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völlig von dem überzeugt worden sei, daß die Philosophie, selbst durch die neuesten Bemühungen der scharfsinnigsten Männer noch nicht zum Range einer evidenten Wissenschaft erhoben sei. Er glaubt, einen leichten Weg entdeckt zu haben, alle […] Anforderungen der Skeptiker an die kritische Philosophie vollkommen zu befriedigen; und das dogmatische und kritische System überhaupt in ihren streitenden Ansprüchen […] zu vereinigen. Seinen philosophischen Weg bezeichnet Fichte durch die Positionen der kritischen und dogmatischen Philosophie einerseits und der Einwände neuer Skeptiker auf der anderen Seite. Durch Unterstreichung bekundet Goethe sein besonderes Interesse für die letzteren. Was Fichte unter den kritischen und dogmatischen Systemen versteht, erklärt er in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 (§ 3): Das Wesen der kritischen Philosophie sieht Fichte dort darin, daß ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar aufgestellt wird, während er dieienige Philosophie dogmatisch nennt, die dem Ich an sich etwas gleich und entgegensezt, was in dem höher seyn sollenden Begriffe des Dinges (Ens) geschieht. Die kritische Philosophie wird daher in erster Linie durch Kant, dann aber auch durch Reinhold und andere Kantianer repräsentiert. Das konsequenteste Produkt des Dogmatismus sieht Fichte in der Philosophie Spinozas. Als Werke neuer Skeptiker – neu wohl im Verhältnis zum älteren Skeptiker Hume – hebt Fichte den Aenesidemus und die vortreflichen Maimonschen Schriften hervor. Von den Schriften Salomon Maimons (1753–1800) meint Fichte vermutlich in erster Linie dessen Versuch über die Transcendentalphilosophie (Berlin 1790), in welchem der Autor Kants Lehre für unstatthaft hält, daß unsere Vorstellungen von Dingen auf Empfindungen beruhen, die von »Dingen an sich« außer uns verursacht werden, weil das Schema der Zeit und so auch die Kategorie der Kausalität nach seiner eigenen Lehre subjektive Formen der Anschauung und des Denkens sind, die nicht auf eine außerhalb unserer Vorstellung angenommene Wirklichkeit angewendet werden dürfen. Die naive Überzeugung, daß »an sich« existierende Gegenstände Ursachen unserer Empfindungen seien, führt Maimon auf eine »Unvollständigkeit unseres Bewußtseins« zurück, kraft derer man sich bei Sinnesempfindungen passiv oder leidend fühlt, was jedoch nichts anderes anzeigt, als einen Mangel unseres Geistes an Aktivität. Der ursprüngliche Sinn des Ausdrucks »Empfindung«, meint Maimon, sei »In-sich-Findung«. Maimon dürfte, als intelligenter Autor einer zustimmenden Rezension der »Metamorphose der Pflanzen« Goethe bekannt gewesen sein. 12 Vielleicht hatte 12 LA II 9A, S. 404 f. Kommentar 8

S. III–IV Goethe auch vom gemeinsamen Freund Karl Philipp Moritz etwas über Maimon erfahren. Verfasser der anonymen Schrift mit dem Titel Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik (o. O. 1782) war Gottlob Ernst Schulze (1761–1833), Professor der Philosophie an der Universität Helmstedt. Schulze stellt in Übereinstimmung mit Reinhold fest, daß es der Philosophie Kants an einem obersten, allgemeinen Grundsatz mangelt, ohne den sie nicht den Titel einer Wissenschaft verdiene, ist aber mit Reinholds Versuch, eine solche Einheit zu stiften, nicht einverstanden. Außerdem ist auch Schulze der Meinung, daß es Kants eigenen Prinzipien widerspricht, wenn er annimmt, daß Dinge an sich unsere Sinnesempfindungen kausal bewirken. Die eigene Position zwischen diesen neuen Skeptikern, den kritischen Philosophen und den Dogmatikern beschreibt Fichte in der Fußnote IV 15–30: Die neuen Skeptiker, stellt Fichte fest, hätten sich im Streit mit der kritischen Philosophie über den Zusammenhang unsrer Erkenntniß mit einem Dinge an sich auf die Seite der Dogmatiker und des gesunden Menschenverstandes geschlagen und den Streit würde eine künftige Wissenschaftslehre dahin entscheiden, daß unsre Erkenntniß zwar nicht unmittelbar durch die Vorstellung, aber wohl mittelbar durch das Gefühl mit dem Dinge an sich zusammenhange; daß die Dinge allerdings bloß als Erscheinungen vorgestellt, daß sie aber als Dinge an sich gefühlt werden; daß ohne Gefühl gar keine Vorstellung möglich seyn würde. Während sich, wie Fichte meint, die Skeptiker Maimon und Schulze durch ihre berechtigte Kritik an Kants Dingen an sich als Verursachern unserer Wahrnehmungen auf die Seite der Dogmatiker und naiven Realisten geschlagen hätten, stellt er eine andere Lösung des Erkenntnisproblems durch die künftige Wissenschaftslehre in Aussicht: die Dinge sollen als Erscheinungen wahrgenommen und vorgestellt, aber als Dinge an sich gefühlt werden, womit gemeint ist, daß das Ich sich in seiner wahrnehmenden und erkennenden Tätigkeit in Abhängigkeit fühlt von einem freien Nicht-Ich. Goethes Markierungen zeigen, daß es seiner Aufmerksamkeit nicht entging, daß sich hier in der Kritik am kantischen Ding an sich und in der Berufung auf die Instanz des Gefühls 13 im Zusammenhang des Erkenntnisproblems aufregend Neues ankündigte. 13 Zu Historie und Systematik von »Gefühl« und »Selbstgefühl«: Frank (2003). 9

