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Voraussetzungen und Wirkungen einer Abzweigung - DIJuF

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<strong>DIJuF</strong>-Themengutachten<br />

<strong>Voraussetzungen</strong> <strong>und</strong> <strong>Wirkungen</strong> <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong><br />

(§ 48 SGB I)<br />

vom 4. Dezember 2012<br />

- Häufig gestellte Fragen <strong>und</strong> die Antworten -<br />

DEUTSCHES INSTITUT<br />

FÜR JUGENDHILFE UND<br />

FAMILIENRECHT e. V.<br />

FORUM FÜR FACHFRAGEN<br />

U 6.700 Dl/K


2<br />

1. Worin bestehen der Zweck <strong>und</strong> das Wesen <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> gem. § 48 SGB I?<br />

2. Welche Rechtsnatur hat der <strong>Abzweigung</strong>sbescheid?<br />

3. Inwieweit ist die Entscheidung über die <strong>Abzweigung</strong> zweistufig?<br />

4. Welche Prüfung hat der Sozialleistungsträger vor <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> in jedem Fall<br />

vorzunehmen?<br />

5. Welcher Rechtsschutz steht dem unterhaltspflichtigen Leistungsbezieher im Ver-<br />

fahren über die <strong>Abzweigung</strong> zu?<br />

6. Kann der Unterhaltsberechtigte die Ablehnung der <strong>Abzweigung</strong> anfechten?<br />

7. Wie hoch ist der dem Schuldner zu belassende Selbstbehalt bei titulierten Forde-<br />

rungen?<br />

8. Welcher Selbstbehalt ist dem Schuldner bei nicht titulierten Unterhaltsansprü-<br />

chen zu belassen?<br />

9. Was ist bei der <strong>Abzweigung</strong> im Fall eines „Aufstockens“ nach dem SGB II zu be-<br />

achten?<br />

10. Inwieweit sollte eine <strong>Abzweigung</strong> auf einen inzwischen „überhöhten“ Unter-<br />

haltstitel gestützt werden?<br />

11. Wie verhält sich eine bestehende <strong>Abzweigung</strong> zu <strong>einer</strong> anschließenden Pfän-<br />

dung?<br />

12. Welche Rückforderungsverhältnisse kommen bei <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> in Betracht?<br />

13. Rückforderung eines überzahlten Betrages vom Jugendamt?<br />

14. Kann ein Rückforderungsverlangen eines Rententrägers bei <strong>Abzweigung</strong> eines<br />

Betrages auf den Eintritt der Volljährigkeit des begünstigten Kindes gestützt<br />

werden?


3<br />

1. Worin bestehen der Zweck <strong>und</strong> das Wesen <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> gem. § 48 SGB I?<br />

a) Laufende Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an Personen, die<br />

Ehegatten <strong>und</strong> Kindern gegenüber unterhaltspflichtig sind, sollen letztlich auch die-<br />

sen Angehörigen – die sozialrechtlich keinen eigenen (Teil-)Anspruch auf die Geld-<br />

leistungen haben – zugutekommen. Daher ermöglicht § 48 SGB I dem Leistungsträ-<br />

ger, dieses Ziel zu verwirklichen, ohne dass die Angehörigen ihren Unterhalt insbeson-<br />

dere vor dem Zivilgericht geltend machen müssen.<br />

Die Auszahlungsanordnung steht als selbstständige <strong>und</strong> unabhängige Maßnahme<br />

neben den zivilrechtlichen Möglichkeiten der Durchsetzung von Ansprüchen. Es han-<br />

delt sich um eine sozialrechtliche „Soforthilfemaßnahme“ des Leistungsträgers, die<br />

allerdings so gestaltet werden sollte, dass Unterhaltsprozesse möglichst vermieden<br />

werden (BSGE 57, 59, 64 f). Nach § 48 Abs. 1 S. 4 SGB I kann die Auszahlung auch an<br />

die Person oder Stelle erfolgen, die anstelle des Pflichtigen den Unterhalt gewährt.<br />

b) Zur gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedeutung des rechtlichen Vorgangs <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> hat<br />

das B<strong>und</strong>essozialgericht in einem Urteil vom 17.01.1991 (BSGE 68, 107) Folgendes<br />

ausgeführt:<br />

„Die auf § 48 SGB I gestützte Verfügung des Leistungsträgers, eine bestimm-<br />

te Sozialleistung in bestimmter Höhe an einen Dritten <strong>und</strong> nicht an den Leis-<br />

tungsberechtigten auszuzahlen, ändert zwar nichts an der Anspruchsbe-<br />

rechtigung (BSGE 49, 243, 246 = SozR 2200 § 205 Nr 32). Soweit der Leistungs-<br />

träger die Sozialleistung einem Dritten zukommen lässt, verfügt er jedoch an<br />

Stelle des Leistungsberechtigten (BSG SozR 1200 § 48 Nr 11).“<br />

Das bedeutet: Das Stammrecht der Sozialleistung verbleibt zwar beim Berechtigten,<br />

der Anspruch auf Auszahlung wird aber konstitutiv auf den Begünstigten übertragen.<br />

Insoweit entsteht ein – weiteres – sozialrechtliches Leistungsverhältnis.<br />

Die bürgerlich-rechtlichen Ansprüche werden durch diesen Verwaltungsakt nicht<br />

berührt (kein privatrechtsgestaltender VA), sodass zB der Leistungsberechtigte auf<br />

Herausgabe der abgezweigten Geldbeträge klagen kann mit der Begründung, sein<br />

Unterhalt sei gefährdet (Seewald § 48 SGB I Rn 69).<br />

2. Welche Rechtsnatur hat der <strong>Abzweigung</strong>sbescheid?


4<br />

Es handelt sich um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Für den Unterhaltsbe-<br />

rechtigten ist er begünstigend, da dieser für die abgezweigten Beträge empfangs-<br />

berechtigt wird. Für den unterhaltspflichtigen Sozialleistungsempfänger ist er belas-<br />

tend, da ihm die Empfangsberechtigung hinsichtlich eines Teils der ihm zugespro-<br />

chenen Leistungen genommen wird. Aufgr<strong>und</strong> dieser untrennbaren Doppelnatur<br />

kann eine Aufhebung nur rechtmäßig sein, wenn sie die <strong>Voraussetzungen</strong> sowohl des<br />

§ 44 SGB X als auch des § 45 SGB X erfüllt (LSG HE 14.10.2009, L 6 AL 154/07).<br />

