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Zur Vorbemerkung - Das Goethezeitportal

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<strong>Vorbemerkung</strong><br />

Durch die Edition von Goethes Eintragungen in seinen Handexemplaren<br />

von Kants Kritik der reinen Vernunft und Kritik der Urtheilskraft hat Géza<br />

von Molnár 1 der verbreiteten Ansicht den Boden entzogen, daß Goethe sich<br />

nicht ernsthaft, vor allem nicht durch eigenes Studium mit der Philosophie<br />

Kants auseinandergesetzt habe. Goethes Eintragungen bezeugen die intensive<br />

Lektüre dieser Werke Kants in den Jahren 1789 und 1790. Als Goethe<br />

sich 1805 daran erinnerte, »daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische<br />

Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich<br />

ihr widersetzt, sie verachtet habe« 2, dürfte er auch die Erschütterung im<br />

Sinn gehabt haben, die sein Realismus damals nicht zuletzt durch die Lektüre<br />

der Schriften Kants erfuhr.<br />

Es war wiederum Géza von Molnár, der darauf aufmerksam machte 3,<br />

daß Goethes Eintragungen in seinem Handexemplar von Fichtes Schrift<br />

Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre von 1794 ein aufmerksames Studium<br />

auch dieser philosophischen Schrift belegen und damit bezeugen, daß<br />

Goethe an der Bewegung Anteil nahm, in der Philosophen der frühromantischen<br />

Epoche versuchten, Kants großes Werk in idealistischen Systemen<br />

fortzuführen. Da Goethes Interesse wie an Kant so auch an Fichte nicht<br />

eigentlich das des Philosophen im engeren Sinn, sondern das des Naturforschers<br />

war, konnte auch die Bekanntschaft mit der von Fichte beabsichtigten<br />

Neubegründung der Philosophie nicht ohne Einfluß auf Goethes Naturansichten<br />

nach 1794 bleiben. 4 An Hand einer Faksimile-Wiedergabe des<br />

Handexemplars von Fichtes Schrift soll Goethe in seiner Lektüre dieses<br />

Werks begleitet werden. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob sich ein<br />

Einfluß dieser ersten Konzeption von Fichtes Wissenschaftslehre auf Goethes<br />

Naturansicht nach 1794 nachweisen läßt.<br />

Ich widme diese Arbeit dem Andenken an Géza von Molnár, der am<br />

26. Juni 2001 in Evanston, Illinois, USA, verstarb.<br />

Tübingen, im Juli 2004 Wolf von Engelhardt<br />

1 Molnár (1994).<br />

2 Goethe, Winckelmann (1805), WA I 46, S. 55.<br />

3 Molnár (1997). Serenella Iovino (2000) hat Goethes Eintragungen in Fichtes<br />

Programmschrift vornehmlich im Hinblick auf Beziehungen zu Spinoza untersucht.<br />

4 Engelhardt (2003), S. 217–219.


<strong>Zur</strong> Entstehung von Fichtes Schrift<br />

»Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre«<br />

An der Universität Jena hatte seit 1787 Karl Leonhard Reinhold als außerordentlicher<br />

Professor mit großem Erfolg Vorlesungen über die Philosophie<br />

Kants und seine eigene »Elementarphilosophie« gehalten, mit welcher er<br />

auf kantischer Basis versuchte, die drei Kritiken Kants in eine systematische<br />

Einheit zu fügen. Reinhold galt bald als eine maßgebliche Autorität in Sachen<br />

der Transzendentalphilosophie, versammelte um sich einen großen<br />

Kreis bedeutender Schüler und begründete durch sein Wirken das Ansehen<br />

der zuvor unbedeutenden Universität Jena als Metropole der neuen Philosophie.<br />

Als Reinhold, der trotz seines Erfolges in Jena eine nur schlecht bezahlte<br />

Stelle innehatte, im Sommer 1793 den Ruf auf eine besser besoldete Professur<br />

an der Universität Kiel erhielt und die Absicht kundtat, diesem Ruf<br />

Folge zu leisten, erhob sich für die vier fürstlichen »Nutritoren« der Universität,<br />

die Herzöge von Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Gotha-Altenburg,<br />

