine katalysierende


Rolle, sie selbst bleiben vorerst verschont, denn zu ihrem Glück<br />

forderte Hreidmar als Lösegeld alles, d.h. auch den Ring.<br />

Die Versuchung, den Ring, der immer neue Schätze gab, zu behalten,<br />

war auch bei Odin groß. Diese Eigenschaft des Ringes, immer neue<br />

Reichtümer hervorzubringen, spielt auf das metallurgische Geheimnis<br />

an, auf die Fähigkeit und Kenntnis der Veredlung der Rohstoffe:<br />

Kupfer und Eisen, und auf die Kenntnis der Verarbeitung der Edelmetalle.<br />

Ein metallener Ring ist immer das Werkstück eines Schmiedes. Das<br />

metallurgische Wissen wird vermittelt durch den Hinweis auf das<br />

Werkstück. Erst dieses Wissen, erst der Besitz dieser Kunst bieten die<br />

Grundlage der Macht, die dieser Ring verspricht und erklären das<br />

Ansehen oder die Verachtung der Schmiede. Als Vermittler machtsteigernder<br />

Mittel werden sie verehrt, aber als Erzeuger der todbringenden<br />

Waffen oder als Werker im Schmutz (Unreinheit) werden sie<br />

geächtet oder verflucht. <strong>Der</strong> Hauptverwendungszweck ihrer Produkte<br />

bestimmt den Status der Schmiede in der jeweiligen Kultur und der<br />

durch sie geprägten Gesellschaft.<br />

Obwohl die germanische Sage nicht direkt von der Götterdämmerung<br />

spricht, weist doch alles auf sie hin; den Göttern sind jedenfalls die<br />

Hände gebunden. Hinnehmen müssen sie auch, was sonst noch um des<br />

Ringes willen geschieht, da ihr Schicksal allgemein mit dem der<br />

Menschen verbunden ist.<br />

<strong>Der</strong> menschliche Held verfehlt in dieser Sage seine Mission. Genauso<br />

wie der Ring die Riesen vernichtet, kommt auch der Held um, denn um<br />

seiner eigenen Interessen willen bediente er sich der gleichen listigen<br />

Machenschaften, die das Verhängnis, das er eigentlich abwenden sollte,<br />

erst heraufbeschworen haben.<br />

<strong>Der</strong> Schatz (Ring) und der Held werden von der Heldensage von Anfang<br />

an in jene Korrespondenz gebracht, die das Scheitern des Helden<br />

aus der Verwandlung des Wertes des Schatzes in sein Gegenteil erklärt,<br />

auf dessen Gewinn ja die ganze Genese des Helden aufgebaut ist,<br />

d.h. also auf dessen Untergang. So vermag zwar der Üble den Üblen zu<br />

besiegen, aber aus und von dem Übel kann solange nichts Gutes erstehen,<br />

wie das Üble nicht durch Unschuld und Reinheit geläutert wurde.<br />

Das Metall hat endgültig den alten kosmologischen Gleichklang vernichtet.<br />

Nicht mehr die Gewalten der Natur und der Unsterblichen<br />

beherrschen das menschliche Treiben, sondern jene Gier und Macht,<br />

die das durch Menschenhand verwandelte Metall in der Menschheitsgeschichte<br />

entfesselt hat. Die Schmiede und die Unterirdischen werden<br />

39


40<br />

nicht mehr als die Teuflischen, nach dem Begriff der neuen Lehre<br />

(Christentum), bekämpft und ihre Kunst nicht mehr als schwarzes<br />

Blendwerk verteufelt, denn allzu offensichtlich war der praktische<br />

Nutzen ihrer Künste auch für die Vertreter der neuen Lehre.<br />

Die Psychoanalyse erkennt in diesem Bilde die destruktiven Kräfte des<br />

von ihr (?) entdeckten Todestriebes wieder.<br />

Die ältere Sage, das Märchen und der Mythos zeichnen die Rolle des<br />

Helden, seine Mission im kosmologischen Streit, noch zuversichtlich:<br />

dem Held gelingt, wozu ihn die Götter oder das Schicksal auserkoren<br />

haben; seine Rolle ist astral-, vegetations-, jahreskreismythisch, genealogisch<br />

oder kosmomoralisch (siehe Chupaschija, Atar und Mesang<br />

Jaru Khate oder die Märchenhelden, die wie Jamato take >Amano<br />

Mura Kumo< das Land von einem achtköpfigen Drachen retten. <strong>Der</strong><br />

Drachen der japanischen Mythe kam jährlich in das unglückliche<br />

Reich und verwüstete dort alles. Man konnte ihn nur durch die Übergabe<br />

einer jungen, schönen Fürstentochter besänftigen. Jamato take besiegte<br />

den Drachen mit der Hilfe seines Freundes Koo Kano Samuroo.<br />

Das japanische Beispiel demonstriert hier auch die weite Verbreitung<br />

dieses Mythologems, das nach Heine-Geldern aber mit der pontischen<br />

Wanderung dorthin gelangt ist, mit der neolitisch-bronzezeitlichen Expansion<br />

der Steppenreiterkultur).<br />

Die Märchen, Sagen und Mythen, in denen der Schatz, den der Drache<br />

hütet oder der ihm geopfert wird, eine Jungfrau ist, eine Königstochter<br />

auch noch, die der Held befreit und heiratet, zeichnen deutlich den restaurativen<br />

Charakter seiner Aufgabe mit der matrilokalen Residenzregel,<br />

die seine Heirat ausnahmsweise charakterisiert. <strong>Der</strong> Held ist ja hier<br />

der Fremde, der mit seiner Heldentat nicht nur das Recht der Einheirat<br />

erwirbt (oder im Falle patrilokaler Residenzregeln die Braut raubt),<br />

sondern zugleich auch der Begründer einer neuen patrilinearen<br />

Dynastie und Filiationsregel, die sich seit seiner Heldentat auf ihn als<br />

Ahnherren bezieht. Reflektiert der <strong>Drachenkampf</strong> z.B. das Ende der<br />

matrilinearen Organision einer Gesellschaft, dann schafft der Held vor<br />

allem einen bezeichnenden Opferbrauch ab, nämlich das Opfer der<br />

Priesterin des Mutterkultes, das als patriarchales Äquivalent des rituellen<br />

Königsmordes erscheint. Auch in diesem Falle beziehen sich<br />

seine Nachkommen nach der Heldentat auf ihn patrilinear. <strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong><br />

beendet eine autochthone Genealogie, die die mütterlichen<br />

Rechte betont und setzt mit dem Sieg über das Siegel dieser Autochthonie,<br />

dem Wächter ihres Geheimnisses und ihrer Macht, den Helden,<br />

der sich mit der Heirat der Jungfrau und Erbin des Schatzes auch der


chthonischen Mächte versichert. Im Kontext matri-patrilokaler Residenzregeln<br />

(Sonderform der virilokalen Residenzregel) erscheint sowohl<br />

der Brauch des Brautdienstes als auch der Schwiegersohnprüfung,<br />

als deren gesteigerte Alternative auch der <strong>Drachenkampf</strong> oder die<br />

Prüfung der Sphinx (Rätsel) gelten dürfen, dann allerdings auch ohne<br />

Wechsel der Deszendenzregeln und angestammter Traditionen als<br />

Prüfungsmythos.<br />

Die germanische Heldensage beurteilt die Bedeutung der Metallzeit<br />

und seine Eroberungskriege dagegen in seiner dämonischen und unheilvollen<br />

Wirkung, der auch der Held nicht mehr gewachsen ist, sie<br />

verarbeitet die "Heldendämmerung" als Zeitsignatur. Sie schaut die<br />

Beschleunigung der Kontakte und Verbindungen zwischen den Kulturen<br />

der Völkerwanderungszeit, die das Metall provoziert hatte, sie<br />

schaut die früher unvorstellbar gewesene Ausdehnung der Reisewege,<br />

der Raub- und Expeditionszüge, die stets auch immer wieder durch die<br />

nackte Gier und Raublust veranlaßt worden ist, wenngleich die Not die<br />

Völker auf die Wanderung schickte. Die germanische Heldensage beurteilte<br />

einen historischen Prozeß, der mit der Bronzezeit erkennbare<br />

Züge angenommen hat und bis heute andauert; sie schaute im Schatz<br />

und Ring das Gegenbild zur beschützten oder bewachten Jungfrau,<br />

eine ungezügeltes Verlangen stimulierende oder weckende Lockung,<br />

den Aufreiz zu Übermüt und Wagnis, aber auch zum unmäßigen Genuß<br />

animalischer Lüste.<br />

Dem göttlichen Kosmos droht hier keine Gefahr mehr von den alten<br />

Drachen, die immer auch die Repräsentanten des nun dämonisierten<br />

Dunklen waren, keine Gefahr von den vorweltlichen Katastrophen und<br />

Herausforderungen, die Gefahr erscheint vielmehr innerhalb der neuen<br />

Ordnung selbst, die mit der Metallzeit die Kosmologie verwandelte<br />

und alle Sitten immer schneller preisgab an den Fortschritt und schließlich<br />

auch die Götter.<br />

Auch der Argonautenfahrt geht eine fluchbeladene Geschichte voraus,<br />

die in den gleichen Kontext verweist. Phrixus opferte den Widder, dem<br />

er sein Leben verdankte, dem laphytischen Zeus, und schenkte das goldene<br />

Vließ dem Vater seiner Frau, dem König von Kolchis, als diese<br />

ihm einen Sohn gebar. <strong>Der</strong> König der Kolchier nagelte das Vließ an eine<br />

Eiche (!), die von einem schlaflosen Drachen im heiligen Hain des<br />

Ares gehütet wurde. Auch der Raub dieses Vließes ist mit dem Sieg<br />

über den Wächter-Drachen und dem Gewinn einer königlichen Jungfrau<br />

verbunden, die aber hier gleichfalls nur als ein Motiv der Begierde<br />

41


42<br />

und als Zugabe zum Vließ erscheint, das in dieser Version als der<br />

eigentliche Zweck des Abenteuers gilt.<br />

Während Sigurd scheinbar noch vor der Möglichkeit der Wahl der Erlösung<br />

von Brunhild oder dem Verzicht auf den Ring und seinen Versprechungen<br />

steht (die Psychoanalyse diagnostiziert hier die Angst des<br />

jungen Mannes vor der Frau), d.h. als Held am Scheidewege seiner Bestimmung,<br />

wenigstens der Andeutung der Sage nach, gewinnt Jason<br />

das Vließ zwar auch nur durch die Hilfe der Jungfrau, aber die Alternative<br />

zwischen dem Besitz des Vließes und der Befreiung der Jungfrau<br />

Αιητες Ειδυα<br />

Drache Vließ Μεδεα Ιασον<br />

ist in der griechischen<br />

Mythe nicht mehr angelegt;<br />

denn die Jungfrau ist<br />

die Belohnung für die<br />

bestandene Prüfung.<br />

Jungfrau oder Ring und<br />

Jungfrau oder Vließ (siehe Phrixus) heißen die Alternativen für die<br />

vegetationsmythische und autochthon-kultische Wiederherstellung des<br />

neolithischen Gleichgewichts oder für die unberechenbaren Abenteuer<br />

der Heldenzeit. Das goldene Vließ wie der metallene Ring stehen für<br />

ein über die Beschränkung auf die Stammeswelt hinausgehendes Interesse<br />

an der Welt und an ihren in der Fremde winkenden Schätzen,<br />

kurz: sie stehen für die gefährliche und eroberungsbereite Neugier und<br />

den Mut des Wagnisses, für Tugenden, die vor allem wandernde<br />

Völker oder multi-ethnische Gesellschaften brauchen.<br />

Das Märchen bewahrt dagegen mit dem<br />

Jungfrauenopfer für den Drachen, das<br />

der Held vereitelt, ein älteres Motiv als<br />

jene Fassung der Völsungensage oder<br />

der Rahmenhandlung der Argonautensage.<br />

<strong>Der</strong> Held erscheint als der Garant<br />

der Wiedergeburt des Lebens, der Bestätigung<br />

des Gesetzes im Jahreskreis, im<br />

Vegetationszyklus, in der Fortdauer des<br />

Volkes. Er wird, obwohl herausragend,<br />

doch zurückgenommen als Glied in der Kette der Geschlechterfolge<br />

des Lebens und der Dauer der Wiederkehr dessen, was sich durch sein<br />

Handeln als das Immergleiche offenbart. Er ist in den ursprünglichsten<br />

und ältesten Versionen das Opfer, das der Drache (die böse Mutter, die<br />

eifersüchtige Geliebte oder der feindliche Bruder) besiegt, das aber<br />

durch die Hilfe seiner trauernden Mutter, Gattin und Geliebten in einen


Sieg verwandelt wird, der das Geheimnis der ältesten Mysterien bedeutet,<br />

das gleichfalls von einem Drachen bewacht wurde. Die mystischen<br />

Versionen haben diese Sicht am reinsten bewahrt, allerdings in<br />

der Reflexion des Übergangs vom unwissenden Kind zum initiierten<br />

Stammesmitglied, vom Toren zum Erwachten. Genealogisch ist dieser<br />

Held der Sohn des Volkes, das seine Mutter ist, die ihn nur opfert, um<br />

durch seine Nachkommen über den Tod zu triumphieren. Er kann aber<br />

auch als der Neubeginn einer patrilinearen Verwandtschaftsordnung<br />

erscheinen, also als der Grund für den Hiatus einer autochthonen Genealogie<br />

in der Fremde, die er aber durch die Heirat der Jungfrau nach<br />

den neuen Zuschreibungsregeln wiederherstellt und damit das Ereignis<br />

mit der Überlieferung und der autochthonen Genealogie unter den<br />

neuen Vorzeichen aussöhnt.<br />

Ist die Mutter des Drachen menschlich gezeichnet, dann ist der Drache<br />

ihr Sohn, also männlich. Ist sie selber der Drache, der besiegt werden<br />

muß, dann streiten sich ihretwegen feindliche Brüder oder Nachkommen<br />

verfeindeter Stämme ohne Schlangenmerkmale oder zwei dynastische<br />

Götterlinien um ihre Position.<br />

<strong>Der</strong> Held in den Erzählungen mit<br />

einem derartigen Kontext erscheint<br />

deshalb auch nie tragisch,<br />

sondern als ein Auserwählter des<br />

Schicksals, der seine Bestimmung<br />

erfüllt, der die Prüfung bei der<br />

Überschreitung der Schwelle<br />

besteht.<br />

Die Jungfrau und der Schatz<br />

(Ring) sind symbolische Gleichungen<br />

für die "Kostbarkeit", die<br />

der Drache hütet oder verweigert, sie sind beides Symbole, die auf den<br />

Drachen als große Mutter positiv oder negativ bezogen werden können.<br />

Die Jungfrau als helfende Geliebte oder Gattin der orientalischen<br />

Mythen, die noch in Medeas Rolle angedeutet wird, stellt in den Mythen<br />

matrilinearer Völker nur eine Form der großen Mutter selber dar,<br />

die das Opfer des Helden, des Gatten oder Geliebten fordert und trotz<br />

der mildernden Haltung ihrer Töchter oder ihrer eigenen positiven Erscheinungen<br />

die bedrohlichen Züge bewahrt, die der patrilinear umgedeutete<br />

Mythos abspaltend überzeichnet und durch den Sieg seines<br />

Helden endlich gebannt weiß. Jungfrau ist die große Mutter der Mysterien<br />

nicht wegen ihrer patriarchal unterstellten Keuschheit, sondern<br />

43


44<br />

kraft ihrer Autonomie gegenüber allem Männlichen; aus dem gleichen<br />

Grunde ist sie auch Hetäre.<br />

Mit der Jungfrau und dem Schatz wird der patrilineare Held Inhaber<br />

des mütterlichen Geheimnisses, das er der väterlichen Autorität unterwirft,<br />

aber im Märchen wie im Mythos ist die Mäßigung des Begehrens,<br />

ja seine völlige Bezwingung, die Voraussetzung der Erlösung der<br />

Jungfrau oder des Schatzes, während die Hebung des Nibelungenschatzes<br />

und der Ringbesitz der Heldensage unzügelbare Gewalten entfesselt,<br />

er zwar auch das Begehren erzeugt, aber es vor allem mit der<br />

aggressiven Kraft destruktiver Triebe ausstattet, weil das von ihm<br />

wachgerufene Begehren sich auf etwas richtet, das dem Helden nicht<br />

zusteht (gestohlener Schatz, den er selbst auch wieder stehlen will),<br />

also die ungezügelte Gier herausfordert, die sich leicht verleiten läßt.<br />

Auch hier hätte Mäßigung zum wahren Sieg geführt, wie in den Versionen,<br />

die durch diese Version also mit dem Hinweis kommentiert wird,<br />

daß der Held dieser Epoche die Gabe der Mäßigung oder Besonnenheit<br />

verloren habe und deshalb in sein Verderben stürzt. <strong>Der</strong> Held ist von<br />

seiner sittlichen Reife her der Herausforderung des Schatzes nicht<br />

gwachsen und wird als gescheiterter Held auch für seine Gefolgschaft<br />

zum Türöffner des Verderbens.<br />

Das Metall und seine Zeit werden in der Völsungensage zum Symbol<br />

der Todesmächte und ihrer Herrschaft. A.J.Toynbee kommentiert als<br />

Historiker: "Die Erfindung der Metallverarbeitung legte die Saat der<br />

Klassenunterschiede und Klassenkämpfe." 12<br />

Auch die etymologischen Gleichungen der entsprechenden Worte deuten<br />

die gleichen Zusammenhänge an: idg. reudh für rot, lat. raud(us)<br />

für Metall, altsl. rud(a) für Metall, an. raudhe für Roterz und sumerisch<br />

(u)rud für Kupfer vermitteln den Symbolwert des "roten Goldes"<br />

der Sage (Rot-Kupfer-Metall) und den Weg des Kupfers als Rohstoff<br />

der Metallverarbeitung.<br />

Ahd. smid(a) für Metall, smeid(ar) für Metallkünstler gehören zu<br />

(sch)mett(ern), >mett< und (sch)meiß(en), welche selber wieder auf<br />

aisl. meitil für Meißel, gr. matall(on) für Metall, aram. Matl(a) für<br />

Stange, hebr. Metil für geschmiedeter Stab und ägypt. Madh(at) für<br />

Meißel verweisen. Mit diesen Wörtern sind auch (Ge)schmeid(e) und<br />

hebr. samid für Armband zu verbinden und diese wieder mit Schmutz<br />

und Schmant (Fett), womit der Glanz des Geschmeides umschrieben<br />

wird. Glanz und Geschmeide, d.h. Schmuck, werden auch in der ur-<br />

12 A.J.Toynbee, Menschheit und Mutter Erde, Frankfurt, Berlin, Wien 1982, S.48


sprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes aufeinander<br />

bezogen, der Kosmos als das Geschmeide oder der Glanz des göttlichen<br />

Seins in seinem schicksalhaften Ring vorgestellt, aus dem sich<br />

alles Seiende erhält, und dieser Ring als der gleichermaßen.<br />

In der griechischen Kosmologie ist die Erde oder Physis () als<br />

Mitte zwischen Olymp und Hades, zwischen Himmel und Unterwelt<br />

die Kostbarkeit, um welche die Kräfte oder Wesenheiten jener beiden<br />

Reiche über und unter ihr ringen oder streiten, weshalb Heraklit auch<br />

den als den Vater aller Dinge begreifen konnte, und erst das<br />

Ende dieses Streites entscheidet, ob die Physis in der himmlischen<br />

Vollendung erscheinen wird oder in der unterweltlichen Verbergung<br />

versteckt werden wird.<br />

Auch lat. Mont- und Münze, lat. monet(a), hebr. Man(e) und gr.<br />

Min(a) sind hier zu berücksichtigen. In der Edda hieß Men die Halskette,<br />

was uns wieder zu dem Berg zurückführt, aus dem das alles ist.<br />

<strong>Der</strong> Berg der Metalle ist im alten Orient die große Mutter selbst und<br />

die göttlichen Metallkünstler, die Schmiede: Ptah, Kedalion, Hephaistos.<br />

Kelmis, Damnameneus, Akmon etc., sind ihre Kinder, die Hephaisten,<br />

Kabiren, Telchinen oder Vulkanier. Diese unterirdischen Kinder,<br />

die aus dem Schoße der Mutter ihre Schätze hervorholen, unterstreichen<br />

das Eigentumsrecht der großen Mutter, der Mutter Erde, die auch<br />

Gaia<br />

Orakel Python Apollon (Olympier)<br />

Schatz Drache Held<br />

45<br />

der große Weltdrache<br />

ist. In der matrilinear<br />

geprägten Weltanschauung<br />

besitzt dieser Weltdrache<br />

noch nicht jene<br />

negativen Züge, die er in der patrilinear umgestalteten Göttergenealogie<br />

erhält. In der theogonisch-kosmologischen Mythe wird der<br />

weibliche Drache zum Inbegriff des Bedrohlichen, des Chaos, der den<br />

Kosmos angreift, aber auch zum Gefolgsmann ihres Prinzips, zum<br />

männlichen Schatzhüterdrachen, der die weiblichen Schätze und<br />

Geheimnisse hütet, d.h. zu einem ihrer sterblichen Vasallen, denen der<br />

Glanz des Gatten, Sohnes und Geliebten der großen Mutter vollends<br />

abhanden gekommen ist. Ein Beispiel ist der Drache Python, der den<br />

Platz der Gaia bewachte und von Apoll besiegt wurde.<br />

In der Heldensage rächt sich der besiegte theogonisch-kosmologische<br />

Drache, indem er die Chaosdrohung durch seine Lockmittel oder<br />

Schätze, die er verliert, realisiert, indem sie den männlichen Hel-


46<br />

denverstand in seine Besitz- und Machtgier verstricken, was man heute<br />

mit der Fusion von Eros und Todestriebes wieder zu begreifen beginnt.<br />

So straft der besiegte Drache noch in seinem Untergange jene Lügen,<br />

die ihn als Ungeheuer und als Gefahr schlechthin negativ gedeutet wissen<br />

wollen, weil erst nach seinem Tode deutlich zu werden beginnt,<br />

wovor dieser Wächter den Kosmos wirklich bewahrt hat. Daß der<br />

Drache ursprünglich als Symbol der Weisheit begriffen wurde, um die<br />

Bäume der Erkenntnis zu hüten, den Goldapfelbaum der Hesperiden,<br />

die "üppigen Bäume" des Berges Meru oder Junos Hochzeitsgabe für<br />

Jupiter, wird selbst in dieser Bedrohung sichtbar, der der Held hier mit<br />

seinem Schatzgewinn preisgegeben wird.<br />

Daß der Erwerb der Weisheit, des Lebensapfels, d.h. des Schatzes,<br />

nicht immer mit dem Tod des Schatzhüters endet, zeigt das schon erwähnte<br />

georgische Märchen vom Tschongurispieler, das den Schatz<br />

auch noch mit dem Geheimnis um Leben, Tod und Wiedergeburt verbindet.<br />

Samen und Frucht,<br />

Kind und Mann,<br />

Geliebter vor- und Geliebter nach der Zeugung,<br />

verborgener- und entdeckter Schatz,<br />

Geheimnis und Wissen.<br />

Historisch mag sich<br />

die Nibelungensage<br />

entweder auf das<br />

Ende der Nibelungen<br />

beziehen, so<br />

wie Kunstmann es<br />

rekonstruiert hat, d.h. auf die Protobulgaren, oder auf die mittelalterlichen<br />

Herrschaftsverhältnisse in Nord- und Mitteldeutschland,<br />

wie sie Ritter-Schaumburg 13 in Korrelation zur Dietrichsage skizziert.<br />

Mythisch bleiben aber in diesem Kontext das <strong>Drachenkampf</strong>motiv, das<br />

Schatz- und Ringbild sowie der Ringfluch.<br />

<strong>Der</strong> Ring steht symbolisch neben den anderen Bildern der Verbindung<br />

und Treue für die Ewigkeit, für das Sein ohne Anfang und Ende, er ist<br />

das Symbol auch der Urzeit vor dem Zeitanfang, und zwar, weil er als<br />

Yoni das Weibliche schlechthin darstellt, die große Mutter repräsentiert,<br />

zu der auch ihr Jungfrauenaspekt durch den Helden wieder befreit<br />

wird. Obwohl unabhängig von allem Männlichen, regt erst ihr göttlicher<br />

Geliebter sie zu der Gestaltung ihrer eigenen Schöpfung an, denn<br />

die Vegetationsgötter sind nicht nur phallisch, sondern auch die Vegetation<br />

selbst, die aufkeimt und verblüht. In der Unterscheidung ihrer<br />

Schöpfung erscheinen sie in den Bildern, welche die folgende Tabelle<br />

zusammenfaßt.<br />

13 H.Ritter- Schaumburg, Die Nibelungen zogen nordwärts, München, Berlin 1983


So wird das Leben nur in seinen unterweltlichen und weltlichen Aufenthaltsorten,<br />

in der Geburts- und Todesperiode unterschieden; denn<br />

genauso wie Samen und Frucht dasselbe sind, aber in der Zeit differenziert,<br />

so sind das Kind und der Gatte der großen Göttin dasselbe,<br />

nämlich die göttlichen Geliebten, die das Herz der Mutter erfreuen<br />

oder mit Trauer erfüllen.<br />

<strong>Der</strong> Ring ist deshalb auch das Symbol der eigentlichen Kraft und<br />

Macht, denn nur das Weibliche kann aus sich selbst heraus etwas<br />

Neues, das Leben und die Schöpfung, hervorbringen, so daß die Substanz,<br />

die Spinoza als causa suis begriffen hat, in der Mythologie<br />

immer die Große Mutter ist, was auch die alten Hebräer mit ihrem Begriff<br />

der Schechina wußten oder die voraristotelische Weisheit, die das<br />

griechische Wort als das "All des Seienden", das sich selbst<br />

hervorbringt, begriff, als : Götter, Sterbliche und<br />

alles andere.<br />

Simrock 14 und nach ihm andere haben behauptet, daß in der germanischen<br />

Sage die Begründung für den Fluch des Ringes fehlt, eine Feststellung,<br />

die nur oberflächlich richtig ist.<br />

Schon die Beschreibung des Ringes selbst wäre eine ausreichende Begründung.<br />

Er ist aus dem "roten Gold", d.h. aus Metall geschmiedet,<br />

und näher bestimmt: aus Kupfer. <strong>Der</strong> Fluch, der über der Macht und<br />

Kraft liegt, die der Ring versinnbildlicht, wird schon durch seinen<br />

Stoff begründet. Weil er aus Metall ist, ist auch seine Kraft und Macht<br />

von seinem Geiste. Den Germanen der Heldenzeit war das selbstverständlich.<br />

Die Worte Erz, Metall, Schmied, schmieden, Meißel, Stange<br />

etc. bringen den Ring und das Wissen und die Kunst der Kupfer- und<br />

Eisenverarbeitung, d.h. den Ring und das Schmiedehandwerk direkt<br />

zusammen. Hammer und Meißel, Axt und Schwert, Spaten und Pflug,<br />

Ring und Kette stehen für eine neue Zeit. <strong>Der</strong> Mythos unterstreicht das<br />

durch die Rolle, die er immer wieder dem Schmied zuweist. Man kann<br />

aber auch in der Reihenfolge, in der der Ring seinen Besitzer wechselt,<br />

einen kulturgeschichtlichen Hinweis auf die Bedeutung der Schmiede<br />

entdecken: Zwerge, Götter, Riesen und Menschen. <strong>Der</strong> Ring des Andwari,<br />

des Zwergen, ist schon das geschmiedete Metall, mit dessen<br />

Möglichkeiten die Nachtseiten des Menschlichen entfesselt werden,<br />

der Egoismus, die Begierde, das Interesse etc. Er ist damit auch schon<br />

der Ausdruck eines seelischen Verhängnisses, einer Versuchung der<br />

titanischen Selbstüberhebung, der Leugnung des eigenen Grundes, des<br />

14 K.Simrock, Die Edda, Stuttgart 1888, S.423 ff<br />

47


48<br />

Machtmißbrauchs, der ohne Rücksicht auf die Folgen das ausführt,<br />

was er ohne Widerstand zu fürchten, vollstrecken zu können vermeint<br />

und die Seele in ihr eigenes Verderben treibt.<br />

Aber auch die Anknüpfung des Ringfluches an die "Otter-Hecht-Episode"<br />

der Edda liefert seine Begründung. Die germanischen Volkslieder<br />

erklären, daß die Episode "Otter und Hecht" zu einem Mythologem<br />

gehört, das das Würfeln oder Losen um die Seele behandelt. In einem<br />

farörischen Lied heißt es:<br />

Würfelt der Ries und der Bauersmann,<br />

verlor der Bauer, der Riese gewann.<br />

Gewonnen hab ich im Wettstreit hier,<br />

nun begehr ich den Sohn von dir.<br />

Nun begehr ich den Sohn von dir,<br />

es sei denn, daß du ihn birgst vor mir. 15<br />

Odin versteckt ihn als Korn in der Ähre und der Riese mäht das Feld,<br />

aber das Korn fällt beiseite. Hönir versteckt ihn als Flaum am Schwanenhals<br />

und der Riese reißt ihm den Hals ab, aber der Flaum entschwebt<br />

ihm. Loki versteckt ihn als Roggenkorn (Sohn, Ring) im Bauche<br />

des Fisches und der Riese fängt ihn, aber Loki tötet ihn dabei.<br />

Das ist der wirkliche Grund des Fluches, der auf dem Ring lastet, das<br />

gebrochene Versprechen (Metathese des Ringsymbols), der Vertrauensbruch<br />

der Götter, der Hreidmars seltsame Lösegeldforderung erklärt,<br />

denn ein versehentlicher Totschlag hätte Hreidmar nicht so aufgebracht<br />

und nur die normale Höhe des Wergeldes gekostet. Die erste<br />

List des Loki verlangte schon die nächste, den Raub des Andwari-<br />

Schatzes, der deshalb, d.h. als Diebesgut, von Anfang an verflucht war.<br />

Ein Mord brachte den Schatz also in die Hände der Götter, der ihren<br />

Diebstahl erst ermöglichte. Auf diese Weise wurde also die Kraft und<br />

die Macht, die der Ring darstellt, in sein Gegenteil verkehrt, <strong>Der</strong><br />