Die Bestandskraft der <strong>Abzweigung</strong>sentscheidung beschränkt sich im Wesentlichen<br />

auf die Anordnung, an wen der Leistungsträger auszuzahlen hat. Sie enthält keine<br />

abschließende Regelung der durch das Unterhaltsrecht geprägten Rechtsbeziehun-<br />

gen (OLG Düsseldorf FamRZ 1992, 481; nachgehend BGH FamRZ 1993, 788).<br />

3. Inwieweit ist die Entscheidung über die <strong>Abzweigung</strong> zweistufig?<br />

Soweit § 48 Abs. 1 S. 1 SGB I bestimmt, dass ein Sozialleistungsträger Geldleistungen<br />

„in angemessener Höhe“ an den Unterhaltsberechtigten auszahlen „kann", handelt<br />

es sich um eine zweistufige Norm: Sie räumt dem Sozialleistungsträger hinsichtlich des<br />

„Ob“ <strong>und</strong> hinsichtlich der Höhe einen Ermessensspielraum ein (vgl BSGE 55, 245 =<br />

SozR 1200 § 48 Nr 7).<br />

4. Welche Prüfung hat der Sozialleistungsträger vor <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> in jedem<br />

Fall vorzunehmen?<br />

a) Nach der Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei der <strong>Abzweigung</strong> nach § 48<br />

Abs. 1 SGB I zwar um eine Ermessensentscheidung; jedoch müssen die tatbestandli-<br />

chen <strong>Voraussetzungen</strong> der Vorschrift gegeben sein, was sowohl vorab von dem Leis-<br />

tungsträger als auch im Streitfall von den Gerichten zu prüfen ist (vgl BSG SozR 1200,<br />

§ 48 Nr 12 mwN). Zu dieser Prüfung gehört auch, ob der Leistungsberechtigte ge-<br />

genüber dem Ehegatten oder Kindern als <strong>Abzweigung</strong>sbegünstigte zivilrechtlich un-<br />

terhaltspflichtig ist <strong>und</strong> dieser Pflicht nicht nachkommt. Dabei hat der Leistungsträger<br />

auch zu prüfen <strong>und</strong> zu berücksichtigen, ob der Unterhaltsschuldner leistungsfähig im<br />

unterhaltsrechtlichen Sinne ist, wobei sich die Leistungsfähigkeit beim Vorliegen eines<br />

vollstreckbaren Unterhaltstitels gr<strong>und</strong>sätzlich nach § 850d ZPO beurteilt (dazu näher<br />

unten 7.).


5<br />

Erst nach Feststellung dieser Tatbestandsmerkmale ist der Sozialleistungsträger zur<br />

Ausübung seines Ermessens berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet, ob <strong>und</strong> in welchem Umfang<br />

er eine <strong>Abzweigung</strong>sregelung trifft (BSGE 68, 107).<br />

b) Im Rahmen s<strong>einer</strong> Ermessensentscheidung kann der Leistungsträger selbst bei Vor-<br />

liegen der tatbestandlichen <strong>Voraussetzungen</strong> von <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> absehen, wenn<br />

ihm eine solche Maßnahme angesichts der näheren Umstände nicht angezeigt er-<br />

scheint. Abgelehnt werden kann die <strong>Abzweigung</strong> auch, wenn der für die Ermittlung<br />

der tatbestandlichen <strong>Voraussetzungen</strong> erforderliche Aufwand in keinem Verhältnis<br />

zur Höhe der möglicherweise zu erbringenden Unterhaltsleitungen <strong>und</strong> zur möglichen<br />

<strong>Abzweigung</strong> steht (SG Koblenz 02.11.2010, S 16 AS 1246/09).<br />

Das Ermessen bezieht sich auch auf den Zeitpunkt des Beginns der <strong>Abzweigung</strong>, zu<br />

dem der Leistungsträger hätte tätig werden müssen (BSG FEVS 54, 241 m. Hinw. auf<br />

BSGE 57, 127, 133; FEVS 37, 437). Die Ablehnung <strong>einer</strong> rückwirkenden <strong>Abzweigung</strong> ist<br />

dann ohne Ermessensfehler, wenn dafür sachgerechte Gründe angeführt werden<br />

(BSG SozR 1200, § 48 Nr 12: keine <strong>Abzweigung</strong> für die Dauer eines Verfahrens, auch<br />

zum Zweck der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung des Leistungsberechtigten).<br />

Die Entscheidung muss erkennen lassen, dass es sich um eine Einzelfallprüfung han-<br />

delt (LSG HE 08.10.2003, L 6 AL 480/02). Die Begründung der <strong>Abzweigung</strong>sentschei-<br />

dung muss den besonderen Anforderungen des § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X für Ermessens-<br />

entscheidungen genügen; somit sind gr<strong>und</strong>sätzlich die Überlegungen mitzuteilen, die<br />

die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens angestellt hat (BSG FamRZ 1987, 274).<br />

Diesen Anforderungen wird nicht dadurch genügt, dass dem Leistungsberechtigten<br />

gegenüber nur dargelegt wird, weshalb er seinem Kind <strong>und</strong> s<strong>einer</strong> Ehefrau in der ab-<br />

gezweigten Höhe Unterhalt schuldet (BSGE 59, 30).<br />

Das Bestimmtheitsgebot verlangt hinsichtlich der <strong>Abzweigung</strong> zugunsten eines Drit-<br />

ten, der mehreren Kindern des Leistungsempfängers Unterhalt gewährt, eine aus-<br />

drückliche Aufteilung des <strong>Abzweigung</strong>sbetrags, bezogen auf jedes Kind (BSG FEVS<br />

58, 97). Andernfalls liegt ein Verstoß gegen § 33 Abs. 1 SGB X vor, der nicht heilbar ist<br />

(vgl § 41 Abs. 2 SGB X).<br />

5. Welcher Rechtsschutz steht dem unterhaltspflichtigen Leistungsbezieher im<br />

Verfahren über die <strong>Abzweigung</strong> zu?


