Nachwort von Andreas Vollenweider - Wörterseh Verlag

Nachwort von Andreas Vollenweider - Wörterseh Verlag Nachwort von Andreas Vollenweider - Wörterseh Verlag

01.10.2012 Aufrufe

Nachwort Eine Nacht in der Karawanserei an der Rathausgasse in Glarus »Wir kommen schnell auf einen Kaffee, müssen dann aber gleich wieder weiter.« Das hatte ich damals, vor fast dreißig Jahren, unseren Glarner Freunden Gusti Schönbächler und Ruedi Grünig gesagt. Kaum hatten wir uns im gemütlichen Stübli gesetzt, da rief eine Stimme das Treppenhaus hinauf: »Hallo, seid ihr da?« Die beiden Paradiesvögel hatten ein offenes Haus, eine Art Geheimloge für besondere Menschen, bunt, einfach, bescheiden und doch eben besonders und vor allem fantasievoll. Mit einem breiten und herzlichen Lachen setzte sich Lisa zu uns, und kurz darauf sprudelte es aus den Quellen einer großartigen Geschichtenerzählerin. Die Szene erinnerte mich an Schilderungen des früheren Orients, als Reisende sich in einer Karawanserei trafen und am nächtlichen Feuer, bei duftendem Chai, ihre Geschichten vortrugen. Dabei galt das ungeschriebene Gesetz, einen Erzähler keinesfalls zu unterbrechen, es sei denn, man wurde überfallen von räuberischen Banden und musste sich seiner Haut wehren. Und wenn es jemand verstand, seine Zuhörer ganz in seinen Bann zu ziehen, so war es nicht ungewöhnlich, dass eine Geschichte bis zum frühen Morgengrauen dauerte, bevor sie schließlich mit einem »Allah ist groß und mächtig« endete. Als ich mit meiner Ehegattin Beata in der Morgendämmerung Glarus verließ und auf der menschenleeren Autobahn 185

<strong>Nachwort</strong><br />

Eine Nacht in der Karawanserei an der<br />

Rathausgasse in Glarus<br />

»Wir kommen schnell auf einen Kaffee, müssen dann aber<br />

gleich wieder weiter.« Das hatte ich damals, vor fast dreißig Jahren,<br />

unseren Glarner Freunden Gusti Schönbächler und Ruedi<br />

Grünig gesagt. Kaum hatten wir uns im gemütlichen Stübli gesetzt,<br />

da rief eine Stimme das Treppenhaus hinauf: »Hallo, seid<br />

ihr da?« Die beiden Paradiesvögel hatten ein offenes Haus, eine<br />

Art Geheimloge für besondere Menschen, bunt, einfach, bescheiden<br />

und doch eben besonders und vor allem fantasievoll.<br />

Mit einem breiten und herzlichen Lachen setzte sich Lisa zu<br />

uns, und kurz darauf sprudelte es aus den Quellen einer großartigen<br />

Geschichtenerzählerin. Die Szene erinnerte mich an<br />

Schilderungen des früheren Orients, als Reisende sich in einer<br />

Karawanserei trafen und am nächtlichen Feuer, bei duftendem<br />

Chai, ihre Geschichten vortrugen. Dabei galt das ungeschriebene<br />

Gesetz, einen Erzähler keinesfalls zu unterbrechen, es sei<br />

denn, man wurde überfallen <strong>von</strong> räuberischen Banden und<br />

musste sich seiner Haut wehren. Und wenn es jemand verstand,<br />

seine Zuhörer ganz in seinen Bann zu ziehen, so war es<br />

nicht ungewöhnlich, dass eine Geschichte bis zum frühen<br />

Morgengrauen dauerte, bevor sie schließlich mit einem »Allah<br />

ist groß und mächtig« endete.<br />

Als ich mit meiner Ehegattin Beata in der Morgendämmerung<br />

Glarus verließ und auf der menschenleeren Autobahn<br />

185


Richtung Zürich brauste, schwiegen wir beide. Wir hatten einen<br />

ganz besonderen Menschen kennen gelernt und einer<br />

wirklich außergewöhnlichen Lebensgeschichte lauschen dürfen<br />

– und dabei die Zeit komplett vergessen. Und obwohl<br />

doch etliche <strong>von</strong> Lisas Ausführungen eigentlich hätten traurig<br />

stimmen müssen, so fühlten wir uns auf eigentümliche<br />

Weise leicht und froh.<br />

Das war, wie gesagt, vor fast dreißig Jahren. Danach sind<br />

wir Lisa immer wieder begegnet und haben so einiges vom<br />

zweiten Teil ihrer Lebensgeschichte quasi »live« mitbekommen<br />

können. Dennoch, auch wenn ich verschiedene Episoden<br />

wiedererkenne, vermag die Lektüre dieses wunderbaren<br />

Buches – an dieser Stelle ein großes Kompliment an die Ghostwriterin<br />

Franziska K. Müller – doch wieder ganz neue Welten<br />

zu öffnen und vor allem etwas deutlich zu machen: Es ist nicht<br />

bloß Lisas »Art«, die sie davor beschützt hat, am Leben zu<br />

zerbrechen. Sie hatte ganz offenbar bereits als Kind die Gabe,<br />

in die Tiefe der Dinge zu blicken und zu erkennen, dass sich<br />

das Leben nicht so einfach in Gut und Schlecht, in Opfer und<br />

Täter, in Glück und Unglück unterteilen lässt. Sie muss schon<br />

früh entdeckt haben, dass es in unserer Hand liegt, das Dunkle<br />

und Schwere umzuwandeln durch die Fantasie und durch<br />

die unbändige Kraft der Liebe zum Leben.<br />

Legt die Schriften der großen Weisen aus Asien ruhig einmal<br />

beiseite. Hier kommt ein gerüttelt Maß an gelebter, authentischer<br />

Weisheit!<br />

<strong>Andreas</strong> <strong>Vollenweider</strong><br />

Zürich, 3. Oktober 2011<br />

<strong>Andreas</strong> <strong>Vollenweider</strong> ist Musiker, Produzent und Arrangeur. Mit seiner<br />

Harfe macht er mehr als Musik – er erzählt Geschichten.<br />

186

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!