Differenzialdiagnose von ADHS und Tics entlang der Lebenslinie

Differenzialdiagnose von ADHS 

und Tics entlang der Lebenslinie 

Kirsten R Müller-Vahl 

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie

Kardinalsymptome 

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– 

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– 

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ADHS 

Aufmerksamkeitsstörung 

↑ 

↓ 

Ablenkbarkeit 

Dauerkonzentration 

Hyperaktivität 

Impulsivität 

Kognitiv 

Motivational 

Emotional

Tics 

motorische Tics 

einfach: Augenblinzeln, Augenverdrehen, Grimassieren, Kopfrucken, 

Arm-, Schulterrucken 

komplex: hüpfen, Stolperschritt, im Kreis drehen, Berühren von 

Personen und Gegenständen, Zeigen obszöner Gesten (Kopropraxie), 

Imitieren anderer (Echopraxie) 

vokale Tics 

einfach: Geräusche wie Husten, Räuspern, Nasal-, Rachenlaute 

komplex: Aussprechen obszöner Wörter (Koprolalie), Nachsprechen 

(Echolalie), Stottern (Palilalie)

Gilles de la Tourette-Syndrom 

(Tourette-Syndrom, TS) 

(multiple) motorische Tics und (mindestens ein) vokaler Tic 

Beginn vor dem 18. Lebensjahr 

Symptomdauer > 1 Jahr 

Fluktuationen 

Ausschluss anderer Erkrankungen

- 

- 

- 

- 

Tic-Erkrankungen 

Gilles de la Tourette-Syndrom 

transiente 

Tic-Störung (Dauer < 1 Jahr) 

chronisch motorische Tic-Erkrankung 

chronisch vokale Tic-Erkrankung 

(Tourette-Syndrom)

• 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

komorbide 

Komorbiditäten 

- 


psychische Störungen bis zu 80% 

Störungen des Sozialverhaltens 

Umschriebene Entwicklungsstörungen, schulische 

Leistungsdefizite und Hinweise auf Teilleistungsschwächen 

Hinweise auf Intelligenzminderung (Lernbehinderung oder geistige 

Behinderung) 

Tic-Störungen (einschl. Tourette-Störung) 20% 

Negatives Selbstkonzept oder depressive Störungen 

Angststörungen (insbesondere Leistungsängste) 

Beeinträchtigte Beziehungen zu Familienmitgliedern, zu 

Erziehern/Lehrern und zu Gleichaltrigen 

autistische Störungen; Asperger-Syndrom

# of Cases 


100 

90 

80 

70 

60 

50 

40 

30 

20 

10 

0 

Child Cases by Comorbidity (N =328) 

0 1 2 3 4 5 6 

Comorbidity Score 

- 

Tourette-Syndrom 

# of Cases 

20 

18 

16 

14 

12 

10 

8 

6 

4 

2 

0 

Adult Cases by Comorbidity (N =57) 

0 1 2 3 4 5 6 

Comorbidity Score 

Freeman RD, Zinner SH, Müller-Vahl KR, Fast DK, Burd LJ, Kano Y, Rothenberger A, Roessner V, Kerbeshian J, 

Stern JS, Jankovic J, Loughin T, Janik P, Shady G, Robertson MM, Lang AE, Budman C, Magor A, Bruun R, Berlin 

CM Jr. Coprophenomena in Tourette syndrome. Dev Med Child Neurol 2009;51:218-27


- 


TS + Komorbiditäten 

TS – 

80-90% 

Komorbiditäten 10-20% 

Freeman RD, Fast DK, Burd L, Kerbeshian J, Robertson MM, Sandor P. An international perspective on Tourette syndrome: 

selected findings from 3,500 individuals in 22 countries. Dev Med Child Neurol 2000;42:436-47.