S. III–IV<br />

Goethe auch vom gemeinsamen Freund Karl Philipp Moritz etwas über Maimon<br />

erfahren.<br />

Verfasser der anonymen Schrift mit dem Titel Aenesidemus oder über<br />

die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie<br />

nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die<br />

Anmaßungen der Vernunftkritik (o. O. 1782) war Gottlob Ernst Schulze<br />

(1761–1833), Professor der Philosophie an der Universität Helmstedt.<br />

Schulze stellt in Übereinstimmung mit Reinhold fest, daß es der Philosophie<br />

Kants an einem obersten, allgemeinen Grundsatz mangelt, ohne den<br />

sie nicht den Titel einer Wissenschaft verdiene, ist aber mit Reinholds Versuch,<br />

eine solche Einheit zu stiften, nicht einverstanden. Außerdem ist<br />

auch Schulze der Meinung, daß es Kants eigenen Prinzipien widerspricht,<br />

wenn er annimmt, daß Dinge an sich unsere Sinnesempfindungen kausal<br />

bewirken.<br />

Die eigene Position zwischen diesen neuen Skeptikern, den kritischen<br />

Philosophen und den Dogmatikern beschreibt Fichte in der Fußnote IV 15–30:<br />

Die neuen Skeptiker, stellt Fichte fest, hätten sich im Streit mit der kritischen<br />

Philosophie über den Zusammenhang unsrer Erkenntniß<br />

mit einem Dinge an sich auf die Seite der Dogmatiker und<br />

des gesunden Menschenverstandes geschlagen und den Streit würde eine<br />

künftige Wissenschaftslehre dahin entscheiden, daß unsre Erkenntniß zwar<br />

nicht unmittelbar durch die Vorstellung, aber wohl mittelbar durch das<br />

Gefühl mit dem Dinge an sich zusammenhange; daß die Dinge allerdings<br />

bloß als Erscheinungen vorgestellt, daß sie aber als Dinge an sich<br />

gefühlt werden; daß ohne Gefühl gar keine Vorstellung möglich seyn<br />

würde.<br />

Während sich, wie Fichte meint, die Skeptiker Maimon und Schulze<br />

durch ihre berechtigte Kritik an Kants Dingen an sich als Verursachern unserer<br />

Wahrnehmungen auf die Seite der Dogmatiker und naiven Realisten<br />

geschlagen hätten, stellt er eine andere Lösung des Erkenntnisproblems<br />

durch die künftige Wissenschaftslehre in Aussicht: die Dinge sollen als Erscheinungen<br />

wahrgenommen und vorgestellt, aber als Dinge an sich gefühlt<br />

werden, womit gemeint ist, daß das Ich sich in seiner wahrnehmenden und<br />

erkennenden Tätigkeit in Abhängigkeit fühlt von einem freien Nicht-Ich.<br />

Goethes Markierungen zeigen, daß es seiner Aufmerksamkeit nicht entging,<br />

daß sich hier in der Kritik am kantischen Ding an sich und in der Berufung<br />

auf die Instanz des Gefühls 13 im Zusammenhang des Erkenntnisproblems<br />

aufregend Neues ankündigte.<br />

13 Zu Historie und Systematik von »Gefühl« und »Selbstgefühl«: Frank (2003).<br />

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