Sachsen-Meiningen und Sachsen-Coburg-Saalfeld die Frage einer<br />

Nachfolge. Namens der Weimarer Herrschaft, der Jena zugehörte, ergriffen<br />

schon im Juni 1793 der Staatsminister Christian Gottlob Voigt und Goethe<br />

die Initiative. Am 17. Juni 1793 schrieb Voigt an Goethe, der sich mit Herzog<br />

Carl August bei der Belagerung von Mainz aufhielt:<br />

Ich werde den Reinhold über seinen Ruf nach Kiel, wovon ich Serenissimo geschrieben,<br />

ausfragen; wahrscheinlich ist die Sache schon gemacht, und keinem Rükschritt<br />

unterworfen. Schmidt und der Adjunct Niethammer, ingl. Magister Forberg,<br />

können schon das Kantische Evangelium fortsetzen. Ausserdem ist der Verfasser<br />

der Kritik der Offenbahrung (die man anfänglich allgemein Kanten<br />

selbst zuschrieb,) der Magister Fichte, der itzt nach der Schweiz auf Reisen ist,<br />

wohl um ein mäßiges Zuschuß Quantum als Professor extraordinarius zu haben. 5<br />

5 Goethes Amtliche Schriften, Bd. 2 1 , Weimar 1968, S. 327.


<strong>Zur</strong> Entstehung von Fichtes Schrift »Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre«<br />

Goethe antwortete aus Mainz am 27. Juli 1793: »Sollte Reinhold nicht bleiben<br />

so wird sich Rath finden. Auf Magister Fichte haben Sie ja ein Auge.« 6<br />

Voigt und Goethe war daran gelegen, einen Nachfolger Reinholds zu gewinnen,<br />

der weiterhin Kants Philosophie vertreten würde, welcher die Universität<br />

Jena ihre neue Anziehungskraft verdankte. Da kam ihnen der zur<br />

Zeit stellungslose Kandidat Fichte gerade recht. In seiner anonym erschienenen<br />

Schrift Versuch einer Critik aller Offenbarung (Königsberg 1792)<br />

hatte sich Fichte so entschieden im Sinn der Philosophie Kants geäußert,<br />

daß man diese Schrift allgemein, insbesondere in Jena, für ein Werk Kants<br />

hielt. 7 Zwar hatte Kant am 22. August 1792 im Intelligenzblatt der Allgemeinen<br />

Literaturzeitung erklärt, daß Fichte, den er einen »geschickten<br />

Mann« nannte, der Verfasser der Offenbarungsschrift sei; doch galt der damals<br />

30-jährige Johann Gottlieb Fichte seit dieser Schrift als ausgewiesener<br />

Kantianer.<br />

Fichte erhielt in den ersten Tagen des Jahres 1794 den Ruf auf den freigewordenen<br />

Lehrstuhl Reinholds, und am 17. Februar 1794 teilte ihm<br />

Christian Gottlob Voigt im Auftrag des Herzogs Carl August mit, daß er<br />

»als Professor ordinarius supernumerarius« an die Universität berufen sei.<br />

Am 18. Mai 1794 trat Fichte seine Stelle an und stellte sich an der Universität<br />

vor mit der eilig verfaßten, am 11. Mai im Verlag des Industrie-<br />

Comptoirs in Weimar erschienenen Programmschrift: Ueber den Begriff der<br />

Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift<br />

zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft.<br />

Auch Goethe erhielt diese Schrift. Daß er sie sogleich las, kann man den<br />

Worten entnehmen, mit denen er ein Exemplar derselben schon am 23. Mai<br />

an Friedrich Jacobi sandte: »Nur einen herzlichen Gruß mit beykommender<br />

Schrift. Möchtest du liebes Nicht ich gelegentlich meinem I c h etwas<br />

von deinen Gedancken darüber mittheilen. Lebe wohl und grüße alle die<br />

guten und artigen Nicht ichs um dich her.« 8<br />

Fichte kündigte für das Sommersemester 1794 eine Vorlesung Über die<br />

Pflichten des Gelehrten und eine zweite über Theoretische und praktische<br />

Philosophie an. In der philosophischen Vorlesung verteilte Fichte an seine<br />

Hörer vom 14. Juni bis Anfang August 1794 einzelne Bogen, welche dann<br />

unter dem Titel Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, als Handschrift<br />