OCD=obsessive-compulsive disorder 

(=Zwangserkrankung) 

OCB= obsessive-compulsive behavior 

(=Zwangssymptome) 

CD=conduct disorder 

(=Verhaltensstörungen mit Störung des 

Sozialverhaltens) 

ODD=oppositional defiant disorder 

(=Störung des Sozialverhaltens mit 

oppositionellem, aufsässigem Verhalten) 

Freeman RD, Fast DK, Burd L, 

Kerbeshian J, Robertson MM, 

Sandor P. An international 

perspective on Tourette syndrome: 

selected findings from 3,500 

individuals in 22 countries. Dev Med 

Child Neurol 2000;42:436-47 

- 

Komorbidität Mittlere Häufigkeit Schwankungsbreite 

TS only, keine Komorbiditäten 12% 2-35% 

ADHS 60% 33-91% 

OCD 27% 2-66% 

OCB 32% 13-66% 

CD/ODD 15% 4-44% 

Lernstörung 23% 3-43% 

Depression 20% 2-47% 

Angststörung 18% 4-38% 

Tiefgreifende 

Entwicklungsstörungen 

4,5% 1-9% 

Mentale Retardierung 3,9% 1-14% 

Wutausbrüche (jemals) 37% 0-72% 

Wutausbrüche (gegenwärtig) 26% 0-58% 

Schlafstörungen (jemals) 25% 0-58% 

Schlafstörungen (gegenwärtig) 16% 0-11% 

Autoaggressives Verhalten 14% 4-43% 

Trichotillomanie 2,7% 0-14% 

Sexuell unangemessenes 

Verhalten 


6% 0-18%

Freeman RD, Fast DK, Burd L, Kerbeshian J, Robertson MM, Sandor P. An international perspective on Tourette 

syndrome: selected findings from 3,500 individuals in 22 countries. Dev Med Child Neurol 2000;42:436-47.

• 

 

• 

Komorbidität 

ADHS und Tic 

Modelle für die Koexistenz von ADHS und chronischen Tic- 

Störungen 

– additives Modell: gleichzeitige Vorkommen lediglich kombiniertes 

Auftretens beider Erkrankungen 

– interaktives Modell: eigenständige nosologische Entität bei 

gleichzeitigem Bestehen von Tourette-Syndrom und ADHS 

– phänotypisches Modell: Kombination von Tourette-Syndrom und ADHS 

als Phänotyp jeweils einer der beiden Erkrankungen 

Hinweise auf additives Modell (Roessner 

2007, Kirov 

et al. 2007) 

zwei verschiedene Varianten bei gleichzeitigem Bestehen von 

Tourette-Syndrom und ADHS: 

• additives Modell 

• ADHS sekundäre Folge des Tourette-Syndroms (Cavanna et al. 2009).

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- 

- 

- 

Überschneidung: Tics und ADHS 

allgemeine Zappeligkeit ↔ multiple Tics 

bessere Fähigkeit, Tics zu unterdrücken, bei höherer 

Aufmerksamkeitsleistung 

Abnahme der Tics bei Konzentration 

gedankliche Beschäftigung mit den Tics reduziert 

Aufmerksamkeitsleistung

• 

• 

• 

Komorbidität 

geringe Tics oft übersehen 

ADHS und Tics 

geringe Tics keinen zusätzlichen ungünstigen 

Einfluss auf die Lebensqualität 

Bei starken Tics ggf. Mehrfachbehandlung 

notwendig

Komorbidität 

• 

– 

– 


Diagnose Tourette-Syndroms 

 

im Mittel 3,5 Jahre früher bei komorbider 

ADHS (Freeman 

et al. 2007) 

ADHS beginnt meist früher 

Bereits bestehende ärztliche Behandlung bei 

Tic-Beginn 

und ADHS

• 

• 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

– 

Lebensqualität bei Kindern mit 


Pringsheim 

et al. 2009: 

N = 71 Kinder 

Lebensqualität bei Kindern mit Tourette-Syndrom ohne ADHS und 

Zwangsstörung = gesunder Kinder 

TS plus ADHS deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität 

TS plus Zwangssymptome (mit oder ohne ADHS) stärkste 

Beeinträchtigung der Lebensqualität 

Bernard et al. 2009: 

N = 56 Kinder 

Bei gering bis mittelgradig ausgeprägten Tics weder motorische 

noch vokale Tics beeinflussten Lebensqualität 

Lebensqualität in hohem Maße negativ beeinflusst bei komorbiden 

ADHS oder Zwangsstörung 

TS plus ADHS: Symptom Unaufmerksamkeit beeinflusst 

Lebensqualität stärker negativ als Symptom Hyperaktivität

• 

• 

• 

Einfluss des Tourette-Syndroms auf das 

Verhältnis von Kindern zu Gleichaltrigen 

Stokes et al. 1991: 