Schatz wurde zum Diebesgut, das der Räuber verstecken muß, um es<br />

genießen oder behalten zu können. Und die Verstocktheit, mit der sich<br />

Mörder und Räuber weigern, ihr Unrecht wieder gut zu machen, lastet<br />

als Fluch auf dem Schatz, verhext jeden, der ihn berührt. <strong>Der</strong> Mythos<br />

zeichnet die unverholene Goldgier der Götter, d.h. ihre dunkle Seite<br />

also sehr deutlich.<br />

Dieses Bild der Verbergung durch die Verwandlung, um der Verfolgung<br />

zu entgehen, gestaltete auch die keltische Mythologie, um Ta-<br />

15 Rosa Warrens, Germanische Volkslieder der Vorzeit III, Hamburg 1866, S.183-194


liesin als Gwion auszuweisen, der verbotenermaßen vom Kessel der<br />

Ceridwen trank und daraufhin inspiriert und hellsichtig wurde. Seiner<br />

Verfolgung durch Ceridwen versuchte er genauso zu entgehen wie der<br />

Bauernsohn dem Riesen. Auch Bechsteins Märchen von den Kindern<br />

des Zauberers arbeitet mit diesem Gleichnis: Entweichen durch Verwandlung.<br />

Zum Lebenssymbol des Ringes aus Metall gehört aber auch der Hammer<br />

als Werkzeug seiner Gestaltung, zum Lebenssymbol des Ringes in<br />

der Gestalt des Ank-Symbols aber der Lingam als dessen Entsprechung,<br />

dessen phallische Bedeutung auch in der Variation als Axt,<br />

Schwert oder Degen, d.h. in den Bildern männlicher Aktivität oder Tätigkeit,<br />

zu beachten ist. Das Wort Metall bedeutet originär dasselbe wie<br />

die Wörter Stange oder Meißel, d.h. es spricht den Sinn des Werkzeugs<br />

an sich aus. <strong>Der</strong> Ring und der Hammer (Axt, Stange, Schwert etc.)<br />

zusammen repräsentieren daher auch den ursprünglichen, androgynen<br />

Drachen, der nicht nur beide, Frau und Mann, schützt, sondern deren<br />

schöpferische Potentialität selbst darstellt, und dessen Tod daher auch<br />

im initiationsmythischen Kontext den Tod der Jungfrau und des Knaben,<br />

der göttlichen Verliebten (oder ihre Gram) und den Tod des göttlichen<br />

Kindes im Manne bedeutet.<br />

Das Verhältnis von Hammer und Ring kommt in solchen Geburtshelfermythen,<br />

wie den griechischen Mythen von Prometheus oder Hephaistos<br />

zum Ausdruck; dem kabirischen Titanen und dem lemnischen<br />

Kabiren, der auch als Sohn des Titanen galt. Ihre kabirische Genealogie<br />

stellt sie direkt neben die große Mutter, über die sie für diese Rolle<br />

der mythischen Geburtshelfer prädestiniert sind. Hammergeburten sind<br />

in der griechischen Mythologie stehende Metaphern für Götter- oder<br />

Heldengeburten.<br />

Die eine Hälfte des Drachenringes steht also auch in diesem Kontext<br />

für das Leben und die andere für den Tod; und der Ring des Drachens<br />

stellt die ewige Wiederkehr des Lebens durch den Tod hindurch dar.<br />

Im Schema: Drache- anthropomorpher Held, befreit der Tod des Drachen<br />

die Jungfrau zur Mutter und den Knaben zum Mann, er ist die<br />

Voraussetzung der Geburt des sterblichen Menschen und in der Wiederkehr<br />

der Heldenprobe die Herausforderung des Lebens durch den<br />

Tod. Dies wird besonders deutlich in jenen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />

initiationsmythischen Charakters, in denen das oder die Opfer des Drachens<br />

vom Sieger, der hier stets Schamane oder Initiierter ist, zum<br />

Leben wiedergeboren wird. Die australische Mythe von Nomurngguns<br />

Kinderraub führt uns in diesen Kontext ein.<br />

49


50<br />

Sigurd/Siegfried erscheint in der Nibelungensage trotz aller Heldentaten<br />

als gescheiterter Held, der die Prüfung zur Überschreitung der<br />

Schwelle nicht bestanden hat, obwohl er mit vielen guten Gaben ausgestattet<br />

war, weil ihm vor allem die entscheidende Tugend fehlte, die<br />

Tugend der Besonnenheit, welche die Gier zu zähmen weiß.


<strong>Der</strong> Schlangenring<br />

Die alte Mythologie sah im Drachenring das Bild der ewigen Wiederkehr<br />

des Lebens und des Todes, der Reinkarnation der Seelen der<br />

Lebewesen, des Abstiegs und Aufstiegs des Geistes in die Materie und<br />

aus der Materie heraus. Dieser Ring wurde gezeichnet als eine<br />

Schlange, die sich in den Schwanz beißt<br />

oder als zwei Schlangen, die sich gegenseitig<br />

zu fressen versuchen und auf diese Weise<br />

den Ring reproduzieren, unterschieden als<br />

weiße und als schwarze Schlange, als Diesseits<br />

und Jenseits.<br />

Als das, was mit jeder Bewegung zu sich<br />

selbst zurückkehrt, als das, was es selbst<br />

bleibt in all seinen Verwandlungen von Form oder Gestalt, repräsentiert<br />

dieses Bild die älteste Vorstellung von dem, was später die Philosophen<br />

Substanz nennen werden. Die Griechen nannten den Schlangen-<br />

oder Drachenring (Schwanzesser).<br />

Bis in die Schriften der mittelalterlichen Alchimisten wirkte dieses<br />

Symbol der ewigen Erneuerung oder Urquelle auch in Europa fort und<br />

stand sogar Pate für die Benzolringverbindungen<br />

der modernen Chemie, die Kekule<br />

von Stradonitz entdeckte.<br />

<strong>Der</strong> Uroborus, dessen Bild und Gleichnis universal<br />

verbreitet ist, ist der draco caelestis der<br />

antiken Astrologie oder der Drache der Finsternis<br />

der Gnosis, der nach Macrobius<br />

phönizischer Herkunft ist: "Hinc et Phoenices<br />

in sacris imaginem eius experimentes draconem<br />

finxerunt in orbem redactum caudamque<br />

suam devorantem, ut apparent mundum et ex se ipso ali et in se<br />

revolvi." (Macrobius, Saturn.I,9,12) In der Pistis Sophia, dem einzigen<br />

umfangreichen und vollständigen Text der Gnosis, den wir heute<br />

neben dem Poimander noch besitzen, heißt es: "Die äußere Finsternis<br />

ist ein großer Drache, dessen Schwanz in seinem Munde, in dem sie<br />

außerhalb der Welt ist und die ganze Welt umgibt." (Kap.126)<br />

Die Gnosis kannte ihn aber auch als Sonnenschlange und -<br />

. Beide gehen zurück auf den orphischen , den Kronos-<br />

51


52<br />

Herakles (!) der orphischen Kosmogonie; denn die orphische Etymologie<br />

übersetzt den Namen des Herakles als , d.h. die<br />

sich windende Schlange, der schließlich mit allen orphischen Gottheiten<br />

zusammenfällt, so z.B. mit Phanes: <br />

, - <br />

- (Kern, oprh. Frag.<br />

58) oder mit Helios-Zeus-Dionysos.<br />

Er ist also auch in der orphischen Mythologie das gleiche, was er in<br />

Südamerika und China ist, der Weltdrache<br />

oder die Gottheit, die das Werden<br />

und Vergehen der Welt darstellt, die<br />

ewige Wiederkehr des Gleichen, das<br />

ν κα πν.<br />

Das gleiche besagt der Name des Weltdrachen<br />

in den Zauberpapyri: Abraxas<br />

(siehe: Pap. Leiden, Preisedanz XII,<br />

202). Philo von Byblos führt ihn auf die<br />

Einsetzung durch Thaautos (Thot) zurück,<br />

d.h. auf die altägyptische Theologie (Frag.Hist. Graec.III, 572).<br />

<strong>Der</strong> Uroborus wird auch Leviathan, Äon, Okeanos oder Kneph<br />

(Chnouphis), die älteste Gottheit der ägyptischen Urwelt, genannt.<br />

Gleich mit der sich selbst verschlingenden Schlange ist ihre Darstellung<br />

als zweiköpfige Schlange, wie sie etwa auf keltischen Münzen<br />

dargestellt wird oder auf südamerikanischen und taivanesischen<br />

Abbildungen nichtchinesischer Herkunft, etwa den Bildern der Paiwan,<br />

als zweiköpfige Schlange, die nicht zu einem Ring verbunden ist, sondern<br />

an jedem ihrer Enden einen<br />

Kopf besitzt und deshalb die Einheit<br />

von Leben und Tod polar<br />

zeigt im Gegensatz zu dem Symbol<br />

des Ringes zweier Schlangen.<br />

In dieser Form repräsentiert die<br />

doppelköpfige Schlange das in<br />

zyklischem Wechsel andauernde<br />

Seinspotential in den Gestalten des endlich Seienden, die materia<br />

prima der Schöpfung. Bei den Paiwan heißt diese Schlange Vorovorn,<br />

der Älteste, und gilt als der Ahne des Adelsstandes der Paiwan, dessen<br />

Ursprung in den Zeiten der Weltentstehung, dessen Verbindung über<br />

die Ahnen mit der Gegenwart, und dessen ständige Wiedererneuerung


in den neugeborenen Nachkommen und deren Nachkommen auch in<br />

Zukunft sie verbürgt. Diesem Wesen der Auseinanderbewegung seiner<br />

Pole: Ursprung und Zukunft, droht in jeder Gegenwart das Zerreißen<br />

seiner Kontinuität, das es rituell abzuwehren gilt. Aber auch in diesem<br />

Bild wird der Zwist und seine Krisis zugunsten der Betonung der<br />

Einheit und Kontinuität des Seins unterdrückt, denn es bleibt am Ende<br />

immer unentschieden, welche Seite den Anfang und welche das Ende<br />

markiert, während die Schlange als Verbindung beider Endpunkte<br />

(Köpfe) das Leben als einen umkehrbaren<br />

Weg von der Geburt zum<br />

Tode und vom Tod zum Leben darstellt,<br />

der sichtbar wird als eine Oszillation<br />

der Zeit, die in der Dauer<br />

und Einheit der Bewegung der<br />

Schlange selbst aufgehoben ist. Die<br />

unsichtbare Energie der Schlange verbindet in diesem Bild also ihre<br />

beiden sichtbaren Enden oder Pole zu einem unsichtbaren Ring, da<br />

auch in diesem Konzept der Ursprung in der Gegenwart liegt. Diese<br />

Dauer oder Einheit der Bewegung oder Energie heißt in der australischen<br />

Mythologie: Ur- oder Traumzeit, von den nordwest-australischen<br />

Ungarinyin nach der Schöpferschlange Ungud auch Ungur genannt,<br />

was eben die schöpferische Weltschlange mit dem Seinsprinzip<br />

(ens commune) und Seinspotential gleichsetzt.<br />

Auch in Gallien, Mittelamerika und China ist dieses Symbol wie in<br />

Australien mit der Wiedergeburtslehre verbunden und so auch an den<br />

anderen Plätzen seines Erscheinens.<br />

Das Verschlingen der alten durch die neue Schlange erzählt die Guajiro-Mythe<br />

von der Himmelsschlange Mami. Quetzalcoatl und Uitzilopochtli<br />

bilden den Ring der Weltordnung, die zu garantieren, sie die<br />

beiden anderen Geschwistergottheiten beauftragt haben. Die araukanische<br />

Mythe von Threngthreng und Kaikai-filu stellt auch den<br />

Kampf der schwarzen- gegen die weiße Schlange dar. Auch die altamerikanischen<br />

Heldensagen knüpfen an die altorientalischen kosmologischen<br />

Themen an oder korrespondieren mit ihnen.<br />

53


54<br />

Elementen- und Geschlechterwechsel der Akteure<br />

<strong>Der</strong> kosmologische <strong>Drachenkampf</strong> der Veden, der Kampf Indras gegen<br />

Ahi-Vritra, verbindet den Drachen nicht nur nicht mit dem feuchten<br />

Element, dem Wasser, wie die Gleichnisse des vorderen Orients, genauer<br />

noch: wie jene der semitischen Überlieferung, sondern er variiert<br />

außerdem noch das Geschlecht. Vritra ist ein Dämon der Trockenheit,<br />

des heißen Windes, gegen den Indra ständig zu Felde zieht und den er<br />

schließlich mit seinem Donner und Regen besiegt genauso wie in<br />

China der C'in lung mit seinem Donner und Regen den Tiger des Westens<br />

überwindet.<br />

Zu erwähnen sind hier auch die<br />

Drache Gattin Sw Sw<br />

Kind<br />

wird von Sw bedroht<br />

mythologischen Vorlagen der<br />

Ritter Blaubart-Märchen und -<br />

sagen, in denen die Helden<br />

weiblich sind.<br />

In den russischen und italieni-<br />

schen Fassungen erscheint an seiner (des Blaubarts) Stelle der Drache,<br />

der Winter- oder Todesdrache, der Herr des Totenreiches. Er wird in<br />

diesen Märchen zwar nicht getötet, wohl aber besiegt und nach dem<br />

Vorbild der Heldin wird ein Weg gezeigt, auf dem man seiner Macht<br />

entkommen kann. Die List der Heldin, die alle anderen toten Vorgängerinnen<br />

miterlöst, führt zur Wiedergeburt oder zum Frühlingserwachen.<br />

<strong>Der</strong> Drache erliegt hier nicht dem Kampf, sondern schließlich<br />

seiner eigenen Neigung, die das Leben liebt, das sich aus seiner<br />

Umarmung befreit. Die Jungfrau rettet sich in diesen Versionen selbst,<br />

die Opfer und Held gleichsetzen, und gemahnt an den Dualismus oder<br />

die Stellvertretung von Persephone und Kore, der Gemahlin des Hades,<br />

der sie immer wieder für eine Hälfte des Jahres freigeben muß, oder<br />

verweist auf die Kongruenz der Initiation mit der Wiedergeburt, aber<br />

auch auf spezifische verwandtschaftsrechtliche Strukturen.<br />

In diesem Kontext steht auch ein georgisches Märchen, dessen Schema<br />

man als Vorlage jener aus Frankreich bekannten Bearbeitungen über<br />

die Schöne und das Biest ansehen kann. <strong>Der</strong> Drache ist im georgischen<br />

Märchen ein verwunschener Ehemann, der seine Gattin (die jüngste<br />

von drei Schwestern) mit sich in die Unterwelt nimmt, aus der sie<br />

schwanger nachhause zurückkehrt, um das Kind auszutragen. Vom<br />

Neid der Schwestern verfolgt, gerät sie in große Not, aus der sie ihr


eigenes Kind befreit und schließlich kommt es zu einer neuerlichen<br />

Hochzeit mit ihrem Gatten.<br />

55


56<br />

<strong>Der</strong> Ring aus Mutter und Drachensohn, des Stirb und Werde<br />

Ein altes keltisches Standbild zeigt noch eine andere Version, nämlich<br />

die Mutter, die die Schlange säugt, die sie gerade gebiert, eine Deutung<br />

des Ringes mit der Ausdifferenzierung und Auflösung des Symbols der<br />

weißen Schlange. Auch hier ist die Schlange männlich gedacht und als<br />

Todesprinzip, dessen innigliche Beziehung aber zur großen Mutter genauso<br />

deutlich wird wie bei den männlichen Repräsentanten der<br />

orientalischen Mysterien. Auch von Seth, den die altägyptische Apepi-<br />

Schlange darstellt, heißt es: "geboren aus den Schamteilen der Göttin<br />

Nut"; gemeint ist hier also die Schlange und der große Feind, die Finsternis,<br />

die lange schon vor dem Licht existierten. Die Vegetationsgötter<br />

sind hier offenbar phallisch, die sich von der Mutter nährende Vegetation<br />

und die zu ihr wieder zurückkehrenden, sterbenden Götter.<br />

Dieses Bild erscheint später auch in der<br />

griechischen Lyrik (Stesichoros) und in<br />

der Tragödie. Im Agamemnon läßt Aischylos<br />

die Klytaimnestra träumen, daß<br />

sie einen Drachen gebiert, der ihr mit der<br />

Milch auch ihr Blut aussaugt, und<br />

Orestes verspricht dann dieser Drache zu<br />

sein.<br />

Immer wenn ihre Mütter in menschlicher<br />

Gestalt erscheinen, sind die Drachen<br />

oder Schlangen als ihre Söhne männlich<br />

und die Repräsentanten der mütterlichen<br />

Finsternis, ihrer negativen und tödlichen<br />

Aspekte; trotzdem tötet der Drache niemals<br />

seine Mutter, sondern immer nur<br />

den Vater oder den Bruder, während der<br />

Held in den kosmologischen Versionen<br />

oft als Muttertöter in Erscheinung tritt.<br />

Das assyrische Wort für Drache, Seeschlange<br />

oder Hydra heißt basmu und<br />

ist ein Kompositum aus basu und umu. Basu übersetzt Bezold mit<br />

"sein, dasein" und umu ist das Wort für Mutter. Damit sagt das assyrische<br />

Wort für Drachen basmu (basu-umu), daß der Drachen die Erstlings-,<br />

Anfangs- und Urmutter ist, was das "Enuma elish" vollends


erklärt, in dem von dem Urmeer Tiamat, jenem Wesen, das schon da<br />

war vor der Erschaffung der Welt, die Rede ist. Marduk schafft die<br />

Welt erst aus ihren Teilen, nachdem er Tiamat im <strong>Drachenkampf</strong> besiegt<br />

hat. Hier wird mit aller Deutlichkeit der Drache als die große<br />

Urmutter allen Seins dargestellt (ti- ama- at; ti = leben geben, ama =<br />

Mutter, ada = Urahn). Diese Weltschöpfung, welcher der Tod des Drachens<br />

oder der Schlange nach einem Kampf vorausgeht, erscheint als<br />

Motiv auch bei den australischen Ureinwohnern, deren Welt aus<br />

Eingana hervorgeht, nachdem ein Speerwurf sie getötet hat.<br />

Es wurde bereits gesagt, daß der Drache, der in den Mythen bekämpft<br />

wird, auch nach seinem Geschlecht variiert. <strong>Der</strong> Drache des einschlangigen<br />

kosmologischen Ringes ist androgyn, die zwei Drachen des<br />

zweischlangigen kosmologischen Ringes repräsentieren die Prinzipien:<br />

Leben-Tod, alt-jung, männlich-weiblich etc. <strong>Der</strong> zweischlangige Ring<br />

ordnet diese Gegensätze dem Ringprinzip der Einheit und der ewigen<br />

Wiederkehr unter. Einige australische Systeme und das manichäische<br />

System wissen von einem Ende der Wiederkehr und von dem Sieg<br />

eines der repräsentierten Prinzipien, während der <strong>Drachenkampf</strong> Behemots<br />

gegen Leviathan in der Fassung des Leviticus Rabba mit dem<br />

Tode beider Widersacher endet, das ist das Ende der Welt. Und wieder<br />

taucht ein großes Spiel der Illusionen hinab in einen unfaßlichen Abgrund.<br />

Das Geschlecht des Drachen steht immer in Opposition zu dem Geschlecht<br />

seiner Mutter, wenn diese selbst nicht als Drache erscheint,<br />

d.h. immer wenn er weiblich ist, repräsentiert er auch deutlich die<br />

kosmologische Urmutter.<br />

<strong>Der</strong> Kampf des Helden gegen den Drachen variiert dagegen symbolisch<br />

den dualistischen <strong>Drachenkampf</strong>; der Drache, ob weiblich oder<br />

männlich, wird nur noch negativ gedeutet, wenn der Held positiv dargestellt<br />

wird. Hier finden wir in Hinblick auf die Charakterisierung des<br />

Helden vorzüglich drei Gruppierungen: den jungen männlichen Helden,<br />

den männlichen Götterfürsten und das Kind (oder der Junge), die<br />

einzeln oder als Zwillinge auftreten. In die Gruppe I gehören verschiedene<br />

Märchen, die Initiationsmythen mit der Heldenprobe, verschiedene<br />

Heldensagen und die altägyptische, vegetationsmythische <strong>Drachenkampf</strong>version,<br />

in die Gruppe II die theo-kosmogonischen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />

oder Götterkämpfe und in die Gruppe III die<br />

verschiedenen aitiologischen Versionen.<br />

Auch die mystische Ausdeutung dieser Symbolik ist variantenreich<br />

und komplex und gibt ein schönes Beispiel dafür, daß das Symbol nie<br />

57


58<br />

vollständig ausgedeutet werden kann. Sie verschmilzt makro- und<br />

mikrokosmische Perspektiven in dem System einer universalen Geistlehre,<br />

in der der Makro- und der Mikrokosmos nur Erscheinungsweisen<br />

des Geistes selbst sind.<br />

Antworter Herausforderer Streitgegenstand<br />

I Held Drache Jungfrau<br />

männlich Schatz<br />

Todesdrohung<br />

II Zukünftiger Götterfürst Drache Kosmos<br />

weiblich<br />

Chaos<br />

III Kind Drache Volk<br />

Zwillinge Chaos<br />

Tod<br />

<strong>Der</strong> ägyptische und mesopotamische Mythos oder das Gilgamesh-<br />

Epos, die Argonautensage oder die Hesperidenepisode im Herakleszyklus<br />

verbinden den <strong>Drachenkampf</strong> mit dem Symbol des Lebensbaumes,<br />

und zwar genauso wie das die biblische Sündenfallsgeschichte indirekt<br />

tut. Aber auch Sigurds Kampf fand unter einer großen Linde<br />

statt. In dieser Sage ist das Sujet sicherlich nur noch eine Reminiszens.<br />

Die Tatsache, daß der in dieser Sage scheinbar neutral bewertete Baum<br />

(das fallende Blatt) seine Verwundbarkeit auch in der Zukunft aufrechterhält,<br />

ist aber höchst aufschlußreich. <strong>Der</strong> Baum stellt die Macht<br />

des Mütterlichen dar neben ihrem sterblichen, weil der Gier verfallenen<br />

Drachensohn, dessen Funktion der Held durch den Gewinn des<br />

Ringes übernimmt, was auch ihn, obwohl er die Möglichkeit hatte unsterblich<br />

zu werden, zu einem Sterblichen macht; die große Mutter<br />

sorgt dafür, daß auch der Held, der sich zum Drachen machen will<br />

(Baden im Horn des Drachens), dem Schicksal ihres unterirdischen<br />

Sohnes erliegt; das Blatt, das auf seinen Rücken fiel, hält seine Verletzbarkeit<br />

und Sterblichkeit aufrecht und verweist auf den Tod als Erlösung<br />

der Gescheiterten und sittlich Schwachen.<br />

<strong>Der</strong> Baum steht auf zweierlei Weise neben dem <strong>Drachenkampf</strong>geschehen:<br />

er steht entweder als Kostbarkeit neben den anderen Streitgegenständen<br />

(dann also als ein Schatz) oder als Gleichnis des älteren positiven<br />

Drachenprinzips (dann als Muttersymbol). <strong>Der</strong> Schatz als das Geheimnis<br />

und das Muttersymbol der Mysterien bedeuten aber wiederum<br />

dasselbe.<br />

Auch der Laubbaum ist ein Symbol der Wiederkehr des Lebens und<br />

Sterbens, während der Nadelbaum die Unsterblichkeit darstellt. <strong>Der</strong>


Lebensbaum wird aber auch als die Leiter der Verbindung der kosmischen<br />

Regionen und als Weltachse begriffen oder in dieser Funktion<br />

mit der Nabelschnur verglichen und dann hat er auch phallische<br />

Bedeutung. Diese Bedeutung einer Verbindung der Weltsphären hat<br />

aber auch der Berg. In der Weltmythologie werden der Baum und der<br />

Berg (Stein) auch als die mythischen Urstoffe oder Herkunftsorte des<br />

Menschen angesprochen, vor denen in einigen Gegenden auch heute<br />

noch Fruchtbarkeitsrituale und Hochzeiten abgehalten werden.<br />

Als Schattenspender und Schützer zeigt der Baum die mütterlichen-<br />

und als aufrechter Stamm die widerstrebenden männlichen Eigenschaften,<br />

eine Symbolik, die noch bei der ältesten und bei der primitiven<br />

Feuerzeugung gegenwärtig ist.<br />

Auch der Berg gilt sowohl als die große Mutter als auch als der aufrechte<br />

Stein. Das androgyne Bild der Urwesen ist hier noch präsent.<br />

Mit der Synonomie von Gipfel (Bergspitze) und Haupt im griechischen<br />

Wort spielt der griechische Mythos, wenn er einige Kinder<br />

des Zeus aus dessem Haupt hervorgehen läßt.<br />

Die Verbindung des <strong>Drachenkampf</strong>es mit dem Lebensbaum variiert<br />

also den Streitgegenstand (Kostbarkeit, Schatz, Jungfrau, Früchte etc.)<br />

und kommt zudem in den Mythen vom Raub des Lebenskrautes (Herakleszyklus,<br />

Gilgamesh-Epos, Paradiesmythen) vorzüglich zur Sprache.<br />

Während der Raub des Krautes oder der Frucht den Verlust der Unsterblichkeit<br />

oder des Paradieses zum Ausdruck bringt, steht der Baum<br />

neben dem <strong>Drachenkampf</strong> entweder als Bild der Weltleiter oder Weltachse,<br />

die zwar unter dem Geschehen leidet, aber durch den <strong>Drachenkampf</strong><br />

nicht wirklich gefährdet wird, oder als Gleichnis der großen<br />

Mutter, auf deren Leib sich das Geschehen austrägt. In der Edda aber<br />

ist sie es, die mit der Weltschlange zusammen umkommt, denn die<br />

Götter, Riesen, Zwerge, die Welt und die Menschen werden von der<br />

Völuspa in ihrem Untergang geschaut (Ragnarökr), aus dem aber, wie<br />

anderswo auf der Welt auch erzählt wird, alles wiederkehrt.<br />

Das Motiv des von den kosmologischen Schlangen umringten Lebensbaumes<br />

ist auch auf papuanischen Masken öfter verarbeitet worden<br />

und stellt ikonographisch die makrokosmische Variante zu den europäischen<br />

Seelendrachenbildnissen dar, zumal sie selbst im Initiationsprozeß<br />

eine Rolle spielen. Während die eine hier wiedergegebene Maske<br />

die Stirnpartie als den Erdbereich gestaltet und die Nase als Baum, um<br />

den sich eine Schlange mit zwei Köpfen, die mit den Augen der Maske<br />

zusammenfallen, windet, nimmt die andere Maske den geöffnete Mund<br />

59


60<br />

als den Einstieg in die Unterwelt und setzt die Krone des Baumes in<br />

die Stirn, um die sich zwei Schlangen ringen, deren Köpfe auch hier<br />

mit den Maskenaugen zusammenfallen.<br />

Die Nyigina und Ungarinyin, Stämme Nordwestaustraliens, sprechen<br />

in ihrer Mythologie von dem ewigen Kampf der Süßwasser-Ungud<br />

gegen die Salzwasser-Ungud (Ungud= Regenbogenschlange und Weltschöpferin),<br />

bei dem zuletzt wohl die Yara-Ungud oder Wanguman<br />

(die Salzwasserschlange) siegen wird. Ähnlich siegt auch Luchan, der<br />

Weltdrache der Mongolen, der das große Meer bewohnt und am Ende<br />

der Welt die ganze Welt verschlingen wird. Bis dahin ernährt er sich<br />

von den Früchten des Baumes Asamba Baraschu, der am Fluß Dso<br />

Moloiba steht.<br />

Neben ihrer dualen <strong>Drachenkampf</strong>version haben die Nordwest-Australier<br />

auch die <strong>Drachenkampf</strong>version des Kampfes der schwarzen (bösen)<br />

Schlange, die Menschen frißt und Tambune bedroht und nur von<br />

den heldenhaften Ban-man (Schamanen) besiegt werden kann. Eine<br />

Bildauffassung, die die kosmologischen Symbole auf die anthropomorphe<br />

Gestalt projiziert, haben die Ungarinyin allerdings auch. 16 In<br />

Nordwest-Australien stehen die <strong>Drachenkampf</strong>version: Süßwasser- gegen<br />