6<br />

a) Der Leistungsträger greift mit der Entscheidung zur <strong>Abzweigung</strong> in die Rechte des<br />

Leistungsberechtigten ein, denn Teile der ihm zustehenden Leistung werden nunmehr<br />

nicht mehr ihm, sondern einem Dritten ausbezahlt. Folglich hat er den Leistungsbe-<br />

rechtigten vor der Entscheidung gem. § 24 Abs. 1 SGB X anzuhören (BSG SozR 1200,<br />

§ 48 Nr 12, 13). Die Entscheidung, eine <strong>Abzweigung</strong> vorzunehmen, ist dem Leistungs-<br />

berechtigten bekanntzugeben, damit sie ihm gegenüber wirksam wird (§ 37 Abs. 1,<br />

§ 39 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 SGB X). Der Leistungsberechtigte hat schließlich das Recht, zu sei-<br />

nem Nachteil lautende <strong>Abzweigung</strong>sentscheidungen vor den Sozialgerichten anzu-<br />

fechten (BSG SozR 1200, § 48 Nr 8, 10, 11).<br />

b) Sieht er von <strong>einer</strong> Anfechtung der ihm bekannt gegebenen <strong>Abzweigung</strong>sanord-<br />

nung ab, sodass diese ihm gegenüber wirksam wird, so bedeutet das nach der<br />

Rechtsprechung des BSG (28.06.1991 = SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr 10; 17.01.1991 =<br />

SozR 3-1300, § 50 SGB X Nr 7), dass er mit der Maßnahme des Leistungsträgers einver-<br />

standen ist. Damit steht er rechtlich so da, als ob er in die Auszahlung eines Teils der<br />

ihm zustehenden Leistungen durch den Leistungsträger an einen Dritten einwilligt<br />

oder sie jedenfalls genehmigt (vgl hierzu auch BGH FamRZ 1993, 788; OLG Koblenz<br />

FamRZ 2009, 1144). Im Falle <strong>einer</strong> wirksamen Aufhebung der Leistungsbewilligung trifft<br />

den Leistungsberechtigte die Erstattungspflicht, da dieser sich die Zahlungen als an<br />

sich erbracht zurechnen lassen muss (BSG 17.01.1991). Etwas anderes gilt nur, wenn<br />

die Auszahlung an den Dritten noch erfolgt, obwohl der Leistungsträger den Um-<br />

ständen nach von <strong>einer</strong> insoweit fehlenden Zustimmung des Leistungsberechtigten<br />

ausgehen muss (BSG aaO).<br />

6. Kann der Unterhaltsberechtigte die Ablehnung der <strong>Abzweigung</strong> anfechten?<br />

a) Der Unterhaltsberechtigte kann nicht gegen den Sozialleistungsträger auf Leistung<br />

an ihn selbst klagen. Denn eine auf Erbringung von Ermessenleistungen gerichtete<br />

Leistungsklage ist gem. § 54 Abs. 4 SGG unzulässig, abgesehen von Ausnahmefällen<br />

(BSG SozR 1200, § 48 Nr 12 im Anschluss an BSGE 2, 142, 148).<br />

Jedoch ist das Recht des Begünstigten auf eine – auf rechtsfehlerfreier Entscheidung<br />

beruhende – <strong>Abzweigung</strong> <strong>und</strong> auf Behandlung seines <strong>Abzweigung</strong>santrags (der uU<br />

auch wiederholt vorgebracht werden kann, vgl BSGE 93, 203 = SGb 2005, 405) mit<br />

der Klage durchsetzbar (BSG aaO). Zulässig ist die Verpflichtungsklage in der Varian-<br />

te der Bescheidungsklage (vgl Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 54 SGG<br />

Rn 20b).


7<br />

b) Jedenfalls kann der durch die <strong>Abzweigung</strong> Begünstigte sich gegen die (Rück-)-<br />

Übertragung des Auszahlungsanspruchs auf den Leistungsberechtigten wenden (s.a.<br />

LSG NI-BR JAmt 2002, 476, zugleich zur Zulässigkeit der Rücknahme eines rechtswidri-<br />

gen <strong>Abzweigung</strong>sbescheids).<br />

7. Wie hoch ist der dem Schuldner zu belassende Selbstbehalt bei titulierten For-<br />

derungen?<br />

Bei der <strong>Abzweigung</strong> wegen tituliertem Unterhalt gem. § 48 SGB I ist es nicht (mehr)<br />

erforderlich, dem Schuldner/Sozialleistungsbezieher einen Betrag in Höhe des unter-<br />

haltsrechtlichen Selbstbehalts zu belassen (wie dies früherer Praxis entsprach).<br />

In einem gr<strong>und</strong>legenden Urteil (17.03.2009, B 14 AS 34/07 R = NJOZ 2009, 3938) hat<br />

das BSG entschieden, dass der Leistungsträger bei Vorliegen eines Unterhaltstitels<br />

nicht mehr zu prüfen hat, ob nach den Maßstäben des Zivilrechts eine konkrete<br />

Pflicht zur Zahlung von Unterhalt besteht. Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichti-<br />

gen ist beim Vorliegen eines vollstreckbaren Unterhaltstitels gr<strong>und</strong>sätzlich nach den<br />

Regelungen über den Pfändungsschutz bei Unterhaltsansprüchen zu beurteilen. Bei<br />

feststehenden Unterhaltsforderungen ist die Entscheidung über die <strong>Abzweigung</strong> voll-<br />

streckungsähnlicher Natur. Durch die Anwendung des § 850d ZPO wird sichergestellt,<br />

dass nicht mehr abgezweigt wird, als gepfändet werden kann. Im vom BSG ent-<br />

schiedenen Fall waren dem unterhaltspflichtigen Leistungsempfänger die Regelleis-<br />

tung <strong>und</strong> die angemessenen Kosten der Unterkunft zu belassen.<br />

8. Welcher Selbstbehalt ist dem Schuldner bei nicht titulierten Unterhaltsansprü-<br />

chen zu belassen?<br />

a) Die Höhe des zu fordernden Unterhalts, wenn dieser noch nicht tituliert ist, kann<br />

sich im Zweifel nur an der Leistungsfähigkeit des Schuldners nach Maßgabe des ak-<br />

tuellen Sozialleistungsbezugs orientieren (es sei denn, es liegt eine nachweisbare Ver-<br />

letzung s<strong>einer</strong> Erwerbsobliegenheit vor; ob sich der Leistungsträger aber vor s<strong>einer</strong><br />

Ermessensentscheidung auf derart diffizile unterhaltsrechtliche Erwägungen einlassen<br />

wird, dürfte häufig fraglich sein).<br />

b) Für nicht titulierte Unterhaltsansprüche bleibt der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt<br />

Maßstab für das dem Schuldner zu belassende Existenzminimum (im Wege des Um-<br />

kehrschlusses zum unter Ziff. 7 ausgeführten Urteil des BSG vom 17.03.2009).