für seine Zuhörer in zwei Lieferungen, 1794 und 1795, im Verlag<br />

von Christian Ernst Gabler, Leipzig, erschienen.<br />

6 WA IV 10, S. 99.<br />

7 Im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung hatte Gottfried Hufeland die anonyme<br />

Schrift am 30. Juni 1792 auf das Höchste als ein Werk Kants gepriesen.<br />

8 WA IV 10, S. 162.<br />

4


<strong>Zur</strong> Entstehung von Fichtes Schrift »Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre«<br />

Den ersten Bogen dieser Schrift sandte Fichte am 21. Juni 1794 mit folgenden<br />

Worten an Goethe:<br />

Ich suchte Sie bald nach Ihrer Abreise [von Jena], um Ihnen den eben erst fertig<br />

gewordnen ersten Bogen zu übergeben. Ich fand Sie nicht; und überschicke, was<br />

ich lieber übergeben hätte.<br />

So lange hat die Philosophie ihr Ziel noch nicht erreicht, als die Resultate der<br />

reflektirenden Abstraktion sich noch nicht an die reinste Geistigkeit des Gefühls<br />

anschmiegen. Ich betrachte S i e, und habe Sie immer betrachtet als den Repräsentanten<br />

der leztern auf der gegenwärtig errungnen Stuffe der Humanität. An<br />

S i e wendet mit Recht sich die Philosophie: I h r Gefühl ist derselben Probierstein.<br />

Für die Richtigkeit meines Systems bürgt unter andern die innige Verkettung<br />

Alles mit Einem, und Eines, mit Allem, die nicht Ich hervorgebracht habe, sondern<br />

die sich schon vorfindet; sowie die ungemeine, und alle Erwartung übertreffende<br />

Fruchtbarkeit, die ich eben so wenig selbst hineingelegt habe; so daß sie<br />

mich sehr oft zum Staunen hingerißen hat, und hinreißt. Beides entdekt sich nicht<br />

im Anfange der Wißenschaft, sondern nur allmählich, so wie man in ihr weiter<br />

fortschreitet. […] Ich hoffte, – vielleicht weil ich es sehnlich wünschte – mich mit<br />

Ihnen in Einem Werke vereinigt zu sehen. 9<br />

Goethe dankte Fichte am 24. Juni mit folgenden Worten:<br />

Für die übersendeten ersten Bogen der Wissenschaftslehre danke ich zum besten;<br />

ich sehe darin schon die Hoffnung erfüllt, welche mich die Einleitung [d. h. die<br />

Programmschrift, W. v. E.] fassen ließ.<br />

<strong>Das</strong> Übersendete enthält nichts, das ich nicht verstände oder wenigstens zu<br />

verstehen glaubte, nichts, das sich nicht an meine gewohnte Denkweise willig anschlösse.<br />

Nach meiner Überzeugung werden Sie durch die wissenschaftliche Begründung<br />

dessen, worüber die Natur mit sich selbst in der Stille schon lange einig zu<br />

sein scheint, dem menschlichen Geschlechte eine unschätzbare Wohlthat erweisen<br />

und werden sich um jeden Denkenden und Fühlenden verdient machen. Was<br />

mich betrifft, werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein, wenn Sie mich<br />

endlich mit den Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich<br />

mich niemals vereinigen konnte. Ich erwarte mit Verlangen die weitere Fortsetzung<br />