Salzwasserschlange und Ban-man gegen Nomurnggun für die<br />

kosmologische (klassifizierender Totemismus), d.h. hier dualistische<br />

und initiationsmythische (Seelendrachen) Perspektive.<br />

Im Falle des zweiten Beispiels stehen die Kinder des Schamanen (sein<br />

Va (Held)<br />

Br (Ego) Br Nomurnggun<br />

(Opfer) (Drache)<br />

symbolisches Gegenstück)<br />

für Unwissen, Vorwitzigkeit<br />

und Ungehorsam, sie gelten<br />

als die gefährdeten Wesen<br />

par excellence, die nur<br />

durch das Wissen und die<br />

Fürsorge der Alten aus dieser Gefahr befreit werden können (Initiation).<br />

<strong>Der</strong> Sieg des Ban-man über Nomurnggun ist der Sieg über diese<br />

Gefahr, und die Befreiung der Kinder aus ihrem Bauch, ist deren<br />

Wiedergeburt und Initiation in die Gesetze der Traumzeitordnung, die<br />

alles Leben regelt und hütet. <strong>Der</strong> Held ist hier ein Vater und Schamane,<br />

der seinen Kindern die Lebenschancen durch Einweihung sichert.<br />

Auch die Melanesier erzählen von Riesenschlangen, die ganze Landstriche<br />

entvölkern, und meistens nur eine alte Frau übrig lassen, die auf<br />

geheimnisvolle Weise Zwillinge gebiert, die die Ungeheuer töten und<br />

16 Siehe: H.Petri, Sterbende Welt in Nordwest- Australien, Braunschweig 1954


damit die Erde wieder für die Menschen bewohnbar machen. 17 Die<br />

melanesischen Mythen ähneln den amerikanischen Zwillingsmythen<br />

teilweise sehr, aber auch einigen afrikanischen Mythen, wenn man von<br />

der Zweiteilung des Helden absieht. Wir nennen hier das Beispiel, das<br />

die Kombo (Nordost-Neuguinea) erzählen, von dem Ungeheuer Johac<br />

und den Zwillingen Ninguningu und Nambalia.<br />

Dagegen schildert die Mythe der Marind-anim vom Dema Yawi das<br />

Motiv vom Raub des Lebenskrautes in Verbindung mit dem <strong>Drachenkampf</strong><br />

ähnlich wie das Gilgamesh-Epos. Hätte der Pflegevater dem<br />

Yawi rechtzeitig die Unsterblichkeits-Medizin gegeben und nicht der<br />

Schlange, dann wäre er unsterblich geworden. Diese Schlange traf die<br />

Frauen beim Waschen an und verschlang sie alle. Nur das Kind einer<br />

schwangeren Frau konnten die Männer, die sie besiegten, retten, den<br />

Stammvater eines totemistischen Clans. 18 Die Konstellation der beteiligten<br />

Personen im Marind-Anim-Mythos und im Gilgamesh-Epos:<br />

Pflegevater (unaufmerksam)<br />

Schlange Yawi Unsterblichkeitsmedizin<br />

(Räuber) (Opfer) (Schatz)<br />

Utnapishtim (Spender)<br />

Schlange Gilgamesh Lebenskraut<br />

(Räuber) (Opfer) (Schatz)<br />

unaufmerksam<br />

Auch Yi, der gute Schütze der chinesischen Mythologie, der die neun<br />

Sonnen abschoß, gelangte zum König des Westens (!) wie Gilgamesh,<br />

von dem er (wie jener) das Lebenskraut erhielt, das ihm die Mondkröte<br />

stahl (wie jenem die Schlange).<br />

Während die Schlange des Gilgamesh-Epos, der Bibel oder der Marind-anim-Mythe<br />

das Lebenskraut oder die Frucht raubt oder den Raub<br />

einfädelt, bewacht der Drache des Hesperidengartens seine Früchte, die<br />

Herakles rauben soll (spiegelsymmetrischer Vorzeichenwechsel).<br />

Er ist hier also ein Hüter des Schatzes wie Fafnir, den er sich in den<br />

anderen Versionen erst noch aneignen muß. Herakles brachte Atlas<br />

17 Siehe: Rose Schubert, Mythologische Untersuchungen an ozeanischem Mythenmaterial,<br />

Wiesbaden 1970<br />

18 Siehe: P.Wirz, Die Marind-anim von Holländisch- Süd-Neu-Guinea, Hamburg<br />

1922/5<br />

61


62<br />

dazu, die Äpfel für ihn herbeizuschaffen, den er unterdessen vertreten<br />

mußte, die Last des Himmels zu tragen. Als Atlas mit den Früchten zurückkam,<br />

konnte Herakles ihm seine Last nur noch durch eine List<br />

wieder aufbürden. <strong>Der</strong> eigentliche Drachenbezwinger ist hier also Atlas,<br />

der aber um den Lohn seiner Tat betrogen worden ist. Auch hier<br />

wird der Schatz zum Diebesgut.<br />

Äquivalente: Berg, Baum, Ring, Schlange, Wasser<br />

in der Bedeutung:<br />

a) Wiederkehr des Lebens und Sterbens<br />

b) Unsterblichkeit<br />

c) Uranfang, Ewigkeit- das Sein vor der Zeit<br />

d) eigentliche Kraft und Macht<br />

e) androgynes Wesen oder Harmonie der Geschlechter<br />

Zu vergleichen ist auch das Bild des altindischen Tierkreises von Kanya-Durga<br />

am Fuße des Baumes, in dem der Drache liegt. Die Jungfrau<br />

des Zodiaks hält den Drachen im Weltenbaum in Schach genauso wie<br />

die Gattinnen des Drachen aus den Blaubartmärchenvorlagen ihren<br />

Drachen in Schach halten oder wie der Tschonguri-Spieler den Dra-<br />

chen aus dem georgischen Märchen durch sein Spiel verzaubert.<br />

(Wasser- ) Schlange(n)<br />

(Wasser- ) Schlange(n)<br />

Ring aus 1 o. 2 Schlangen<br />

Schlange mit zwei Köpfen<br />

am Fuß des Weltberges,<br />

vor dem Schatz<br />

um den Baum,<br />

mit dem Hammer,<br />

in und aus der Mutter<br />

um Baum (oder ohne Baum)<br />

Durch den Stoff<br />

des Schatzes<br />

(Stein, Juwel,<br />

Erz, Gold, Metall<br />

etc.) ist der<br />

<strong>Drachenkampf</strong><br />

auch indirekt<br />

und durch die<br />

Ortsbeschreibung<br />

(Höhle,<br />

Gebirge etc.) direkt<br />

mit dem<br />

Berg oder Stein verbunden. <strong>Der</strong> Tod des Drachens ist hier das Ende<br />

des Schutzes, den der Stein genießt, und zwar als ein Symbol, das<br />

sowohl auf die große Mutter verweist als auch auf die Kostbarkeit oder<br />

das Juwel. Wir haben dafür auch in der griechischen Mythologie einen<br />

eigentümlichen Beleg. Kosmos hat noch bei Homer die Bedeutung von<br />

Schmuck, Kostbarkeit, Geschmeide. Mit diesem Begriff bezeichnet die<br />

griechische Mythologie den Glanz des Seins, sein Geheimnis, das<br />

durch das "Große All" der Welt vermittelt wird und das nach Heraklit


(Diels-Kranz, 22B30) weder von einem der Götter noch von einem der<br />

Menschen geschaffen wurde, das nach Hesiod der gemeinsame Ursprung<br />

der Götter und sterblichen Menschen ist, und den Pindar im 6.<br />

Nemea Liede ähnlich wie Lao-tse oder die Pythagoräer "die eine<br />

Mutter" nannte, die bei Philolaos auch "Herdfeuer des All" heißt. Auch<br />

die babylonische, assyrische und akkadische Sprache kennt ganz ähnliche<br />

Gleichungen wie diese von der Mutter, dem Berg, dem Schatz,<br />

der Kostbarkeit und dem Glanz (siehe Tabelle oben), welche wiederum<br />

die Haupt-Geburten als reguläre Geburten ausweist.<br />

Dieses Bild gebraucht auch die Völsungensage, um den fluchbeladenen<br />

Ring ins Spiel zu bringen und die katastrophalen Folgen zu begründen.<br />

Hymnus Va Mu (Helden)<br />

Perle So Drache<br />

(Schatz) (Opfer)<br />

63<br />

Die Entfesselung der<br />

metallischen Kräfte,<br />

so scheint es schon<br />

diese Sage zu zeigen,<br />

greift an die Wurzeln<br />

des Lebensbaumes und erscheint noch heute in der ökologischen Krise<br />

der Erde in dem Ausmaß einer Bedrohung, die selbst den Mythos<br />

Schweigen macht, wenn auch nicht blind.<br />

Eine weitere schematische Zusammenfassung hilft ihre strukturelle<br />

Übereinstimmung gegenwärtig zu halten und auch den Zusammenhang<br />

der Sündenfallsberichte mit dem <strong>Drachenkampf</strong>motiv. Es entsprechen<br />

sich die in der folgenden Tabelle aufgelisteten Symbole.<br />

Die Schlange wiederum erscheint in Verbindung mit allen diesen Symbolen.<br />

Bei den Baum- und Bergkombinationen mit der Schlange (dem Drachen)<br />

treten als weitere Elemente die Früchte, Kräuter, Samen, Kerne<br />

etc. und Edelsteine, Metalle, der Schatz etc. auf. Hier beziehen sich die<br />

Ungarinyin Va (Held)<br />

Br Br Nomurnggun<br />

Opfer Drache<br />

Kostbarkeitssymbole<br />

direkt auf<br />

mütterliche Symbole:<br />

Mutter und<br />

Kind, Kind im Lo-<br />

tus, Juwel im Lotus, Frucht des Baumes, Schatz des Berges etc. Sie<br />

alle sind Schätze und Früchte der Erde, der Mutter, der Weisheit.<br />

Eine <strong>Drachenkampf</strong>version, die diese Elemente aber mystisch gebraucht,<br />

ist auch in einem Hymnus, der als "Hymnus an die Seele" be-


64<br />

zeichnet wird (siehe Schema oben), eingearbeitet. 19 Ein Kind ist dazu<br />

ausersehen, in der Blüte seiner Jahre die Perle der Gnosis, die ein Drache<br />

bewacht, zu gewinnen und in sein Vaterhaus zurückzubringen.<br />

Das Lied ist ein Gleichnis des Lebens, seiner dioskurischen Bestimmung.<br />

Erst den Anstrengungen seiner himmlischen Eltern gelingt es,<br />

das Kind aus der Verzauberung Ägyptens, von dem Zustand der Vergessenheit,<br />

den die Speisen Ägyptens verursacht haben, zu befreien,<br />

d.h. vegetationsmythisch gesprochen, es aus seiner Winter-Unterwelts-<br />

Gefangenschaft auszulösen; und moralisch: das Begehren zu überwinden.<br />

Die Parallele zur Ungarinyinmythe von "Nomurngguns Kinderraub"<br />

(siehe Schema oben) ist offensichtlich, von den Bezügen zu<br />

den altorientalischen Mysterien ganz zu schweigen.<br />

1 Weiße Schlange Leben<br />

Schwarze Schlange Tod<br />

2 Erde Volk<br />

Schlange Held<br />

3 Pantheon Kosmos<br />

Weltschlange/Urmee<br />

r<br />

In einem weiteren schematischen Vergleich der Versionen von <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />

werden ihre thematischen Zusammenhänge deutli-<br />

cher:<br />

Götterfürs<br />

t<br />

4 Berg Juwel/Feue<br />

r<br />

Schlange Held<br />

5 Baum Frucht<br />

Schlange Held<br />

Mit diesen fünf Schemata sollen einige funktionale Äquivalenzen der<br />

dramatis personae, der Subjekte, Objekte und Absichten der Handlungen,<br />

in verschiedenen <strong>Drachenkampf</strong>versionen so herausgestellt werden,<br />

daß die Vergleichsassoziationen oder der Wechsel zwischen den<br />

Versionen im Verlauf der Darstellung noch transparent bleiben.<br />

19 Siehe Acta Apostulorum apocrypha ed. Lipsius et Bonnet, II,2, S.219-224, dtsch:<br />

R.A.lipsius, Die apocryphen Apostelgeschichten, Braunschweig 1883, I, S.292-6


<strong>Der</strong> biblische Sündfall, eine Inversion des <strong>Drachenkampf</strong>es ?<br />

In den Mythen und Märchen, in denen der Drache Schatzhüter ist, verwehrt<br />

oder hemmt der Schatzwächter das Überschreiten der Schwelle<br />

oder den Zugang zum Schatz, d.h. er sorgt dafür, daß die Prüfung des<br />

Helden ein Ernstfall ist, daß das Mißlingen der Prüfung tödlich endet.<br />

Betrachtet man die Paradiessituation des ersten Menschen, wie sie das<br />

erste Buch Moses schildert, dann erscheinen Adam und Eva in der<br />

Situation der Prüfung, während Jachwe und Samael (=der blinde Gott)/<br />

Lucifer (der Lichtbringer) als Herausforderer auftreten, wenn auch in<br />

funktionaler Differenz. <strong>Der</strong> Verführer nämlich macht aus der von Gott<br />

gestellten Aufgabe erst eine ernste Herausforderung. Die biblische<br />

Version des 5. Schemas (siehe oben) wäre:<br />

Baum Gottessohn<br />

Paradies himmlischer Mensch<br />

Schlange irdischer Mensch<br />

theogonisch dioskurisch<br />

kosmogonisch<br />

initiationsmythische Kombination<br />

Sie entspricht ganz dem Schema der Ungarinyinmythe, wo der Vorwitz<br />

der Kinder den Gehorsam gegen den Vater vereitelt und sie zum Opfer<br />

der Schlange macht, aus deren Bauch sie nur noch der Vater befreien<br />

kann:<br />

Leben Kinder<br />

böse Schlange Schamane<br />

<strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong>, der dem Sündenfall in der Bibel vorausging, hatte<br />

den Menschen zum Anlaß, nämlich die Weigerung Samaels und seiner<br />

Schar, dem himmlischen Menschen zu huldigen. Das Streitobjekt zwischen<br />

Gott und „Teufel“ aber blieb der Mensch, seine Verführung war<br />

ein Resultat und die Konsequenz jenes ersten Kampfes.<br />

Ein Streit zwischen Gott, dem Inbegriff der Gerechtigkeit und Besonnenheit<br />

wie der integrativen Vernunft und Samael/Lucifer, dem<br />

65


66<br />

Inbegriff der Begierde und des Eigenwillens, um den himmlischen<br />

Menschen, gezeichnet im Schema des <strong>Drachenkampf</strong>es, begründet den<br />

Fall dieses Engels und seiner Gefolgschaft, d.h. deren Rolle im Sündenfallsdrama.<br />

Paradies= ornatus dei Adam<br />

Samael/Lucifer Gott<br />

Nach dem Sturz in die Finsternis erscheint Samael/Lucifer in der Rolle<br />

der Schlange, die Eva verführt (siehe folgendes Schema).<br />

Samael wird theologisch als der Widerwille oder Eigenwille dargestellt,<br />

der sich von der Regierung des Geistes getrennt hat und nun<br />

seinerseits versucht, den Verstand ausschließlich in seinen Dienst zu<br />

stellen, und damit, Adam Kadmon gegenübergestellt, als Prinzip der<br />

sich selbst bedienenden Begierde, d.h. als selbstsüchtiger Trieb.<br />

Paradies Frucht<br />

Schlange Adam/ Eva<br />

<strong>Der</strong> Fall Adams erscheint dann als die Unterwerfung seines Willens<br />

unter das Verlangen. In der Aufforderung Gottes, dem Menschen, d.h.<br />

seinem Ebenbilde, zu huldigen, erscheint die enge Bindung des Samael<br />

zum himmlischen Menschen als Verhältnis des Verstandes (dem<br />

Abbild des Geistes im Menschen) zum Begehren und in der Möglichkeit<br />

seiner Zügelung die Autonomie des Willens hinsichtlich seines<br />

Gebrauchs von Sinn und Verstand. In dieser Zeichnung erscheinen<br />

Adam (Hoffnung auf die Besonnenheit) und der „Teufel“ (Höriger der<br />

Begierde) als feindliche Brüder und durch seine Beziehung auf Eva<br />

wird Adam wegen seines Verlangs nach ihr zum Opfer der Schlange,<br />

zumal Eva als Objekt des Verlangens der Schlange näher steht, als der<br />

Mythos zunächst zu sagen scheint.<br />

Während das Verhältnis des Adam zu Samael das von Verstand und<br />

Begehren ist, das des Adam zu Gott das Verhältnis von Verstand und<br />

Geist, ist das Verhältnis des Adam zu Eva das eines vom Verstand oder<br />

vom Begehren regierten Willen, dargestellt<br />

im Bilde der Geschlechterdifferenzierung,<br />

da sie als Menschen hinsichtlich ihrer<br />

Verständigkeit gleichen Wesens sind. Mit<br />

dieser Betonung der sexuellen Differenz<br />

wird aber die potentielle Gleichstellung ihrer<br />

Beziehung über den Verstand verhüllt zugunsten jener Affekte und


Leidenschaften, welche in der Geschlechterbeziehung vorherrschen,<br />

d.h. zugunsten des Verhältnisses von Wunsch oder Begehren. Das folgende<br />

Schema zeigt die Beziehungen.<br />

Das Verhältnis Adams zu Gott ist das des Vorbilds zum Abbild oder<br />

Ebenbild, das Verhältnis Adams zu Samael ist das des Verstandes zum<br />

Geist Verstand Wille Verlangen<br />

androgyn/ungeschlechtlich Gott<br />

männlich Adam I Samael<br />

weiblich Eva<br />

Vereinigung/ Ergänzung Adam II Eva<br />

Begehren oder ein Verhältnis des Streits zwischen beiden um die gegenseitige<br />

Leitung; genealogisch aber ist es ein Verhältnis von Geschwistern<br />

(direkten Kindern eines Vaters oder als Geschöpfen Gottes),<br />

während die Beziehung zwischen Gott und Samael nach dessem<br />

Aufstand eine unüberbrückbare Trennung darstellt und Adam mit Eva,<br />

die dem Samael näher steht als dem Adam, an den Scheideweg stellt:<br />

vor die Wahl des Verstandes oder der Begierde.<br />

Die genealogische Beziehung beginnt zunächst mit der folgenden Relation,<br />

in der Jachwe der Vater ist und Samael/Lucifer und Adam<br />

dessen Söhne, sie selbst untereinander also Geschwister sind:<br />

Jhw<br />

abgefal- Samael Adam<br />

lener Lucifer<br />

Sohn (äBr) (jBr)<br />

67<br />

Die Bewertung der Unterscheidung<br />

des älteren vom<br />

jüngeren Bruder entspricht<br />

der Bewertung von Kain<br />

und Abel oder Esau und<br />

Jakob, d.h. der höheren<br />

Wertschätzung des jüngeren gegenüber dem älteren Sohne, der sich im<br />

Falle Samaels von seinem Vater losgesagt hat, wie dies der ältere Sohn<br />

macht, wenn er mit seiner Heirat seinen eigenen Haushalt gründet,<br />

während einer der jüngeren Brüder bei den Eltern bleibt und deren<br />

Haushalt nach ihrem Ableben übernimmt. Diese Genealogie wird<br />

schließlich ergänzt um eine Frau und Schwester oder Tochter, deren<br />

schwesterliche oder töchterliche Bestimmung aber verdrängt wird:<br />

In dieser Konstellation erscheint Eva auf den ersten Blick näher mit<br />

Adam verbunden als mit Samael, nicht zuletzt, weil sie aus Adams<br />

Rippe geformt ist und weil sie als ein Geschenk Gottes an Adam vorgestellt<br />

wird. Doch ihre Herkunft aus der Rippe erinnert an eine andere<br />

Herkunft und Bedeutung der Eva, nämlich an ihre Schlangennatur.


68<br />

In der theologischen Deutung der patriarchalen Priesterschaft wird mit<br />

der geschlechtlichen Differenzierung von Adam und Eva schließlich<br />

die Notwendigkeit der Vermittlung des Willens zwischen dem Verstand<br />

und dem Begehren ausgedrückt, das sich dem Verstande fügen<br />

soll, aber auch die Möglichkeit der Unterwerfung des Verstandes unter<br />

das Begehren andeutet genauso wie die Möglichkeit der Rückbeziehung<br />

auf den Geist. Den Zwiespalt repräsentiert hier der Wille, d.h.<br />

seine sittliche Ambivalenz zwischen Vernunft und Eigensinn.<br />

<strong>Der</strong> Verstand als<br />

himmlisches Vermögen,<br />

d.h. seine Geistbezogenheit,<br />

wird<br />

vom Verstand als<br />

Diener der Begierde<br />

unterschieden, und<br />

die Probe des Paradieses ist die Wahl zwischen den beiden<br />

Möglichkeiten des Verstandesgebrauchs: Beherrscher der Begierde<br />

oder ihr Diener. Wir müssen also Adam zeitlich unterscheiden in den<br />

Adam, dem zu dienen, Samael sich weigert, d.h. in den gottbezogenen<br />

Adam, von dem Adam, dessen Verstand in der Versuchung seines Eigensinnes<br />

steht, den Eva zum Vorschein bringt und deshalb als seine<br />

anima repräsentiert, in der Erzählung als Frau, die dem Manne gewogen<br />

ist, und deren Untertänigkeit erst später durch ihr eigenes Versagen<br />

in der Prüfung erzwungen wird. Vor dieser Prüfung ist Adam der<br />

Hörige der Eva, da Eva die Vergegenständlichung seines Verlangens,<br />

euphemistisch: nach Geselligkeit, darstellt, aber nach der Prüfung wird<br />

sie von Gott folgerichtig in die Untertänigkeit zum Manne versetzt, da<br />

sie der Anlaß der Gesetzesübertretung war, das Werkzeug Samaels,<br />

also die Notwendigkeit ihrer Aufsicht oder Kontrolle unter Beweis<br />

gestellt hat.<br />

Jhw (Va)<br />

Samael Adam Eva (Sw) I<br />

Lucifer<br />

Eva (To) II<br />

Gott erscheint durch die Harmonie des Paradieses oder dieses erscheint<br />

als sein Schmuck oder Glanz, dessen schöne Harmonie auf dem Verzicht<br />

eigenwilligen Verlangens oder auf der Achtung vor dem Gesetz<br />

beruht, während Samael den Streit jener Wirklichkeit darstellt, in dem<br />

sich der Eigenwille irdisch realisiert und gegen das Gesetz stellt.<br />

Bedeutsam ist auch, daß der Mensch zuerst als einer und dann als zwei<br />

Wesen vorgestellt wird, so daß Eva zunächst als das Ende der Einsamkeit<br />

oder Isolation Adams erscheint oder als die Befriedigung seines<br />

Verlangens nach Gesellschaft oder nach einer Gefährtin, und die<br />

Versuchung durch Eva damit auch die Wahl darstellt zwischen dem


Ende der Einsamkeit oder Isolation und der Fortsetzung der Einsamkeit,<br />

d.h. sie richtet sich an ein wiederum ambivalentes Verlangen<br />

Adams, ohne das sie als Verführung chancenlos gewesen wäre.<br />

Diese Ausdeutung der Prüfung im Paradies entspricht der Wahl und<br />

der Haltung, d.h. der Prüfung, die die antiken Mysterien ihren Initianden<br />

eröffnet haben und den Schwierigkeiten ihres Weges: in der<br />

exoterischen Initiation: die Reifung des Jungen zum Manne, in der<br />

mystischen Initiation: die Befreiung von dem niederen Selbst und der<br />

Welt, um das höhere Selbst zu gewinnen. <strong>Der</strong> Kampf findet in jedem<br />

Falle im Menschen selbst statt.<br />

<strong>Der</strong> Sündenfallsbericht reflektiert also eine Initiationsprüfung. Gott<br />

stellt die Verzichts- oder Opferbereitschaft Adams und Evas auf die<br />

Probe mit dem Verbot der Frucht vom Baume der Erkenntnis, mit dem<br />

Tabu ihres Genusses. Er prüft nicht nur deren Fähigkeit, ihre Schlangennatur<br />

zu beherrschen, sondern setzt sie als Wächter dieses Baumes,<br />

des paradiesischen Schatzes ein, d.h. er ernennt die potentiellen Gesetzesbrecher<br />

zu Gesetzeshütern, die das Gesetz ja nur dann hüten können,<br />

wenn sie sich selbst zu hüten wissen, was sie grundsätzlich auch<br />

können, aber was durch dieses Können allein noch nicht garantiert<br />

wird. Die Wächter haben die Freiheit, sich dafür zu entscheiden, sich<br />

selbst zu beherrschen oder von ihrer Begierde beherrscht zu werden,<br />

und damit auch die Freiheit, Gott zu überraschen.<br />

Über diese Veränderung der Rollen wird der ursprüngliche Schatzwächter<br />

als Wächter überflüssig und kann daher entsprechend seiner<br />

Vorgeschichte zum Verführer oder Initiator des Schatzraubes umgedeutet<br />

werden. <strong>Der</strong> Preis des Paradieses, seiner solidarisch-seligen<br />

oder harmonischen Welt, wird als die Bewachung des Baumes und als<br />

Verzicht auf die verbotene Frucht dargestellt, deren Genuß das Dasein<br />

in dieser seligen Solidarität verwirkt. <strong>Der</strong> Genuß der paradiesischen<br />

Solidarität, eines Daseins ohne leibliche Mühen und Streit, wird also<br />

nur durch Verzicht und Opferbereitschaft erworben, während das Verlangen,<br />

das Nachgeben der Begierde, ihren Tribut fordern: Streit,<br />

Mühsal und Gefahr, d.h. das Ende der paradiesischen Seligkeit.<br />

<strong>Der</strong> Ort der Handlung ist ein seliger Garten ewigen Lebens. Den unangefochtenen<br />

Aufenthalt darin müssen sich Adam und Eva aber erst<br />

verdienen. Sie allein entscheiden darüber, ob sie bleiben wollen oder<br />

nicht, und ihre Entscheidung für oder gegen die Regeln des Paradieses<br />

wird durch ihre Haltung gegenüber der verbotenen Frucht dargestellt,<br />

durch ihre Entscheidung gegen das Tabu oder für ihre Enthaltsamkeit.<br />

Ihre Aufgabe oder Prüfung ist die Bewachung eines Baumes und der<br />

69


70<br />

Verzicht auf seine Früchte. Er steht für die sexuelle Liebe und seine<br />

Früchte für die sexuelle Fortpflanzung, mit deren Genuß automatisch<br />

das Dasein von Adam und Eva endlich wird, ihre Sterblichkeit einsetzt,<br />

denn Fortpflanzung ist nur für die Sterblichen ein Mittel das Leben zu<br />

verlängern, mit deren Genuß Adam und Eva also selbst zu etwas werden,<br />

vor dem man sich in Zukunft hüten muß.<br />

<strong>Der</strong> Situationshintergrund des Geschehens führt zu der Frage: Wenn<br />

von allem in diesem Garten überreichlich vorhanden ist, warum sollen<br />

die Wächter darüberhinaus das begehren, was sie beschützen sollen?<br />

Und derselbe Situationshintergrund leitet auch zur Antwort: Weil das<br />

Motiv nicht durch das Paradies selbst begründet werden kann, denn in<br />

dem sind Adam und Eva schon; hier partizipieren sie schon an allem,<br />

was dieses Paradies bieten kann, sie können es nur voll und ganz verlieren,<br />

d.h. aus ihm vertrieben werden, und dieser Ausschluß aus dem<br />

Paradies kann nur durch ihr eigenes Verhalten, durch ihr Nein zu den<br />

Regeln begründet werden. Also führt die Geschichte den Versucher<br />

ein, eine Kraft, die zwar ihren Sitz außerhalb jenes Gartens Eden hat,<br />

aber sich dennoch in ihn einzuschleichen weiß, und dort zu verweilen<br />

vermag, solange sie sich an die Regeln hält. <strong>Der</strong> Mythos nennt sie eine<br />

listige Schlange, welche das selbstsüchtige Verlangen von Adam und<br />

Eva nach der verbotenen Frucht, nach jener Kraft verkörpert, die auch<br />

sie selbst geschaffen hat. Die Versuchung suggeriert: sie könnten durch<br />

den Genuß der Frucht mehr sein als sie sind, nämlich so sein wie Gott,<br />

oder genealogisch: die Kinder könnten durch den Genuß der verbotenen<br />

Frucht ihr eigener Vater werden.<br />

<strong>Der</strong> erste Sündenfall, den der biblische Bericht hier voraussetzt, der<br />

Fall Lucifers oder Samaels, entspricht den ägyptischen, mesopotamischen<br />

und griechischen Mythen vom Kampf der Lichtgötter gegen die<br />

Brut der Finsternis, das Wasser, die Unterirdischen etc., gegen Apepi,<br />

Tiamat oder Typhon; er begründet also die duale Ordnung des Kosmos<br />

als seinem mit sich selbst geführten Streit zwischen seinem Geist und<br />

seiner Mannigfaltigkeit an Möglichkeiten des Willens oder Eigensinns.<br />

Mit diesem Ereignis, des Abfalls des Eigenwillens vom Geiste, wird<br />

die Existenz des Versuchers erklärt, der selbstsüchtige Wille, der das<br />

selbstlose Einssein mit dem Paradies zu dieser seiner anderen Möglichkeit<br />

verführen muß. Mit der Zusammenführung des Verstandes und<br />

des Begehrens, mit der Verbindung von Adam und Eva, erscheint die<br />

Möglichkeit der Wahl zwischen der Orientierung des Wollens an der<br />

Vernunft oder an dem Genuß. Das Sich-auf-sich-beziehen, das im<br />

Willen rein erscheint, liefert erst die Bedingung der Möglichkeit für


die freie Entscheidung, für die Wahl der Neigungen oder der Selbstüberwindung.<br />