8<br />

Für den Beurteilungsspielraum ist inzwischen höchstrichterlich geklärt, dass eine Ab-<br />

zweigung nach § 48 SGB I die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit des Schuldners<br />

voraussetzt. Die <strong>Abzweigung</strong> ist nur zulässig, wenn nach den Maßstäben des Zivil-<br />

rechts für den Leistungsberechtigten eine konkrete Pflicht zur Zahlung von Unterhalt<br />

besteht. Erst nach der Feststellung des Vorliegens dieser Tatbestandsvoraussetzung<br />

des § 48 SGB I ist Ermessen auszuüben (BSG 07.10.2004 = BSGE 93, 203 = SozR 4-1200,<br />

§ 48 Nr 1).<br />

Denn die von § 48 Abs. 1 S.1 SGB I vorausgesetzte „gesetzliche Unterhaltspflicht" er-<br />

fordert nach den dafür maßgebenden Bestimmungen des bürgerlichen Rechts nicht<br />

nur die Bedürftigkeit des jeweiligen Angehörigen, der außer Stande sein muss, sich<br />

selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB), sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit<br />

des Leistungsberechtigten zu Unterhaltsleistungen (vgl ua BSG SozR 3-1200, § 48 Nr 4).<br />

Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung s<strong>einer</strong> sonstigen Verpflichtungen<br />

außer Stande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt<br />

zu gewähren (§ 1603 Abs. 1 BGB).<br />

Befinden sich Eltern in dieser Lage, gilt zwar eine verschärfte Unterhaltspflicht, weil<br />

§ 1603 Abs. 2 S. 1 BGB die Eltern gegenüber ihren minderjährigen unverheirateten<br />

Kindern dazu verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem <strong>und</strong> der Kinder Unterhalt<br />

gleichmäßig zu verwenden. Dadurch entfällt das Erfordernis der Leistungsfähigkeit<br />

jedoch nicht völlig, weil jede Unterhaltspflicht durch einen bestimmten – je nach den<br />

Umständen allerdings unterschiedlich zu bemessenden – Selbstbehalt für den eige-<br />

nen notwendigen Bedarf begrenzt ist (vgl ua BSGE 57, 59 = SozR 1200, § 48 Nr 8; BSGE<br />

59, 30 = SozR 1200, § 48 Nr 10; BSG SozR 1200, § 48 Nr 11).<br />

Die von den Familiengerichten überwiegend angewendeten Tabellen eignen sich<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich als Maßstab für eine pauschalierende Bestimmung des Selbstbehalts<br />

(vgl ua BSGE 57, 59 = SozR 1200, § 48 Nr 8; BSGE 59, 30 = SozR 1200, § 48 Nr 10; BSG<br />

SozR 1200, § 48 Nr 11; BSG FamRZ 1987, 274).<br />

9. Was ist bei der <strong>Abzweigung</strong> im Fall eines „Aufstockens“ nach dem SGB II zu<br />

beachten?<br />

Beispielsfall: Der Unterhaltspflichtige bezieht Leistungen nach dem SGB II iHv 509,20 EUR <strong>und</strong> hat Ein-<br />

kommen aus <strong>einer</strong> geringfügigen Tätigkeit iHv 256 EUR. Der Beistand hat unter Hinweis auf das BSG-Urteil<br />

vom 17.03.2009 die <strong>Abzweigung</strong> beim Jobcenter beantragt. Dieser <strong>Abzweigung</strong>santrag <strong>und</strong> der ent-<br />

sprechende Widerspruch wurden nunmehr zurückgewiesen. Die Ablehnung begründet das Jobcenter


9<br />

ua damit, dass die dort gewährten Leistungen allein zur Bedarfsdeckung des Unterhaltspflichtigen benö-<br />

tigt werden <strong>und</strong> ein <strong>Abzweigung</strong>santrag ggf an den Arbeitgeber zu richten wäre.<br />

Die Argumentation des Jobcenters ist unverständlich, da der Antrag auf <strong>Abzweigung</strong><br />

gem. § 48 SGB I nur an den Sozialleistungsträger gerichtet werden kann. Bei einem<br />

Arbeitgeber kann allenfalls gepfändet werden, was wiederum einen vollstreckbaren<br />

Titel voraussetzt.<br />

Es gibt im Übrigen uE kein Rangverhältnis in dem vom Jobcenter vorgestellten Sinne.<br />

Würde der Unterhaltspflichtige – in einem rein fiktiven <strong>und</strong> nicht auf sozialrechtliche<br />

Schlüssigkeit der Beträge geprüften Beispiel – 600 EUR SGB II-Leistung <strong>und</strong> 250 EUR<br />

Erwerbseinkommen beziehen, sehen wir im Fall <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> wegen nicht titu-<br />

liertem Unterhalt kein Hindernis, dass das Jobcenter 80 EUR abzweigt, da der Eigen-<br />

bedarf von 770 EUR durch die Summe von Sozialleistung <strong>und</strong> Erwerbseinkommen<br />

gewahrt ist.<br />

Rechtsprechung zu dieser speziellen Frage können wir allerdings nicht benennen. Im<br />

vorliegenden Fall dürfte es aber letztlich hierauf nicht ankommen, weil der maßge-<br />

bende notwendige Eigenbedarf durch die dem Schuldner zufließenden Beträge un-<br />

terschritten wird.<br />

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass der notwendige Eigenbedarf<br />

von 770 EUR streng genommen nur für Nichterwerbstätige gilt. Wenn jemand ein ge-<br />

ringfügiges Erwerbseinkommen bezieht <strong>und</strong> aufstockend SGB II-Leistungen erhält,<br />

müsste eigentlich ein erhöhter Selbstbehalt von 860 EUR angesetzt werden, nämlich<br />

der Zwischenwert zwischen den beiden Selbstbehalten (vgl BGH FamRZ 2008, 594).<br />

Allerdings dürfte sich diese unterhaltsrechtliche Feinheit wohl noch nicht bis zu allen<br />

SGB II-Trägern herumgesprochen haben.<br />

10. Inwieweit sollte eine <strong>Abzweigung</strong> auf einen inzwischen „überhöhten“ Unter-<br />

haltstitel gestützt werden?<br />

Beispielsfall: Der Schuldner, gegen den ein Unterhaltstitel vorliegt, erzielt ein Nebeneinkommen iHv 412<br />