Ihrer Arbeit, um manches bei mir zu berichtigen und zu befestigen, und<br />

hoffe, wenn Sie erst freier von dringender Arbeit sind, mit Ihnen über verschiedene<br />

Gegenstände zu sprechen, deren Bearbeitung ich aufschiebe, bis ich deutlich<br />

einsehe, wie sich dasjenige, was ich zu leisten mir noch zutraue, an dasjenige<br />

anschließt, was wir von Ihnen zu hoffen haben. 10<br />

9 Goethes Amtliche Schriften, Bd. 2 1 , Weimar 1968, S. 403 f.<br />

10 WA IV 10, S. 166 f.<br />

5


<strong>Zur</strong> Entstehung von Fichtes Schrift »Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre«<br />

<strong>Das</strong> »Übersendete«, mit dem sich Goethe einverstanden erklärte, war nicht<br />

die Sendung des Bogens vom 21. Juni. Goethe konnte nur die Programmschrift<br />

meinen, die er schon im Mai erhalten hatte, zumal die Bogen zur<br />

Vorlesung (Ruppert 3051) in Goethes Bibliothek nicht aufgeschnitten sind.<br />

Die Zustimmung, welche Goethe so unumwunden aussprach, bezog sich<br />

auf den Begriff der Wissenschaftslehre, wie er ihn in Fichtes Programmschrift<br />

kennen gelernt hatte. Goethes Eintragungen in seinem, hier wiedergegebenen<br />

Handexemplar der Programmschrift (Ruppert 3049) erlauben<br />

es, ihn bei der Lektüre dieser Schrift zu begleiten.<br />

6


Kommentar<br />

Die folgenden Erläuterungen haben in erster Linie diejenigen Worte und<br />

Sätze Fichtes im Auge, welche Goethe durch Unterstreichungen und Randstriche<br />

markierte und in seltenen Fällen mit Bemerkungen versah. Um die<br />

Bedeutung dieser Hervorhebungen Goethes zu verstehen, werden sie im<br />

folgenden Kommentar in eine Paraphrase des Fichteschen Texts gestellt, auf<br />

den sich Goethes Zeichen beziehen. Es kann daher nicht ausbleiben, daß<br />

dabei auch Fichtes Aussagen der Erläuterung bedürfen.<br />

Im folgenden werden Fichtes Worte kursiv widergegeben.<br />

Goethes Eintragungen werden wie folgt gekennzeichnet:<br />

Unterstrichene Worte: unterstrichen<br />

Einfacher Randstrich: .<br />

Doppelter Randstrich: .<br />

Dreifacher Randstrich: .<br />

Bemerkungen und Interpunktionen: fett<br />

Ein Zeichen für Goethes aufmerksame Lektüre sind seine Korrekturen von<br />

Druckfehlern (VI 18; 35 27; 52 20; 63 5).<br />

S. III–IV:<br />

Vorrede<br />

Einleitend bestimmt Fichte den Ort seiner Wissenschaftslehre in der Bewegung,<br />

welche in Gang kam, als man nach der durch Immanuel Kant ausgelösten<br />

kopernikanischen Revolution Unzulänglichkeiten seiner Philosophie<br />

entdeckte. 11 Fichte erklärt, daß er durch das Lesen neuer Skeptiker,<br />

besonders des Aenesidemus, und der vortreflichen Maimonschen Schriften<br />

11 Hierzu und zum Folgenden: Frank (1997).


völlig von dem überzeugt worden sei, daß die Philosophie, selbst durch die<br />

neuesten Bemühungen der scharfsinnigsten Männer noch nicht zum Range<br />

einer evidenten Wissenschaft erhoben sei. Er glaubt, einen leichten Weg entdeckt<br />

zu haben, alle […] Anforderungen der Skeptiker an die kritische Philosophie<br />