– Befragung von 29 Kindern mit Tourette-Syndrom und deren Umfeld (Eltern, 

Lehrer, Mitschüler) 

– Kinder mit Tourette-Syndrom im Vergleich zu ihren Klassenkameraden 

verschlossener, aggressiver und weniger beliebt 

Bawden et al. 1998: 

– Vergleich Kinder mit TS und Kinder mit Diabetes mellitus 

– Kinder mit Tourette-Syndrom häufiger gestörtes Verhältnis zu 

Gleichaltrigen 

– Mögliche Ursache: andere Gründe als das bloße Bestehen einer 

chronischer Erkrankung 

Stokes et al. 1991, Bawden et al. 1998: 

– kein Zusammenhang zwischen sozialer Akzeptanz und der Schwere und 

Dauer der Tic-Störung 

– komorbide ADHS deutlichen negativen Einfluss

ADHS - 


ADHS Tourette-Syndrom 

Prävalenz 6-9% 1% (Tics 10-15%) 

Verhältnis m:w 2-4:1 3-4:1 

Alter bei Beginn < 6 Jahre 6-8 Jahre 

Dauer > 6 Monate > 1 Jahr 

Fluktuationen (+) ++ 

Situative 

Beeinflussung + ++ 

Remission 40-60% 


Komorbide 

10% (Tourette- 

Syndrom) 

insgesamt 80% 80-90% 

Tics/ADHS 20% + Tics 50-60% + ADHS 

nicht durch eine andere psychische Störung erklärbar

Kategorial versus 

dimensional 

Tic-Störungen: kategorial 

0 1 

nicht vorhanden 

vorhanden 

ADHS: dimensional 

_________________________________________ 

0 100 

nicht vorhanden vorhanden

Altersabhängigkeit von Tic, ADHS und Zwang

- 

- 

- 

- 

Tics: Situative 

Einflüsse 

Beginn/Verstärkung oft parallel zu 

„Lebensereignissen“ 

Ausprägung in unterschiedlichen Situationen oft 

deutlich verschieden (Schule vs. zuhause) 

↓ Ruhe, Entspannung, konzentrierte Tätigkeit 

↑ Stress, Aufregung, Angst, Freude, Gespräch 

über Tics

Tics: Vorgefühl (premonitory 

• 

• 

feeling) 

Kurlan et al. 1989, Leckman et al 1993, Müller-Vahl 2010: 

– Erwachsene 74% - 93% 

Banaschewski und Mitarbeiter (2003) 

– N=251 Kindern und Jugendlichen (8-19 Jahre) 

– Kinder und Jugendliche 37% der Patienten im Alter zwischen 8 

und 19 Jahren 

• 

• 

• 

8-10 Jahre 24% 

11-14 Jahre 34% 

15-19 Jahre 57% 

Bewusstsein für Tics altersabhängig 

Entwickelt sich um das 10. Lebensjahr (Leckman et al. 1993, 

Banaschewski et al. 2003) 

Vorgefühl deutlich häufiger nach als vor dem 14. Lebensjahr 

wahrgenommen (Banaschewski et al. 2003).

• 

• 

Tics: willentliche Unterdrückung 

Erwachsene 80-90% 

Banaschewski 

– 

– 

und Mitarbeiter (2003): 

N= 254 Kindern und Jugendlichen (zwischen 8 und 19 Jahren) 

Kinder und Jugendliche 

• 

• 

• 

8-10 Jahre 48% 

11-14 Jahre 66% 

15-19 Jahre 79% 

64% 

Fähigkeit, Tics zu unterdrücken, etwa ab dem 10. Lebensjahr 

zunehmend besser ausgebildet

• 

• 

• 

• 

• 

Chronische Tic-Störung: Verlauf 

langsamer, selten abrupter Beginn 

besonders anfangs oft vollständiges Sistieren der Tics für 

Wochen oder wenige Monate 

besonders im Kindesalter erhebliche spontane Fluktuationen 

Maximum zwischen 10. und 12. Lebensjahr 

keine grundlegende Verlaufsänderung nach der Pubertät 

(Prognose !) 

Leckman JF, Zhang H, Vitale A, Lahnin F, Lynch K, Bondi C, Kim YS, Peterson BS. Course of tic severity in Tourette 

syndrome: the first two decades. Pediatrics. 1998 Jul;102(1 Pt 1):14-9.