EUR netto. Ergänzend erhält er 323 EUR Arbeitslosengeld II. Sein Bedarf beträgt 558 EUR. Der Schuldner<br />

hat 735 EUR zur Verfügung. Das Jugendamt meint, es könne die 176 EUR, die über dem Bedarf von 558<br />

EUR liegen, abzweigen.<br />

1.a) Der Unterhaltstitel im Beispielsfall kann kaum auf der Gr<strong>und</strong>lage der aktuellen,<br />

konkreten Einkommensverhältnisse des Schuldners erwirkt worden sein. Entweder hat-


10<br />

te der Unterhaltspflichtige bei Titelerrichtungein höheres Einkommen oder die Titulie-<br />

rung beruhte auf der Zurechnung fiktiven Einkommens.<br />

b) Im letztgenannten Fall wäre es natürlich in Ordnung, sich weiterhin auf diesen Titel<br />

zu berufen. Wenn aber das Einkommen des Pflichtigen unverschuldet gesunken ist<br />

<strong>und</strong> auch gegenwärtig nicht mit fiktiven Zurechnungen operiert werden kann, stellt<br />

sich die Frage, weshalb das Jugendamt aus <strong>einer</strong> inzwischen materiell unrichtig ge-<br />

wordenen Unterhaltsfestsetzung gegen den Schuldner vorgehen will.<br />

Zwar ist der Standpunkt vertretbar, es sei gr<strong>und</strong>sätzlich Sache des Schuldners, eine<br />

Abänderung zu seinen Gunsten zu betreiben. Wenn aber hier offenk<strong>und</strong>ig ist, dass<br />

das Einkommen des Schuldners deutlich unter seinem Selbstbehalt liegt (auch wenn<br />

man diesen hier mit einem Zwischenwert von nur 860 EUR bemessen würde, vgl dazu<br />

oben) müsste im Fall <strong>einer</strong> Pfändung mit <strong>einer</strong> Vollstreckungsgegenklage gerechnet<br />

werden. Auch bei <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> könnte der Schuldner immerhin parallel die Ab-<br />

änderung des Titels betreiben <strong>und</strong> unter Berufung hierauf zugleich die <strong>Abzweigung</strong><br />

anfechten.<br />

Es ist zu fragen, ob hier eine formale Rechtsposition zugunsten des Kindes ausgenutzt<br />

werden sollte, wenn klar ist, dass diese jedenfalls derzeit nicht mehr von der materiel-<br />

len Rechtslage gedeckt ist. Das Jugendamt ist als Beistand zwar den Interessen des<br />

Kindes verpflichtet <strong>und</strong> nicht denjenigen des Schuldners. Das rechtfertigt aber nicht<br />

unbedingt gegenüber einem möglicherweise wenig gewandten Schuldner ein Vor-<br />

gehen, welches dieser nach anderweitig eingeholter Information über die Rechtsla-<br />

ge womöglich als „über den Tisch ziehen“ bezeichnen würde.<br />

Deshalb wären Zweifel an dem beabsichtigten Vorgehen anzumelden.<br />

2. Wäre der Titel hingegen noch materiell-rechtlich wenigstens teilweise zutreffend<br />

<strong>und</strong> deshalb als Gr<strong>und</strong>lage <strong>einer</strong> Vollstreckung im entsprechenden Umfang geeig-<br />

net, erschiene nach der zitierten neueren Rechtsprechung des BSG eine <strong>Abzweigung</strong><br />

in dem genannten Rahmen zutreffend. Ein entsprechender Antrag beim Jobcenter<br />

könnte gestellt werden.<br />

Es ist darauf hingewiesen (vgl oben 9.), dass sowohl bei <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> als auch<br />

bei <strong>einer</strong> Pfändung aus Gläubigersicht auf eine Zusammenschau von Erwerbsein-<br />

kommen <strong>und</strong> Sozialleistung gedrungen werden sollte. Wird durch beides zusammen<br />

das Existenzminimum gedeckt, sollte der überschießende Betrag (bei der Abzwei-<br />

gung der entsprechende Teil des Alg II, bei der Pfändung der entsprechende Teil des


11<br />

Erwerbseinkommens) für die entsprechende Vollstreckungsmaßnahme zur Verfügung<br />

stehen.<br />

11. Wie verhält sich eine bestehende <strong>Abzweigung</strong> zu <strong>einer</strong> anschließenden Pfän-<br />

dung?<br />

Beispielsfall: Der Beistand pfändet einen Auszahlungsbetrag des dem Schuldner zufließenden Kranken-<br />

geldes. Die Krankenkasse behauptet, dass eine anderweitig für ein anderes Kind bereits vorgenomme-<br />

ne <strong>Abzweigung</strong> vorgehe, weil sie zeitlich vor der Pfändung liege.<br />

Die Pfändung <strong>einer</strong> Forderung nach §§ 829, 835 ff ZPO – hier iVm § 54 SGB I – unter-<br />

scheidet sich von <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> dadurch, dass mit dem Beschluss der gepfände-<br />

te Anspruch in entsprechender Höhe zugunsten des Gläubigers beschlagnahmt wird<br />

<strong>und</strong> nunmehr die Leistung an diesen zu erbringen ist. Der Unterschied ist wesentlich,<br />

weil damit die Pfändung eine deutlich weitergehende Reichweite <strong>und</strong> Wirkung als<br />

die <strong>Abzweigung</strong> hat <strong>und</strong> diese deshalb im Ergebnis außer Kraft setzt (Diebold, in: LPK-<br />

SGB I, § 48 Rn 33; Mrozynski, SGB I, § 48 Rn 10).<br />

Daher ist dem Jugendamt als Beistand in solchen Fällen zu empfehlen, auf der Wirk-<br />

samkeit der Pfändung <strong>und</strong> deren Vorrang vor den früheren <strong>Abzweigung</strong>en zu beste-<br />

hen. Falls die Krankenkasse sich weigert, den gepfändeten Betrag auszuzahlen, muss<br />

der Anspruch im Wege der Drittschuldnerklage verfolgt werden. Das ist hier die Leis-<br />

tungsklage vor dem Sozialgericht (vgl allgemein zur Drittschuldnerklage <strong>und</strong> insbe-<br />

sondere bei gepfändetem Arbeitslohn, dort auch mit Klagemuster Knittel JAmt 2006,<br />