Die Prüfung des Paradieses erscheint als die Herausforderung<br />

der Freiheit, sich seiner Vernunft inne zu werden und von der<br />

Unvernunft abzustehen, d.h. die ablenkende Kraft des isolierenden<br />

Verlangens in der Selbstbeherrschung aufzuheben. Es soll sich also der<br />

himmlische Adam auch in der Verbindung mit seiner Gefährtin Eva<br />

gegenüber der Faszination von Samael/Lucifer behaupten, welche in<br />

der Möglichkeit der Verkürzung des Wollens auf die Eigenwilligkeit<br />

des Begehrens beruht, welche das Selbst unter seine Möglichkeiten<br />

stellt, anstatt es über sich hinauszuführen.<br />

Nur die verbotene Frucht, die Konzentration auf das gegenseitige Begehren<br />

aneinander, lockt den Eigenwillen aus dem selbstlosen Dasein<br />

im Paradies hervor und fesselt das künftige Leben an sich, das nach<br />

ihrer Kost nicht mehr Teil ist von allem, sondern alles, was der Eigenwille<br />

nicht ist, von sich abtrennt und als Objekt seines Begehrens sich<br />

gegenüberstellt. Nach dem Sündenfall verfällt das Paradies in die verwirrende<br />

Vielfalt des Wettbewerbs der Verlockungen, welche sich um<br />

die Aufmerksamkeit des Begehrens streiten, und das Leben in den<br />

Widerstreit der Begierden, die sich gegenseitig dessen Kräfte abjagen.<br />

Das Früchteraubmotiv erscheint als ein weiterer Baustein der Handlungsführung,<br />

dessen Herkunft die Bearbeitung der einzelnen Bestandsstücke<br />

der Gesamthandlung durch die Redakteure des Pentateuch<br />

sehr gut verbirgt. Denn es stellt sich doch die Frage, warum der<br />

Mensch sich im Paradies überhaupt als Schatzwächter bewähren sollte,<br />

oder welchen Vorteil ihm der Früchteraub böte, da er doch schon mit,<br />

wie in und an allem partizipierte, was das Paradies zu bieten hatte.<br />

Samael/Lucifer antwortet darauf: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Diese<br />

Gottes-Illusion des Eigenwillens, nicht nur mit allem nach Maß und<br />

Status verbunden und druchtränkt zu sein, was das Paradies ja bot, sondern<br />

alles so zu sein, wie es der Wille anmaßend darüber hinausschreitend<br />

will, der Wunsch gleich Befehl, das ist der Preis, für den das<br />

Paradies aufs Spiel gesetzt worden ist.<br />

Weder den Versucher noch seine Komplizin, die Verräterin ihres paradiesischen<br />

Gefährten, brauchte die Genesis-Redaktion lange im eigenen<br />

Traditionsgut wie dem der Nachbarn zu suchen.<br />

Die Schlange gibt Eva den Apfel, der sie befruchtet wie die großen<br />

antiken Göttinnen die Mandel, das Kraut oder der Granatapfel. Die<br />

orientalischen Mysterien nennen die äquivalenten Früchte, Kerne oder<br />

Samen. Diese Auffassung gebietet schon ihr Name. "Die semitische<br />

Form der Eva "Hawwat" ist mit der lykischen chba-eni= Mutter Hepi,<br />

71


72<br />

der späteren gleichzustellen, der alten syrischen Gottheit<br />

Hebat, die auch in den Formen Heba, Hapatu und Kapatu genannt<br />

wird." 20<br />

Adam und Eva werden also durch den Genuß jener Frucht zu den<br />

sterblichen Urmenschen, der auch jene großen Mütter mit den Urmenschen<br />

ihrer Kultur schwanger machte, d.h. sie werden die Irdischen,<br />

weil sie ihrem egoistischen Verlangen nach sich selbst erliegen,<br />

Gott die Agape verweigern, welche die Persisitenz des Paradieses verbürgte.<br />

<strong>Der</strong> himmlische Mensch, dessen Anbetung Samael verweigerte, war<br />

ein androgynes Wesen, das aus demselben Grunde in zwei Menschen<br />

mit verschiedenem Geschlecht geteilt wurde, den das Brhad Aranyaka<br />

Upanishad für die Teilung des einen Wesens nennt: die Einsamkeit.<br />

<strong>Der</strong> Bawli Eruwin (18a) erzählt, daß der Urmensch ursprünglich als<br />

ein Wesen mit einem männlichen, nach vorn blickenden Gesicht und<br />

einem weiblichen, nach hinten blickenden Gesicht, geschaffen worden<br />

ist, das Gott dann in Adam und Eva teilte, während der Leviticus<br />

Rabba (14,1) den Urmenschen als siamesische Zwillinge verschiedenen<br />

Geschlechts schildert, deren Rücken zusammengewachsen waren.<br />

Dieses Wesen gleicht dem phrygischen Zwitter Agdistis und auch<br />

seine Teilung in Attis und Kybele entspricht jener Teilung des Zwillings<br />

in Adam und Eva, die in jener Schrift berichtet wird und uns zudem<br />

die Weigerung Samaels verständlich macht, da im phrygischen<br />

Mythos von der Angst der Götter vor diesem Zwitter die Rede ist.<br />

Nach der Teilung stehen sich Mann und Frau nun in ihren negativen<br />

mytholgischen Werten einander gegenüber, was besonders die ewige<br />

Wiederkehr der Schändung des Attis durch Kybele demonstriert,<br />

welche der Perpetuierung der Erbschuld entspricht. Aus dem Androgyn<br />

Adam/Eva wird das Geschwister- und Liebespaar Adam und<br />

Eva.<br />

Da Adam nach seiner Androgynität die Möglichkeit der Sterblichkeit<br />

entsprechend der Janusnatur seiner Verständigkeit, die entweder<br />

geistbeherrscht ist oder unterjocht vom Verlangen (seine paradiesische<br />

Existenz ist aus irdischer Sicht einer postmortalen Seligkeit vergleichbar),<br />

d.h. den wiederkehrenden Vater und Sohn der antiken Mysterien<br />

darstellt und Eva die große Mutter und damit die Unsterbliche (Lebenskraft),<br />

richtet die Schlange sich an Eva, die ursprünglich die Jung-<br />

20 V.Haas, Hethitische Berggötter, Mainz 1982, S.30; siehe: B.Hrozny, Une inscription<br />

de Ras Schamra en lange Churrite, Archiv Orientalni Prag 1932, S.121


frau und große Mutter war, d.h. nicht nur mit parthenogenetischen<br />

Fähigkeiten begabt war, sondern auch die Mutter der Schlange, die als<br />

verführender Sohn agiert (also selbst schlangenhaft ist). In diesem<br />

Kontext geht es zunächst um die individualisierende Selbstbeschränkung<br />

der das Dasein hervorbringenden Kraft, die davon für sich selbst<br />

noch nicht betroffen war.<br />

<strong>Der</strong> biblische Sündenfallsbericht tauscht die Funktion des Drachen<br />

oder der Schlange aus. Als Sohn der großen Mutter ist die Schlange<br />

der verführende Teufel und als Verführte ist die Mutter eine sterbliche<br />

Tochter. Als Vater der Tochter oder als Bruder der Schwester ist Adam<br />

der Verführte (Inzest) und als Gatte ist er der Herr ihrer Gabe des<br />

Lebens geworden. In dieser Relation erscheinen die beiden Urmenschen<br />

auch in den Eheverhältnissen der altägyptischen und altmesopotamischen<br />

Königshäuser, für welche sowohl der Geschwisterinzest<br />

als auch der Vater-Tochter-Inzest typisch gewesen ist. Das sittlich positiv<br />

bewertete Verwandtschaftsverhältnis wird durch den Sexualverkehr<br />

dieser Verwandten ins Negative verkehrt.<br />

In der Genesis ist der Drache kein Schatzwächter, sondern der Schatzräuber<br />

und Eva keine große Mutter mehr, sondern die Tochter Adams<br />

und Komplizin der Schlange, während die Schlange die Rolle des<br />

feindlichen Bruders weiter spielt. <strong>Der</strong> Früchteraub stellt sie schließlich<br />

alle in das gleiche Verhältnis zu Gott: Schlange, Eva und Adam; die<br />

Verstoßung Samaels oder Lucifers wiederholt sich jetzt als Vertreibung<br />

des Menschen aus dem Paradies.<br />

Die symbolische Korrespondenz des Helden und seines Schatzes ist<br />

auch in der Nibelungensage zu sehen, die der Funktion dieser Korrespondenz<br />

in allen <strong>Drachenkampf</strong>mythen entspricht, nämlich der Bewertung<br />

der Anstrengungen des Helden durch ihren Zweck. Ist das<br />

Ziel schlecht (wie im Falle des verfluchten Ringes), dann wird auch<br />

der Held dem Verlangen, das schlecht ist, erliegen; ist das Ziel gut (wie<br />

im Falle der Jungfrau oder der anderen Kostbarkeiten), dann veredelt<br />

es auch das Streben des Helden. Auf die gleiche Weise ist Adam auf<br />

die verbotene Frucht durch Eva bezogen wie Eva auf sie durch Samael<br />

bezogen ist, denn im Paradies ist sie ihm als Gattin verboten, weil sie<br />

aus seinem Fleische ist, d.h. Adam ist symbolisch von Anfang an als<br />

der Gefallene, der Irdische, gestaltet oder in soziologischer Deutung<br />

als der, der das Inzestverbot übertritt und damit bereit ist, jedes andere<br />

Gebot zu übertreten. Diese Verbindung des Verbotes der Frucht mit<br />

der Versuchung der Einsamkeit Adams, deren Überwindung Eva<br />

darstellt, welche also das Verlangen nach Eva gegen das Verbot der<br />

73


74<br />

Frucht ausspielt und die Furcht vor der Einsamkeit mit dem Genuß der<br />

Frucht konfrontiert, ist im Pentateuch nur noch andeutungsweise zu<br />

entdecken.<br />

Die Entzweiung des paradiesischen Zwitters ist im Leviticus Rabba mit<br />

dem gegenseitigen Paarungsverbot verknüpft, dessen Übertretung<br />

durch Adam und Eva die späteren Folgen zeitigte. Erst unter dieser<br />

Bedingung ist er dann auch bereit, das zu tun, wozu ihn Samael über<br />

Eva schließlich verführen will, zum Menschenopfer, dessen Problematik<br />

in der Bibel nur noch versteckt angesprochen wird (z.B. Abraham-Isaak),<br />

aber zur Praxis der in diesem Kontext stehenden orientalischen<br />

Kulte gehörte.<br />

Philo berichtet, daß die<br />

Bibel den Menschen als<br />

irdischen und himmlischen<br />

Menschen unterschieden<br />

hat, daß der<br />

himmlische Mensch<br />

nach Gottes Ebenbild<br />

gestaltet wurde und<br />

unsterblich war, während<br />

er nach der Übertretung<br />

zum irdischen<br />

Menschen wurde, der sterblich ist. Über die Schlange () erklärt er,<br />

daß sie die Sinnenlust und Gier (Eigenwille) darstellt, die alles, was<br />

von der Erde kommt, für sich mißbraucht. "Siquidem symbolum<br />

cupiditas est serpens, figurans voluptarium: etc." (Genesin sermo I, 48)<br />

Es erscheint auf Anhieb schwer, in dieser Umschreibung des Philo<br />

auch noch eine Kritik an der matriarchalen Kultpraxis zu entdecken,<br />

und doch ist sie in Philos Worten gegeben, denn zum Sterblichen<br />

wurde der Adam erst im Kult der Muttergöttin, d.h. in der Funktion,<br />

die er dort einzunehmen hatte. Die Schlange war für Philo ein Vasall<br />

oder Sohn der alles Lebendige verlangenden Urmutter, von der<br />

verschwiegen wurde, daß sie auch die alles Leben Gebende war, die<br />

Eva, Hawwat, die Ti-Ama-at oder Tsalaa, Thalassa. Eliminiert wurde<br />

auch, daß "die, welche Leben gibt", auch die war, welche folgerichtig<br />

auch alles gegebene Leben zurückforderte.<br />

Deutlicher bringt Hippolyt in seinem Bericht über die Peraten die<br />

Schlange mit Eva in Beziehung: - , , <br />

. , ,


... -, <br />

, . , , . <br />

(Conf. Jo.I,1).<br />

Ophis, die Schlange, ist hier also der weise Logos der Eva, das Mysterium<br />

Edem, der Fluß von Edem etc. und schließlich die große <br />

(Ursprung), von der geschrieben steht, daß der Logos in ihr war. Hier<br />

wird die Schlange ganz deutlich als der Sohn der Eva oder der großen<br />

Mutter aufgefaßt, ebenso wie der Sohn Marias in dem Jerusalemer<br />

Targum, d.h. als der die Erkenntnis oder den Inzest vermittelnde Gegenspieler<br />

Adams. Wenn man sich die kultursoziologischen Gegeben-<br />

Jhw<br />

Adam Schlange Eva (Sw)<br />

75<br />

heiten der Stammeskultur vergegenwärtigt,<br />

die Tatsache, daß nur ein<br />

initiierter Mann, der alle Mannbarkeitsproben<br />

abgelegt hat und während<br />

der Zeit der Seklusion in die<br />

geheimen Überlieferungen des<br />

Stammes eingeweiht worden ist, das Recht erwarb, eine Frau zu heiraten,<br />

d.h. zu erkennen, wozu er ohne diese Einweihung nicht in der<br />

Lage gewesen wäre, nämlich zu wissen, welche Frau, aus welchem<br />

Clan und welchem Verwandtschaftsgrad ihm erlaubt ist, zu heiraten,<br />

dann begreift man, warum Erkenntnis und legitimer Beischlaf in dieser<br />

Kulturstufe das gleiche bedeuten, nämlich den Ausdruck des Eingeweihtseins<br />

oder des Wissens. Ehefähigkeit setzt in dieser Kulturstufe<br />

das Eingeweihtsein, die erfolgreich absolvierte Initiation, voraus, d.h.<br />

den Besitz des Stammeswissens und der Stammesgeheimnisse, weshalb<br />

Heiraten gleich regulärer Beischlaf und legitimer Beischlaf gleich<br />

Erkennen ist.<br />

Als Adam Evas Angebot, symbolisiert durch den Apfel, die Frucht, die<br />

in anderen Schatzsucherversionen den Schatz oder das Geheimnis darstellt,<br />

annahm, hat er gegen dieses Gebot der Erkenntnis verstoßen,<br />

d.h. Inzest begangen. Die Peraten sahen in der Schlange die Gleichnisse<br />

der alten Großen (orientalischen) Göttinnen und bezogen sie auf<br />

Eva, die Frau Adams, die in der Genesis auf diese Rolle reduziert<br />

wurde, obwohl sie auch Adams Tochter war. Eva repräsentiert vereinzelte<br />

Aspekte der großen Mutter, die durch Samaels Verführung ins<br />

Negative seiner selbst verkehrt worden sind, die Begierde, das Wünschen<br />

und Wollen, das Verlangen und die Neigungen, die ihr in der<br />

Schlange, wie Philo und Hippolyt schreiben, als ihrem Prinzip gegenübertreten,<br />

d.h. sie stellen die große Mutter mit ihrem Schlangensohn


76<br />

in die gleiche Reihe, während sie ihren anderen Sohn als Adam ausschließlich<br />

dem väterlichen Prinzip zuordnen. Hier erscheinen also die<br />

Schlange und Eva als Geschwister und Adam als Gatte, der dann mit<br />

beiden nicht verwandt ist. In dieser Konstellation verführen dann zwei<br />

Geschwister den Gatten der Schwester gegen dessen väterliche Gebote<br />

und der Gegensatz der Prinzipien, welcher der Gegenstand der paradiesischen<br />

Prüfung ist, korreliert mit einem genealogischen Gegensatz,<br />

den jener auch für sich darstellen könnte. Aber diese Genealogie erweist<br />

sich als Fragment und spätere Redaktion.<br />

Auf dieses eigentümliche Verhältnis der Schlange zur Eva verweisen<br />

auch verschiedene jüdische Mythen und einige Legenden. Eine Legende,<br />

die Eugene Rolland veröffentlichte, zeigt etwas von diesem<br />

symbolischen Verhältnis, das zwischen der Schlange und Eva besteht,<br />

ja sie erinnert an die gnostische Aufassung von Samael als dem Schöpfer<br />

des Menschen: "Als Gott die Frau schuf, nahm er eine Rippe von<br />

Adam und legte sie auf die Erde, während er die Wunde wieder zunähte.<br />

Die Schlange aber bemächtigte sich ihrer heimlich und da sie<br />

damals noch Füße hatte, so lief sie schnell davon. Gott schickte darauf<br />

Michael, um sie zu verfolgen. <strong>Der</strong> Erzengel glaubte sie schon sicher zu<br />

Jhw Michael<br />

↔<br />

Adam Schlange Eva (Sw)<br />

Eva (To)<br />

haben, denn er hatte sie bei<br />

den Füßen ergriffen, aber<br />

die Schlange ließ ihm die<br />

Füße in den Händen und riß<br />

sich mit einem Ruck los.<br />

<strong>Der</strong> Erzengel war ganz be-<br />

stürzt und ging hin, um dem lieben Gott sein Mißgeschick zu erzählen.<br />

<strong>Der</strong> liebe Gott, der dadurch in der Schöpfung gehindert war, überlegte<br />

einen Augenblick, nahm die Füße der Schlange, blies hinein und schuf<br />

so unsere Stamm-Mutter" 21 Nicht die Rippe Adams, nicht die Erde,<br />

sondern die Füße der Schlange sind also hier das Material, aus dem<br />

Eva geschaffen wurde, was auf eine stoffliche Gleichung verweist:<br />

Rippe= Erde= Schlangennatur. Hier erscheint Eva als die Schwester<br />

oder Tochter der Schlange und Michael als die Ursache der Alternative<br />

einer Abstammung der Eva von Gott und Adam. Das Handeln des<br />

Michael, um die Abweichung der Abstammung Evas zu erklären, ist<br />

nicht nur verdächtig, sondern auch eine Spur. Zunächst verbindet diese<br />

Geschichte die beiden Alternativen der Abstammung Evas:<br />

21 nach O.Dähnhardt, Natursagen I, Leipzig, Berlin 1907, S.116


Diese Legende setzt die gleiche Beziehung zwischen der Schlange und<br />

Eva wie die peratische Lehre. Ophiten und Peraten sahen in ihr den<br />

Logos der Eva und sie bezogen sich dabei auch auf die Feststellung,<br />

daß hebr. Nachasch auch den Phallus bedeutet (siehe Ezech.XVI,31).<br />

Auch in diesem Hinweis auf das männliche Geschlechtsorgan wird die<br />

Gleichsetzung der Eva mit dem Leben und ihre Ausrichtung auf das<br />

Wollen und Begehren nur unterstrichen, durch deren Zusammenwirken<br />

die Fortpflanzung angeregt wird und stattfindet. Eva wird auch in<br />

dieser Version als ein ursprünglich androgynes Wesen kenntlich,<br />

dessen Teilung ähnlich begriffen werden muß wie im phrygischen<br />

Agdistis-Mythos.<br />

Michal (Eva?) N.N.<br />

Adam Schlange (feindl. Bruder)<br />

77<br />

Die Autoren der Genesis<br />

haben also das Verhältnis:<br />

große Mutter-Gatte/Sohn,<br />

das für das<br />

kabirische Mythologem<br />

typisch ist, umgekehrt und streichen die Mutterschaft der Eva bei der<br />

Schlange ohne ihre Beziehung, die durch sie erklärt wird, aufzugeben<br />

und bedienen sich der mütterlichen Ursprungssymbolik in einer<br />

abstrakteren Fassung, die sie aber über die Verbindung mit der<br />

Schlange negativ werten. Die Schlange ist hier zwar ganz deutlich<br />

männlich gezeichnet, aber das Männliche ist mit ihrer Gestalt von dem<br />

väterlichen Zuständigkeitsbereich (Geist, Licht) in den mütterlichen<br />

(Trieb, Finsternis) übersetzt worden, was seine rein geschlechtliche<br />

Repräsentanz hier zeigt. Die kabirische Gruppierung wird von den<br />

Genesisautoren bewahrt, aber anders differenziert; die Orientierung<br />

nach dem Geschlecht wird ergänzt um die beiden schon genannten<br />

Duale, der unbesiegbare Sohn der großen Mutter wird zur Schlange in<br />

dem Gleichnis des vom Menschen unbesiegbaren Bösen, der als ihr<br />

Opfer das Urmenschenpaar gegenübergestellt wird, zu dem die große<br />

Mutter und ihr Gatte aus der kabirischen Triade umgedeutet werden.<br />

Instruktiv ist auch, wie die Genesisautorenschaft bei der Einführung<br />

der Eva vorgeht. Adam wird zuerst geschaffen, auf seine irdische<br />

Herkunft, d.h. auf seinen erdmütterlichen Ursprung, wird nur noch<br />

andeutungsweise hingewiesen und er wird zum Herrn der Kreatur ernannt.<br />

Nachdem er unter den Tieren keine Gefährtin finden konnte,<br />

schuf Gott Eva aus einer Rippe Adams, ein Vorgang, der auf die ursprünglich<br />

nichtirdische, außergewöhnliche Herkunft der Eva hinweist,<br />

der sie aber zugleich mit Adam in eine ihm untergeordnete Beziehung<br />

bringt, obwohl sie nichts anderes verkörpert als das Verlangen des


78<br />

Adam, das nur eine Gefährtin zu befriedigen vermag. Andererseits<br />

weisen diese Geburtsumstände Evas Besonderheit gegenüber Adam<br />

aus, sie ist aus der Rippe und er aus der Erde, und begründen nach dem<br />

<strong>Drachenkampf</strong>mythologem ihre Funktion als Schatzräuberin und<br />

Mittäterin beim Schatzraub.<br />

Die Genesisautoren betonen aber einen anderen Aspekt der Geburtsumstände:<br />

So wie das Ebenbild Gottes nicht Gott sein kann, so<br />

kann das Ebenbild Adams, das aus ihm gezeugt worden ist, nicht höher<br />

als er selbst stehen und auch nicht gleicher Art sein. Eva repräsentiert<br />

aus theologischer Sicht deswegen einen Teilaspekt Adams, den Triebaspekt,<br />

der den Kontakt mit dem Eigenwillen der Schlange vermittelt,<br />

d.h. die Verführbarkeit Adams erst möglich werden läßt.<br />

Auch über die Rolle, die der Erzengel Michael in der erwähnten Legende<br />

spielt, können wir einen Zugang zu dieser Deutung finden, denn<br />

einen vergleichbaren Beitrag des Michael an der Menschenschöpfung<br />

berichtet auch das Targum Jeruschalmi. Hier sammelt der Erzengel<br />

Michael den Staub, aus dem der Mensch geformt wird. Graves kommentiert<br />

ganz in unserem Sinne: "Da die<br />

Jhw<br />

jüdischen Rabbinen ältere Überlieferungen...<br />

Adam Eva lieber veränderten als eliminierten, könnte man<br />

eine ursprüngliche Geschichte annehmen, in der<br />

Schlange<br />

Michal (nicht Michael) von Hebron, die Göttin,<br />

von der David sein Königtum durch die Ehe mit<br />

ihrer Priesterin erlangte, die Schöpferin Adams<br />

gewesen wäre." 22<br />

Diese Gleichsetzung der Michal mit Michael legt das Ebioniterevangelium<br />

nahe, das Wallis Budge in seinen "Miscellaneos Coptic Texts"<br />

wiedergibt. Graves übersetzt die entsprechende Stelle: "Es steht im<br />

Evangelium an die Hebräer geschrieben, daß der gute Vater im Himmel,<br />

als Christus zu den Menschen auf die Erde kommen wollte, eine<br />

große Macht herbeirief, deren Name Michael war, und in deren Obhut<br />

gab er Christus. Und diese Macht stieg auf die Erde herab und wurde<br />

Maria geheißen, und Christus war sieben Monate in ihrem Schoß, wonach<br />

sie ihn gebar..." 23<br />

Die androgyne Gleichung: Michael= Maria legt förmlich die Schlußfolgerung<br />

nahe, daß diese "Macht Gottes", wie dieser Name (Mika-el)<br />

in der Regel übersetzt wird, weiblichen Charakters ist, und daß diese<br />

22 R.Graves, Die weiße Göttin, Hamburg 1985, S.183<br />

23 R.Graves, Die weiße Göttin, Hamburg 1985, S.184


Namenswahl sehr wahrscheinlich jene von Graves angesprochene Beziehung<br />

in Erinnerung hält. Nach dieser Tradition steht Adam in dem<br />

oben skizzierten genealogischen Verhältnis. Es ergänzt die schon<br />

erwähnten Legendenbeispiele von der ursprünglich androgynen Natur<br />

des Wesens Adam-Eva und verweist auf den kabirischen Kontext.<br />

Diese Konstellation entspricht recht genau einer bekannten Variante<br />

der kabirischen Gruppierung, die wiederum in die jüdische Tradition<br />

so integriert worden ist, wie es die beiden Schemata oben kurz skizzieren.<br />

Nach dem ihnen zugrunde liegenden Schema verführen eine Mutter<br />

und ihr Sohn, der der Stiefsohn ihres Gatten ist, den Gatten der Mutter<br />

gegen die Gesetze des Gattenvaters zu handeln.<br />

Die Rippe heißt hebräisch Tzalaa, ein Wort, dessen Verwandtschaft<br />

mit Thalaath, der von Berossus "Thalassa-Omorka" genannten "Mutter<br />

der Welt" auffällig ist. Zur selben Wurzel gehört auch tselem= der<br />

Schatten, als den die jüdische Geheimlehre den Adam auch begreift.<br />

Aus diesem Schatten, einem anderen Gleichnis für den Ebenbildcharakter<br />

Adams, tritt auch die Eva hervor, d.h. beide Urmenschen werden<br />

aus derselben Quelle gestaltet. Aber schon das Wort, das hier in<br />

Verbindung mit Eva gebraucht wird, weist auf eine Bedeutungsdifferenzierung<br />

beider Figuren hin.<br />

<strong>Der</strong> Sumerologe, S.N. Kramer, fragt: "Warum hielt es der hebräische<br />

Erzähler für angebracht, eine Rippe zu wählen statt eines anderen<br />

Körperteils, um das Weib hervorzubringen, dessen Name Eva nach<br />

biblischem Begriff ungefähr bedeutet: "sie, welche Leben schafft". Das<br />

wird uns klar, wenn wir annehmen, daß ein sumerisches Vorbild, wie<br />

z.B. das Dilmun-Gedicht, der biblischen Legende zugrunde liegt. Im<br />

sumerischen Gedicht befindet sich unter den kranken Organen Enkis<br />

auch die Rippe. Das sumerische Wort für Rippe ist ti. Die zur Heilung<br />

von Enkis Rippe erschaffene Göttin heißt Nin-ti, "Herrin der Rippe".<br />

Aber das sumerische Wort ti bedeutet gleichzeitig "Leben schaffen".<br />

<strong>Der</strong> Name Nin-ti bedeutet also nicht nur die "Herrin der Rippe", sondern<br />

auch die "Herrin, welche Leben schafft". In der sumerischen Literatur<br />

wurde daher die "Herrin der Rippe" mit der "Herrin, welche Leben<br />

schafft" identifiziert... Dieses Wortspiel, eines der ältesten literarischen<br />

Wortspiele, wurde in die Paradieslegende übernommen und verewigt,<br />

obwohl es dort natürlich seinen Wert verliert, da das hebräische<br />

Wort für "Rippe" und das Wort für "sie, welche Leben schafft" nichts<br />

79


80<br />

miteinander gemein haben." 24 Kramers Urteil über den Bedeutungsverlust<br />

dieses Wortspiels im Hebräischen bezieht sich aber nur auf<br />

Wörter mit ti. Was aber passiert, wenn man für das Wort Tzalaa nach<br />

einem vergleichbaren Wortspiel sucht?<br />

Nin-ti<br />

Michal<br />

Eva Jhw<br />

Adam Schlange Adam Eva<br />

Hebräisch Tsalaa, "Rippe", ist etymologisch auf baylonisch thalath,<br />

thalassa zu beziehen, so daß Kramers Einschätzung, daß dieses<br />

sumerische Wortspiel in der Genesis seinen Sinn verloren hat, nicht<br />

mehr zutrifft. Kramers Hinweis zeigt uns sogar die Vorlage der babylonischen<br />