vollkommen zu befriedigen; und das dogmatische und kritische<br />

System überhaupt in ihren streitenden Ansprüchen […] zu vereinigen. Seinen<br />

philosophischen Weg bezeichnet Fichte durch die Positionen der kritischen<br />

und dogmatischen Philosophie einerseits und der Einwände neuer<br />

Skeptiker auf der anderen Seite. Durch Unterstreichung bekundet Goethe<br />

sein besonderes Interesse für die letzteren.<br />

Was Fichte unter den kritischen und dogmatischen Systemen versteht, erklärt<br />

er in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95<br />

(§ 3): <strong>Das</strong> Wesen der kritischen Philosophie sieht Fichte dort darin, daß ein<br />

absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar<br />

aufgestellt wird, während er dieienige Philosophie dogmatisch nennt,<br />

die dem Ich an sich etwas gleich und entgegensezt, was in dem höher seyn<br />

sollenden Begriffe des Dinges (Ens) geschieht. Die kritische Philosophie wird<br />

daher in erster Linie durch Kant, dann aber auch durch Reinhold und andere<br />

Kantianer repräsentiert. <strong>Das</strong> konsequenteste Produkt des Dogmatismus<br />

sieht Fichte in der Philosophie Spinozas.<br />

Als Werke neuer Skeptiker – neu wohl im Verhältnis zum älteren Skeptiker<br />

Hume – hebt Fichte den Aenesidemus und die vortreflichen Maimonschen<br />

Schriften hervor. Von den Schriften Salomon Maimons (1753–1800)<br />

meint Fichte vermutlich in erster Linie dessen Versuch über die Transcendentalphilosophie<br />

(Berlin 1790), in welchem der Autor Kants Lehre für unstatthaft<br />

hält, daß unsere Vorstellungen von Dingen auf Empfindungen beruhen,<br />

die von »Dingen an sich« außer uns verursacht werden, weil das<br />

Schema der Zeit und so auch die Kategorie der Kausalität nach seiner eigenen<br />

Lehre subjektive Formen der Anschauung und des Denkens sind, die<br />

nicht auf eine außerhalb unserer Vorstellung angenommene Wirklichkeit angewendet<br />

werden dürfen. Die naive Überzeugung, daß »an sich« existierende<br />

Gegenstände Ursachen unserer Empfindungen seien, führt Maimon auf eine<br />

»Unvollständigkeit unseres Bewußtseins« zurück, kraft derer man sich bei<br />

Sinnesempfindungen passiv oder leidend fühlt, was jedoch nichts anderes anzeigt,<br />

als einen Mangel unseres Geistes an Aktivität. Der ursprüngliche Sinn<br />

des Ausdrucks »Empfindung«, meint Maimon, sei »In-sich-Findung«. Maimon<br />

dürfte, als intelligenter Autor einer zustimmenden Rezension der »Metamorphose<br />

der Pflanzen« Goethe bekannt gewesen sein. 12 Vielleicht hatte<br />

12 LA II 9A, S. 404 f.<br />

Kommentar<br />

8


S. III–IV<br />

Goethe auch vom gemeinsamen Freund Karl Philipp Moritz etwas über Maimon<br />

erfahren.<br />

Verfasser der anonymen Schrift mit dem Titel Aenesidemus oder über<br />

die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie<br />

nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die<br />

Anmaßungen der Vernunftkritik (o. O. 1782) war Gottlob Ernst Schulze<br />

(1761–1833), Professor der Philosophie an der Universität Helmstedt.<br />

Schulze stellt in Übereinstimmung mit Reinhold fest, daß es der Philosophie<br />

Kants an einem obersten, allgemeinen Grundsatz mangelt, ohne den<br />

sie nicht den Titel einer Wissenschaft verdiene, ist aber mit Reinholds Versuch,<br />

eine solche Einheit zu stiften, nicht einverstanden. Außerdem ist<br />

auch Schulze der Meinung, daß es Kants eigenen Prinzipien widerspricht,<br />

wenn er annimmt, daß Dinge an sich unsere Sinnesempfindungen kausal<br />

bewirken.<br />

Die eigene Position zwischen diesen neuen Skeptikern, den kritischen<br />

Philosophen und den Dogmatikern beschreibt Fichte in der Fußnote IV 15–30:<br />

Die neuen Skeptiker, stellt Fichte fest, hätten sich im Streit mit der kritischen<br />