273).<br />

Im Umkehrschluss ist zu bedenken, dass ein Unterhaltsberechtigter, zu dessen Guns-<br />

ten bereits eine <strong>Abzweigung</strong> angeordnet ist, seine Rechtsposition durch Pfändung<br />

der Sozialleistung stärken kann. Durch die <strong>Abzweigung</strong> ist der Unterhaltsberechtigte<br />

nicht gehindert, seinen Unterhaltsanspruch im Klagewege <strong>und</strong> durch Zwangsvollstre-<br />

ckung weiterzuverfolgen (Mrozynski Rn 10).<br />

Bei bereits bestehender Möglichkeit <strong>einer</strong> Pfändung ist diese <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> auf<br />

jeden Fall vorzuziehen.<br />

12. Welche Rückforderungsverhältnisse kommen bei <strong>einer</strong> <strong>Abzweigung</strong> in Be-<br />

tracht?


12<br />

a) Bei Wegfall des Stammrechts des unterhaltspflichtigen Sozialleistungsbeziehers<br />

(etwa durch Aufhebung des Leistungsbescheids bei Entfallen der Bewilligungsvoraus-<br />

setzungen) entfällt auch der Auszahlungsanspruch. Rückforderungen gegenüber<br />

dem Leistungsberechtigten können auch die Beträge umfassen, die durch Abzwei-<br />

gung gem. § 48 SGB I an einen Dritten ausgezahlt worden sind. Da der Leistungsbe-<br />

rechtigte auch nach der <strong>Abzweigung</strong> Inhaber eines einheitlichen Anspruchs bleibt,<br />

sind die abgezweigten Leistungen ihm als von ihm empfangen zuzurechnen (BSG<br />

17.10.1991, 11 RAr 27/91 m. Hinw. auf BSG 17.01.1991, 7 RAr 72/90 = SozR 3-1300, § 50<br />

Nr 7 <strong>und</strong> BSG 28.06.1991, 11 RAr 47/90 = SozR 3-1300, § 50 Nr 10). Rückforderungen<br />

sind gem. § 50 SGB X geltend zu machen, nach rückwirkender Aufhebung der Leis-<br />

tungsbewilligung, wenn der Leistungsberechtigte am <strong>Abzweigung</strong>sverfahren ord-<br />

nungsgemäß beteiligt worden ist <strong>und</strong> insbesondere den <strong>Abzweigung</strong>sbescheid nicht<br />

angefochten hat (BSGE 68, 107 <strong>und</strong> SozR 3 – 1300, § 50 Nr 10).<br />

b) Eine Rückforderung aus dem <strong>Abzweigung</strong>sverhältnis gegenüber dem Abzwei-<br />

gungsbegünstigten kommt bei fehlerhafter <strong>Abzweigung</strong>sanordnung gem. § 45<br />

SGB X, im Übrigen gem. § 48 SGB X in Betracht. Ist die Sozialleistungsgewährung dem<br />

Leistungsberechtigten/Unterhaltsschuldner zu Unrecht gewährt worden, kann sie in<br />

Höhe des abgezweigten Betrages auch unmittelbar vom <strong>Abzweigung</strong>sbegünstigten<br />

zurückgefordert werden; dieser Erstattungsanspruch gem. § 50 SGB X setzt voraus,<br />

dass sowohl die <strong>Abzweigung</strong> als auch die Leistungsentscheidung auch gegenüber<br />

dem <strong>Abzweigung</strong>sbegünstigten wirksam aufgehoben worden ist (Krauskopf/Baier<br />

§ 48 SGB I Rn 32; Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 48<br />

SGB I Rn 81).<br />

c) Steht dem Unterhaltsberechtigten mangels Leistungsfähigkeit des Pflichtigen ein<br />

Unterhaltsanspruch nicht zu, erhält er durch die <strong>Abzweigung</strong> eine Leistung als Nicht-<br />

berechtigter, die er an den vermeintlich Unterhaltspflichtigen auskehren muss (OLG<br />

Koblenz FamRZ 2009, 1144). Das gilt auch dann, wenn der Sozialleistungsempfänger<br />

die <strong>Abzweigung</strong> nicht angefochten hat (dazu oben Ziff. 5b).<br />

Als Anspruchsgr<strong>und</strong>lage für die Rückforderung kommen sowohl die sog. „Eingriffs-<br />

kondiktion“ gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB als auch die „Leistungskondiktion“ nach<br />

§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB in Betracht.<br />

Die Annahme <strong>einer</strong> Eingriffskondiktion liegt auf den ersten Blick nahe, da die Beträge<br />

zwangsweise abgeführt werden. Da der Unterhaltspflichtige jedoch über die Leistung


13<br />

an den Dritten informiert wurde <strong>und</strong> diese zumindest genehmigt hat (s.o. Nr. 5b; BSGE<br />

68, 107), ist von <strong>einer</strong> Leistungskondiktion auszugehen.<br />

Als Folge könnte der Rückgriff durch § 814 BGB versperrt sein. Danach kann das zum<br />

Zwecke der Erfüllung <strong>einer</strong> Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden,<br />

wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war. Im hier<br />

maßgebenden Zusammenhang bedeutet das: Wenn der Unterhaltspflichtige die<br />

<strong>Abzweigung</strong> des Betrages hingenommen <strong>und</strong> damit genehmigt hat, obwohl er be-<br />

reits erkannt hatte – oder bei einfacher Nachrechnung hätte erkennen müssen –,<br />

dass er mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist, muss das als „Leistung<br />

in Kenntnis der Nichtschuld“ iSv § 814 BGB gewertet werden. Somit wäre ein Rückfor-<br />

derungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB von vornherein ausgeschlossen.<br />

Selbst wenn man dies anders beurteilen wollte, sind die Empfänger der Leistungen<br />

idR nicht mehr zur Herausgabe des s<strong>einer</strong>zeit Erlangten verpflichtet, da sie nicht mehr<br />

bereichert sind (§ 818 Abs. 3 BGB). Es entspricht allgem<strong>einer</strong> Auffassung, dass zur De-<br />

ckung des laufenden Unterhalts erbrachte Zahlungen – noch dazu, wenn sie weit<br />

unter dem tatsächlichen Bedarf liegen – im Regelfall zeitnah bestimmungsgemäß<br />

verbraucht werden <strong>und</strong> eine Bereicherung damit entfällt.<br />

Eine verschärfte Haftung kann jedoch dann eintreten, wenn der Bereicherte bzw sein<br />

gesetzlicher Vertreter beim Empfang oder spätestens beim Verbrauch der Leistung<br />

bösgläubig bezüglich des fehlenden Rechtsgr<strong>und</strong>s war. In diesem Fall haftet er auch<br />

auf Herausgabe <strong>einer</strong> inzwischen nicht mehr vorhandenen Bereicherung (§ 819 Abs.<br />