Anspielung, denn Thalassa, Thalath ist Tiamat (ti-ama-at),<br />

was auch nichts anderes als "Mutter (ama), die Leben schafft (ti),"<br />

heißt und die Rippe zudem noch auf die Schlange zu beziehen erlaubt<br />

(siehe auch: tiamtu, tamtu= Meer), denn Tiamat ist der Drache der<br />

kosmologisch-theogonischen Mythe und das Urwasser, über dem der<br />

Geist brütete. Die Homonymie von ti, mit der die sumerische Vorlage<br />

spielt, wird im hebräischen Text durch die ursprüngliche Synonymie<br />

von tsalaa und Talassa ersetzt, welche die gleiche Assoziation<br />

ermöglicht wie die Homnymie des Vorbildes.<br />

Wir finden also auch hier wieder jene Beziehung zwischen Eva und<br />

der Schlange, die wir schon aus der peratischen Lehre und der Legende<br />

erfahren haben.<br />

Das Gleichnis der Rippe weist also Eva als die eigentliche Mutter<br />

Adams und als Schlange aus. An die Stelle der Herrin der Rippe, der<br />

Lebensspenderin, haben die Redakteure des biblischen Textes als<br />

Schöpfer Jhw gesetzt, und aus derem Sohn dessen Sohn Adam gemacht<br />

sowie aus ihrer Schlangennatur oder ihrem Schlangensohn den<br />

gefallenen Sohn Gottes:<br />

Festzuhalten lohnt sich auch, daß der Autor (die Autoren) der Genesis<br />

sich hier auch eines Gleichnisses bedient (bedienen), das wir in der orientalischen<br />

oder altgriechischen Mythologie ebenso wie in der Mythologie<br />

verschiedener Urvölker häufig finden. Dort sind es die Geburten<br />

aus Körperteilen, dem Haupt, dem Schenkel etc. der Götter: Zeus, Hera<br />

etc., und in den Mysterien ist auch diese Geburtsversion mit einem<br />

24 S.N.Kramer, Die Geschichte beginnt mit Sumer, München o.J. S.112


"Sündenfall" verbunden (vergleiche auch die Geburt der Pitris aus der<br />

Seite Brahmas).<br />

Für alle Äquivalente jener Geburten aus einem Körperteil der männlichen<br />

Gottheit läßt sich nachweisen, daß diese Körperteile selbst, Eponyme<br />

von Muttergöttinnen sind, ganz ähnlich wie ti und , so<br />

daß sich das Wunder dieser Geburten dementsprechend relativiert.<br />

Wir sehen also mit welcher Konstruktion der Genesisautor seine Spuren<br />

verwischt, ohne sie ganz unkenntlich zu machen, indem er zwei<br />

Mythologeme verbindet: die seltsamen Geburtsumstände der Helden<br />

oder Gottheiten und die Projektion der Drachenzüge der großen Mutter<br />

auf den weiblichen Urmenschen, die er zugleich mit negativen Vorzeichen<br />

versieht, um sie in dem Früchteraubgeschehen dramatisch zur<br />

Geltung zu bringen, das wiederum zum Mythologem der Feuer- und<br />

Körnerraubmythen gehört, die universal als Sündenfallsmythen der<br />

Ackerbauern erzählt werden. 25 <strong>Der</strong> Früchteraub galt im vorderen<br />

Orient als ein stehendes Gleichnis für den Sündenfall, so daß er auch in<br />

der biblischen Version die Vertreibung aus dem Paradies durch Anspielung<br />

auf dieses Wissen zu begründen vermochte, zumal sie den<br />

Gebrauch der Frucht außerdem mit der Idee der zum Geschlechtsverkehr<br />

auffordernden Gabe verknüpft hatte, deren Annahme die Einwilligung<br />

signalisierte.<br />

Die bekannten <strong>Drachenkampf</strong>versionen verteilen die mythischen Gegenstände<br />

und Wesen auf folgende drei Funktionen:<br />

Schatz, Wächter, Herausforderer oder Dieb, und zwar so, daß die Kostbarkeiten<br />

als Schatz, die Drachen oder Schlangen als Wächter und die<br />

Helden als Herausforderer oder Diebe erscheinen. In der biblischen<br />

Sündenfallsgeschichte werden dagegen die Funktionen des Wächters<br />

und des Herausforderers anders besetzt: <strong>Der</strong> Baum und seine Früchte<br />

bleiben der Schatz, aber der negative Held, Adam, ist hier der Hüter<br />

des Schatzes, und die Schlange erscheint als Schatzräuberin, die sich<br />

der Eva bedient, welche die eigentliche Rolle der Schatzräuberin oder<br />

der Komplizin des Schatzräubers innehat, die mit ihrer Schlangenverwandtschaft<br />

begründet wird. Diese Umbesetzung der Funktionen<br />

gleicht den Funktionen der Schlange und des Helden im Gilgamesh-<br />

Epos oder in der Yawi-Mythe der Marind-anim, sie gehört aber auch in<br />

versteckter Form zu allen anderen Schatzräuberversionen des <strong>Drachenkampf</strong>es,<br />

denn der Held dieser Versionen vereitelt das erstemal<br />

die Schatzübergabe an den Drachen (z.B. das Jungfrauenopfer), indem<br />

25 Siehe: Ad. E.Jensen, Das Weltbild einer frühen Kultur, Stuttgart 1949<br />

81


82<br />

er den Drachen tötet. Damit bedient sich das Pentateuch jener <strong>Drachenkampf</strong>version,<br />

die den Drachentötermythen vorausgeht und die<br />

jene voraussetzen, um den Verlust des Paradieses und die Sterblichkeit<br />

des Lebens zu erklären. Indem Eva Adam dazu bringt, die Frucht, die<br />

er hüten soll, zu essen, verlieren beide, Adam und Eva, den Schatz und<br />

ihre mit ihm verbundene himmlische Stellung und es ereilt sie dasselbe<br />

Schicksal, das sie ihrem Schatz bereitet haben, der Tod und die Erkenntnis<br />

ihrer Gegensätzlichkeit, die sich nicht nur auf ihr Geschlecht,<br />

sondern noch mehr auf ihre Herkunft bezieht, die sie auch in ihrer zeitweiligen<br />

Verbindung nicht überwinden können. So wie das Blatt der<br />

Linde die Unsterblichkeit des Sigurd vereitelt, so hebt die Frucht der<br />

Eva die himmlische Existenz des Adam auf.<br />

Auch in dem Bild der oralen Einverleibung der Frucht erscheint das<br />

Gegenteil zur hegenden und pflegenden Haltung, die von ihnen gefordert<br />

wurde, d.h. das Gegenteil zu jener die eigene Begierde und das<br />

eigene Verlangen zügelnden Haltung der Rücksicht und der Liebe zum<br />

Schatz als dem Wesen, welches das eigene Selbst als Gatte oder als die<br />

anderen Verpflichtungen ist. Die Schuld, in der der Mensch schon immer<br />

stand, konnte ihm aber erst klar werden mit der Übertretung des<br />

Gebotes, das ihn von nun an immer an sie erinnern soll; daß nämlich<br />

alle Erscheinungen des Paradieses nicht sein Eigentum waren, sondern<br />

Gaben der paradiesischen Schöpferkraft in der Gestalt seines Gottes, in<br />

dessen Schuld der Mensch immer steht und damit auch in der Pflicht<br />

ihrer Vergeltung, welche im Paradies das einzige Gebot, das er einhalten<br />

sollte, repräsentierte.<br />

Die regelmäßige Opfergabe an den Drachen (z.B. die Auslieferung der<br />

Jungfrauen) repräsentiert auch die Praxis des rituellen Menschenopfers<br />

oder der ihm vergleichbaren Opfer, wie das in den vegetationsmythischen<br />

und stammesaitiologischen Versionen des <strong>Drachenkampf</strong>mythos<br />

noch ganz deutlich wird, so daß die Versuchung der Eva durch die<br />

Schlange den Versuch darstellt, die Muttergöttin dazu zu überreden,<br />

ihre eigenen Kinder zu fressen (Eva opfert Adam der Schlange für den<br />

Apfel), dessen Ansinnen sie aber mit ihrem Gemahl teilt, was der<br />

patriarchalen Genesisautorenschaft auch wirklich als die abscheulichste<br />

Sünde erscheinen mußte. Tatsächlich aber führte der stellvertretende<br />

rituelle Königsmord, der die Kinder der großen Mutter anstelle<br />

des Königs, ihres Gemahls, betraf, zur Aufhebung der kultischen<br />

Vorherrschaft der großen Mutter und zur Übernahme ihrer Macht<br />

durch den großen Vater und später durch deren Sohn.


<strong>Der</strong> Hinweis der Gnostiker und Kirchenväter auf die Anmaßung und<br />

auf den Selbstgenuß der paradiesischen Gabe zur Befriedigung des Eigenwillens<br />

der Erkenntnis erscheint allerdings abstrakt, aber was hinter<br />

dieser Abstraktion steht, das erklären die Sündenfallsmythen oder Todesaitiologien<br />

der Jäger- und Sammler-Völker oder der Hackbauern.<br />

Durch selbstsüchtigen Übergriff aus dem Gefühl einer Übermacht heraus,<br />

das sie gegenüber ihrem Opfer hegen, vergreifen sich Vorweltliche<br />

oder Urzeitheroen an anderen und verschulden so die Notwendigkeit,<br />

daß geraubtes Leben mit Leben wieder gesühnt werden muß,<br />

d.h. den Überfall des Todes auf den Kosmos. Dieses Vergehen gegen<br />

die Harmonie der urzeitlichen Ordnung steht hinter den Anspielungen<br />

auf Begierde, Egoismus und egoistischem Erkenntnisgebrauch, die<br />

auch in biblischer Tradition die Markenzeichen des Bösen sind, denn<br />

mit dem Urmord der Jäger-Sammler-Mythen wird genauso das eigenwillige<br />

sich über die Urzeitgesetze Hinwegsetzen geahndet wie der Eigenwille<br />

in den Mythen der Hochkulturen, in dem sie den Ursprung<br />

allen Übels erkannten. Diese Zerstörung der kosmischen Harmonie ist<br />

es, die von allen Sündenfallsmythen gleichermaßen heraufbeschworen<br />

wird, deren Erbschuld der Mensch zu übernehmen hat, weil er durch<br />

sie jenen Kosmos erst geschaffen hat, dessen Unordnung ihn jetzt<br />

bedroht.<br />

Wagen wir eine relative Chronologie der hier erwähnten <strong>Drachenkampf</strong>mythen,<br />

dann geht dem Raub der Frucht, der mit dem Verlust<br />

der Unsterblichkeit und des Paradieses verbunden ist, der kosmologische<br />

Dualismus und der Kampf der Lebens- und Todesgötter voraus<br />

und ebenso wurde der Verlust der neolithischen Harmonie als eine<br />

Folge des Schatzraubes dargestellt und die Metallurgie als der dritte<br />

Sündenfall begriffen.<br />

Auch die vegetationsmythischen Elemente oder Relikte im biblischen<br />

Bericht versuchen uns zu einer geschichtlichen Korrelation mit der<br />

neolithischen Revolution.<br />

Dem nomadischen Vorurteil erscheint die domestizierte Frucht oder<br />

das domestizierte Korn als der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte<br />

nicht nur Segen bringen, sondern auch Fluch, die ambivalente Folge<br />

übermenschlicher Eingriffe in das kosmologische Gleichgewicht (siehe<br />

die Ackerbau- Mysterien), denn der Ackerbau bringt soziale Ungleichheit<br />

und den Streit um Besitzrechte (Kain und Abel). Die Genesisautoren<br />

favorisieren deutlich den Abel. Mit Ackerbau und Viehzucht<br />

erscheinen also der Herr und der Knecht und die patriarchale<br />

Unterwerfung des Weibes: "Und dein Verlangen soll nach deinem<br />

83


84<br />

Manne sein, und er soll dein Herr sein." (Gen. I,2,16) Da die Pflanzendomestikation<br />

eine weibliche Leistung gemäß der typischen Arbeitsteilung<br />

und laut ihrer Zuschreibung auf die entsprechenden Göttinnen<br />

und die Hackbaukultur stark matriarchal ausgeprägt war, ist es nur folgerichtig,<br />

daß Eva dem Adam die Frucht reicht und damit jenes verhängnisvolle<br />

Bündnis besiegelt, das zur altorientalischen Hochkultur<br />

führte. Das gleiche symbolisiert auch der Fall Evas von der großen<br />

Mutter zur "Männin" Adams.<br />

Die neuen Anbau- und Landgewinnungsmethoden verbessern nicht nur<br />

die Ernährungsgrundlage, sie führen auch zu Bevölkerungsüberschüssen<br />

und damit zur politischen Expansion oder den Völkerwanderungen,<br />

die zuerst dem Prinzip der Segmentierung und Verpflanzung (Kolonisation)<br />

folgen und schließlich sich offen der kriegerischen Mittel<br />

bedienen. <strong>Der</strong> Fluch, den Gott in der chaldäischen Genesis gegen den<br />

Menschen ausspricht, nennt alle moralischen Vorbehalte gegenüber der<br />

neuen Kultur: "Weisheit und Kenntnis sollen ihn schädigen (Z.23), er<br />

soll Familienzwiste haben (Z.24), der Gewaltherrschaft sich fügen<br />

müssen (Z.25), wird die Götter erzürnen (Z.26), soll nicht genießen die<br />

Frucht seiner Arbeit (Z.27), soll getäuscht werden in seinen Wünschen<br />

(Z.28), soll nutzlose Gebete ausschütten (Z.29/31), soll Beschwerden<br />

haben an Körper und Geist (Z.30/32), soll- und damit bricht die Erzählung<br />

ab- auch in Zukunft noch Sünde begehen (Z.33)." 26<br />

<strong>Der</strong> biblische Bericht deutet scheinbar die "neolithische Revolution"<br />

(Gordon Childe) genauso wie die germanische Heldensage die metallurgische<br />

Revolution. Das menschliche Verhalten, das sie zeichnen,<br />

gleicht sich in beiden Versionen und gestaltet die Situation wie viele<br />

vergleichbare Mythen, z.B. die Prometheusmythe.<br />

26 George Smith, Chaldäische Genesis, Leipzig 1876, S.85


Die Schätze "Volk" und "Weisheit"<br />

Ähnlich wie uns unsere Heldensage und unsere religiöse Tradition zu<br />

einem Verständnis auch der <strong>Drachenkampf</strong>sagen anderer Kulturkreise<br />

führen kann, ja mehr noch: ähnlich wie die Berücksichtigung anderer<br />

Mythen das Verständnis der eigenen Mythen erhellt, erlaubt auch die<br />

Mythe des Pythonkampfes von<br />

Apoll einen Zugang zur <strong>Drachenkampf</strong>mythe<br />

der Pygmäen, die zur<br />

kosmologisch-aitiologischen Version<br />

gehört.<br />

Die Helden beider Mythen tragen<br />

deutlich vergleichbare Züge. <strong>Der</strong><br />

Homerische Hymnus (3 Apoll.,<br />

115) sagt über die Geburt des<br />

Apoll, daß Leto ihre Arme um<br />

einen Palmbaum legte und die<br />

Knie auf die weiche Erde stützte,<br />

als der kleine Apoll an das Licht<br />

der Welt sprang und alle Götter<br />

daraufhin eine anstimmten.<br />

Die Göttinnen wickelten das Kind und Themis benetzte seine Lippen<br />

mit Nektar und Ambrosia. Kaum aber hatte Apoll davon genossen- von<br />

jenem Trunk, der dem Marind-anim Helden vorenthalten wurde-, da<br />

zeriß er auch schon die Windeln und verlangte nach der Leier und dem<br />

Das genealogische Schema der griechischen Mythe:<br />

<br />

<br />

Schatz Schatz Held<br />

(Olympier)<br />

Bogen (frühreifes Kind). Euripides (Iph. Taur. 1234) läßt Leto zu ihrem<br />

Kinde sagen: "Während du noch ein Kind warst, das in den Armen<br />

seiner lieben Mutter hüpfte, erschlugst du das Ungeheuer und bestiegst<br />

deinen glücklichen Sitz der Weissagung".<br />

Diese Heldentat zierte also die Kindertage der Gottheit und machte<br />

aufmerksam auf eine hoffnungsfrohe Zukunft. So wird das Publikum<br />

85


86<br />

auf die Frühreife des Gottes, der schon als Kind ein alter Held war,<br />

aufmerksam gemacht, aber auch das Ereignis und der Typus der Prüfung<br />

spezifisch gewertet.<br />

Während der Held genauso gezeichnet wird wie in der Bambutimythe,<br />

erscheint der delphische Drache aber als ein Orakelwächter (ein Weistumswächter),<br />

d.h. auch in einem weiteren Sinne als ein Schatzhüter.<br />

Von dem Drachen der Bambutimythe heißt es dagegen, daß er das<br />

Land entvölkerte, alle Menschen darin auffraß.<br />

Dieses Resultat der Drachengier schildern neben der Bambutimythe<br />

auch die <strong>Drachenkampf</strong>geschichten der Masai, Basuto, Bawenda<br />

(afrikanische Völker) oder der Djauan und Bola (Australien und<br />

NeuGuinea), also die Drachengeschichten jener Stämme oder Völker,<br />

deren Welt kurz hinter dem Territorium ihrer Nachbarstämme zu sein<br />

aufhört. Die Geschlossenheit und Überschaubarkeit dieses Lebensraums<br />

nährt durchaus die Vorstellung seiner potentiellen Menschenleere,<br />

deren Ziel der pythische Drache nicht mehr verfolgt. Er<br />

forderte dagegen regelmäßige Opfer (Menschenopfer) und verschlang<br />

nur noch die Personen, die seinem Schatz zu nahe kamen. Diese Relativierung<br />

entspricht der Integration der griechischen Mytholgie in einen<br />

größeren Überlieferungs- und d.h. Bevölkerungskontext, vor dessen<br />

Kenntnis die Entvölkerung der Erde unwahrscheinlich wird. In einer<br />

Epoche der Völkerwanderungszeit kann das Verschwinden eines<br />

Volkes oder Stammes nicht mehr das Verschwinden der gesamten<br />

Menschheit bedeuten. Unter diesen Voraussetzungen läßt sich eine<br />

kollektive Katastrope nicht mehr als Katastrophe, die das Sosein in<br />

seiner Gesamtheit betrifft, d.h. als Menschheitskatastrophe, darstellen.<br />

Aber auch diese Einschränkung verweist noch in den Zusammenhang,<br />

den die Bambutiversion herausstellt, der diese Form der Verallgemeinerung<br />

noch möglich ist, während dafür das Schatzhütermotiv (Schatz<br />

der Weisheit) des altgriechischen Beispiels bei den Bambuti nur im<br />

Kontetxt vergleichender Betrachtungen unterschoben werden kann.<br />

Siehe das genealogische Schema des Helden in der Bambuti Mythe<br />

(unten), welche das genealogische Schema der Helden in den Mythen:<br />

Tiri und Karu (Südamerika), Kanigyilak und Nemokois (Nordamerika)<br />

und Ninguningu und Nambalia (Neu Guinea) abbildet und strukturell<br />

mit dem der Bambuti-Mythe übereinstimmt, wenn man die Rollen von<br />

Held und Doppelheld als Alternativen einer Variablen begreift.<br />

Machte die Tat den Pygmäenhäuptling zum Landeshäuptling oder König<br />

(genauso wie sie den Drachentöter der theogonisch-kosmologischen<br />

Mythen zum Götterfürst gemacht hat), so wurde Apoll, der


von Geburt an schon einer der Götter war, zum Orakelbesitzer und<br />

seine Prophezeiungen hatten von da an die Drachenkraft. Beide Helden<br />

nahmen in Besitz, was dem Drachen gehörte, der eine ein Volk, der<br />

andere das Orakel. Aber auch aus der Sicht des Schatzhüterschemas<br />

kann das Volk als ein Schatz angesprochen werden, den der Held dem<br />

Drachen entreißt.<br />

Bambuti-Variante:<br />

Mu ??? Volk Drache<br />

So (Opfer)<br />

(Held)<br />

Zum Vergleich die Variante:<br />

Mu ??? Volk Drache<br />

So (Held) So (Opfer)<br />

Im Schatzhüterbild können wir allem Anschein nach die allgemeinste<br />

und umfassendste Funktion des Drachen erblicken, wenn man das<br />

Attribut der Kostbarkeiten, die er hütet, nur weit genug faßt, denn neben<br />

der expliziten Kennzeichnung des Drachens als Schatzhüter, etwa<br />

bei den Chinesen als Fu-tsang-lung, kann man durchaus feststellen,<br />

daß der kosmologische Drache den Kosmos, der vegetationsmythische-<br />

die Vegetation, der jahreskreisliche- das Jahr oder das Zeitkontinuum,<br />

der aitiologische- das Volk, der initiationsmythische das Initiationswissen,<br />

der mystische- das Erlösungswissen etc. als einen Schatz hütet,<br />

der ihm dann von den Göttern und Helden abgejagt wird, und es ist tief<br />

symbolisch, den Kosmos, die Vegetation, das Jahr, das Leben, das<br />

Volk oder das Wissen aus dem besiegten Drachen hervorkommen zu<br />

sehen, was diese Mythen auch mit den emanativen Kosmologien ohne<br />

Drachen verbindet, d.h. den Drachen mit der natura naturans. Gleichfalls<br />

wird deutlich, daß der <strong>Drachenkampf</strong> kein einmaliges Ereignis<br />

darstellt, sondern eine beständige Aufgabe oder Drohung ist, die<br />

immer wieder auf ihren Helden wartet, der ihr zu begegnen weiß.<br />

Vilhelm Grönbech stellt den gleichen Kontext heraus, in den wir diese<br />

beiden Mythen zu stellen suchen, wenn er auf folgenden Hintergrund<br />

verweist: "Die Sage hebt hervor, daß es der neugeborene Apollon ist,<br />

87


88<br />

der die Heldentat vollbringt, den Drachen zu töten. In dem Bühnenbild,<br />

das wir bereits entrollt haben, steht Leto da, den Gott auf dem Arme,<br />

während der Ruf >Je Paian< ertönt. Wie in Athen sind also die Tötung<br />

des Unholds und die Neugeburt des Gottes als die zwei Seiten des Dramas<br />

nahe verbunden gewesen. Das Opfer ist die Enstehung der Welt,<br />

der Besieger des Dämons ist der Gott, der in seiner ganzen Macht und<br />

Herrlichkeit emporsteigt. In ihrer Bilderpracht bewahrt die Mythologie<br />

lange die Erinnerung an den kultischen Hintergrund der Sage." 27 Die<br />

Anspielung an das Geschehen, das die Mysterien grundsätzlich verschweigen,<br />

der Opfertod eines alten Gottes zugunsten einer neu<br />

entstehenden Welt und seine Wiedergeburt in seinem Widerpart,<br />

unterstreicht einmal mehr die Beziehung der <strong>Drachenkampf</strong>- und Weltmenschmythen.<br />

Apoll erscheint hier kaum noch erkennbar, so Grönbech,<br />

als der große Sohn der großen Mutter und der <strong>Drachenkampf</strong><br />

wird zur Erlösungsgarantie. Die griechische Verwandlung des Vegetationsmythologems<br />

bedient sich dabei durchaus auch der orientalischen<br />

Vorlagen des theogonisch-kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>es und projiziert<br />

ihr Schema auf das Mysterium der vegetationsmythisch gestalteten<br />

Wiedergeburtslehre, das auf diese Weise seine neue, patriarchal<br />

gefärbte Interpretation erfährt. Entweder wird in den altorientalischen<br />

<strong>Drachenkampf</strong>mythen die Erde vor dem Untergang bewahrt oder<br />

aus den Teilen des besiegten Drachens wird der Kosmos neu geschaffen.<br />

Neugeburt des Gottes und Sieg über das Ungeheuer sind also wie<br />

die Weltenstehung mit dem Aufstieg des neuen Götterhelden zu<br />

verbinden oder gleichzusetzen, mit dem Vorrang, den Marduk oder<br />

Horus damit erringen. Das aber ist auch in der Bambutifassung genauso<br />

deutlich wie in den altorientalischen Versionen, während es bei<br />

dem Pythokampf der aufwendigen Arbeit philologischen Schließens<br />

bedarf, um das gleiche auch in dieser Mythe wiederzuerkennen.<br />

27 Vilhelm Grönbech, Götter und Menschen, Greichische Geistesgeschichte II,<br />

Reinbek 1967, S.120


III<br />

Das Zwei-Brüder-Märchen in der Sammlung Grimm<br />

Die <strong>Drachenkampf</strong>episode im Zwei-Brüder-Märchen (Grimms Märchen<br />

Nr.60), dessen Versionen von Schweden über das Mittelmeer und<br />

Kleinasien bis nach Tibet hin verbreitet sind, ist ganz bestimmt nicht<br />

das einzige Motiv des Märchens. Aber dieses Märchen zeigt alle jene<br />

Elemente, die die <strong>Drachenkampf</strong>mythen mit den altorientalischen<br />

Mysterien verbinden, und bietet damit eine Gelegenheit, das Problem<br />

der Beziehung der Pygmäen und der Kabiren zu beleuchten oder die<br />

Ähnlichkeiten der nordwest-australischen Mythologie mit den altorientalischen<br />

Mysterien aus einer gemeinsamen Geisteshaltung heraus zu<br />

begreifen.<br />

Die Geschichte, welche erklärt, warum einer der zwei Brüder in die<br />

<strong>Drachenkampf</strong>situation kam, warum sie also von Zuhause fort mußten,<br />

ist die Geschichte des neidischen Onkels (älterer VaBr), den die beiden<br />

Brüder um das Herz und die Leber eines Wundervogels betrogen<br />

haben. Auch diese Geschichte erscheint in den Versionen dieses Märchens<br />

bis nach Tibet (siehe unten). Das genealogische Schema der Akteure<br />

wiederholt sich dementsprechend, wenn auch mit einigen Abweichungen:<br />

Va VaBr<br />

arm reich<br />

Br Br Jungfrau Drache<br />

1 Held Held Opfer<br />

2 Opfer Opfer<br />

3 Opfer Held<br />

Die Senioritätsregel und die Statuszuschreibung in korporativen Verwandtschaftsverbänden<br />

erklärt, warum ein jüngerer Bruder sich den<br />

Weisungen seines älteren Bruders fügen muß und seine Gehorsamspflicht<br />

sogar soweit geht, daß er auch auf dessen Geheiß seine Söhne<br />

aussetzen muß, deren Aussetzung soziologisch auch die Abspaltung<br />

einer Filiallinie aus einem patrilinearen Verwandtschaftsverband reflektiert.<br />

In dieser Perspektive beschreibt das Märchen dann die Pro-<br />

89


90<br />

blematik und Konflikte der Integration einer neuen Institution in ein<br />

älteres kosmologisches Gefüge.<br />

Das Zwei-Brüder-Märchen verbindet das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit dem<br />

Mythologem der "kabirischen Gruppierung" (Lenormant) und seine<br />

<strong>Drachenkampf</strong>version ist gleichfalls nahezu deckungsgleich mit dem<br />

maltesischen Märchen "<strong>Der</strong> siebenköpfige Drache" (Auch im Tristan<br />

kehrt das <strong>Drachenkampf</strong>motiv mit der Befreiung der Tochter des<br />

irischen Königs in ähnlicher Weise wieder). Das maltesische Märchen<br />

gleicht wiederum der griechischen Mythe von Perseus und Andromeda<br />

oder der von Herakles und Hesione, wenn auch die Figur des Usurpators<br />

in der Heraklesversion fehlt; in der Perseusmythe spielt Agenor<br />

die Rolle des Türken aus dem maltesischen Märchen, obwohl dessen<br />

Ansprüche nicht so gut begründet sind wie die des Agenor.<br />

Die Befreiung der Jungfrau im Zwei-Brüder-Märchen verbindet dieses<br />

Märchen offensichtlich mit der Tradition der anderen <strong>Drachenkampf</strong>mythen,<br />

betrachtet man aber den Helden dieser Geschichte, dann<br />

entdeckt man alle Hinweise, die auf die "kabirische Gruppierung" verweisen.<br />

<strong>Der</strong> Held hat einen Zwillingsbruder, der ihm in allem gleicht, d.h. ihn<br />

funktional vertreten kann, wie es das Märchen selber vorführt. Dieser<br />

Bruder wird zum Subjekt der Handlung in der Phase, in der der Held<br />

versteinert ist, d.h. sich in der Unterwelt aufhält oder selbstvergessen<br />

im Zauber der Hexe schläft. Bruder und Held stehen also dioskurisch<br />

zueinander oder wie der alte und der junge Attis, Adonis oder Tammuz.<br />

Sie sind als handelnde Personen dioskurisch angelegt und dann in<br />

einem weiteren Sinne auch mit der Gruppierung des Osiris und Horus<br />

zu vergleichen.<br />

Bevor die Stellvertretung des einen Bruders durch den anderen durch<br />

die Handlung gefordert wird, versucht ein Nebenbuhler des Helden,<br />

ihn um die Früchte seiner Tat zu bringen, indem er den schlafenden<br />

Helden enthauptet und sich mit dessen Leistungen brüstet. Er versucht<br />

auch die Heirat mit der befreiten Jungfrau zu erschleichen. Doch im<br />

Gegensatz zu Herakles, der den Atlas um den Lohn seiner Tat betrogen<br />

hat, gelingt es dem Nebenbuhler hier nicht. <strong>Der</strong> Held vereitelt die falsche<br />