• 

• 

• 

• 

• 

• 

• 

Remission: Tics - 


n=238 

34% der Kinder mit ADHS haben Tics 

Alter bei ADHS-Beginn = 2,6 J. 

Alter bei Tic-Beginn = 7,1 J. 

Remission von Tics wahrscheinlicher als 

Remission von ADHS 

Tic-Remission = 65% 

ADHS-Remission = 20% 

Spencer T, Biederman M, Coffey B, Geller D, Wilens T, Faraone S. The 4-year course 

of tic disorders in boys with attention-deficit/hyperactivity disorder. Arch Gen 

Psychiatry. 1999 Sep;56(9):842-7.

Remission: Tourette-Syndrom 

• 

• 

• 

• 

• 

Video-Rating 

Visit 

1: n=56 (8-14 J.) 

Follow-up 

visit 

Tic-Remission = 10% 

2: n=31 (>20 J.) 

50% der erwachsenen Patienten, die sich selbst als Tic frei 

einstuften hatten weiterhin Tics 

Pappert EJ, Goetz CG, Louis ED, Blasucci L, Leurgans S. Objective assessments of longitudinal 

outcome in Gilles de la Tourette's syndrome. Neurology. 2003 Oct 14;61(7):936-40.

- 

- 

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- 

- 

- 

- 

- 

ADHS im Erwachsenenalter 

Seltener äußerliche Hyperaktivität 

Vermeidung von Situationen, die Ruhe fordern 

Oft innere Unruhe, Rastlosigkeit, Unfähigkeit zur Entspannung 

Viele Aktivitäten mit wenigen Ruhezeiten 

Unstrukturiertes, chaotisches Handeln, Beschäftigung mit 

Unwichtigem, Organisationsdefizite 

Unkonzentriertheit, hohe Ablenkbarkeit, Tagträume, Vergesslichkeit, 

Unfähigkeit zum längeren Zuhören 

Häufige Arbeitsplatzwechsel 

Impulsivität, Sprunghaftigkeit, Ungeduld, riskantes Fahrverhalten, 

Extremsportarten 

Reizbarkeit, geringe Frustationstoleranz

ADHS im Erwachsenenalter 


- 

- 

- 

- 

- 

- 

- 

Impulsive, dissoziale 

Alkohol-, Drogenmissbrauch 

Angststörungen 

Affektive Störungen 


Zwang 

Teilleistungsstörungen 

Persönlichkeitsstörung

Lebensqualität bei Erwachsenen mit 

Tourette-Syndrom (I) 

• 

• 

Elstner et al. 2001: 

– Lebensqualität im Vergleich zu einer repräsentativen 

Bevölkerungsgruppe deutlich vermindert 

– Arbeitslosigkeit, Tic-Schwere, Zwangssymptome, 

Angststörung und Depression 

Altman et al. 2009: 

– Beeinträchtigung der Lebensqualität: 

vokale Tics > motorische Tics


Tourette-Syndrom (II) 

Müller-Vahl KR, Dodel I, Müller N, Münchau A, Reese J-P, Balzer-Geldsetzer M, Dodel R, Oertel WH. Health-Related 

Quality of Life in Patients with Gilles de la Tourette’s Syndrome. Mov Disord. 2010 Feb 15;25(3):309-14.


Tourette-Syndrom (III) 

Müller-Vahl KR, Dodel I, Müller N, Münchau A, Reese J-P, Balzer-Geldsetzer M, Dodel R, Oertel WH. Health- 

Related Quality of Life in Patients with Gilles de la Tourette’s Syndrome. Mov Disord. 2010 Feb 15;25(3):309-14.


Tourette-Syndrom (IV) 

• 

• 

Mittlerer BDI-Wert bei Personen mit Tourette-Syndrom = 

12.3 ± 9.9 signifikant schlechter als in einer gesunden 

Vergleichsgruppe (6.45 ± 5.2) 

multivariate Analyse 

– Symptome der Depression beeinflussen HrQoL am stärksten 

– Schwere der Tics und Alter der Personen haben deutlich 

geringeren Einfluss 

Gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Personen mit 

Tourette-Syndrom vermindert 

Hauptfaktor = Depression 

Bedeutsam für Diagnose und Behandlung



TS 

andere 

Verhaltensstörungen 

Zwänge 

Tourette Syndrom

Differenzialdiagnose von ADHS und Tics entlang der Lebenslinie

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