1 iVm § 818 Abs. 4 BGB).<br />

13. Rückforderung eines überzahlten Betrags vom Jugendamt?<br />

Beispielsfall: Da der Vater Alg I bezog, beantragte der Beistand bei der Agentur für Arbeit eine Abzwei-<br />

gung. Wörtlich ist im Antrag ausgeführt:<br />

„Wir beantragen, den vorgenannten Unterhaltsbetrag von den dem Vater bewilligten Leistungen abzu-<br />

zweigen <strong>und</strong> zugunsten des Kindes – wofür wir Vertretungsbefugnis haben – auf eines der Konten der<br />

Kreiskasse zu überweisen.“<br />

Die Agentur für Arbeit hat in einem an das Jugendamt gerichteten Bescheid vom 15.12.2005 dem An-<br />

trag entsprochen. Darin ist formuliert:<br />

„Von der Geldleistung werden für Sie ab 01.12.2005 täglich 8,03 € einbehalten <strong>und</strong> regelmäßig monat-<br />

lich nachträglich gezahlt“.


14<br />

Auf Klage des Vaters hat das Sozialgericht die BA verurteilt, den Bescheid zurückzunehmen. Nunmehr<br />

fordert die BA vom Jugendamt die Erstattung von insgesamt 1.072 EUR an zu viel überwiesenen Abzwei-<br />

gungsbeträgen. Das Jugendamt verweist darauf, dass die Kinder bzw deren Mutter als gesetzliche Ver-<br />

treterin Adressaten eines Rückforderungsverlangens seien. Die Mutter erklärt, dass eine Rückzahlung<br />

aufgr<strong>und</strong> ihres geringen Einkommens nicht möglich sei.<br />

Die BA meint, dass Begünstigter des ursprünglichen, später aufgehobenen <strong>Abzweigung</strong>sbescheids das<br />

Jugendamt sei <strong>und</strong> nicht die Kinder bzw deren Mutter als gesetzliche Vertreterin. Aus § 49 SGB X <strong>und</strong><br />

<strong>einer</strong> hierzu übermittelten Kommentierung ergebe sich eindeutig die Erstattungspflicht des Landrats-<br />

amts.<br />

Die Ansicht der B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit ist grob unrichtig.<br />

1.a) Bei dem Antrag auf <strong>Abzweigung</strong> hat das Jugendamt offenk<strong>und</strong>ig als gesetzli-<br />

cher Vertreter der Kinder gehandelt. Auch wenn der Begriff „Beistand“ nicht aus-<br />

drücklich erwähnt wurde, ist in der Antragsbegründung doch ausdrücklich auf das<br />

Vertretungsverhältnis zu den Kindern hingewiesen worden. Damit gilt der Rechts-<br />

gr<strong>und</strong>satz des § 164 Abs. 1 BGB, der sich zwar unmittelbar auf Vollmachtverhältnisse<br />

bezieht, aber Allgemeingültigkeit hat für jede Art der Vertretung <strong>und</strong> damit auch für<br />

gesetzliche Vertretungsverhältnisse.<br />

Die Vorschrift lautet: „Eine Willenserklärung, die jemand innerhalb der ihm zustehen-<br />

den Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen abgibt, wirkt unmittelbar für <strong>und</strong><br />

gegen den Vertretenen. Es macht keinen Unterschied, ob die Erklärung ausdrücklich<br />

im Namen des Vertretenen erfolgt oder ob die Umstände ergeben, dass sie in dessen<br />

Namen erfolgen soll.“<br />

b) Für die B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit war damit erkennbar, dass hier eine <strong>Abzweigung</strong><br />

zugunsten der Kinder <strong>und</strong> nicht des Jugendamts beantragt worden war. Der Unter-<br />

schied ist deshalb bedeutsam, weil <strong>Abzweigung</strong>santräge naturgemäß auch von der<br />

Unterhaltsvorschusskasse des Jugendamts gestellt werden können <strong>und</strong> es dann im<br />

Einzelfall darauf ankommt, wie der Antrag vom Sozialleistungsträger zu verstehen<br />

war.<br />

c) Dass der Bescheid der BA nicht, wie es korrekt gewesen wäre, an die Kinder, ge-<br />

setzlich vertreten durch das Jugendamt, gerichtet war, sondern den Eindruck er-<br />

weckte, die <strong>Abzweigung</strong> werde zugunsten des Jugendamts vorgenommen („wer-<br />

den für Sie einbehalten…“), spielt insoweit keine Rolle. Die BA kann nicht daraus ei-<br />

nen Vorteil ableiten, dass sie ihre Bescheide abweichend von der formellen <strong>und</strong> ma-<br />

teriellen Rechtslage verfasst. In der Sache hatte der gesetzliche Vertreter eine Leis-<br />

tung für die von ihm vertretenen Kinder beantragt. Diese war auch so zu gewähren.


15<br />

Die Adressierung des Bescheids an das Jugendamt <strong>und</strong> die Überweisung der Beiträ-<br />

ge auf dessen Konto ändern hieran nichts, wenn sich das Vertretungsverhältnis ein-<br />

deutig aus dem Antrag ergab. Die Behauptung der BA, Begünstigter der Abzwei-<br />

gung sei das Jugendamt gewesen, ist deshalb unrichtig.<br />

2. Soweit sich die BA auf die Vorschrift des § 49 SGB X berufen will, unterliegt sie ent-<br />

weder einem Missverständnis oder versucht bewusst, damit „Nebelkerzen zu zün-<br />

den“.<br />

Die Vorschrift regelt die Rücknahme <strong>und</strong> den Widerruf von begünstigenden Verwal-<br />

tungsakten, wenn dies auf Rechtsmittel eines Dritten zurückzuführen ist. In der von der<br />