Hochzeit und heiratet dann selber die Jungfrau, nachdem er den<br />

Widersacher entlarvt und besiegt hat.<br />

Wer denkt nicht bei dem Bild des enthaupteten Helden an das Schicksal<br />

der orientalischen Korngötter, die den Intrigen feindlicher Brüder<br />

oder feindlicher Götter zum Opfer fielen, an Dionysos, Osiris, Orpheus<br />

oder an den keltischen Bran, den Erlen- und Krähengott. Auch diese


Enthauptung muß der zweite Bruder erleiden, nur daß dieser Bruder<br />

vom Helden enthauptet wurde, was unsere mythologische Anspielung<br />

hier nur unterstreicht.<br />

Nachdem der Märchenheld König geworden ist und seine Würden genießt,<br />

gerät er bei der Verfolgung einer Hindin während einer Jagd in<br />

einen verwunschenen Wald und dabei auch in die Hände einer Hexe,<br />

die ihn und seine Tiere in Steine verwandelt. Dies ist seine Unterweltsreise,<br />

von der er allein durch seinen Zwillingsbruder erlöst wird,<br />

der seine Oberweltsreise dort fortsetzt, wo die des Helden aufgehört<br />

hat, aber dabei die Ränke der Hexe durchschaut und die Versteinerten<br />

mit dem ganzen Wald befreit.<br />

Die Zweiteilung des Helden in ihn selbst und in seinen Zwillingsbruder<br />

(ein dioskurisches Bild für das Verhältnis von Seele und Körper in<br />

den Mysterien) erlaubt seinen Aufenthalt in der Unterwelt und unter<br />

den Lebenden zugleich, eine Konstruktion, die wir mit der griechischen<br />

Mythologie nicht ohne Berechtigung dioskurisch nennen, ein<br />

Gleichnis, das aber alle orientalischen Mysterien und viele Zwillingsmythen<br />

der archaischen Völker in verschiedenen Bildern vorstellen.<br />

<strong>Der</strong> Aufenthalt des Helden in der Unterwelt entspricht dem Aufenthalt<br />

des Tammuz bei Allatu, des Attis, Adonis, Osiris, Dionysos, Orpheus<br />

etc. im Totenreich oder des Mondes der Bambutimythe bei Mataligeda.<br />

<strong>Der</strong> Bruder des Helden erfährt von der Todesgefahr, in der sich der<br />

Held befindet, durch ein Messer, das sie vor ihrer Trennung in einen<br />

Baum gestoßen hatten und das mit seinem Rosten die Gefahr angezeigt<br />

hat. <strong>Der</strong> Baum ist hier die Nabelschnur, die die beiden Brüder miteinander<br />

in Verbindung hält, der silberne Faden zwischen Seele und<br />

Körper oder kosmologisch: die Achse, die die Regionen des Kosmos<br />

verbindet (Ober- und Unterwelt).<br />

<strong>Der</strong> Bruder geht den Weg des Helden nach (d.h. er wird zum Helden)<br />

und kommt zu dem Schloß, in dem die Frau des Helden auf ihn wartet,<br />

und ihn mit ihrem Gatten verwechselt. Er übernimmt diese Rolle in<br />

den durch die Sitte als schicklich ausgewiesenen Grenzen und trennt<br />

deshalb ihr Nachtlager mit seinem Schwert. Dann begibt auch er sich<br />

auf die gleiche Jagd wie sein Bruder und befreit ihn schließlich, weil er<br />

der Verführung der Waldhexe nicht erliegt. Als der Held von der<br />

Stellvertretung seines Bruders bei seiner Frau hört, schlägt er ihm im<br />

Zorn das Haupt ab, setzt es ihm aber mit Hilfe des Lebenskrautes<br />

wieder auf, nachdem er von der Keuschheit des brüderlichen Verhaltens<br />

erfahren hat. Auf die Wiedergeburtslehre verweist auch, daß dem<br />

Helden im zweiten Anlauf gelingt, worin er beim erstenmal scheiterte.<br />

91


92<br />

Auffallend ist die Wiederholung der Enthauptung des Helden, der das<br />

Erlösungswerk vollbracht hat. <strong>Der</strong> Widersacher, der sich der Jungfrau<br />

zu versichern suchte, spielt entweder die Rolle des Brauträubers, die<br />

aus anderen Mythen bekannt ist (Kadmos oder Kesar) oder er nimmt<br />

das Motiv vorweg, das erst am Ende des Märchens seine Begründung<br />

findet. So gesehen erläutert die zweite Enthauptung die Motive und<br />

Ansprüche, welche zur ersten Enthauptung geführt haben, nämlich der<br />

Besitz und die Anmeldung älterer Rechte, die erst durch die Heldentat<br />

nichtig werden.<br />

Die Winterzauberwalderlösung (Resurrektion des Helden) wird durch<br />

die Beziehung desselben Schicksals (Enthauptung des Helden), das der<br />

Held erlitten hatte, auf den Zwilling als Äquivalent des <strong>Drachenkampf</strong>es<br />

übertragen: es folgen hier also zwei verschiedene Handlungsbilder,<br />

die das gleiche Thema darstellen mit dem kleinen Unterschied, daß die<br />

Taten der ersten Episode einen Rechtsanspruch begründen, während<br />

die Taten der zweiten Episode einen Rechtsanspruch verteidigen. <strong>Der</strong><br />

Lohn des Zwillings wäre die Hindin, die er verfolgt hatte, ein Thema,<br />

dessen Ausführung das Märchen sparte, weil ihr Geheimnis gelüftet<br />

worden ist und weil die Hindin die Jungfrau in ihren autochthonen<br />

Vorzeichen repräsentiert, die sie verloren hat im Königreich, das der<br />

Drache bedroht. Aber als Jungfrau, welche zugleich die Hexe ist, erscheint<br />

sie in ihrer ganzen matriarchalen Macht, solange sie den Held<br />

als Opfer zu erlisten versteht. Erst der Sieg über die Hexe durch den<br />

zweiten Bruder stellt jenen Zustand her, in dem die Jungfrau und nicht<br />

der Held das Opfer ist, d.h. die Situation des <strong>Drachenkampf</strong>es. So wird<br />

der große Kreis, der Jahres-, Lebens-, Geschlechter-, und Geschehenskreis,<br />

noch einmal geschlossen und der Ring beginnt, sich wieder von<br />

neuem zu drehen. Das Motiv der Rehjagd des Königs unterstreicht die<br />

Umschreibung der Winterwaldverzauberung als Aufenthalt im Totenreich,<br />

denn das Reh oder der Rehbock (Hirsch etc.) gehören zu einer<br />

Symbolik des Totenkultes, die in vielen Mythen verarbeitet worden ist.<br />

Herakles jagt den weißen Hirsch der Artemis, Amataon raubt den Rehbock<br />

des Königs von Annwm und der Schutzpatron der Jäger, der<br />

heilige Hubertus, verfolgt den Hirsch genauso vergeblich wie der erste<br />

der zwei Brüder des Grimmschen Märchens. Das Reh oder der Rehbock<br />

bedeuten das verborgene Geheimnis ihres Totenkultes. Folgt man<br />

der soziologischen Deutung des <strong>Drachenkampf</strong>mythos, der mit dem<br />

<strong>Drachenkampf</strong> einen Wechsel der dynastischen Folge begründet, der<br />

Held wird neuer Ahnherr oder Dynast und die durch den <strong>Drachenkampf</strong><br />

erworbene Gattin repräsentiert die Verbindung mit und zur alten


Linie, dann muß man noch weiter gehen und mit diesem Wechsel der<br />

Filiationsrechnung auch einen Wechsel der Göttergenealogien<br />

verbinden, wozu uns Robert Graves in seiner "Griechischen Mythologie"<br />

und in seiner "Weißen Göttin" förmlich drängt. Die Hirschjagd<br />

beschreibt übrigens den gleichen sozialgeschichtlichen Vorgang. Robert<br />

Graves vermag dieses Mythologem sogar noch mit den Völkerwanderungen<br />

der europäischen Bronzezeit in Verbindung zu bringen,<br />

in denen Völker patrilinearer Filiation (auch ihrer Götter) solche mit<br />

matrilinearer Filiation überschichten, besiegen oder verdrängen.<br />

Das Reh, der Rehbock oder der Hirsch gehören zum verdrängten Kult<br />

und die Versionen der Mythen, in denen der Rehbock erlegt wird oder<br />

der Jäger in Gefahr gerät, zeigen entweder den Sieg über den Totenkult<br />

der großen Mutter und ihrer Söhne (matrilineare Gefolgschaft) oder die<br />

Widerstandskraft ihres Kultes und seiner Gefolgschaft an. Im Zwei-<br />

Brüder-Märchen werden beide Versionen so kombiniert, daß sie auch<br />

der historischen Reihenfolge der Indizien für die bronzezeitlichen<br />

Invasionen entsprechen.<br />

Zwei Geschehenskreise werden in diesem Märchen integriert: In einer<br />

Rahmengeschichte werden der Held und sein Bruder vorgestellt und<br />

ihr Auszug ins Abenteuer begründet, dann wird das Schicksal des<br />

Helden bis zu seiner letzten Not erzählt, das den einen Kreis des Geschehens<br />

darstellt, und mit dem hilfreichen Eingreifen des Bruders, mit<br />

dem Hohelied auf die „Solidarität der Geschwistergruppe“, führt die<br />

Handlung die Episode des gescheiterten Helden, der dank der Hilfe<br />

seines Bruders aus der tödlichen Gefangenschaft entkommen konnte,<br />

in die Rahmenhandlung zurück. Das Ende der Geschichte führt zum<br />

status quo ante ihres Anlasses zurück. Die Gefahren und Prüfungen<br />

wurden von den Ausgesetzten (oder von dem abgepaltenen Verband)<br />

erfolgreich bestanden, das Gleichgewicht, das durch die Ereignisse der<br />

Handlungsbegründung aus den Fugen geriet, war also wiederhergestellt,<br />

die gültige (kosmologische) Ordnung sah sich durch den Verlauf<br />

des Geschehens bestätigt.<br />

Nach der Wiederauffindung der Frühlings- und Wintermythe der<br />

Kesarsage durch A.H.Francke 28 sollen auch hier die beiden Geschehenskreise<br />

des Märchens als Frühlings- und Winterkreis unterschieden<br />

werden, nicht weil wir der naturmythischen oder vegetationsmythischen<br />

Interpretation den Vorzug geben, sondern weil diese<br />

Bilder sich entsprechen und diese Entsprechungen mit anderen Mythen<br />

28 Siehe: A.H.Francke, <strong>Der</strong> Frühlings- und Wintermythus in der Kesarsage, 1902<br />

93


94<br />

über diese Gleichung noch deutlicher werden, die funktionale Äquivalenz<br />

der Jahreskreis-, Fruchtbarkeits- oder Filiationswechsel-, der<br />

Götterwechsel-, der Lebens- und Todesmythologie. Die naturmythische<br />

Deutung dieser Mythen suchte neben Francke auch besonders<br />

Siegbert Hummel 29 zu erhärten, der im Falle der Kesarsage auf viele<br />

eurasische Parallelen (Märchen, Siegfried- Sage) hingewiesen hatte<br />

und deshalb auch hier auf indogermanisches und megalithisches Lehngut<br />

verweisen zu können glaubte (unter Berufung auf die sog. pontische<br />

Wanderung). Aber auch hier gilt es nur auf die mitgeteilten Parallelen<br />

(Werben Siegfrieds um Brumhilde, Odysseus und Calypso,<br />

Waberlohe, das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren<br />

usw) zu achten, während die Untersuchung des Lehngutes oder der<br />

Wanderung des Sagenstoffes und die historische Bestimmung des<br />

Übernahmezeitraums eine kulturhistorische Aufgabe bleibt, die hier<br />

nur erwähnt werden kann.<br />

<strong>Der</strong> Aufenthalt des Helden im Totenreich, seine Versteinerung also,<br />

der durch das Eingreifen des Bruders beendet wird, entspräche dem<br />

Winterkreis, während der Usurpator, der sich den Lohn der Drachentötung<br />

einheimsen will, als eine Winterrückfallsdrohung, als ein Widerstand<br />

der Autochthonen oder als Todesdrohung zu verstehen ist, die<br />

endgültig erst durch seine Entlarvung oder Besiegung (durch den<br />

Helden) gebannt wird.<br />

Mit dieser Episode des Usurpators (Kutschers, Dienstmannes, Türken<br />

etc) erscheint in der Handlung ein altes schamanistisches Motiv. <strong>Der</strong><br />

Schamane erwirbt im Verlaufe seiner Initiation die Gefolgschaft hilfreicher<br />

Wesen, Geister oder Tiere, die ihm in Zukunft beistehen werden,<br />

und ihn vor allem auch in der Periode körperlicher Zerstückelung<br />

oder Teilung vor den Nachstellungen der Krankheitsgeister oder Übeltäter<br />

beschützen. Dieser Gefolgschaft verdankt der Held auch im Märchen<br />

seine körperliche Wiederherstellung, die er selbst dem Drachen<br />

erfolgreich verwehrt hat, nachdem er dessen Zungen herausgeschnitten<br />

hatte und sie an sich nahm. <strong>Der</strong> Usurpator vertritt hier den Geist oder<br />

die Gottheit, vor deren Nachstellungen der Schamane seine Gruppe<br />

bewahren muß, meistens in kräftezehrenden Kämpfen, in denen der<br />

Schamane seines Amtes wegen auf die endgültige Tötung seiner Widersacher<br />

verzichtet. Obwohl mit der Episode der Enthauptung des<br />

Helden durch den Usurpator und seiner Wiederherstellung durch die<br />

29 S.Hummel, Anmerkungen zur Gesar- Sage, Anthropos 54, 1959, S.521; Siehe auch:<br />

Mythologisches aus Eurasien im Gesar- Heldenepos der Tibeter, Ulm 1993


hilfreichen Tiere an dieses schamanistische Initiationsmythologem<br />

erinnert wird, erfährt es im Kontext des Märchens auch jene Umdeutung,<br />

welche erst ihre Verwendung in ihm erlaubt. Es erläutert hier vor<br />

allem den Sinn der Amputationen (die beiden Enthauptungen und das<br />

Zungenabschneiden). Die Zungen der Drachen werden weniger als Urhebernachweis<br />

des Helden herausgeschnitten, sondern vor allem, um<br />

die Endgültigkeit des Sieges über den Drachen zu versichern, der sich<br />

nur über die Zusammensetzung aller seiner Körperteile wieder regenerieren<br />

kann.<br />

Auch der Held und seine Gefolgschaft können ihre erschöpften Kräfte<br />

nach dem Kampf nicht ohne Schlaf wiederherstellen. Obwohl sie die<br />

große Gefahr siegreich überstanden haben, bringt ihr Sieg sie mit ihrer<br />

Erschöpfung auch selbst in jene Gefahr, die der Usurpator als Gelegenheitsdieb<br />

für sich zu nutzen sucht. Er glaubt sich durch die Enthauptung<br />

des Helden auch von dessem Anspruch auf den Sieg und den<br />

Preis für die Tat entledigen zu können, die er beide betrügerisch für<br />

sich geltend macht.<br />

Die Jungfrau, der Frühling, das Leben, die Fruchtbarkeit, die Geliebte,<br />

die Befreite oder die vom Usurpator zeitweilig Geraubte, wehrt sich<br />

dagegen nach Kräften: die erwachende Vegetation also, das enträtselte<br />

Geheimnis oder die neubegründete genealogische Linie, deren Aufkommen<br />

nach dem Tod des Drachens nicht mehr gehemmt werden<br />

kann. Ihre Aktivitäten oder Befürchtungen korrespondieren mit der<br />

Krise, in der das neue Königtum des Helden über das durch ihn aufgeschlossene<br />

Lebensreich, das der Held durch seinen Sieg erworben hat,<br />

einstweilig infrage gestellt wird. <strong>Der</strong> Held ist ja zeitweilig enthauptet.<br />

Aber die Hilfe seiner Tiere (kosmologische Interaktion) ermöglicht es<br />

ihm, seine Ansprüche trotzdem durchzusetzen. Die hilfreichen Tiere<br />

zeichnen den Helden auch als Jäger (!) aus und die Tiere können sogar<br />

in mancher Motivvariation auch noch Totemgruppen repräsentieren.<br />

Eine ähnliche Hilfeleistung bestimmter Tiere schildert z.B. die Coniraya-<br />

Mythe (Südamerika), die das Thema aber etwas variiert: die zur<br />

Hilfe aufgeforderten Tiere differenzieren sich in hilfsbereite und in die<br />

Hilfe verweigernde Tiere und reflektieren damit die Selektion, die dem<br />

Verhältnis des Helden zur Tierwelt zugrunde liegt.<br />

In der zweiten Episode kehren sich die Vorzeichen, unter denen die<br />

handelnden Personen stehen, um. <strong>Der</strong> rechtmäßige König als wenig<br />

umsichtiger Jäger wird von der Waldhexe verzaubert. Jetzt sind er und<br />

seine Tiere versteinert, tot, und das einzige Band, das ihn noch mit seinem<br />

Leben, seiner Königin und seinem Reich verbindet, ist sein Bru-<br />

95


96<br />

der, der seinerseits durch Enthauptung kurzfristig um den Lohn seiner<br />

Tat gebracht wird, wegen eines Verdachts, der auch als Motiv der<br />

ersten Enthauptung zu verstehen ist.<br />

Zwei mythische Bilder, die im Grunde das gleiche bedeuten, werden<br />

hier miteinander verbunden und beide sind auch für sich von orientalischen<br />

Beispielen her bekannt. Die soziologische Deutung sieht hier,<br />

daß der Kampf der Völker, Nachkommen, Rechte und Mächte noch<br />

nicht entschieden ist, die mystische Deutung erinnert sogar daran, daß<br />

der Kampf solange dauert, wie die Menschen leben.<br />

Auch in den schon genannten griechischen Beispielen hilft die Jungfrau<br />

dem Helden, nachdem er sie befreit hat, gegen seinen Widersacher,<br />

hilft Andromeda Perseus oder Medea Jason. Diese beiden älteren<br />

Fassungen der griechischen Mythen sind nur noch aus Abbildungen zu<br />

erschließen, über deren Bedeutung allerdings keine Zweifel bestehen.<br />

Die Konstellation des <strong>Drachenkampf</strong>es in der Perseusmythe:<br />

<br />

Drache <br />

(Opfer)<br />

Im Märchen wie in der Andromeda-Mythe erfüllt der Widersacher des<br />

Helden bei der Brautbefreiung die Funktion der Tatvereitelung, der<br />

Winterrückfallsdrohung, des autochthonen Widerstands gegen die<br />

neuen Rechtsansprüche oder patrilinearen Reformen und die Situation<br />

selber erscheint als Fortsetzung des Unheils, als Frühlingsverunsicherung,<br />

als Erstarken der Widerstände der autochthonen Tradition.<br />

In der Rolle des Widersachers des Grimmschen Märchens erkennen<br />

wir auch den Türken des maltesischen Märchens und den Agenor der<br />

Perseusmythe wieder, der dem Perseus Andromeda streitig zu machen<br />

versucht. In dieser Funktion erscheint in manchen Versionen auch der<br />

feindliche Bruder. <strong>Der</strong> <strong>Drachenkampf</strong> des Grimmschen Märchens<br />

weist erst den ersten Bruder als den Helden seines kommenden Schicksals<br />

aus (Frühjahr, Vegetation, Wiedergeburt, Stammesgründung, Dynastiengründung<br />

etc.), dem noch die eigentliche Prüfung bevorsteht<br />

(Winter, Tod, strittige Filiationsfolge, Widerstand der Autochthonen<br />

etc.), das alltägliche Leben und Reifen im Reiche des Brautvaters.<br />

In der zweiten und eigentlichen Unterweltsituation traf das Schicksal<br />

ihn und alle seine hilfreichen Tiere. In dieser Lage konnte nur noch der


zweite Bruder helfen, weil er als Zwilling dem Helden in allem gleicht,<br />

d.h. selber ein Held ist, der sich aber vor der Gefahr, in der sein Bruder<br />

umkam, zu hüten wußte, denn er war durch das rostende Messer im<br />

Baum vorgewarnt. Das rostende Messer weist auf die Wissenschaften<br />

der Metallvölker hin, d.h. auf Erfahrungen oder Kenntnisse, die eine<br />

Auflösung der Patrilinien, aus denen die Helden stammen, in die Matrilinien<br />

der Hüter ihrer errungenen Schätze zu verhindern wissen. Es<br />

steht aber auch für eine Weisheit, welche die Omina zu deuten versteht.<br />

Am Ende werden mit dem Zwillingshelden der verwunschene Wald<br />

(das Totenreich, der Winter, die bedrängten Verwandten etc.) und alle<br />

Verhexten und Versteinerten erlöst und die Zwillingsgruppierung der<br />

Helden (Wille und Weisheit) wiederhergestellt, so daß die Geschichte<br />

zu der Stelle zurückführen kann, an der sie ihren Ausgang genommen<br />

hat und so den Kreislauf des Geschehens unterstreicht, indem sie seine<br />

ewige Wiederkehr voraussetzt.<br />

Neben den kabirischen Motiven schimmert noch ein älteres Merkmal<br />

der ältesten Zwillingsmythen durch, die Unterscheidung der Zwillinge<br />

nach ihrer Geschicklichkeit; das dioskurische Schema erweist sich als<br />

Sonderfall der uralten Zwillingskonstruktion der Mythologien der<br />

dualen Ordnung. In diesen alten Zwillingsmythen erscheint stets einer<br />

als weise und der andere als tatkräftig aber dumm oder dümmer.<br />

Deutlich unterscheiden sich zwei Handlungsebenen, in denen das Geschehen<br />

abläuft: Leben und Tod, Frühling und Winter, Wachsen und<br />

Absterben, Reifung und Vollendung, neue und alte Filiationsrechnung<br />

der Völker und Götter etc.<br />

In beiden Abschnitten wird eine Herausforderung und ihre Beantwortung,<br />

wenn auch verschieden, gestaltet.<br />

<strong>Der</strong> Frühlingskreis bedient sich einer bekannten orientalischen Version<br />

des <strong>Drachenkampf</strong>es, Widersacher und Drache sind männlich gezeichnet,<br />

etwa in der Funktion, die der Eber gegenüber Attis oder Seth<br />

gegenüber Osiris und Horus einnimmt. Die schwedische Version des<br />

Zwei-Brüder-Märchens zeichnet die Helden als Kinder einer Mutter,<br />

die von einem Apfel schwanger wurde, genauso wie die phrygische<br />

Nana von einer Mandel schwanger den Attis gebar. Die patrilineare<br />

Legitimation der Helden wird also auch hier deutlich infrage gestellt.<br />

Dieser erste Geschehenskreis des Märchens zeichnet also Geburt, Tod<br />

und Wiedergeburt des Helden und stellt die Ursache des Todes als gewaltsame<br />

Tötung und hinterhältige Nachstellung heraus. <strong>Der</strong> zweite<br />

Geschehenskreis stellt den Tod dagegen als Unterweltsaufenthalt, als<br />

97


98<br />

Verzauberung, dar, d.h. als selbst verschuldetes Schicksal, und die<br />

Opferbereitschaft aus Freundschaft oder brüderlicher Solidarität holt<br />

I Ablaufschema der Handlung mit altorientalischen Korrespondenzen:<br />

Tammuz Tammuz Eber Große Mutter<br />

Attis Attis Drache Vegetation<br />

Adonis Adonis Widersacher Gattin/Geliebte<br />

Bruder Held Drache Jungfrau<br />

Widersacher<br />

Sieg des Helden<br />

Befreiung der<br />

Jungfrau<br />

Held Hindin<br />

Hexe<br />

Versteinerung<br />

des Helden<br />

Bruder Hindin<br />

Hexe<br />

Sieg des Bruders<br />

Befreiung der<br />

Verhexten<br />

II Bruder Held Drachen Jungfrau<br />

Held Widersacher<br />

Held Hexe Hindin<br />

Bruder Hexe Hindin<br />

Das Schema II stellt die funktionalen Äquivalente der Symbole dar und das Schema I zeigt ihre Stellung im<br />

Handlungsablauf. Über dem ersten Schema sind die Anschlußverweisungen zur orientalischen Mysterienmythologie<br />

angegeben.<br />

den Helden aus dem Totenreich zurück, ermöglicht seine Erlösung.<br />

<strong>Der</strong> Winterkreis folgt also einem anderen Schema der altorientalischen<br />

Mysterien: der Held wird in der Unterwelt festgehalten, der Zwillingsbruder<br />

allein kann ihn auslösen. Die Widersacherin ist weiblich ge-


zeichnet, eine Hexe, die den Todesgöttinnen Allatu, Persephone oder<br />

Proserpina entspricht. So wie Polydeukes das Schicksal des Kastor<br />

wendet, so der Bruder das Geschick des Helden im Märchen; anstelle<br />

des Streites der Liebesgöttin mit der Todesgöttin um das göttliche Kind<br />

bedient sich das Märchen der dioskurischen Solidarität.<br />

Wie die Kabiren von Samothrake stehen die zwei Brüder als Hades<br />

und Dionysos den Axieros und Axiokersa, d.h. Demeter und Persephone<br />

gegenüber, die hier eher mit Ishtar und Allatu gleichzusetzen<br />

sind, da die griechischen Namen der Kabirinnen auch schon Interpretationen<br />

der alten Griechen sind.<br />

Ein Vergleich des Zwei-Brüder-Märchens mit dem georgischen Märchen<br />

vom Kupferwolf unterstreicht den Zusammenhang dieser Deutung,<br />

auch wenn einzelne Themengruppen des Zwei-Brüder-Märchens<br />

in ihm fehlen, aber andere dafür stehen, und die Stellung der vergleichbaren<br />

Themenkreise im georgischen Märchen geradezu umgekehrt<br />

proportional zusammengestellt worden sind.<br />

In einer ersten Handlung werden die Anstrengungen dreier Brüder um<br />

die Befreiung eines gefangenen Mädchens geschildert, von denen sich<br />

die beiden älteren zusammentun. Zuerst ziehen die beiden älteren<br />

Brüder aus, treffen den Kupferwolf, benehmen sich ihm gegenüber<br />

frech und werden von ihm versteinert. Als der jüngste Bruder dem<br />

Kupferwolf begegnet und ihm hilfreich ist, wird sein Verhalten mit<br />

dem Geschenk eines Wunderauges und einem Fell, das die hilfreichen<br />

Tiere herbeiruft, belohnt. <strong>Der</strong> Kupferwolf klärt ihn über die Bedingungen<br />

der Befreiung des Mädchens auf, so daß dem Helden die Befreiung<br />

des gefangenen Mädchens auch gelingt. Zurück beim Kupferwolf bittet<br />

der Held für seine Brüder, die wieder entzaubert werden, er wird aber<br />

auch vom Kupferwolf vor ihren Nachstellungen gewarnt. Die Brüder<br />

locken ihn in einen Brunnen, an dem sie ihn herablassen, um Wasser<br />

zu schöpfen, und lassen ihn auf dem Grunde des Brunnens zurück,<br />

während sie selber nach Hause zurückkehren und dort vorgeben, das<br />

Mädchen selbst befreit zu haben.<br />

Zwei feindliche Brüder stellen hier einem anderen nach, genauso wie<br />

Seth und Toth dem Osiris nachstellten, und lassen den jüngsten Bruder<br />

vor dem Tor zur Unterwelt (Brunnenloch) zurück.<br />

<strong>Der</strong> Held begegnet dort einer alten Frau, der Wasser fehlt, weil drei<br />

Drachen das Wasser, dessen Quelle sie hüten, nur gegen Menschenopfer<br />

tauschen und sie selbst keinen Tauschgegenstand mehr hat. Er<br />

bietet sich an, das Wasser zu holen und gelangt zur Quelle, wo er eine<br />

Prinzessin antrifft, die ihr Vater, ein König, als Opfer für das Wasser<br />

99


100<br />

dorthin gebracht hat. Er besiegt mit Hilfe der hilfreichen Tiere, die das<br />

Fell des Kupferwolfes herbeirief, einen Drachen und schickt die<br />

Prinzessin mit dem Versprechen, nachzukommen, in einer Kutsche<br />

nach Hause; der Kutscher zwingt sie aber, ihn selbst bei ihrem Vater<br />

als den Drachentöter auszugeben. Am nächsten Tag opfert der König<br />

seine zweite Tochter für das Wasser und der Held befreit auch sie,<br />

nachdem er den zweiten Drachen getötet hat, und schickt sie wie die<br />

Schwester nach Hause mit dem Versprechen, nachzukommen. Auch<br />

sie wird vom Kutscher gezwungen, ihn als den Helden auszugeben.<br />

Einen Tag darauf opfert der König seine dritte Tochter. <strong>Der</strong> Held<br />

besiegt den dritten Drachen und befreit auch sie, die er wie ihre beiden<br />

Schwestern nach Hause schickt mit dem Versprechen, später nachzukommen.<br />

Müde von den Kämpfen legt sich der Held schlafen und auch<br />

die Tiere, die ihm geholfen haben, schlafen vor Erschöpfung ein, so<br />

daß der Kutscher, der sich heimlich herangeschlichen hat, den Helden<br />

enthaupten kann. Als die erwachenden Tiere ihren toten Herrn sehen,<br />

suchen sie für ihn das Lebenswasser und wecken ihn damit wieder auf<br />

zum Leben. Nun begibt sich der Held zur Wohnung der Prinzessinnen,<br />

die ihn sofort umarmen und dem Vater die Wahrheit entdecken. <strong>Der</strong><br />

Kutscher wird hingerichtet und dem Helden die Rückkehr ins Reich<br />

der Lebenden gewährt. Ein Adler bringt ihn in die Oberwelt. Zuhause<br />

klärt der Held seinen Vater über sein Schicksal auf, trennt sich von<br />

seinen Brüdern und heiratet das von ihm befreite Mädchen, um das er<br />

von seinen Brüdern betrogen worden ist.<br />

In diesem Märchen bringt brüderliche Nachstellung den Helden in die<br />

Unterwelt, wo er den <strong>Drachenkampf</strong> dreimal besteht. Neben der Tatsache,<br />

daß der <strong>Drachenkampf</strong> dreimal ausgefochten wird, was selbst<br />

wiederum bedeutsam ist, wird auch die Heirat des zuerst befreiten und<br />

zeitweilig gefährdeten Mädchens in der Funktion des Schatzes anders<br />

begründet, und zwar auch hier wieder entsprechend der anderen genealogischen<br />

Konstellation des Helden. Die Figur des Kutschers, d.h.<br />

ihrer Funktion, entspricht dem gleichen Personenkreis, auf den wir<br />

schon im maltesischen und im Zwei-Brüder-Märchen hingewiesen haben,<br />

ganz zu schweigen von den antiken Beispielen dieser Personenkategorie,<br />

während die hilfreichen Tiere nur in den bereits genannten<br />

Märchen eine Rolle spielen. Das genealogische Schema dieses<br />

Märchens:<br />

Durch seinen Mut und seine Rechtschaffenheit findet der Held hier den<br />

Weg ins irdische Leben zurück, wo er den Lohn seiner Taten genießen<br />

kann, der ihm von seinen Brüdern streitig gemacht worden ist.