Philosophie über den Zusammenhang unsrer Erkenntniß<br />

mit einem Dinge an sich auf die Seite der Dogmatiker und<br />

des gesunden Menschenverstandes geschlagen und den Streit würde eine<br />

künftige Wissenschaftslehre dahin entscheiden, daß unsre Erkenntniß zwar<br />

nicht unmittelbar durch die Vorstellung, aber wohl mittelbar durch das<br />

Gefühl mit dem Dinge an sich zusammenhange; daß die Dinge allerdings<br />

bloß als Erscheinungen vorgestellt, daß sie aber als Dinge an sich<br />

gefühlt werden; daß ohne Gefühl gar keine Vorstellung möglich seyn<br />

würde.<br />

Während sich, wie Fichte meint, die Skeptiker Maimon und Schulze<br />

durch ihre berechtigte Kritik an Kants Dingen an sich als Verursachern unserer<br />

Wahrnehmungen auf die Seite der Dogmatiker und naiven Realisten<br />

geschlagen hätten, stellt er eine andere Lösung des Erkenntnisproblems<br />

durch die künftige Wissenschaftslehre in Aussicht: die Dinge sollen als Erscheinungen<br />

wahrgenommen und vorgestellt, aber als Dinge an sich gefühlt<br />

werden, womit gemeint ist, daß das Ich sich in seiner wahrnehmenden und<br />

erkennenden Tätigkeit in Abhängigkeit fühlt von einem freien Nicht-Ich.<br />

Goethes Markierungen zeigen, daß es seiner Aufmerksamkeit nicht entging,<br />

daß sich hier in der Kritik am kantischen Ding an sich und in der Berufung<br />

auf die Instanz des Gefühls 13 im Zusammenhang des Erkenntnisproblems<br />

aufregend Neues ankündigte.<br />

13 Zu Historie und Systematik von »Gefühl« und »Selbstgefühl«: Frank (2003).<br />

9


Kommentar<br />

S. IV–VII:<br />

Fichte versichert, daß die folgende Untersuchung […] auf keine andere Gültigkeit<br />

[…] als auf eine hypothetische Anspruch erhebe, dennoch nicht auf<br />

unerwiesenen Voraussetzungen beruhe, Resultat eines […] festen Systems<br />

sei und erst nach Jahren […] dem Publikum in einer […] würdigen Gestalt<br />

vorgelegt werden könne.<br />

Drei Absichten verfolge er mit diesen Blättern: Die studierenden Jünglinge<br />

sollten in den Stand gesetzt werden, zu urtheilen, ob sie sich seiner<br />

Führung […] anvertrauen dürfen. Von Gönnern und Freunden wolle er ein<br />

Urtheil […] über sein Unternehmen einholen. An diejenigen, denen sonst<br />

noch die Schrift in die Hände kommen sollte, richtet Fichte folgende Anmerkungen:<br />

Er sei innig überzeugt, gesteht Fichte, daß kein menschlicher Verstand<br />

weiter, als bis zu der Grenze vordringen könne, an der Kant, besonders in<br />

seiner Kritik der Urtheilskraft, gestanden, die er uns aber nie bestimmt, und<br />

als die letzte Grenze des endlichen Wissens angegeben hat – ein Bekenntnis<br />

zum genialischen Geiste Kants, das Goethe durch Unterstreichung wohl billigt.<br />

Fichte findet weiterhin die anerkennendsten Worte für den systematischen<br />

Geist Reinholds und hält es wahrhaftig nicht für persönliches Verdienst<br />

durch einen glücklichen Zufall nach vortreflichen Arbeitern an die<br />

Arbeit gerufen worden zu sein.<br />

Schließlich zitiert Fichte scherzhafte Männer, die den Philosophen warnen,<br />

sich durch die übertriebne Erwartungen von seiner Wissenschaft doch<br />

nicht lächerlich zu machen. Diejenigen, die nur lachen, um dem weltunklugen<br />