BA beigefügten Kommentierung von Merten (in: Hauck/Noftz, SGB X, § 49 Rn 1) wird<br />

zutreffend ausgeführt:<br />

„Die Vorschrift des § 49 enthält den Gr<strong>und</strong>gedanken, dass der Adressat<br />

eines begünstigenden Verwaltungsaktes keinen Vertrauensschutz ver-<br />

dient, solange der Verwaltungsakt noch der Nachprüfung durch Wider-<br />

spruchsbehörde oder Gericht unterliegt. (…) Die Regelung ermöglicht<br />

deshalb der Ausgangsbehörde die Aufhebung begünstigender Verwal-<br />

tungsakte unter erleichterten Bedingungen, soweit diese von einem Drit-<br />

ten angefochten werden.“<br />

Diese Aussage ebenso wie die weiteren von der BA durch Unterstreichung hervorge-<br />

hobenen Formulierungen in der Kommentierung sind ebenso richtig wie unergiebig<br />

für die hier bestehende Meinungsverschiedenheit. Das Jugendamt zweifelt ja schließ-<br />

lich nicht die gr<strong>und</strong>sätzliche Befugnis zur Rückforderung durch die BA an. Es geht ein-<br />

zig <strong>und</strong> allein darum, wer Adressat des entsprechenden Verwaltungsakts ist.<br />

Das kann aber nur derjenige sein, der den begünstigenden Verwaltungsakt bean-<br />

tragt hatte <strong>und</strong> dementsprechend die Leistung erhielt. Hier waren das die Kinder,<br />

gesetzlich vertreten durch das Jugendamt. Hieran ändert auch nichts, dass die Kin-<br />

der bzw ihre Mutter zu <strong>einer</strong> Rückzahlung finanziell außerstande sind. Es gibt weder<br />

eine originäre noch eine hilfsweise Haftung des gesetzlichen Vertreters für Rückerstat-<br />

tungspflichten des Vertretenen (von dem hier nicht gegebenen Fall eines unlauteren<br />

Verhaltens des Vertreters bei der Antragstellung mit der Folge <strong>einer</strong> deliktischen Haf-<br />

tung einmal abgesehen).


16<br />

14. Kann ein Rückforderungsverlangen eines Rententrägers bei <strong>Abzweigung</strong> eines<br />

Betrages auf den Eintritt der Volljährigkeit des begünstigten Kindes gestützt<br />

werden?<br />

Beispielsfall: Das Jugendamt hat eine Beistandschaft geführt, die mit Volljährigkeit am 17.11.2009 been-<br />

det wurde. Da der Vater s<strong>einer</strong> Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen ist, wurde per Abzwei-<br />

gungsantrag von der Versorgungsanstalt des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> der Länder regelmäßig ein angemessener<br />

Betrag – hier zuletzt 130,30 EUR – an die Beistandschaft abgeführt <strong>und</strong> an die Empfangsberechtigte<br />

weitergeleitet. Die letzte Einzahlung bei der Stadtkasse datierte am 30.11. <strong>und</strong> wurde dem Monat No-<br />

vember 2009 zugeordnet. Mithin stand der Betrag bis zur Volljährigkeit dem Kind zu.<br />

Die VBL bittet nunmehr, den zuletzt ausgezahlten Betrag zu erstatten <strong>und</strong> begründet dies damit, dass<br />

die Zahlung für den Monat Dezember 2009 vorgenommen wurde <strong>und</strong> wegen der Volljährigkeit im De-<br />

zember 2009 der Beistandschaft nicht mehr zustand. Das Jugendamt erklärte, dass das Geld an die<br />

junge Volljährige abgeführt worden sei. Man möge sich direkt mit dieser in Verbindung setzen. Die VBL<br />

erwiderte daraufhin, dass das Jugendamt darüber informiert war, dass die Rentenzahlungen monatlich<br />

im Voraus erfolgten <strong>und</strong> eine Abführung nicht vorgenommen werden durfte. Da das Jugendamt den<br />

strittigen Betrag nicht zurückzuzahlen bereit sei, wurden gerichtliche Schritte angekündigt.<br />

Der Beistand hat die <strong>Abzweigung</strong> im Namen des Kindes beantragt, als dessen ge-<br />

setzlicher Vertreter die Zahlungen in Empfang genommen <strong>und</strong> diese zu Händen der<br />

Mutter als zur Vermögenssorge berechtigter Vertreterin weitergeleitet.<br />

Das Jugendamt war insoweit nur „Durchgangsstation“ für die Zahlungen. Sollte der<br />

Träger der Meinung sein, dass er die letzte Zahlung zu Unrecht erbracht habe, könnte<br />

er sich allenfalls an das nunmehr volljährig gewordene Kind wenden <strong>und</strong> Rückerstat-<br />

tung verlangen. Keinesfalls ist das Jugendamt bzw sein Träger der richtige An-<br />

spruchsgegner. Selbst hat es keine Zahlungen erhalten, die es nunmehr dem Träger<br />

zurückerstatten müsse. Einer entsprechenden Klage kann das Jugendamt – abgese-<br />

hen vom ärgerlichen Zeitaufwand – gelassen entgegengesehen..<br />

Unabhängig von diesen allgemeinen Erwägungen wird im vorliegenden Fall auch<br />

überhaupt nicht klar, weshalb die VBL den Betrag zurückfordern will. Sollte dies allein<br />

auf der Annahme beruhen, dass das Jugendamt wegen der eingetretenen Volljäh-<br />

rigkeit des unterhaltsberechtigten Kindes nicht mehr empfangszuständig gewesen<br />

sei, wäre das Erstattungsverlangen besonders sinnwidrig. Denn das Kind hat letztlich<br />

die Zahlung erhalten, worauf es hier allein ankommt.<br />

Womöglich ist die VBL aber auch der Meinung, dass mit der Volljährigkeit die Ab-<br />

zweigung nicht mehr berechtigt war. Hierfür gibt es aber für sich genommen keinen<br />

Gr<strong>und</strong>, weil § 48 SGB I nicht auf die Minderjährigkeit eines Unterhaltsberechtigten als


17<br />

Voraussetzung abstellt. Außerdem hätte dann der Bescheid über die Bewilligung der<br />

<strong>Abzweigung</strong> aufgehoben werden müssen.<br />

Das Erstattungsverlangen ist abzulehnen. Es sind keine Gründe für ein Rückforde-<br />

rungsverlangen ersichtlich, noch dazu richtet sich die VBL an den falschen An-<br />

spruchsgegner.

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