101<br />

<strong>Der</strong> listige Nebenbuhler, ein Dienstmann des Vaters der von ihm befreiten<br />

Töchter, wie die feindlichen Brüder, die ihn alle in jene ausweglose<br />

Lage bringen, aus denen die Folgen früherer Taten und sein<br />

Heldentum ihn erlösen, erscheinen allesamt als Gegner des Helden in<br />

Gruppierungen, die aus der altorientalischen Mythologie bekannt sind,<br />

und auch die kultgeographische Zuordnung des Ortes, wo der <strong>Drachenkampf</strong><br />

stattfindet, ist im georgischen Märchen eindeutig: es ist<br />

eine Quelle in der Unterwelt. Die Motive dieses Märchens sind allesamt<br />

kabirischer Natur, auch wenn sie sich nicht in allen Punkten auf<br />

sie beziehen wie das Zwei-Brüder-Märchen.<br />

feindliche Brüder<br />

Br Br Held Mädchen<br />

vereiteln die Heirat Heirat als Lohn des<br />

bringen den Helden in <strong>Drachenkampf</strong>es<br />

die <strong>Drachenkampf</strong>situation<br />

3 Jungfrauen : Drache<br />

Genauso wie das Zwei-Brüder-Märchen den <strong>Drachenkampf</strong> in ein kabirisches<br />

Mythologem integriert, stellt auch die Kadmossage den <strong>Drachenkampf</strong><br />

in den gleichen Kontext, der durch seine Verwandtschaft<br />

mit Dionysos und durch seine Beziehung zu Elektra über seine Frau<br />

Harmonia angezeigt wird.<br />

Weil Zeus Europa, die Schwester des Kadmos, entführte, schickte<br />

Agenor, der Vater von Kadmos und Europa, ihn mit seinen Brüdern<br />

auf die Suche nach der entführten Schwester. So kam Kadmos auf der<br />

Suche nach seiner Schwester nach Thrakien, und zwar in Begleitung<br />

seiner Mutter (Die weithin Leuchtende= Mond) und seines<br />

Zwillingsbruders , nach dem die Nachbarinsel von Samothrake<br />

benannt wird. Er reist also in der kabirischen Gruppierung, die<br />

mit dem Demetermythologem kombiniert worden ist, denn Telephassa<br />

sucht ihre von Zeus entführte Tochter genauso wie Demeter die von<br />

Hades entführte Persephone. Dieses Unternehmen führt Kadmos nach<br />

Samothrake, wo er nach samothrakischer Überlieferung die "zweite<br />

Europa", nämlich die Aphrodite-Ares-Tochter Harmonia entführt und<br />

freit. Harmonia ist die Tochter der samothrakischen Elektra (der griechischen<br />

Aphrodite), deren zwei Brüder Dardanos und Jasion heißen,


102<br />

und so wie Telephassa die Europa, so sucht nun auch Elektra die Harmonia,<br />

die Kadmos geraubt hat. Auch wiederholt sich das Schema der<br />

Kombination der kabirischen Gruppierung mit dem eleusinischen Mythologem.<br />

Aber allem Anschein nach brachte ein Rat des Orakels von Delphi<br />

Kadmos vorher nach Boiotien, wo ihm eine Kuh den Ort der Gründung<br />

Thebens zeigte. Als er seine Gefährten auf die Suche nach einer Quelle<br />

ausschickte, wurden sie bei der Quelle des Ares, dem Vater der<br />

Harmonia (!), von einem Drachen gefressen. Mit einem Stein erlegte er<br />

dieses Ungeheuer und säte dessen Zähne aus, aus denen die kriegerischen<br />

Spartoi entwuchsen, die sich bis auf fünf spätere Gefolgsleute<br />

gegenseitig umbrachten. Weil der Drache ein Sprößling des Ares ist<br />

und Harmonia, die Kadmos raubte, gleichfalls eine Tochter des Ares<br />

ist, liegt es nahe, den <strong>Drachenkampf</strong> mit dem Brautraub in Verbindung<br />

zu bringen, und zwar nach dem Schema von der Befreiung oder<br />

Erlösung der Jungfrau durch den Helden. (Die Akteure im Kadmosmythos<br />

bildet des folgende genealogische Schema ab).<br />

Sowohl die Gründung der Stadt Theben als auch die Begründung der<br />

Dynastie des Kadmos, d.h. der thebanischen Dynastie, bestätigen den<br />

<strong>Drachenkampf</strong> als Voraussetzung für den Abschluß einer autochthonen<br />

Genealogie und die Neugründung einer Stammeslinie, die eine Verbindung<br />

mit der entrechteten Linie durch Heirat herstellt. <strong>Der</strong> Schatz, den<br />

der Drache hier hütet, ist zwar die Quelle des Ares, aber in Wirklichkeit<br />

die Tochter Harmonia.<br />

Elektra Ares<br />

Dardanos Jasion Harmonia Drache ←tötet Kadmos<br />

raubt/heiratet<br />

Verfolgen wir die dynastische Sage Thebens weiter, dann entdecken<br />

wir auch die zweite Bedrohung des Märchenhelden des Grimmschen<br />

Märchens durch die Hexe in der Herausforderung des Oidipos durch<br />

die Sphinx. <strong>Der</strong> Sieg des Oidipos bringt auch ihn in seine angestammten<br />

Rechte zurück, die man ihm zuvor streitig gemacht hatte; er übernimmt<br />

die Herrschaft Thebens nach dem tragischen Mord an seinem<br />

Vater, den er allerdings nicht als seinen Vater erkannte. Die Gliederung<br />

des Helden in verschiedene Personen, die im Märchen dem dioskurischen<br />

Paar entspricht, wird in der thebanischen Sage genealogisch,


103<br />

d.h. in einer zeitlichen Folge, gestaltet. Oidipos ist der Urenkel des<br />

Kadmos, d.h. die Begebenheiten zwischen den beiden Kämpfen mit<br />

den Ungeheuern stehen in einer genealogischen Relation und werden<br />

also generationsweise differenziert. Aber der Rhythmus zyklischer<br />

Wiederkehr bleibt auch hier trotz aller zeitlichen Differenzierung gewahrt.<br />

Genauso wie dieses Märchen die Beziehungen, die das <strong>Drachenkampf</strong>motiv<br />

mit den Mythologien des mittelmeerischen Hochkulturkreises<br />

verbindet, noch herausstellt, zeigt es auch die Übereinstimmungen, die<br />

dieses Motiv mit verschiedenen Mythen des Maya-Sino-Tibetischen<br />

Hochkulturkreises verbindet. So gibt es auch ein Zwei-Brüder-Märchen<br />

in Tibet, das in allen seinen Zügen dem Märchen der Grimmschen<br />

Sammlung vergleichbar ist und verschiedene Motive dieses<br />

Märchens tauchen auch in der Gesar-Legende wieder auf.<br />

Die Genealogie der Helden führt in dem tibetischen Märchen auf zwei<br />

Brüder zurück, von denen einer reich und der andere arm war und der<br />

reiche immer reicher und der arme immer ärmer wurde. <strong>Der</strong> Broterwerb,<br />

zeichnet die eine Familie als bäuerliche und die ärmere von<br />

beiden als Wildbeuterfamilie. Aber der arme Bruder hatte an Stelle des<br />

materiellen Reichtums zwei Söhne. Als diese für ihren Vater einmal<br />

Reisig sammeln gehen, finden sie eine goldene Vogelfeder, die ihr<br />

Vater seinem reichen Bruder verkauft. Nach diesem Fund finden die<br />

Kinder regelmäßig eine goldene Feder, wenn sie Reisig sammeln<br />

gehen. <strong>Der</strong> reiche Bruder ihres Vaters bewegt ihn, den Kindern aufzutragen,<br />

den Vogel zu fangen, dem die Federn gehören. Die Kinder<br />

fangen den Vogel und auch der Vogel wird von ihrem Vater an den<br />

Onkel verkauft. <strong>Der</strong> befiehlt seiner Frau, den Vogel zu kochen und ihm<br />

das Herz des Vogels, das Wunderkräfte besitzt, zum Essen zu bringen.<br />

Die Kinder des armen Bruders vertauschen aber das Herz des goldenen<br />

Vogels mit einem anderen Vogelherzen und essen selber, jedes eine<br />

Hälfte, von dem Herz des goldenen Vogels.<br />

Als das entdeckt wurde, überredete der reiche Onkel ihren Vater, seine<br />

Kinder zu töten. Aber der Vater bringt es nicht übers Herz, die Kinder<br />

umzubringen und setzt sie nur im Walde aus.<br />

Nachdem die Kinder ihren Vater im Walde vergeblich gesucht haben,<br />

wandern sie im Wald umher. Unter dem Schutz der Kräfte des Vogelherzens<br />

konnte ihnen aber niemand etwas anhaben. Sie wurden nicht<br />

hungrig, sie waren nicht durstig, sie vermißten, begehrten und litten<br />

nichts.


104<br />

Auf ihrer Wanderung im Walde fanden sie zwei Tigerjungen, dann<br />

zwei Wolfsjungen, zwei Leopardenjungen, zwei Löwenjungen, Bärenjungen,<br />

zwei Hasenjungen und zwei Fuchsjungen, die sie alle aufzogen<br />

und von denen sie, als sie erwachsen waren, begleitet wurden.<br />

Die Brüder beschlossen, sich zu trennen und teilten die Tiere unter sich<br />

auf. Einer zog mit seinem Gefolge nach Norden, der andere nach Süden.<br />

Aber bevor sie sich trennten, stieß jeder sein Messer in einen<br />

großen Baum, das ihnen bei der Rückkehr anzeigen sollte, wie es um<br />

den anderen Bruder bestellt sein würde.<br />

Auf seinem Weg nach Süden kam der Bruder, dessen Richtung der<br />

Süden war, in ein Königreich, das von einem Drachen bedroht wurde.<br />

<strong>Der</strong> Drache forderte jährlich ein Mädchen, das im Jahr des Tigers<br />

geboren wurde (ähnlich gestaltet auch die chinesische Mytholgie<br />

diesen Gegensatz: Ch'in-lung :<br />

po-hu ).<br />

Bliebe das Opfer aus, dann würde er die ganze Erde vernichten.<br />

Nachdem alle Mädchen mit diesen Geburtsumständen geopfert worden<br />

waren, war als letztes Mädchen die Tochter des Königs an der Reihe.<br />

Auf dem Weg zur Opferstelle trat ihnen der südliche Bruder mit seinen<br />

Tieren in den Weg und versprach, den Drachen zu töten.<br />

Mit der Hilfe seiner Tiere tötete der Held den Drachen, schnitt ihm den<br />

Kopf ab und nahm danach die Zunge des Drachen an sich.<br />

Müde vom Kampf schliefen schließlich alle ein, auch der Hase, der mit<br />

der Wache beauftragt war. So konnte der Minister des Königs dem<br />

Helden den Kopf abschneiden und sich den Drachenkopf aneignen, mit<br />

dem er sich als Drachentöter ausgab.<br />

Als die Tiere erwachten, mußten sie den Tod ihres Herrn feststellen<br />

und wollten schon den Hasen dafür töten; doch der Hase wußte Rat<br />

und holte den Stein der Wiederbelebung, den Stein, der Zerbrochenes<br />

wieder ganz macht. Man setzte dem Herrn den Kopf wieder auf und<br />

weckte ihn aus seinem Schlaf.<br />

Wieder gesund, zog der südliche Bruder mit seinen Tieren ins Tal der<br />

Menschenfresser, in dem eine gefürchtete Menschenfresserin ihr Unwesen<br />

trieb. <strong>Der</strong> Held beschloß, auch sie zu töten. In der Schlucht<br />

schlug er sein Lager auf und kochte sich Tee. Die Menschenfresserin<br />

hatte ihn beobachtet und näherte sich ihm in der Gestalt einer Bettlerin,<br />

um Tee zu erbitten. <strong>Der</strong> Held bat sie, sich den Tee zu holen, aber die<br />

Hexe gab vor, sich vor seinen Tieren zu fürchten und bat ihn deshalb,<br />

jedes seiner Tiere mit ihrer Krücke leicht zu schlagen. Kaum berührte


105<br />

der Held seine Tiere mit der Krücke, da waren sie auch schon tot und<br />

gleich darauf auch der Held.<br />

<strong>Der</strong> nördliche Bruder kehrte unterdessen zu ihrem Baum zurück, an<br />

dem sie sich verabschiedet hatten, und sah, daß das Messer seines<br />

Bruders zu Boden gefallen war. Er machte sich deshalb sofort auf den<br />

Weg nach Süden und kam in das Königreich, wo der Drachen besiegt<br />

wurde. Dort wies man ihn weiter in das Tal der Menschenfresser, aus<br />

dem der Held nicht mehr zurückgekommen war. Auch er begab sich<br />

also dorthin und schlug in der Schlucht sein Lager auf. Wieder näherte<br />

sich die Menschenfresserin in Bettlergestalt und bat um etwas Tee und<br />

wieder gab die Bettlerin vor, sich vor den Tieren zu fürchten und bat<br />

den nördlichen Bruder, seine Tiere mit ihrer Krücke leicht zu schlagen.<br />

Doch der nördliche Bruder ging auf diesen Gebrauch der Krücke nur<br />

scheinbar ein, so daß die Hexe, als sie ins Lager sprang, sofort von<br />

seinen Tieren überwältigt werden konnte.<br />

Er zwang sie zur Herausgabe des Bruders und seiner Tiere und nahm<br />

ihr das Versprechen ab, nichts Böses mehr zu tun.<br />

Nachdem sich die Brüder erholt hatten, zogen sie gemeinsam zum<br />

König, dessen Reich sie von dem Drachen befreit hatten, um ihren<br />

Lohn einzufordern.<br />

Auf dem Wege erfuhren sie aber, daß die Prinzessin den Minister heiraten<br />

sollte, der versucht hatte, den südlichen Bruder nach dem <strong>Drachenkampf</strong><br />

zu töten.<br />

So stellten sie vor dem Haus des Königs ihr Lager auf und schickten<br />

den Bären, um Tschang zu holen, den Fuchs um Fleisch und schließlich<br />

den Hasen zur Prinzessin, die sich freute, ihren Retter wiederzusehen.<br />

Nachdem die Prinzessin versicherte, nur ihren wahren Retter heiraten<br />

zu wollen, deckten die Brüder den Betrug des Ministers auf und forderten<br />

die Prinzessin zur Frau, welche die beiden Brüder dann auch<br />

heiratete (Polyandrie), während der Minister ins Gefängnis kam.<br />

Diese tibetische Märchenfassung stimmt also in den wesentlichen Zügen<br />

mit den europäischen Versionen des Zwei-Brüder-Märchens überein,<br />

sie variiert allerdings die Form der Ehe und den Zeitpunkt der<br />

Hochzeit, der hier erst nach der zweiten Prüfung des südlichen Bruders<br />

und der ersten Prüfung des nördlichen Bruders festgesetzt wird, so daß<br />

auch für sie die entsprechenden Korrelationen zur kabirischen<br />

Gruppierung gelten. Die genealogische Konstellation des tibetischen<br />

Zwei-Brüder-Märchens bildet das folgende Schema in deskriptiver<br />

Terminologie ab. Die tibetischen Verwandtschaftsnamen unterscheiden


106<br />

den Vater (apha) vom Vaterbruder (akhu) und den älteren Brüder<br />

(aphu) vom jüngeren Bruder (ajo). Für den Onkel sind die Geschwister<br />

Bruders Söhne (tsha-bu). Die tibetische Verwandtschaftsterminologie<br />

macht also eine ähnliche Unterscheidung zwischen den Kategorien der<br />

Brüder und der Neffen wie die europäische.<br />

Drache Königstochter Br südl. Br nördl.<br />

Va (arm) VaBr (reich)<br />

(Opfer) (Polyandrie)<br />

Aber auch die Heldensage Tibets spielt mit den verschiedenen Variationen<br />

der kabirischen Gruppierung und Genealogie und kommt dabei<br />

auch auf das <strong>Drachenkampf</strong>motiv zurück, um den Helden und die<br />

wunderbare Macht seiner Handlungen hervorzuheben.<br />

Ausschnitte aus dem Kesar-Epos<br />

Die Fassungen der Kesar-Sage sind umfangreich, auch ist sie selbst<br />

reich an Varianten. Nach Hermanns gibt es drei Hauptvarianten der<br />

Gesar-Sage: 1) die westliche in Ladakh, 2) die südöstliche in Khams<br />

und 3) die nordöstliche in A-mdo, aber er vermutet mindestens noch<br />

zwei weitere Sondertraditionen, eine zentral- und eine südtibetische,<br />

entsprechend dem kulturellen Sondergepräge dieser Gegenden. 30 Die<br />

von Francke herausgegebenen Frühlings- und Wintermythen in der<br />

Kesarsage sind Wiedergaben mündlicher Erzählungen, die noch im<br />

Volk von Ladakh erzählt wurden, als er sie aufzeichnete. Wir werden<br />

uns auf diese Fassungen beziehen. Die Frühlingsmythe der Kesarsage<br />

wird durch ein Märchen eingeleitet, das ein kosmologisches Geschehen<br />

nach dem <strong>Drachenkampf</strong>schema beschreibt. In ähnlicher Weise<br />

wird auch im thebanischen Zyklus die Hilfe des Kadmos beim<br />

Kampf des Zeus gegen Typhoeus als eine Form der Einleitung vorangestellt.<br />

Aus dem Körper eines neunköpfigen Riesen, den der Held Agu dPalle<br />

besiegt hat, entsteht die Welt (Weltmenschmythologem). <strong>Der</strong> Held<br />

30 Siehe: M.Hermanns, Das Nationalepos der Tibeter Gling König Gesar, Regensburg<br />

1965, S.371


107<br />

greift in den Kampf der Himmlischen gegen die Unterweltlichen, die<br />

als weißer und schwarzer Vogel (in anderen tibetischen Fassungen als<br />

weißer und schwarzer Stier) miteinander kämpfen, zugunsten des<br />

weißen Vogels ein. Als Gunst bedingt er sich einen Sohn des Himmlischen<br />

aus, der später als Kesar geboren wird, damit die unregierte und<br />

in Anarchie verfallene Erde einen König erhält und die Zeit des Chaos<br />

ihr Ende finden kann.<br />

Auch die Äsopische Fabel kennt das hier gebotene Motiv. Sie erzählt<br />

wie ein Bauer einen Adler, der von einer Schlange fest umschlungen<br />

war, befreit und wie der Adler auch später ihm hilft. Ovid und Horaz<br />

bedienen sich dieses Gleichnisses, um in ähnlicher Weise die lichten-<br />

von den dunklen Göttern zu unterscheiden.<br />

In der Ladakhmythe endet diese kosmologische Phase mit der Einrichtung<br />

des Jahreskreislaufes und der ewigen Wiederkehr des heldenhaften<br />

Eingreifens Kesars in das irdische Geschehen (In dieser Weise stehen<br />

auch die zwei <strong>Drachenkampf</strong>mythen des Zend Avesta zueinander).<br />

Die eigentliche Frühlingsmythe hebt noch einmal zwei Geschehenskreise<br />

hervor: I Dondrubs Wiedergeburt als Kesar (in niedriger Gestalt;<br />

ashboy- Motiv) und die Ereignisse, die seine göttliche Herkunft und<br />

heldenhafte Mision vorankündigen (siehe: folgende Tabelle).<br />

Dongrub als Kesar geboren.<br />

König in nieder Gestalt: Gassenjunge<br />

Ungenutzte oder noch nicht<br />

ausgenutzte Vegetationskraft<br />

Khromo und der Anschlag<br />

der 7 bösen Lamas<br />

Das Kind, das sich schützt und<br />

befreit.<br />

Frühreifes Kind.<br />

Winterdrohung Zeichen der potentiellen Lebensu.<br />

Herrscher- Kraft.<br />

Gegen den niedrig geborenen Kesar wird von Khromo (einer Loki-Gestalt)<br />

ein Anschlag geplant, den 7 böse Lamas auszuführen versuchen.<br />

Die Wunderkräfte und Frühentwicklung des Knaben vereiteln alles<br />

und zeigen eindrucksvoll, was dieser Held vermag. <strong>Der</strong> von Khromo<br />

angezettelte Anschlag lenkt gleichzeitig den Blick auf das kommende<br />

Geschehen, denn es ist die erste Winterdrohung, eine Wiederholung<br />

der großen kosmologischen Herausforderung, von der die Einleitung<br />

berichtet.<br />

II. Die Wurzelsuche der Bruguma oder das Verlangen der Erde nach<br />

ihrer Befruchtung (siehe das Schema oben).<br />

Die Tatsache, daß Kesar alle Wurzeln und Samen findet, während Bruguma<br />

nur die verdorrten Wurzeln entdeckt, zeichnet ihre Beziehung als<br />

das Verhältnis der Kraft (ενεργεια) zur unbefruchteten oder<br />

ausgedörrten Erde (δυναμις), als Verhältnis von Akt und Potenz. Die


108<br />

Begegnungen der beiden Hauptpersonen wird geschildert als ein Austausch<br />

der Rollen und Samen gegen die Ernte und in drei Phasen gegliedert.<br />

Nach der Übergabe des Saatgutes veranstaltet Bruguma ein Gastmahl,<br />

das mit der Verlobung endet. Hier erscheint Kesar kurz als königlicher<br />

Held, um dann sofort wieder in seine Rolle als Gassenjunge (ashboy)<br />

zu schlüpfen (Vorwegnahme der Hochzeits- und Erntefreuden).<br />

Bruguma ist darüber enttäuscht und läßt ihre Enttäuschung an dem<br />

Gassenjungen aus, der daraufhin fortläuft. Ernte und Hochzeit sind in<br />

Gefahr. Daraufhin begibt sich Bruguma auf eine mühsame und entbehrungsreiche<br />

Suche nach ihrem Bräutigam und ihre Klage um den<br />

Verlust des Bräutigams nimmt den Winterschmerz der Erde vorweg.<br />

Endlich findet Bruguma ihren geliebten König, mit dem sie nun die<br />

Dongrub/Kesar, der alle Samen<br />

und Wurzeln findet und<br />

dem sich alles, was er ißt,<br />

ergänzt.<br />

Kesar erscheint kurz als ein<br />

glänzender, von Sonne und<br />

Mond geschützter König.<br />

Begegnung<br />

a) Dongrub gibt Bruguma von seinen<br />

Wurzeln; Bedingung: spätere Rückvergütung:<br />

Saat gegen Ernte.<br />

b) Bruguma vergilt die Gabe mit einem<br />

Gastmahl, das mit der Verlobung<br />

endet.<br />

Winterdrohung c) Dongrub flieht, weil Bruguma ihn<br />

ungebührlich behandelt hat.<br />

Brugumas Suche des Bräutigams und<br />

ihre Klage über sein Verschwinden.<br />

Kesar ist der glänzende, weil<br />

mit Sonne und Mond geschmückte<br />

König.<br />

Prüfungen: Kurze Begegnungen und<br />

Trennungen werden mit der endgültigen<br />

Hochzeit und Ernte abgeschlossen.<br />

Jungfrau Bruguma, die nur dürre,<br />

unfruchtbare Wurzeln findet.<br />

Unfruchtbare Erde.<br />

Ernte, Herbst.<br />

Hochzeit feiern kann.<br />

Kesar wird hier in der Gestalt des Dongrub als männliches Aschenputtel<br />

gezeichnet oder besser noch als ein Beispiel des Ash-boy, der in<br />

amerikanischen Mythen in vielen Varianten auftaucht: als ein Junge<br />

mit niedriger Geburt (ohne Familie oder von illegitimer Geburt), von<br />

unansehlichem Äußeren, dessen Liebe nicht glücklich verläuft, und der<br />

sich kraft seiner übernatürlichen Herkunft von seinem häßlichen<br />

Äußeren befreit und als prächtiger König erscheint. Ganz ähnlich wird<br />

auch Coniraya, der <strong>Drachenkampf</strong>held aus Peru, in seiner Mythe dargestellt.


109<br />

Mit der Unterscheidung des Königs und des Gassenjungen haben wir<br />

eine weitere funktionale Äquivalenz des Dioskuren- oder Zwillingsthemas<br />

vor uns, das hier für die Wirklichkeit und Möglichkeit der Vegetation,<br />

des Lebens und der kosmologischen Ordnung steht. <strong>Der</strong> Gestaltwandel<br />

hier entspricht der Nachzeitigkeit des Handelns der Zwillinge<br />

oder der Gleichzeitigkeit der Dioskuren im Toten- und im Lebensreich.<br />

<strong>Der</strong> verschwundene Gassenjunge und die Brautklage entsprechen dem<br />

Aufenthalt des Tammuz bei Allatu und der Klage der Innana.<br />

Nisamis "Leila und Madschnun", Gorganis "Wis und Ramin" und in<br />

dieser Tradition sogar Mohamad Hedschazis "Baba Kubi" oder Shakespeares<br />

Trauerspiel "Romeo und Julia" haben alle ihre literaturgeschichtliche<br />

Vorlage in diesem altorientalischen Motiv der Bräutigamsuche<br />

und Brautklage der großen Göttinnen und auch das Ramayana<br />

gehört zu dem Kreis der dramatisierten Vegetationsmythen.<br />

M. Hermanns hat in seiner großartigen Ausgabe der Kesarsage 31 die<br />

kulturhistorischen Hintergründe und Einflußvarianten ausführlich erörtert<br />

und dargestellt.<br />

In der Herbstmythe gerät die Frau Erde (Bruguma) in die Gewalt der<br />

Wassergeister und des Schnees. Das ist das Bild, dessen sich die altorientalischen<br />

theogonisch-kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>mythen bedienen,<br />

wenn auch die Akzente dort entsprechend verschoben sind. Als<br />

Brautraub wird diese Mythe geschildert und mit der Befreiung der<br />

Braut abgeschlossen. Die Wintermythe zeigt die Personen in folgendem<br />

symbolischen Zusammenhang:<br />

Leben, Vegetationskraft Tod Erde, Vegetaionsstoff<br />

Kesar Byang (Nordriese) Bruguma<br />

König von Hor aBamzu abum skyid<br />

König von China rGya nag, Prinzessin von China<br />

Die Herausforderer sind hier Winterungeheuer, menschenfressende<br />

Riesen und Teufel, die dunklen Mächte also, und die Zuordnung des<br />

Einfalls der Leute von Hor, der Chara Yugur oder der schwarzen Uiguren<br />

und des Kriegs gegen China, dessen König Kesar schließlich<br />

nach Kesars Sieg auch noch seine Tochter zur Frau geben muß, läßt<br />

die Mythe auch als eine Sage mit geschichtlichen Anhaltspunkten begreifen.<br />

Genauso wie in den anderen Mythen geht es aber auch hier in erster<br />

Linie um die Befreiung von der Todesdrohung, um die Erlösung der<br />

31 M.Hermanns, Das Nationalepos der Tibeter Gling König Gesar, Regensburg 1965


110<br />

Jungfrau zur Ehefrau und über diese Verschlüsselung auch um die Integration<br />

der Verhältnisse zwischen Tibet und China und die Darstellung<br />

des politischen Verhältnisses zwischen Tibet und China in diesem<br />

Rahmen stellt die Bedeutung und die Bewertung heraus, welche die Tibeter<br />

dieser politischen und geschichtlichen Beziehung beimaßen und<br />

heute noch beimessen. <strong>Der</strong> Ash-boy, der zum König geworden ist,<br />

versichert durch den Sieg über den Drachen seine Dynastie, indem er<br />

ihm seine Frau entreißt, die zusätzlich als chinesische Prinzessin<br />

bestimmt wird, so daß das Motiv der Reorganisation der Autochthonie<br />

durch Neugründung einer Stammeslinie und Heirat einer Frau aus der<br />

zurückgedrängten Linie mit dem Motiv der politischen oder sozialen<br />

Vermittlung, das zum Ash-boy-Mythologem gehört, kombiniert wird,<br />

was der Mythe hier also ermöglicht auch geschichtlich zu werden.<br />

Ladakh Mongolei Kham<br />

Himmlischer Vater Agu dPalle Chormusta Thupas Gawa<br />

Held Dongrub Joro Chori<br />

Gegenspieler Khromo Tshotong Todong<br />

Braut/ Frau Bruguma Brugmo Sechang Dugmo<br />

In der urtibetischen Version ist Gesar eine Inkarnation des urzeitlichen<br />

Himmelskönigs in einer Zeit der Wirren. Sproß einer außergwöhnlichen,<br />

d.h. nicht menschlichen Geburt, der von Geburt an Ränke, List<br />

und Nachstellungen gegen sich zu bekämpfen hat und so in einer<br />

Schule des Lebens aufwächst, die ihn für seine eigentliche Aufgabe,<br />

dem Kampf gegen den Teufel und die bösen Ungeheuer des Nordlandes<br />

vorbereitet, den Siegbert Hummel mit Recht neben Siegfrieds<br />

<strong>Drachenkampf</strong> stellt. Während seiner Abwesenheit suchen die Leute<br />

von Hor Tibet heim und nur Kesars Rückkehr aus dem Norden kann<br />

seinem Volk die Rettung bringen. Auch eine orpheusgleiche Reise in<br />

die Unterwelt und die Heimführung seiner Gemahlin aus der Gewalt<br />

des Totengottes in das himmlische Paradies gehören zu den Episoden<br />

dieses tibetischen Heldenepos, das nach der umfassenden Forschung<br />

und tiefschürfenden Deutung durch P. Hermanns in seinen wesentlichen<br />

Zügen als eine vollständige Eigenschöpfung des tibetischen<br />

Volkes verstanden werden muß.<br />

Diese wintermythische Version hat auch viele Anklänge an die Geschichte<br />

des göttlichen Rama, dem es nach vielen Kämpfen endlich gelingt,<br />

seine Gemahlin Sita aus der Macht des Riesenfürsten Ravana zu<br />

befreien, der Sita ihm geraubt hat.


