Journal 4_Journal 3 - Hamburgische Staatsoper
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Wiederaufnahme<br />
»Eugen Onegin«:<br />
Karen Kamensek (Diri gen -<br />
tin), Tamar Iveri (Tat jana),<br />
Dovlet Nurgeldiyev (Lenski)<br />
Das Vergangene lässt sich nicht ungeschehen machen<br />
Tschaikowskys Meisterwerk »Eugen Onegin« kehrt auf den Spielplan zurück<br />
»Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im<br />
Innersten berühren können«, schrieb Peter Tschaikowsky an seinen Schüler Tanejew, als er gerade auf der Suche nach einem<br />
passenden Opernstoff war. Das Sujet, für das sich der Komponist entschied und das er nicht Oper, sondern »Lyrische Szenen«<br />
nannte, basiert auf Episoden des Vers romans »Eugen Onegin« von Alexander Puschkin, dem in Russland ein ähnlich hoher<br />
Stellenwert zukam wie Goethes »Faust« in der deutschen Literatur. »Onegin« ist ein typisches Werk russischer Literatur des<br />
19. Jahrhunderts mit schwermütigen und melancholischen Charakteren; es zeigt die Zer rissenheit der Menschen auf, analysiert<br />
ihre Zustände und Stimmungen: bald überschäumend euphorisch, bald dumpf fatalistisch, resignativ. Adolf Dresen,<br />
Regisseur der Hamburger Inszenierung, bezog sich bei seiner Interpretation des Stückes stark auf Puschkin. Weitab von schwelgerischer<br />
Romantik stellt er das innere Drama der Hauptfiguren als im Korsett gesellschaftlicher Konventionen gefangener<br />
Menschen dar, das zum Drama der verpassten Chancen wird.<br />
»Einen melancholischen und gefährlichen Exzentriker«<br />
hat Alexander Puschkin seinen Protagonisten genannt.<br />
Und Tschaikowsky äußerte: »Ich liebte Tatjana und war<br />
über Onegin, in dem ich einen kalten, herzlosen Gecken sah,<br />
empört.«<br />
Wir befragten Hamburgs neuen Onegin Lauri Vasar, was er<br />
zu Puschkins und Tschaikowskys Kommentaren meint – und wie<br />
er selbst über den berühmt-berüchtigten St. Peters burger Dandy<br />
denkt.<br />
»Puschkins Aussage finde ich passender als Tschaikowskys<br />
Auffassung. Mit der Gestalt des dandyhaften Einzelgängers<br />
Onegin wollte Puschkin die Dekadenz der damaligen russischen<br />
Gesellschaft porträtieren. Und wenn der Komponist sich<br />
so negativ über diese Figur geäußert hat, muss man sich eigentlich<br />
fragen, warum er die Oper so gestaltet hat, wie sie ist. Denn<br />
es gibt durchaus Stellen, die das Gegenteil von dem, was er in<br />
dem bewussten Zitat sagt, zum Vorschein bringen. Da zeigt<br />
Tschaikowskys Musik ganz klar, dass Onegin, wie die übrigen<br />
Figuren, ein um seine Gefühle kämpfender Mensch ist.<br />
Als Interpret kann ich keine Bühnenfigur gestalten, wenn<br />
ich selber keinen oder einen negativen Bezug zu ihr habe. Ich<br />
muss also für mich etwas in dem Charakter finden, das ich mag<br />
oder das es mir wenigstens erlaubt zu fragen, warum er so ge -<br />
worden ist. Onegin kommt mir vor wie ein verzogenes, zur<br />
Arroganz neigendes Einzelkind aus reichem Hause. So wird<br />
er ja auch in Puschkins Versroman ausführlich beschrieben.<br />
Und ich glaube, hier liegen die Ursachen seiner Einsamkeit und<br />
seiner emotionalen Verkümmerung. Tschaikowsky charakte-<br />
risiert ihn durch Themen, die etwas in die Länge gezogen sind,<br />
paradoxerweise aber doch recht einsilbig klingen.<br />
Die gesellschaftliche Enge der russischen Provinz ruft bei<br />
Onegin Überdruss hervor. Weil er anders ist, übt er eine er -<br />
staunliche Wirkung auf seine Umgebung aus, besonders auf<br />
die Frauen, worauf er großen Wert legt und was er genießt.<br />
Wenn Tatjana Onegin ihren Brief schreibt und ihm ihre Liebe<br />
gesteht, fühlt er sich allerdings total überfordert. Ich denke,<br />
dass er sie zu diesem Zeitpunkt schon mag, dass er aber zu einer<br />
tieferen Beziehung, wie sie es ersehnt, weder bereit noch in<br />
der Lage ist.<br />
Die Tragödie, kurze Zeit später, ereignet sich ja fast zufällig:<br />
ein Duell zwischen zwei Männern, die gestern noch<br />
Freunde waren. Onegins Flirt mit Lenskis Freundin Olga ist<br />
doch nur Spielerei, eine oberflächliche Provokation, die aus<br />
seiner Überheblichkeit resultieren mag. Lenski versteht One -<br />
gins »Humor« aber nicht und fordert ihn zum Duell. So gerät<br />
alles außer Kontrolle. In Tschaikowskys Oper ist es der dramatische<br />
Höhepunkt, geboren aus einem Streit, in dem es um<br />
den Begriff »Ehre« geht. Die Nähe, die kurz vor dem tödlichen<br />
Schuss in dem Duett zwischen Onegin und Lenski entsteht,<br />
kommt zu spät.<br />
Als er dann Jahre später aus dem Ausland zurückkehrt, hat<br />
er sich entscheidend verändert. Es gibt eine Schlüsselszene, die<br />
viel über Onegins Charakter aussagt. Er befindet sich alleine<br />
in einem Raum des Hauses Gremin, und man erfährt in seinem<br />
Monolog, wie unzufrieden er mit sich ist: »Ich habe in<br />
meinem Leben nichts erreicht, ich habe keine Frau, keine<br />
Familie, die Weltenbummelei bringt auch nichts mehr«.<br />
Genau an dieser Stelle merke ich bereits, wie verzweifelt<br />
er ist. Wenn er wenig später Tatjana als Fürstin Gremin auf dem<br />
Ball wiedersieht, fragt er sich zum ersten Mal in seinem Leben:<br />
»Mein Gott, was ist in meiner Seele los?« Er ist vollkommen<br />
überwältigt von seiner plötzlichen Leidenschaft für diese Frau,<br />
die er einst zurückgewiesen hat. Es ist ja auch im wahren Leben<br />
gar nicht selten, dass solche Gefühle erst wahrgenommen werden,<br />
wenn es zu spät ist. Onegins Empfindungen in dieser<br />
Szene sind wirklich echt.<br />
Dann schreibt er Tatjana einen Brief, um ihr seine Liebe<br />
zu bekennen. Und obwohl sie Onegin noch immer liebt, weist<br />
sie ihn ab – die Konvention fordert es von ihr als verheiratete<br />
Frau. In der Schlussszene bricht Onegin zusammen, weil ihm<br />
plötzlich klar geworden ist: Es ist zu spät, und ich habe alles<br />
kaputt gemacht. Seine große Verzweiflung macht wirklich<br />
betroffen. Und auch in Tschaikowskys Musik verliert er den<br />
Ton arroganter Distanz, wenn er vergeblich um Tatjanas Liebe<br />
ringt.<br />
Aber das Vergangene lässt sich nicht ungeschehen machen.<br />
Die Chance, seinem Leben einen Sinn zu geben, hat er vertan.«<br />
aufgezeichnet von Annedore Cordes<br />
<strong>Journal</strong> 4 | 13