Forscher ein Unternehmen zu verleiden, bittet Fichte, das Lachen so<br />

lange zu verhalten, bis das Unternehmen förmlich mißlungen, und aufgegeben<br />

ist.<br />

S. 91–1132: Erster Abschnit.<br />

Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre überhaupt.<br />

§. 1. Hypothetisch aufgestellter Begriff<br />

der Wissenschaftslehre<br />

(Philosophie als Wissenschaft hat systematische Form, indem alle Sätze in einem<br />

einzigen Grundsatz zusammenhängen, der vor der Verbindung gewiß ist. Die Frage<br />

nach der Gewißheit des Grundsatzes und nach der Befugnis, aus ihr auf die Gewißheit<br />

anderer Sätze zu folgern, ist das Thema der Wissenschaftslehre, der Wissenschaft<br />

von der Wissenschaft oder Philosophie.)<br />

10


S. 9 1–11 32<br />

Die Philosophie ist eine Wissenschaft; darüber kommen alle Beschreibungen<br />

derselben […] überein. Mit dieser Feststellung eröffnet Fichte<br />

seine Untersuchung. Dennoch, meint er, trennen sie sich über das Objekt<br />

dieser Wissenschaft. Deshalb stellt sich die Frage: ob die Trennung gerade<br />

daher gekommen wäre, daß der Begriff der Wissenschaft selbst nicht ganz<br />

entwickelt war, und ob jenes einzige Merkmal [eine Wissenschaft zu sein,<br />

W. v. E.] völlig hinreichte, den Begriff der Philosophie selbst zu bestimmen?<br />

So geht es zunächst um den Begriff von Wissenschaft. Fichte definiert:<br />

Eine Wissenschaft hat systematische Form; alle Sätze in ihr hangen in einem<br />

einzigen Grundsatze zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen<br />

und fragt: Ist damit der Begriff der Wissenschaft erschöpft?<br />

Beispiele erweisen, daß diese Bedingung nicht hinreicht, um den Begriff<br />

von Wissenschaft zu definieren: Wenn jemand auf einem grundlosen und<br />

unerweislichen Satze, z. B. auf dem, daß es in der Luft Geschöpfe mit<br />

menschlichen Neigungen, Leidenschaften und Begriffen […] gäbe; eine<br />

noch so systematische Naturgeschichte dieser Luftgeister aufbaute, […]<br />

würden wir ein solches System […] für eine Wissenschaft anerkennen? Hinwiederum<br />

wenn jemand einen einzelnen Lehrsatz oder eine Thatsache anführt<br />

– etwa […], daß auf einer Horizontallinie der Perpendikul zu beiden<br />

Seiten rechte Winkel habe; oder […] das Faktum: daß der jüdische Geschichtschreiber<br />

Iosephus zur Zeit der Zerstörung Jerusalems gelebt habe –<br />

so wird jederman zugestehen, derselbe habe Wissenschaft von dem gesagten<br />

– Goethe vermerkt dazu am Rande: ? – Warum nennen wir nun, fragt<br />

Fichte, jenes feste System, das auf einem unerwiesenen […] Satze beruhet,<br />

nicht Wissenschaft; und warum nennen wir die Kenntniß der zweiten, die<br />

in ihrem Verstande mit keinem Systeme zusammenhängt, Wissenschaft? –<br />

Goethe vermerkt am Rande: ! – Ohne Zweifel, erwidert Fichte, darum, weil<br />

das erstere […] nichts enthält, das man wissen kann; und die letztere […]<br />

etwas, was man wirklich wissen kann.<br />

<strong>Das</strong> Wesen der Wissenschaft, stellt Fichte daraufhin fest, bestünde demnach<br />

in der Beschaffenheit ihres Innhalts, dieser müßte […] gewiß seyn; es<br />

müßte etwas seyn das er wissen könnte: und die systematische Form wäre<br />

der Wissenschaft blos zufällig. Wenn nämlich der menschliche Geist nur<br />

sehr wenig gewiß wissen, alles andere aber nur meynen, muthmaßen,<br />

ahnen, willkührlich annehmen könnte, – aber doch […] mit dieser […] unsichern<br />