111<br />

In der mongolischen Fassung der Gesar-Sage, die Schmidt 32 herausgegeben<br />

hat, ist es Buddha (in der Fassung von Kham 33 Padmasambhava),<br />

der den Gott Chormusta (Thupa Gawa/ Kham) auffordert, einen<br />

seiner Söhne auf die Erde zu schicken, um dort die Ordnung wiederherzustellen.<br />

Gesar wird als Aschboy Joro (Chori/ Kham) auf der Erde<br />

geboren und muß sich von Geburt an vor den Nachstellung des Agu<br />

Tshotong (Aku Tdong/ Kham) in Acht nehmen, der sein irdischer Onkel<br />

ist, da der Held dem Anschein nach als der Sohn einer Magd<br />

(Gongmo) von Todongs Bruder Sileng gilt.<br />

Auch als er um Brugmos Hand (Sechang Dugmo/ Kham) anhält, versucht<br />

Agu Tshotong die Heirat mit allen Mitteln zu vereiteln. Brugmo<br />

ist der Preis jener Wettkämpfe, die man traditionellerweise in Tibet zu<br />

Neujahr und im Juli ausgerichtet hatte, und die Joro hier alle gewonnen<br />

hatte. Aber Brugmos Vater, Tangpa Gyaltsen, versucht ihn um seinen<br />

Preis zu bringen, indem er ihm noch weitere, scheinbar unlösbare<br />

Aufgaben stellte, darunter auch die Tötung Garudas, des Wundervogels.<br />

Joro offenbahrt sich seiner präsumptiven Gattin als glanzvoller<br />

König durch Donner und Blitz, welche der ausgetrockneten Erde Regen<br />

spenden.<br />

Einer der Höhepunkte in Joros Heldengeschichte ist sein Kampf mit<br />

dem Nordriesen (Lu-tzen/ Kham), den er wie der Held im Märchen<br />

vom Teufel mit den drei goldenen Haaren besiegt, und zwar mit der<br />

Hilfe von dessen Frau.<br />

Während seiner Abwesenheit in Lu-tzens Reich stellt sein Onkel Tshotong<br />

seiner Gattin nach und drei Khane besetzen sein Königreich. Lutzens<br />

Frau raubt Gesar mit einem Trunk des Vergessens das Gedächtnis<br />

und hält ihn so als ihren Liebhaber im unterweltlichen Reich des<br />

Nordriesen wie Circe den Odysseus. Aber ein Pfeil mit einem Brief,<br />

den Brugmo ihm geschickt hatte, weckt wieder seine Erinnerung. Er<br />

kehrt auf die Erde zurück und besiegt seinen Onkel und die drei Khane<br />

und befreit Brugmo aus der Gefangenschaft von König Weißzelt (Gurdkar).<br />

Die Attribute des Riesen von Hor: 9 Augen, 9 Hörner, Menschenfresser<br />

und Höhlenbewohner 34 unterstreichen auch die Drachennatur<br />

dieses Helden.<br />

32 Siehe: I.J.Schmidt, Die Taten des Bogder Gesser Khans, St. Petersburg 1839, Berlin<br />

1925, Osnabrück 1966<br />

33 Siehe: A.David Neel/ Lama Yongden, The Superhuman Life of Gesar of Ling,<br />

Boston, London 1987<br />

34 Siehe A.Tafel, Meine Tibetreise, II, Stuttgar, Berlin, Leipzig 1914, S.158 ff


112<br />

Die chinesische Mythologie verbindet in ihrer <strong>Drachenkampf</strong>gestaltung<br />

dagegen zwei andere Motive.


Nüwa und Fuxi<br />

113<br />

Die chinesische Mythologie berichtet von einer ersten Katastrophe, die<br />

von Nüwa, der Schwester und Frau des Fuxi (Fu-hi) überwunden wird.<br />

Interessant ist hier das genealogische und das Inzuchtsverhältnis der<br />

Gottheiten. Es begab sich zu der Zeit als die vier Pole der Welt umgestürzt<br />

und die neun Provinzen zerissen waren, als der Himmel die Erde<br />

nicht völlig abdeckte, ständig große Feuersbrünste ausbrachen, und die<br />

Wasser die Erde überschwemmten, als wilde Tiere die Menschen<br />

fraßen und große Raubvögel Kinder und Greise entführten, da reparierte<br />

Nü-wa den Himmel, stellte auf Erden die Ordnung wieder her<br />

und tötete den schwarzen Drachen, der das Land Ki drangsalierte. <strong>Der</strong><br />

Hintergrund des Geschehens erscheint auch hier als der Übergang, den<br />

man mit dem Begriff der neolithischen Revolution und der Ausbildung<br />

der Hochkultur umschreiben kann.<br />

Daß wir es hier aber auch mit einer kosmologischen Katastrophe zu<br />

tun haben, unterstreicht Paul Arnold: "In der chinesischen Volksmythologie<br />

wurde der Himmel ursprünglich, als die Göttin Nüwa<br />

Schlamm zerrieb und daraus den Menschen schuf, von einem Pfeiler<br />

gestützt. Darauf brach auf der Erde zwischen dem Gott des Feuers und<br />

dem Gott des Wassers ein Krieg aus. <strong>Der</strong> Gott des Wassers unterlag<br />

und versuchte Selbstmord zu begehen. Dabei stieß er an den Pfeiler,<br />

der den Himmel stützte und zerbrach ihn. Ein Teil des Himmels stürzte<br />

ein. Von Löchern durchbohrt grub er Spalten in die Erde. Da griff die<br />

Schöpfergöttin ein, um das Unheil wiedergutzumachen. Sie holte Steine<br />

aus den Wasserläufen, schmolz sie im Feuer und verstopfte damit<br />

die Löcher. Dann tötete sie eine Schildkröte, schnitt ihr die vier Beine<br />

ab und benutzte sie als Stützpfeiler für die vier Enden der Erde. So ist<br />

also das Wasser, eine Sintflut hier wie dort (bei den Mayas/H.S.) für<br />

die Katastrophe verantwortlich..." 35 Eigentlich war es aber der<br />

Mensch, der den Streit zwischen dem Feuer- und dem Wassergott ausgelöst<br />

hatte, genauso wie in den altorientalischen, speziell semitischen<br />

Überlieferungen.<br />

Die zweite Version stellt die chinesische Tradition in verschiedenen,<br />

aber mindestens in zwei Überlieferungen dar. Nach der einen wird sie<br />

ausgelöst durch den Sieg Zhuangchu's, einem der Urkaiser, über Gong-<br />

35 P.Arnold, Das Totenbuch der Maya, Bern, München, Wien 1980, S.74


114<br />

Gong, der sie auslöst und hier den schwarzen Drachen spielt. Kong-<br />

Kong stößt den Pahtshou-Berg um, der den Himmel trägt und zerschlägt<br />

die Bande zwischen Himmel und Erde. Manche Autoren<br />

möchten in Kong-Kong auch den schwarzen Drachen sehen, den Nüwa<br />

getötet hat, andere verbinden die ganze Mythe mit dem Überlieferungskreis<br />

um Nü-wa und Fu-hi. Nach dem Einbrechen des Weltberges<br />

liefen nämlich die Gestirne nach Westen und die Flüsse nach Osten,<br />

weil sich die Erde dorthin gesenkt hatte, und das geschah solange bis<br />

Nü kua mit ihren fünffarbigen Steinen das Firmament reparierte und<br />

die Ecken der Welt auf die Füße einer Schildkröte stellte.<br />

Nach einer weiteren Version (Shan-hai King des Küh Yüan) versuchte<br />

Kuen als weißer Drache die Flut zu bekämpfen, indem er sich der<br />

aufquellenden Erde bediente, wofür er bestraft wurde (Tod des Vaters).<br />

Sein Sohn Yü (wunderbare Geburt) vollendete das Werk des Vaters mit<br />

dessen Hilfe und wurde so indirekt zum Stammvater der Chia-Dynastie.<br />

Schon die ältesten Kommentatoren und nach ihnen auch fast alle späteren<br />

haben die Mythen von Kuen und Yü in den Kontext der Periode<br />

der Wasserregulierung und Kanalisierung gestellt.<br />

Diese Version verbindet theogonisch-kosmologische Bilder mit denen<br />

der Stammesaitiologie und Reichsgeschichte und ähnelt in dieser Hinsicht<br />

amerikanischen Beispielen.<br />

Auch der Ch'ing lung (blaugrüner Drache), einer der Hüter der vier<br />

Weltrichtungen (Osten) kämpft gegen den Tiger (po-hu), dem Herrn<br />

des Todes und dem Hüter des Westens. Ch'ing lung ist der Zeuger, der<br />

Frühlingsregen und der Regen allgemein, der am 2. Tag des 2. Monats<br />

aus der Erde emportaucht und mit seinem Donner und Regen verkündet,<br />

daß die Felder bestellt werden können. Dieser <strong>Drachenkampf</strong> ist<br />

also vegetationsmythisch, ein Ereignis das zyklisch wiederkehrt.


Amerikanische Themen<br />

115<br />

Das Drachen- oder Schlangenkampfmotiv ist auch in der Mythologie<br />

Amerikas vertreten. Es findet sich dort sowohl in dem kosmologischen<br />

Kontext als auch in einem Zusammenhang mit den Brüder-Helden-<br />

Mythen oder Zwillingsheroen.<br />

Die Übereinstimmungen mit und die Unterschiede zu den Mythen der<br />

Alten Welt sind bezeichnend. So fällt auf, daß in Amerika das Thema<br />

von der Jungfrau, die entweder dem Drachen geopfert oder von ihm<br />

geraubt wird, fehlt. Hier werden die Ziele oder Aufgaben des Helden<br />

anders formuliert.<br />

Quetzalcoatle und Uitzilopochtli teilen sich in die Aufgabe einer Weltordnung<br />

und Gesetzesregulierung, die ihr Zusammenwirken entweder<br />

harmonisch oder konfliktreich zeigt.<br />

Mami ist der Nachkomme einer Schlange, die ihre Alte fraß und von<br />

Mami wiederum gefressen wurde. Sie entvölkerte ganze Landstriche<br />

und wurde nach der Vernichtung des letzten wehrhaften Stammes an<br />

den Himmel versetzt.<br />

Auch die Maya von Yucatan bringen das Weltende mit dem Unhold,<br />

dem großen, grünen Wasserkrokodil in Verbindung, von dem sie allerdings<br />

glauben, daß es zuletzt doch noch besiegt wird.<br />

Die Araukaner berichten den Kampf der Threngthreng gegen Kaikaifilu,<br />

der mit einem Kompromiß endet, dem Fortgelten ihrer Prinzipien<br />

im Gleichgewicht. An dieses Motiv knüpfen auch die <strong>Drachenkampf</strong>episoden<br />

der Brüder-Helden-Mythen in Nord- und Südamerika an.<br />

Va Mu Volk Drache Mu Va Volk Drache<br />

Br Br Br Br<br />

Opfer Opfer<br />

Tiri (Tiri und Karu der Yurukare) und Kanigyilag (Kanigyilag der Nakomgyilisala)<br />

befreien die Menschheit, die von der Schlange entweder<br />

gefangen gehalten (Yurukare) oder von ihr verschlungen wurde (Nakomgyilisala).<br />

Die genealogischen Alternativen der <strong>Drachenkampf</strong>episode<br />

in den amerikanischen Zwillingsmythen zeigt das Schema oben.


116<br />

Dieses Motiv der vom Drachen verschlungenen Menschen, die der<br />

Held oder die Helden befreien, findet sich genauso in der Mythologie<br />

der Tataren, Mongolen, der Melanesier (Bola), Nordwest-Australier<br />

(Ungarinyin, Unambal, Worora, Nyigina, Djauan), der Bambuti, Basuto,<br />

Bavenda und Masai. Es steht dort überall im Kontext des Wiedergeburtsglaubens<br />

und speziell der Initiationsrituale.<br />

Eine Sonderstellung nimmt in Amerika das <strong>Drachenkampf</strong>motiv in der<br />

Coniraya-Mythologie ein, obwohl es einem sonst universal verbreitetem<br />

Schema folgt.<br />

Coniraya gelingt es als Ashboy die Jungfrau Cauillaca, die als eine<br />

Huaca bezeichnet wird, und alle Bewerber abgewiesen hat, mittels einer<br />

Frucht zu befruchten und schwanger zu machen. Sie gebiert ein<br />

Kind und sucht den Vater, der schließlich vom Kind entdeckt wird.<br />

Über den zerlumpten Ashboy schämt sich die Mutter dermaßen, daß<br />

sie mit dem Kinde flieht und auch die nun folgende Werbung des in<br />

seinen Glanz und in seine sonnenhafte Pracht verwandelten Coniraya<br />

ablehnt. Cauillaca flieht mit dem Kind ans Meer, wo sie schließlich<br />

beide versteinern.<br />

Während der Verfolgung<br />

der Mutter seines<br />

Kindes begegnet<br />

Coniraya verschiedenen<br />

Tieren, die er entweder<br />

segnet oder<br />

verflucht.<br />

An diese Geschichte schließt nun die eigentliche <strong>Drachenkampf</strong>mythe<br />

an, die durch diese Einleitung in den kabirischen Kontext gestellt wird,<br />

der allerdings hier nur die dunklen Aspekte des Mütterlichen betont<br />

und den lichten Aspekten des Helden, aber verschmähten Geliebten,<br />

gegenüberstellt.<br />

Die <strong>Drachenkampf</strong>geschichte zeigt Coniraya, der auf zwei Töchter<br />

Pachacamacs (hier als Mondgott bezeichnet) trifft, die von einem Drachen<br />

bewacht werden, weil ihre Mutter bei Cauillaca, d.h. im Reich<br />

der Versteinerten, ist, bei jener Frau also, die Coniraya zwar schwängerte,<br />

aber vergeblich umwarb, und die sich seinem Drängen durch<br />

ihre Verwandlung, d.h. Versteinerung, entzog. Cauillaca erscheint als<br />

der einzige Berührungspunkt, der beide Geschichten hier miteinander<br />

verbindet.


117<br />

Coniraya besiegt den Drachen, der Pachacamacs Töchter bewacht und<br />

vergewaltigt die ältere Schwester, während die jüngere- unterdessen zu<br />

ihrer Mutter fliehen kann.<br />

Die von Cauillaca zurückgekehrte Mutter ist so erzürnt darüber, daß<br />

sie Coniraya verfolgt. <strong>Der</strong> stellt sich ihr scheinbar, aber nur, um ihr<br />

dann vollends entkommen zu können, weil er die List der Mutter<br />

durchschaut hat, mit der sie seiner habhaft werden will.<br />

<strong>Der</strong> Held des <strong>Drachenkampf</strong>s ist hier ein Schatzräuber, dem sein Besitz<br />

wieder von der Mondgöttin abgejagt wird.<br />

In beiden Geschichten der Mythe versucht Coniraya in eine Linie einzudringen,<br />

die sich ihm erfolgreich widersetzt und die Folgen seiner<br />

listigen oder gewaltsamen Überrumpelungsversuche vereitelt, einmal<br />

durch Versteinerung, das andere Mal, in dem die Mutter der geschändeten<br />

Tochter Coniraya vertreibt. So demonstriert der Sieg über den<br />

Drachen zwar Conirayas Stärke, aber er ist doch genauso machtlos gegenüber<br />

dem mütterlichen Geheimnis wie deren Hüter ihm gegenüber.<br />

Kondor + Sonne/ Coniraya Mond/ Pachacamac<br />

Fuchs - Kondor<br />

Puma + Puma Fuchs<br />

Fuchs - Falke Papagei<br />

Falke + Taube<br />

Papagei - Fisch<br />

Nicht nur das Schema der Geschichte, sondern auch die nähere Bezeichnung<br />

der Cauillaca als eine Huaca, läßt die Conirayamythe auch<br />

vegetationsmythisch erscheinen. A. Metreaux schreibt in seinem Aufsatz<br />

über "Die Mythologie der Südamerikaner": "Mit huaca wurde in<br />

Alt-Peru jeder Gegenstand, jede Erscheinung bezeichnet, wenn man<br />

eine Kundgebung des Übernatürlichen darin erblickte. Solche huacas<br />

konnten Berge, Flüsse, Seen oder auch seltsam geformte Felsen<br />

sein." 36 In den huaca haben wir also ein Konzept vor uns, das der<br />

hebräischen Vorstellung von der Schechina verwandt ist. Bis in die<br />

Gegenwart hinein wird den huacas geopfert, deren chthonischer Charakter<br />

ohne Zweifel ist. <strong>Der</strong> erste Teil der Mythe zeichnet also die sehr<br />

einseitige Liebe eines Himmlischen zu seiner auserwählten Chthonischen<br />

und die verhängnisvolle Antwort auf seinen Betrug, während der<br />

zweite Teil das Verhältnis der Sonne zur Mondgöttin, die mit der<br />

chthonischen Religion verbunden ist, darstellt.<br />

36 A.Metreaux, in: P.Grimal, Mythen der Völker III, Frankfurt 1967, S.199


118<br />

In dieser Mythe zeigen also beide Geschichten den Konflikt zwischen<br />

den himmlischen- und den chthonischen Gottheiten und ihren Kulten.<br />

Die Episode der Segnung und Verfluchung der Tiere nimmt in dieser<br />

Geschichte einen auffallend breiten Raum ein, so daß man unbedingt<br />

ihren Hinweisen folgen sollte. Sie ist es auch, die die letzten Zweifel<br />

über die Deutung der Mythe ausräumt. Die hier auftretenden Tiere sind<br />

wohlbedacht gewählt, wie die Tabelle oben zeigt, das die Reihenfolge<br />

der Begegnung mit Coniraya wiedergibt und Segen und Fluch durch<br />

ein Plus- und ein Minuszeichen voneinander unterscheidet.<br />

Wir erfahren, daß in dieser Mythe das Verhältnis der Tiere zu Coni-<br />

1) das Leben duale Ordnung<br />

genealogisch<br />

2) die Menschen genealogisch<br />

kosmologisch<br />

<strong>Der</strong> Drache<br />

bedroht, 3) die Götter theo-kosmogonisch<br />

hütet oder<br />

verschlingt<br />

aitiologisch<br />

4) Jungfrau vegetationsmythisch<br />

Kind astralmythisch, Märchen<br />

Gemischte Versionen:<br />

5) Schatz<br />

Frucht mystisch<br />

Kostbarkeit märchenhaft<br />

6) = 2) + 3)<br />

7) = 1) + 2)<br />

8) = 3) + 4)<br />

9) = 4) + 5)<br />

raya mit ihrer kultischen Bedeutung im nördlichen Südamerika zu vergleichen<br />

ist. Jaguar oder Puma oder Adler und Falke sind neben einem<br />

katzengesichtigen Gott (Raimondi-Stele und Lanzon) die häufigsten<br />

Motive der Chavin- Kultur.<br />

Albert Meyers erwähnt das Vorherrschen des Puma- und Kondormotivs<br />

im Ausstrahlungsbereich der Tiahuanacu-Kultur. "Häufige Ziermotive<br />

sind neben einer Vielzahl von geometrischen Mustern die Darstellung<br />

eines Pumas, der auf der Nase einen Ring zu balancieren<br />

scheint, sowie Köpfe im Profil, vor allem von Kondorvögeln, bei de-


119<br />

nen das Auge in eine helle und dunkele Hälfte zweigeteilt ist." 37 Auch<br />

die olmekische Kultur zeigt Mischwesen aus Kind und Katze und viele<br />

südamerikanische Mythen erzählen von der Verbindung zwischen Jaguar<br />

und Menschenfrau (oder umgekehrt, je nach den Filiationsregeln)<br />

und man fand unter olmekischen Funden auch eine Statue, die genau<br />

dieses Sujet darstellt.<br />

Die Conirayamythe steht zwar neben den anderen <strong>Drachenkampf</strong>mythen<br />

Südamerikas einzig da, aber sie gehört trotzdem zur kulturellen<br />

Überlieferung seiner Region, so daß wir hier nicht ihren Beziehungen<br />

zur siamesischen Laosmythe (Frobenius, Ehrenreich etc.) nachzugehen<br />

brauchen. Sie wurde überliefert von Francisco de Avila 38 und de Avila<br />

versicherte, daß er sie von vertrauenswürdigen Gewährsleuten hätte.<br />

Huarochiri liegt im Quellgebiet des Rio Rimac, nordöstlich von Lima.<br />

De Avilas Wiedergabe stellt eine der wenigen auf uns gekommenen<br />

Mythen der peruanischen Sonderstämme dar, die von der Inkatradition<br />

unabhängig sind und sich selbstständig entwickelt haben. Sie gehört<br />

zum Mythenbestand der Yunka- oder Chimu-Gruppe.<br />

<strong>Der</strong> Hinweis also auf die Übereinstimmung der Bedeutung der von Coniraya<br />

gesegneten Tiere mit den Bildnissen, die die Archäologie sicherzustellen<br />

vermochte, unterstreicht die zentrale Bedeutung dieser<br />

Episode in der Mythe, deren genauen Sinn wir nur schwer erschließen<br />

können. Die Abwehr der Ansprüche der himmlischen Götter durch die<br />

chthonischen Götter muß also in diesen kulturhistorischen Kontext gestellt<br />

werden und als eine Verkleidung auch der Behauptung der regionalstammlichen<br />

Autonomie begriffen werden. So scheinen Segen und<br />

Fluch der genannten Tiere auch auf verbündete oder verfeindete<br />

Totemgruppen zu verweisen, auf Bündnisse und Widerstand, denen ein<br />

eroberndes Volk und seine Götter begegnet sind, so daß auch dieser<br />

Teil der Geschichte, und zwar in sich geschlossen, denselben Konflikt<br />

beschreibt, den die beiden anderen Geschichten dargestellt haben. Das<br />

Schema oben zeigt auch die Stellung der amerikanischen Mythen in<br />

dem hier dargestellten Gesamtzusammenhang:<br />

37 A.Meyers, Dornige Austern und Jaguarkinder, in: Pörtner, Davies, Alte Kulturen<br />

der neuen Welt, Frankfurt, Berlin, Wien 1982, S.384<br />

38 Francisco de Avila, Irrtümer, falsche Götter, abergläubische Vorstellungen und<br />

teuflische Gebräuche, welche die Indianer der Provinzen Huarochiri, Mama und<br />

Chacla in alten Zeiten hatten und die sie sogar jetzt noch festhalten, zum großen<br />

Verderbnis für ihr Seelenheil, 1608


120<br />

Ordnen wir die Mythen den Gruppen des Schemas zu, dann finden wir<br />

folgende Verteilung:<br />

1) australische-, melanesische-, amerikanische-, keltische Mythen und<br />

Märchen,<br />

2) amerikanische Zwillingsmythen, Mythen der Kombo, Bambuti, Basuto,<br />

Bavenda, Masai, Tataren, Mongolen, Melanesier, Djanan, Ungarinyin,<br />

Nyigina (Australien),<br />

3) Mythen des Hochkulturkreises (Mittelamerika, Mittelmeer, Indien,<br />

China, vorderer Orient,<br />

4) Mythen der Hochkultur und Märchen der Posthochkultur,<br />

5) mystische, gnostische und alchimistische Gleichnisse und Märchen.<br />

Wir sehen, daß die amerikanischen Mythen sich auf die ersten drei<br />

Gruppen verteilen.<br />

Dieses Schema vermittelt aber nicht nur eine bestimmmte systematische<br />

Gliederung der <strong>Drachenkampf</strong>mythen, sondern es gibt auch eine<br />

soziologische und kulturkreisliche Gliederung der Völker, die diese<br />

Mythen erzählen, wieder. Die kosmologisch-aitiologischen und die<br />

dualistischen Mythen werden vorwiegend von Jäger- und Hackbauer-<br />

Völkern erzählt, obwohl dualistische Relikte in den Mythen der Hochkulturen<br />

nicht selten sind. Die Ackerbauern erzählen in der Regel die<br />

vegetationsmythischen- und astralmythischen Versionen, während die<br />

Schatzgewinnungsversionen von Völkern der Hochkulturen oder solchen,<br />

die in ihrem Einflußbereich standen, erzählt werden. Die Hochkulturen<br />

haben sowohl die theogonisch-kosmologischen, die vegetations-<br />

und astralmythischen- als auch die mystischen Versionen ausgebildet,<br />

d.h. entsprechend ihrer Zusammensetzung aus den ihnen vorausgehenden<br />

Kulturen eine Synthese aus den für diese Kulturen typischen<br />

Versionen. Die Posthochkulturen gestalten dann auch noch die<br />

metallischen Schatzversionen aus. Im Ganzen decken sich diese Gruppen<br />

mit den kulturmorphologischen Gruppen, die Frobenius 39 aufgestellt<br />

hat. Die Darstellung des Stammesursprungs im Anschluß an einen<br />

heldenhaften Sieg über eine Riesenschlange knüpft an das kosmologische<br />

Ringen an, ordnet sie diesem unter. Mit Ausnahme der<br />

Conirayamythe läßt sich die Unterscheidung des kosmologischen <strong>Drachenkampf</strong>es<br />

von einem vegetationsmythischen- oder jahreskreislichen<br />

39 L.Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes, Berlin 1924; ipse: Schicksalskunde,<br />

Leipzig 1932


121<br />

<strong>Drachenkampf</strong> in den amerikanischen Mythen nicht erkennen. Verbinden<br />

zwar die meisten amerikanischen Mythen den <strong>Drachenkampf</strong> mit<br />

der Bedrohung und Entstehung der Erdbevölkerung oder des Stammes,<br />

so zeigt die Conirayamythe deutlich vegetations- und astralmythische<br />

Züge.<br />

Die allgemeine Verbreitung der <strong>Drachenkampf</strong>mythen entspricht jener<br />

Verbreitung des Drachen- und Schlangenmotivs in der Kunst, die<br />

Lommel rekonstruiert hat: "Die früheste Darstellung des Schlangenmotivs<br />

findet sich in Mesopotamien; sie hat indische Darstellungen angeregt,<br />

aber auch das frühe China erreicht, wie neu entdeckte Holzschnitzereien<br />

auf Taiwan (Formosa) beweisen. Eine bedeutsame Variante,<br />

eine Schlange mit je einem Kopf an beiden Enden, ist bis nach<br />

Amerika gelangt, wo sie bei den Indianern im Nordwesten und in der<br />

Kunst der Hochkulturen Mittelamerikas und der Anden auftaucht... Im


122<br />

östlichen Indonesien (Flores, Timor, Celebes, Molukken und angrenzende<br />

Inseln) sind Schlangen- und Drachendarstellungen häufig. Sie<br />

unterscheiden sich nicht erheblich voneinander und werden beide mit<br />

dem indischen Namen >Naga< bezeichnet... Aber die indonesischen<br />

Nagas sehen eher so aus, als seien sie nach chinesischen Mustern geformt...<br />

und indische Motive findet man sogar in entfernten Gegenden<br />

wie Neu-Guinea und Australien; die kulturellen Grundlagen all dieser<br />

Gebiete sind aber im südlichen China zu suchen." 40<br />

40 A.Lommel, Vorgeschichte und Naturvölker, München, Wien 1974, S.80


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