Kenntniß sich nicht wohl begnügen könnte, so würde ihm kein<br />

anderes Mittel übrig bleiben […], als daß er die ungewissen Kenntnisse mit<br />

den gewissen vergliche und […] auf die Gewißheit oder Ungewißheit derselben<br />

folgerte.


Kommentar<br />

so wüßte er nunmehro, daß sie falsch wären, und er wäre sicher, von ihnen<br />

nicht länger getäuscht zu werden. Er hätte, wenn auch nicht Wahrheit,<br />

doch Befreyung vom Irrthum gewonnen.><br />

S. 12 9–13 14:<br />

Nach einigen nicht recht klaren Sätzen (12 1–8), welche Goethe durch ? ?<br />

markiert, stellt Fichte fest, daß wir auch die gesammte Geometrie, und Geschichte<br />

als eine Wissenschaft betrachten, obwohl doch Beide noch gar<br />

manches andre enthalten, als jene Sätze, – wie und wodurch, fragt Fichte,<br />

werden nun eine Menge an sich höchst verschiedener Sätze zu Einer Wissenschaft,<br />

zu Einem und eben demselben Ganzen? Ohne Zweifel, antwortet<br />

Fichte, dadurch, daß die einzelnen Sätze überhaupt nicht Wissensch[a]ft<br />

wären, sondern daß sie erst im Ganzen, durch ihre Stelle im Ganzen, und<br />

durch ihr Verhältniß zum Ganzen es werden. Da das durch die Verbindung<br />

entstandene Ganze keine Gewißheit hätte, wenn keiner der verbundenen<br />

Sätze Gewißheit hätte, folgt: Es müßte wenigstens Ein Satz gewiß seyn der<br />

etwa den übrigen seine Gewißheit mittheilte.<br />

Der gewisse Satz – Goethe bemerkt am Rande: erste – kann seine Gewißheit<br />

nicht erst durch die Verbindung mit den übrigen erhalten, sondern<br />

muß sie vor derselben vorher haben.<br />

S. 13 15–14 21:<br />

Fichte führt weiterhin aus, daß in einer Wissenschaft nur Ein Satz seyn<br />

kann, der vor der Verbindung vorher gewiß und ausgemacht ist. Gäbe es<br />

mehrere dergleichen Sätze; so wären sie entweder mit dem andern gar nicht<br />

verbunden, und dann gehörten sie nicht zu dem gleichen Ganzen […]; oder<br />

sie wären damit verbunden. […] Ein solcher vor der Verbindung vorher gewisser<br />

Satz heißt ein G rundsatz. Jede Wissenschaft muß einen Grundsatz<br />

haben […] weil sie sonst nicht Eine sondern mehrere Wissenschaften<br />

ausmachen würde.<br />

Eine Wissenschaft enthält außerdem vor der Verbindung vorher gewissen<br />

Satze weitere Sätze, die erst durch die Verbindung mit jenem als gewiss<br />

erkannt werden. […] diese Verbindung heißt die systematische Form des<br />

Ganzen, das aus den einzelnen Theilen entsteht.<br />

S. 14 21–16 5:<br />

Im folgenden Textabschnitt, in welchem Goethe nichts anstreicht, führt<br />

Fichte aus, daß die systematische Form nicht Zweck der Wissenschaft ist,<br />

sondern das Mittel, um ihre Festigkeit, den Hauptzweck der aus mehreren<br />

Sätzen bestehenden Wissenschaft, zu erreichen, welche in der Verbindung der<br />

Sätze unter einander besteht und auf der Gewißheit des Grundsatzes beruht.<br />

12

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